Störer und Gestörte - Pädagogische Hochschule Oberösterreich
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Thomas von Freyberg<br />
„<strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong>“ 1<br />
Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt über den Zusammenhang<br />
individueller <strong>und</strong> institutioneller Konfliktgeschichten nicht beschulbarer<br />
Jugendlicher – Fragestellung – Methoden – Bef<strong>und</strong>e 2<br />
1. Fragestellung des Forschungsprojekts<br />
Es gibt Jugendliche, die ihre Erzieher, Lehrer <strong>und</strong> Sozialarbeiter in schier<br />
endlose <strong>und</strong> eskalierende Konflikte verstricken – Konflikte, aus denen es<br />
schließlich nur noch einen Ausweg zu geben scheint: die Arbeit mit ihnen<br />
aufzugeben. Wie aber schaffen es diese Jugendlichen, die von Erwachsenen<br />
als "besonders schwierige", als "nicht schulfähige" oder "nicht beschulbare",<br />
als "verhaltensgestörte" bezeichnet werden, so große <strong>und</strong><br />
durchaus mächtige Institutionen wie Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe "zum Tanzen"<br />
zu bringen, zum Tanzen nach ihren oft schrillen Melodien? Wie gelingt<br />
es ihnen, dass kompetente <strong>und</strong> erfahrene <strong>und</strong> nicht selten engagierte<br />
professionelle Helfer sich hilflos in Konflikte mit ihnen verwickeln lassen,<br />
dabei häufig ihre Professionalität einbüßen <strong>und</strong> schließlich keine<br />
andere "Lösung" mehr sehen, als diese Jugendlichen weiterzureichen<br />
oder auszustoßen? Wie kommt es zu jenen sich wiederholenden Macht-<br />
Ohnmacht-Spiralen, zu den erbitterten Kämpfen um Macht <strong>und</strong> Kontrolle,<br />
die sich über Jahre hinziehen können, in deren Verlauf sich Täter <strong>und</strong><br />
Opfer, <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> immer ähnlicher werden <strong>und</strong> an deren Ende<br />
1 Vortrag auf der Fachtagung Schulschwänzen – drop out – early school leaving am 5.11.2010 der<br />
<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> OÖ<br />
2 Thomas von Freyberg/Angelika Wolff (Hg.) <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> Band 1: Konfliktgeschichten nicht<br />
beschulbarer Jugendlicher Brandes & Apsel-Verlag 2005; Band 2: Konfliktgeschichten als Lernprozesse<br />
Brandes & Apsel-Verlag 2006; <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> in der Schule Band 1 u. 2 Brandes & Apsel-<br />
Verlag 2008
nur besiegte Sieger <strong>und</strong> siegreiche Verlierer stehen? Wie ist es möglich,<br />
dass Jugendliche so mächtig, dass ihre professionellen Helfer so ohnmächtig<br />
werden; <strong>und</strong> wie, dass in diesen Konfliktgeschichten <strong>Störer</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Gestörte</strong> fast traumwandlerisch einander "zuarbeiten", sich wechselseitig<br />
vorantreibend, als seien sie in geheimen Komplizenschaften miteinander<br />
verb<strong>und</strong>en?<br />
2. Annahmen <strong>und</strong> methodische Vorentscheidungen<br />
Unser interdisziplinäres Forschungsprojekt, das vom Instituts für Sozialforschung<br />
an der Universität Frankfurt am Main zusammen mit dem Institut<br />
für analytische Kinder- <strong>und</strong> Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt<br />
am Main durchgeführt wurde, hat Konfliktgeschichten nicht beschulbarer<br />
Jugendlicher untersucht <strong>und</strong> Antworten auf diese Fragen gesucht.<br />
Unserer Untersuchung lagen vier Vorentscheidungen zu Gr<strong>und</strong>e:<br />
Wir entschieden uns erstens für die Analyse von Konfliktgeschichten;<br />
denn wir sind davon überzeugt, dass jene Macht-Ohnmacht-Spiralen als<br />
Sequenzen in einer mehrjährigen Konfliktgeschichte zu begreifen sind, in<br />
der beide Seiten agieren <strong>und</strong> reagieren, voneinander lernen, einander<br />
beeinflussen <strong>und</strong> miteinander in Auseinandersetzungen verwickelt sind.<br />
Wir entschieden uns zweitens für eine Reihe von Einzelfalluntersuchungen,<br />
denn die Jugendlichen, ihre konflikthaften Karrieren im Förder- <strong>und</strong><br />
Hilfesystem <strong>und</strong> ihre konkreten Konflikte mit ihren professionellen Helfern<br />
sollten im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen.<br />
Wir entschieden uns drittens für die Untersuchung extremer Fälle, in denen<br />
Jugendliche an Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe gescheitert sind <strong>und</strong> Schule<br />
<strong>und</strong> Jugendhilfe an Jugendlichen; denn im Scheitern manifestieren sich<br />
auch allgemeine Defizite <strong>und</strong> Schwächen des Hilfe- <strong>und</strong> Fördersystems,<br />
die bei weniger schwierigen Jugendlichen irgendwie gemanagt, verdeckt<br />
oder übersehen werden können.<br />
2
Und wir entschieden uns viertens für einen interdisziplinären Forschungsansatz,<br />
der die Konfliktdynamik <strong>und</strong> Konfliktmuster der einzelnen<br />
Jugendlichen ebenso wie die der jeweils beteiligten Institutionen untersuchen<br />
<strong>und</strong> die Zusammenhänge von individueller <strong>und</strong> institutioneller<br />
Konfliktgeschichte entziffern kann.<br />
3. Fallverstehen 3<br />
In unseren Einzelfalluntersuchungen gab es immer drei Untersuchungsschritte,<br />
von denen die beiden ersten parallel <strong>und</strong> arbeitsteilig getrennt<br />
verliefen, der dritte dagegen interdisziplinär gemeinsam durchgeführt<br />
wurde: Zum einen erhob die Forschergruppe der Kinder- <strong>und</strong> Jugendlichen-Psychotherapeuten<br />
mit ihren psychoanalytischen Instrumenten die<br />
Psychodynamik der Jugendlichen, erstellte ein Diagnoseprofil <strong>und</strong> fasste<br />
ihre Untersuchungen <strong>und</strong> Falldiskussionen in einem eigenen Fallbericht<br />
zusammen. Zum anderen rekonstruierte die soziologische Falluntersuchung<br />
die Konfliktgeschichte des Jugendlichen, die zur Feststellung der<br />
"Nichtbeschulbarkeit" im Regelschulsystem führte. Dabei wurden mit allen<br />
wichtigen Professionellen aus Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe ausführliche<br />
Gespräche geführt <strong>und</strong> in einem eigenen Fallbericht ausgewertet. Lagen<br />
beide Fallberichte vor, wurden sie im dritten Schritt in einer interdisziplinären<br />
Falldiskussion vom gesamten Forschungsteam unter der zentralen<br />
Fragestellung nach den Zusammenhängen von individuellem <strong>und</strong><br />
institutionellem Konfliktverhalten reflektiert.<br />
4. Bef<strong>und</strong>e – eine Zusammenfassung<br />
So unterschiedlich die von uns untersuchten Konfliktgeschichten auch<br />
sind – es lassen sich doch drei komplexe Dimensionen identifizieren, die<br />
hier stets zusammenkamen:<br />
3 aaO. Band 1 Kapitel II <strong>und</strong> III<br />
3
4.1 Individuelle Konfliktdynamik <strong>und</strong> Konfliktmuster<br />
Bei allen Jugendlichen unseres Forschungsprojektes ließen sich schwere<br />
<strong>und</strong> frühe Traumatisierungen <strong>und</strong> Bindungsstörungen nachweisen.<br />
Durchgängig haben sie gravierende frühe emotionale Mangelerfahrungen<br />
machen müssen, die ihre – soziale – Lernfähigkeit entscheidend<br />
verletzte, genauer: prägte. Denn derart erworbene Lernstörungen müssen<br />
als subjektiv "sinnvolle" Lösungs- <strong>und</strong> Schutzstrategien verstanden<br />
werden, die unbewusst bleiben, überaus zwanghaft sind <strong>und</strong> die soziale<br />
Lern- <strong>und</strong> Anpassungsfähigkeit extrem einengen. Während diese Kinder<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen durchaus "lernfähig" sein können, solange Lernen sich<br />
weitgehend auf das kumulative Dazu-Lernen von Wissen <strong>und</strong> Fertigkeiten<br />
– also den schulischen Bildungsstoff – beschränkt; müssen sie als<br />
geradezu "lernbehindert" angesehen werden zum einen dort, wo geforderte<br />
Lernprozesse notwendig verb<strong>und</strong>en sind mit der Reorganisation<br />
von Wissen <strong>und</strong> Können, mit dem Verzicht auf frühere Gewissheiten, mit<br />
Irritation <strong>und</strong> Verunsicherung; zum anderen dort, wo Lernprozesse sozial<br />
eingebettet sind <strong>und</strong> entwickelte Beziehungsfähigkeiten verlangen. Die<br />
emotionalen <strong>und</strong> sozialen Probleme solcher korrigierenden <strong>und</strong> neu<br />
strukturierenden Lernprozesse verlangen ein Mindestmaß an Neugierde,<br />
Differenzierung <strong>und</strong> Anstrengungsbereitschaft <strong>und</strong> die Fähigkeit, Angst,<br />
Hilflosigkeit <strong>und</strong> Unsicherheit auszuhalten. Und genau dazu sind diese<br />
"beziehungsgestörten" Kinder kaum in der Lage, genau dagegen haben<br />
sie ihre Strategien der Abwehr <strong>und</strong> der Vermeidung entwickelt. Die mit<br />
jedem komplexen Lernen verb<strong>und</strong>ene Erregung von Angst <strong>und</strong> Hilflosigkeit<br />
kann von diesen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nicht kontrolliert <strong>und</strong> in<br />
einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Neugier transformiert werden.<br />
Die unkontrollierbaren Situationen solchen strukturellen Lernens<br />
reaktivieren bei diesen Jugendlichen frühe Ohnmachterlebnisse; darauf<br />
reagieren sie mit panischen Ängsten vor Entwertung oder Vernichtung –<br />
4
<strong>und</strong> dagegen mobilisieren sie mit existentieller Entschlossenheit ihre<br />
Strategien der Angstabwehr. Nur die aber werden wahrgenommen. Das<br />
macht diese Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen so unangreifbar <strong>und</strong> unberührbar:<br />
sie scheinen "autonom", unabhängig von der Zustimmung oder Kritik ihrer<br />
Erwachsenen, unabhängig aber auch von allen Angeboten der Hilfe<br />
oder Förderung. Die Jugendlichen unseres Forschungsprojekts mussten<br />
die auf ihrer psychischen Konfliktgeschichte mit ihren Eltern basierende<br />
innere Beziehungsdynamik anhaltend <strong>und</strong> derart zerstörerisch an der<br />
Schule fest machen, dass sie am Ende einer langen institutionellen Konfliktgeschichte<br />
schließlich als nicht beschulbar vom Besuch der Regelschule<br />
ausgeschlossen wurden – zumeist mit entsprechend schlechter<br />
sozialer Prognose. Diese Jugendlichen, so könnte man sagen, haben im<br />
Verlauf der Inszenierungen ihrer psychisch unerträglichen Affekte, Objekterfahrungen<br />
<strong>und</strong> z.T. Traumatisierungen aus der Vergangenheit auch<br />
in der Schule <strong>und</strong> im Bereich der Jugendhilfe kein hinreichend gutes,<br />
<strong>und</strong> das heißt: um ihr seelisches Wohl besorgtes Objekt auf den Plan<br />
rufen <strong>und</strong> finden können. Ein wichtiger Gr<strong>und</strong> dafür lag vor allem darin,<br />
dass diese Jugendlichen auf der manifesten Ebene keine Angst, geschweige<br />
denn Hilfsbedürftigkeit zeigten, sondern sich weitgehend unberührbar<br />
<strong>und</strong> scheinbar autonom gaben <strong>und</strong> allenfalls Angst machten.<br />
4.2 Institutionelle Konfliktdynamik <strong>und</strong> Konfliktmuster – strukturelle<br />
Verantwortungslosigkeit 4<br />
Diese schwierigen Jugendlichen stoßen auf ein schwieriges Schulsystem,<br />
das mitverantwortlich ist für die eskalierenden Macht-Ohnmacht-<br />
Spiralen in den von uns untersuchten Konfliktgeschichten.<br />
4 s. dazu: Thomas von Freyberg Tantalos <strong>und</strong> Sisyphos in der Schule – Zur strukturellen Verantwortung<br />
der Pädagogik Brandes & Apsel Verlag Frankfurt am Main 2009<br />
5
Unsere Untersuchung konzentrierte sich wie gesagt auf nicht beschulbare<br />
Jugendliche mit einer langen Konfliktgeschichte im Regelschulsystem.<br />
Wir hatten es also mit ausgesucht auffälligen Jugendlichen zu tun. Umso<br />
irritierender war für uns die durchgängige Erfahrung, dass die verantwortlichen<br />
Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer die Probleme, die diese Jugendlichen<br />
machten, nicht als Ausdruck schwerer psychischer Störungen gesehen<br />
<strong>und</strong> ernst genommen hatten. Offensichtlich verlangen diese schwierigen<br />
Jugendlichen von ihren Professionellen ein besonders hohes Maß an<br />
Zuwendung <strong>und</strong> Aufmerksamkeit, an professioneller Kompetenz <strong>und</strong> an<br />
Bereitschaft, für sich selbst kollegiale <strong>und</strong> fachliche Unterstützung anzufordern<br />
<strong>und</strong> zu nutzen. Dafür sind Lehrer wenig gut vorbereitet, haben<br />
auch nicht die nötigen zeitlichen Ressourcen <strong>und</strong> auch die Räume für<br />
kollegiale Fallberatung <strong>und</strong> Supervision stehen ihnen meist nicht zur Verfügung.<br />
Die Zusammenarbeit von Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe ist – seit gut dreißig<br />
Jahren – Thema von Tagungen, Konferenzen, Arbeitsgemeinschaften,<br />
Kommissionsberichten <strong>und</strong> Fachgesetzen. Und ohne Zweifel fanden hier<br />
wichtige Entwicklungen statt. Umso irritierender war, dass in keiner der<br />
von uns untersuchten Konfliktgeschichten von einer verlässlichen fachlichen<br />
Zusammenarbeit zwischen Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe die Rede sein<br />
konnte. Offensichtlich verlangen diese schwierigen Jugendlichen eine<br />
langfristige, verbindliche <strong>und</strong> interdisziplinäre Zusammenarbeit im Einzelfall.<br />
Und dafür sind beide Seite wenig gut ausgerüstet. Strikte Arbeitsteilung,<br />
wechselseitige Instrumentalisierung, gegenseitige Schuldzuweisung<br />
oder gemeinsame Entsorgung der <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> ihrer Eltern waren in<br />
unseren Fällen die Erscheinungsformen der Arbeitsbeziehungen zwischen<br />
Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe.<br />
Die von uns untersuchten Konfliktgeschichten sind in allen Fällen auch<br />
Geschichten mangelhafter oder gescheiterter Versuche, Arbeitsbündnis-<br />
6
se mit den Familien dieser schwierigen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen aufzubauen.<br />
Belastbare Arbeitsbündnisse in diesem Feld können nur mit Einsatz<br />
von viel Mühe, höchster Geduld <strong>und</strong> spezifischer professioneller<br />
Kompetenz zustande kommen. In unseren Untersuchungsfällen fehlten<br />
der Regelschule <strong>und</strong> den Lehrern dafür die notwendigen Ressourcen<br />
<strong>und</strong> Kompetenzen. Die haben sie nicht gelernt <strong>und</strong> dafür steht ihnen<br />
auch nicht die nötige Zeit zur Verfügung. So reduziert sich – insbesondere<br />
dann, wenn es zu schweren Konflikten kommt - die Beziehung zwischen<br />
Schule <strong>und</strong> Eltern recht schnell auf gegenseitige Delegation von<br />
Verantwortung <strong>und</strong> Vorwürfe. In allen unseren Konfliktgeschichten waren<br />
also stets auch die Beziehungen von Eltern <strong>und</strong> Schule in hohem Maß<br />
gestört. Die Eltern erwiesen sich immer als Teil des Problems, fast nie<br />
als Teil <strong>und</strong> Partner bei der Lösung des Problems. Gerade bei d e n<br />
Schülern, wo der Aufbau von Arbeitsbündnissen zwischen Schule <strong>und</strong><br />
Eltern am dringendsten gewesen wäre, eben weil die Kinder nicht schulreif<br />
waren, <strong>und</strong> weil sie ihre ungelösten Beziehungskonflikte in die<br />
Schulbeziehungen tragen mussten, waren solche Arbeitsbündnisse nie<br />
zustande gekommen.<br />
So wenig wir in unseren Untersuchungsfällen auch nur Ansätze eines<br />
integrierten Hilfe- <strong>und</strong> Förderprozesses entdecken konnten, so wenig<br />
sichtbar waren kontinuierliche Bemühungen der Professionellen um ein<br />
qualifiziertes Fallverständnis. Das gegliederte System der Regelschule<br />
erlaubt es, die Bemühungen um ein Fallverständnis weitgehend durch<br />
die eingespielte selektive Praxis zu ersetzen.<br />
In allen unseren Fällen stießen also besonders schwierige Kinder mit ihren<br />
Eltern auf besonders schwierige Hilfe- <strong>und</strong> Förderstrukturen; <strong>und</strong> erst<br />
beides zusammen macht, dass die Hilfe- <strong>und</strong> Förderprozesse konflikthaft<br />
eskalierten <strong>und</strong> in die "ruhende Schulpflicht" mündeten.<br />
7
4.3 Verstrickungen in den Konfliktbeziehungen zwischen den Jugendlichen<br />
<strong>und</strong> ihren Professionellen<br />
Das wichtige Vermittlungsglied zwischen der Psychodynamik <strong>und</strong> der<br />
Soziodynamik in den Konfliktgeschichten ist der unbewusste Mechanismus<br />
von Übertragung <strong>und</strong> Gegenübertragung. Die Macht der Verstrickung<br />
zwischen Professionellen <strong>und</strong> unseren Jugendlichen lebt von diesem<br />
Mechanismus – wie umgekehrt die Chance des Verstehens <strong>und</strong> des<br />
Durchbrechens von Wiederholungszwang <strong>und</strong> Eskalation in dieser emotionalen<br />
Verstrickung liegt – wenn sie reflexiv genutzt werden kann. Für<br />
unser interdisziplinäres Projekt hat deshalb die Gegenübertragung eine<br />
wichtige Brückenfunktion zwischen Individuum <strong>und</strong> Institution.<br />
Übertragungs- <strong>und</strong> Gegenübertragungsprozesse sind basale Voraussetzungen<br />
sozialer Beziehungen. Auf ihnen beruht jegliche pädagogische<br />
Intuition, von ihnen leben Erziehungs- <strong>und</strong> Lernprozesse. Indem Kinder<br />
ihre familiären Beziehungserfahrungen <strong>und</strong> die an sie geb<strong>und</strong>enen Emotionen<br />
auf andere, für sie wichtige Erwachsene übertragen; <strong>und</strong> indem<br />
nun ihrerseits diese Erwachsenen auf diese Übertragung mehr oder weniger<br />
einfühlsam, akzeptierend oder zurückweisend – stets aber "auf ihre<br />
Weise" – reagieren, werden durch die Gegenübertragung die Übertragungsprozesse<br />
des Kindes modifiziert, lernen Kinder differenzierte Beziehungen<br />
zu verstehen, zu akzeptieren <strong>und</strong> ihrerseits "vorzuschlagen"<br />
oder anzubieten. Übertragung <strong>und</strong> Gegenübertragung sind – unter normalen<br />
Bedingungen – elastische <strong>und</strong> flexible Prozesse wechselseitiger<br />
Einfühlung, Anpassung <strong>und</strong> Entwicklung. Wenn Kinder in die Schule<br />
kommen, haben sie in der Regel gelernt, halbwegs flexibel, experimentierend<br />
<strong>und</strong> unter Vorbehalt ihre Übertragung zu gestalten – <strong>und</strong> sie stoßen<br />
auf pädagogisch erfahrene Gr<strong>und</strong>schullehrer, die bereit <strong>und</strong> in der<br />
Lage sind, diese Übertragungsvorgänge anzunehmen, sie professionell<br />
8
kontrolliert zu beantworten <strong>und</strong> sie so für die schulische Bildungsarbeit<br />
zu nutzen.<br />
Die extrem schwierigen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen unserer Untersuchung<br />
aber sind genau an diesem Punkt nie wirklich "schulreif" gewesen. Ihre<br />
Übertragungsgestaltung ist rigide, inflexibel, zwanghaft, häufig durch<br />
Spaltung <strong>und</strong> projektive Identifikation gekennzeichnet; <strong>und</strong> sie sind unfähig,<br />
eigenständige, differenzierte Gegenübertragungsreaktionen ihrer<br />
Erwachsenen zu akzeptieren. Vor allem in krisenhaften Phasen individueller<br />
Entwicklungen wie beim Übergang in die Pubertät <strong>und</strong> schulischer<br />
Entwicklungen wie beim Übergang in eine weiterführende Schule sind<br />
diese Jugendlichen von den sozialen Anforderungen an sie überfordert.<br />
Mit ungeheurer Macht <strong>und</strong> suggestiver Kraft übertragen sie ihre gestörten,<br />
traumatisierten Beziehungserfahrungen <strong>und</strong> die mit ihnen zusammenhängenden<br />
archaischen Affekte von Angst vor Missachtung oder<br />
Vernichtung. Dieses Übertragungsgeschehen ist deshalb so gewaltförmig,<br />
weil es für diese Jugendlichen die einzige Weise ist, ihre für sie unerträglichen<br />
Gefühle von Angst <strong>und</strong> Hilflosigkeit abzuwehren: sie "zwingen"<br />
ihren Erwachsenen geradezu jene Objektbeziehung auf, die sie gelernt<br />
haben – <strong>und</strong> übertragen so ihre gestörten Bindungs- <strong>und</strong> Beziehungserfahrungen<br />
auf die sozialen Beziehungen zu Mitschülern <strong>und</strong><br />
Lehrern. Sie verstricken so ihr soziales Umfeld in die eigene Psychodynamik<br />
– <strong>und</strong> sind ausgerechnet bei jenen Professionellen damit besonders<br />
erfolgreich, die bereit sind, sich auf diese Jugendlichen einzulassen,<br />
sich verantwortlich um sie zu kümmern, sie "an sich heranzulassen".<br />
Ohne ein Verständnis des Beziehungsmusters, in das diese Schüler ihre<br />
Lehrer verwickeln wollen, bleibt den Professionellen zum Selbstschutz<br />
nur die Abwehr der affektiven Zumutungen. In den nicht durchschauten<br />
Konfliktbeziehungen provoziert <strong>und</strong> strukturiert das unbewusste Abwehr-<br />
9
system der Jugendlichen die latente abwehrende Haltung der Professionellen.<br />
5. Zwei Fallskizzen: Kämpfe um Macht <strong>und</strong> Kontrolle – geheime<br />
Komplizenschaften 5<br />
Die Beziehungen von individueller <strong>und</strong> institutioneller Konfliktdynamik<br />
sind in unseren Falluntersuchungen vielfältiger Art. Die folgende kurze<br />
Fallskizze konzentriert sich auf einen wichtigen <strong>und</strong> offenk<strong>und</strong>igen Aspekt;<br />
<strong>und</strong> zugleich auf einen nicht minder wichtigen aber verborgenen<br />
Aspekt dieser Beziehungen. Offenk<strong>und</strong>ig ist der Kampf um Kontrolle <strong>und</strong><br />
Autonomie. Die Autonomie, um die in dieser Konfliktgeschichte gekämpft<br />
wird, ist – auf der Seite des Jugendlichen - eine scheinbare Autonomie,<br />
eine Autonomie, die Abhängigkeit, Unsicherheit, Hilflosigkeit verleugnen<br />
– <strong>und</strong> angebotene Hilfe abwehren muss. Sie ist – auf der Seite der Professionellen<br />
– eine bedrohte Autonomie, eine gefährdete professionelle<br />
Autonomie, die zu scheitern droht, weil ihr die notwendigen Ressourcen<br />
<strong>und</strong> Kompetenzen fehlen, verantwortlich, d.h. professionell mit diesen<br />
schwierigen Jugendlichen umzugehen. Es ist – in gewisser Weise – auf<br />
beiden Seiten die autarke Autonomie des überforderten Einzelkämpfers.<br />
Verborgen dagegen sind die geheimen <strong>und</strong> unbewussten Bündnisse <strong>und</strong><br />
Komplizenschaften in dieser Konfliktgeschichte; auch von denen handelt<br />
die folgende Fallskizze.<br />
5.1 Alberto wurde in einer westdeutschen Großstadt geboren. Gegen<br />
Ende seines ersten Lebensjahres kehrte seine Familie zurück in ihre<br />
Heimat nach Süditalien <strong>und</strong> blieb dort die folgenden sechs Jahre. Anschließend,<br />
Alberto war in Italien schon eingeschult worden, kam die<br />
5 <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> Band 1: Kapitel I<br />
10
Familie wieder nach Deutschland <strong>und</strong> Alberto besucht in den folgenden<br />
vier Jahren die Gr<strong>und</strong>schule in seiner deutschen Geburtsstadt. Von Anfang<br />
an ist Alberto ein auffallend schwieriges Kind, für das zahlreiche<br />
außerschulische Hilfen organisiert werden. In den beiden – auf die<br />
Gr<strong>und</strong>schule folgenden - Jahren besucht Alberto eine Gesamtschule <strong>und</strong><br />
hier eskalieren die Konflikte zwischen ihm <strong>und</strong> seinen Lehrern. Missbilligungen,<br />
Klassenkonferenzen <strong>und</strong> Ordnungsmaßnahmen führen zur Einschaltung<br />
des örtlichen, ambulant arbeitenden Beratungs- <strong>und</strong> Förderzentrums<br />
<strong>und</strong> schließlich zum Schulverweis. Es findet sich noch eine<br />
Hauptschule, die Alberto aufnimmt; aber nach einem weiteren Schuljahr<br />
dort wird Albertos Schulkarriere im Regelschulsystem beendet. Er<br />
kommt in der Lernwerkstatt des Beratungs- <strong>und</strong> Förderzentrums unter,<br />
einer Ganztageseinrichtung der Erziehungshilfe <strong>und</strong> der Hilfe zur Erziehung.<br />
Doch die auch dort eskalierenden Konflikte führen innerhalb von 6<br />
Monaten zum Abbruch der Maßnahme <strong>und</strong> anschließend zur formalen<br />
Erklärung der ruhenden Schulpflicht.<br />
Durch die 10jährige Konfliktgeschichte Albertos mit Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />
zieht sich - wie ein breiter roter Faden - das zentrale Thema einer<br />
permanent scheiternden fachlichen <strong>und</strong> interdisziplinären Kooperation<br />
hindurch. Der mangelnden Fähigkeit zur fachlichen Zusammenarbeit auf<br />
der Seite der Professionellen entspricht auf der Seite dieses Schülers<br />
eine ungeheuere Fähigkeit, die Erwachsenen, die mit ihm zu tun haben,<br />
zu spalten <strong>und</strong> in gegnerische Lager zu sortieren.<br />
Da gab es auf der einen Seite jene, die viel Verständnis für Alberto aufbrachten,<br />
ihn vor allem als Opfer wahrnahmen, als Opfer eines gewalttätigen<br />
Vaters, einer übergriffigen Mutter <strong>und</strong> wenig sensibler Lehrer; als<br />
Opfer auch früher, traumatisierender Verletzungen <strong>und</strong> Trennungen. Hinter<br />
dem tobenden, um sich schlagenden, ausrastenden Jungen sahen<br />
11
sie das verzweifelte, verängstigte <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ete Kind, das sie mit Zuwendung<br />
<strong>und</strong> Hilfeangeboten geradezu „überfütterten“.<br />
Und auf der anderen Seite gab es jene, die Alberto vor allem als Täter<br />
wahrnahmen, die fast nur Albertos destruktive, hinterhältige <strong>und</strong> verlogene<br />
Seiten sahen, für die dieser Junge kaum etwas anderes war als ein<br />
unerträglicher <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> Provokateur, ein Quälgeist mit offenk<strong>und</strong>ig sadistischen<br />
Zügen gegenüber Schwächeren <strong>und</strong> vor allem Mädchen, ein<br />
hinterhältiger <strong>und</strong> gemeiner Junge, der zu Hause die ganze Familie tyrannisiert<br />
<strong>und</strong> der die Schule für seine mafiosen Aktivitäten nutzt.<br />
Symptomatisch an diesem Fall war die Ausschließlichkeit <strong>und</strong> Starrheit<br />
der jeweiligen Perspektive auf Alberto. Stets gab es unter den Professionellen<br />
Albertos zwei Lager <strong>und</strong> nur selten wechselten die Professionellen<br />
von dem einen in das andere Lager; <strong>und</strong> dem Blick von außen schien es,<br />
als würde Alberto es sein, der seine Erwachsenen sortiert; als würde er<br />
darüber entscheiden, wer ins Lager der Guten, der Fre<strong>und</strong>e, der Beschützer<br />
oder in das der Bösen, der Feinde, der Angreifer gehört. Die<br />
Macht Albertos, seine Unabhängigkeit, seine Autonomie beruhten geradezu<br />
auf dieser Fähigkeit, die Großen seiner Welt in Lager zu spalten,<br />
gegeneinander aufzubringen <strong>und</strong> auszuspielen, <strong>und</strong> so ihre bedrohliche<br />
Macht zu neutralisieren. Auf der Seite der Professionellen war diese<br />
Spaltung in Lager notwendig damit verb<strong>und</strong>en, das keins der beiden Lager<br />
mit seiner Fallperspektive weiter kam; keins konnte ein angemessenes<br />
Fallverständnis entwickeln – eben weil die Spaltung in Lager beides<br />
unmöglich machte: die fachliche Kooperation <strong>und</strong> die Verknüpfung beider<br />
Fallperspektiven. Der Preis war der Verlust der professionellen Distanz<br />
<strong>und</strong> Autonomie.<br />
5.2 Dalina wurde 1982 in einer westdeutschen Großstadt geboren.<br />
Beide Eltern sind Deutsche. Die vier Jahre Gr<strong>und</strong>schule zeigen eine be-<br />
12
gabte, introvertierte <strong>und</strong> kontaktscheue Schülerin mit chronischen<br />
Schwierigkeiten gegenüber den Ordnungsanforderungen der Schule.<br />
Regelmäßige, relativ hohe entschuldigte Fehlzeiten in allen vier Gr<strong>und</strong>schuljahren<br />
fallen der Klassenlehrerin nicht auf. Nach den vier Gr<strong>und</strong>schuljahren<br />
wechselt Dalina in die Förderstufe einer benachbarten<br />
Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> erfährt dort Anerkennung ihrer guten schulischen Leistungen.<br />
Ihre weiterhin katastrophale Arbeitsorganisation wird von der<br />
Klassenlehrerin nicht zum Feld von Konflikten gemacht. Das aber geschieht<br />
dann im Realschulzweig der Gesamtschule, auf die Dalina nach<br />
den zwei Jahren Förderstufe wechselt. Innerhalb eines halben Jahres<br />
wird sie zur chronischen Schulverweigerin. Am Ende des Schuljahres<br />
wird sie nicht versetzt <strong>und</strong> in der Wiederholungsklasse setzt Dalina die<br />
Schulverweigerung bruchlos fort. Nach einem weiteren halben Jahr<br />
stimmen Dalinas Eltern einem Wechsel ihrer Tochter an eine Hauptschule<br />
zu. Dalina erscheint dort nur drei Tage zum Unterricht <strong>und</strong> bleibt die<br />
folgenden Monate von der Schule fern. Es wird sonderpädagogischer<br />
Förderbedarf festgestellt <strong>und</strong> Dalina wechselt im Sommer mit Beginn des<br />
neuen Schuljahres an die Werkstatt Lernen des Beratungs- <strong>und</strong> Förderzentrums.<br />
In den folgenden zwei Jahren ist sie eine überdurchschnittliche<br />
gute Schülerin in dieser Einrichtung <strong>und</strong> schließt mit dem Hauptschulabschluß<br />
ab. Der anschließende Wechsel an eine Berufs- <strong>und</strong> Berufsfachschule<br />
endet nach wenigen Tagen. Dalina reagiert auf die ihr<br />
bekannte Schulatmosphäre durch entschiedene Schulverweigerung.<br />
Blickt man auf die mehr als 10-jährige Schulgeschichte Dalinas zurück,<br />
fällt vor allem auf: Diese Schülerin wird einfach übersehen. So konsequent<br />
wie Dalina in ihren letzten Jahren in der Regelschule die Schule<br />
<strong>und</strong> den Unterricht verweigert, so konsequent verweigert die Regelschule<br />
– vom ersten Tag an – dieser Schülerin das Maß an Aufmerksamkeit,<br />
das sie mit ihren Schwierigkeiten <strong>und</strong> Problem benötigt hätte. Kein Wun-<br />
13
der also, dass mir zur Konfliktgeschichte dieses Mädchens mit Schule<br />
<strong>und</strong> Jugendhilfe das Thema des institutionellen Aufmerksamkeits-Defizit-<br />
Syndroms einfiel.<br />
Das meint zunächst ganz schlicht, dass Dalina als schwierige <strong>und</strong> konfliktbeladene<br />
Person von Schule <strong>und</strong> Lehrern nicht wahrgenommen wird.<br />
Dalina ist introvertiert, still <strong>und</strong> zurückgezogen, ein mageres, unscheinbares<br />
<strong>und</strong> unauffälliges Mädchen. Sie zieht die Aufmerksamkeit ihrer<br />
Lehrerin in der Gr<strong>und</strong>schule nicht auf sich, sie kann offensichtlich deren<br />
Interesse oder auch Sorge nicht wecken. Auch dort nicht, wo sie "auffällig"<br />
wird, wo sie nicht recht "funktioniert". Dalina wird übersehen – <strong>und</strong><br />
macht sich unsichtbar. Später, in der Gesamtschule, perfektioniert Dalina<br />
diese "Kompetenz". Nun ist sie zur chronischen Schulverweigerin geworden,<br />
doch keiner merkt auf. Eine irritierende Parallelität: Die Schule<br />
schaut nicht auf diese Schülerin <strong>und</strong> ihre Probleme <strong>und</strong> Dalina verschwindet<br />
aus der Schule <strong>und</strong> macht sich vollends unsichtbar; die Schule<br />
verweigert sich den Anforderungen dieser schwierigen Schülerin <strong>und</strong><br />
Dalina verweigert sich den Anforderungen der Schule. Abseits dieser<br />
aufdringlichen Parallelität finden eigentümliche monologische Handlungen<br />
statt. Das Mädchen verlässt pünktlich <strong>und</strong> regelmäßig ihr Zuhause<br />
<strong>und</strong> treibt sich "irgendwie <strong>und</strong> irgendwo" am nahegelegenen Fluss <strong>und</strong><br />
an der Rennbahn herum. Und die Schule spult ihr Arsenal an Ordnungsmaßnahmen<br />
ab: Dalina kommt nicht mehr in die Schule, also wird<br />
sie nicht versetzt. Sie kommt in eine neue Klasse, in die sie auch nicht<br />
kommt, also wird sie an eine andere Schule abgeschoben. Dort erscheint<br />
sie auch nicht, also wird sie aus dem Regelschulsystem entfernt.<br />
Und immer wieder: Ordnungswidrigkeitsanzeigen. Keine dieser Maßnahmen<br />
hat noch irgend einen nachvollziehbaren Bezug zu den Problemen<br />
dieser Schülerin.<br />
14
Es hätte keines besonders scharfen <strong>und</strong> geschulten Blicks bedurft, um<br />
frühzeitig festzustellen, dass Dalina unter schwersten Störungen leidet;<br />
<strong>und</strong> es lag einfach auf der Hand, dass Schule hier der kompetenten Unterstützung<br />
von dritter Seite bedurfte. Doch weder hat die Schule in der<br />
mehr als 10jährigen Konfliktgeschichte Dalinas auf professionelle Weise<br />
das Gespräch mit Dalinas Eltern gesucht, noch ist es einem der zuständigen<br />
Professionellen je eingefallen, den schulpsychologischen Dienst<br />
hinzuzuziehen oder medizinische, psychiatrische, psychotherapeutische<br />
oder psychosoziale Hilfen nachzufragen. Das Maß der Gefährdung <strong>und</strong><br />
die Tiefe der Störung dieser Schülerin werden systematisch übersehen.<br />
Das hat viel mit den institutionellen Bedingungen von Schule <strong>und</strong> Lehrerausbildung<br />
zu tun – aber auch etwas mit der spezifischen Psychodynamik<br />
dieser Schülerin. Dalina strahlt offensichtlich eine derart unerträgliche<br />
Bedürftigkeit aus, dass alle Professionellen unmittelbar spüren,<br />
"dass hier mit ein bißchen Zuwendung, Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Anerkennung<br />
im Rahmen des schulisch Möglichen es nicht getan ist". Und hier<br />
treffen sich beide Seiten, Dalina <strong>und</strong> ihre Professionellen, im komplementären<br />
Bemühen, den Ernst der Gefährdung <strong>und</strong> Störung zu verleugnen.<br />
Das – allen Beteiligten gemeinsame – Thema der Konfliktgeschichte<br />
zwischen Dalina <strong>und</strong> ihren Professionellen ist die Wahrung von Autonomie<br />
durch Verleugnung <strong>und</strong> Vermeidung: An Dalinas bodenloser Bedürftigkeit<br />
können Lehrer nur scheitern. Und Scheitern darf in der Schule<br />
nicht sein – nicht bei Schülern <strong>und</strong> erst recht nicht bei Lehrern. In der<br />
Leugnung <strong>und</strong> Abwehr der eigenen Bedürftigkeit besteht der Zusammenhang<br />
jenes institutionellen Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms mit<br />
der Psychodynamik Dalinas: Dalina wird nicht einfach übersehen – sie<br />
macht sich verschwinden. Es ist ein aktives <strong>und</strong> offensichtlich entschiedenes<br />
Verhalten, viel spricht dafür, dass es ein gelerntes Verhalten ist.<br />
15
Sie selbst inszeniert machtvoll im Umgang mit anderen das Aus dem<br />
Auge – aus dem Sinn. Und sie stößt mit dieser Inszenierung in der Regelschule<br />
auf das passende Gegenüber – ausgestattet mit einer hohen<br />
Bereitschaft, zu übersehen <strong>und</strong> zu vergessen. So "retten" beide Seiten<br />
sich <strong>und</strong> ihre Autonomie – die eine, indem sie sich unsichtbar macht, die<br />
andere, in dem sie nicht hinschaut.<br />
6. Keine Lösungen, aber: eine andere Perspektive – geschützte<br />
Räume <strong>und</strong> Zeiten – die Dritte Instanz als produktiver „<strong>Störer</strong>“<br />
Wir haben keine Rezepte anzubieten <strong>und</strong> keine Lösungen. Unsere Konfliktgeschichten<br />
sind aber ein starkes Plädoyer für sorgfältige frühe pädagogische<br />
<strong>und</strong> therapeutische Interventionen, für die Integration von<br />
Hilfe- <strong>und</strong> Förderprozessen, für die Investition von Zeit <strong>und</strong> Kompetenzen<br />
in Vorbereitung, Aufbau <strong>und</strong> Pflege von verlässlichen <strong>und</strong> belastbaren<br />
Arbeitsbündnissen mit den schwierigen Jugendlichen <strong>und</strong> deren Familien,<br />
für interdisziplinäre Fallberatung <strong>und</strong> den kontinuierlichen Einsatz<br />
professioneller Instrumente des kollegialen <strong>und</strong> interdisziplinären Fallverstehens.<br />
Zu lernen wäre also etwas über die eigenen Grenzen, über<br />
die unverzichtbare fachliche, durch Dritte unterstützte, kontinuierliche<br />
Reflexion eigenen Handelns <strong>und</strong> etwas über die notwendige Bescheidenheit<br />
in den Ansprüchen an die eigenen professionellen Künste.<br />
Ausgangspunkt solcher Lernprozesse müsste eine Perspektive auf diese<br />
bedrohlichen <strong>und</strong> bedrohten Jugendlichen sein, wie sie durch unsere<br />
Falluntersuchungen nahe gelegt wird. Ihre Störungen sind häufig unverzichtbare<br />
Überlebensstrategien, unglückliche, destruktive, kranke <strong>und</strong><br />
krankmachende Strategien, die Entwicklung <strong>und</strong> Lernen, zunehmende<br />
Reife <strong>und</strong> wachsende Autonomie sabotieren – aber es sind eben Über-<br />
16
lebensstrategien mit Sinn. Diese Störungen können nur aufgegeben<br />
werden, wenn verlässliche, bessere Alternativen annehmbar erscheinen.<br />
Und diese Störungen sind entwickelte, ausformulierte, pointierte Störungen<br />
mit erheblichem Krankheitsgewinn geworden – auch in Reaktion auf<br />
die machtvoll destruktiven Erfahrungen mit Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe. Ein<br />
solcher „sek<strong>und</strong>ärer Krankheitsgewinn“ wird mit jedem subjektiv als<br />
grandioser Sieg umgedeuteten, in Wahrheit katastrophalen Scheitern<br />
weiter gefestigt <strong>und</strong> nimmt am Ende überhand. Zu lernen wäre also etwas<br />
über den professionellen <strong>und</strong> institutionellen Anteil an diesen Störungen,<br />
an der negativen Lerngeschichte dieser Jugendlichen, an deren<br />
deformierter Bildungsgeschichte.<br />
Verantwortliche Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen erfordert<br />
auf der Seite der Schule zunächst eine gr<strong>und</strong>sätzliche Voraussetzung:<br />
Das heimliche 1. Gebot von Schule müsste seine Macht verlieren,<br />
das da heißt: Du darfst nicht versagen! Du darfst keine Fehler machen!<br />
Die Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen würde um einiges<br />
leichter <strong>und</strong> kreativer – <strong>und</strong> das heißt nicht unbedingt: in jedem Fall erfolgreich!<br />
– wenn an diesem Punkt ein gr<strong>und</strong>sätzlicher Wandel der beruflichen<br />
Haltung sich durchsetzte: Fehler <strong>und</strong> Versagen sind wichtige Anreize<br />
zum Lernen <strong>und</strong> zur Weiterentwicklung – vorausgesetzt, sie werden<br />
nicht sofort sanktioniert, immer gleich vertuscht oder panisch vermieden.<br />
Dies gilt für Lehrer wie für Schüler. Störende <strong>und</strong> unerträgliche<br />
Verhaltensweisen von Schülern, die unweigerlich spontane Reaktionen<br />
herausfordern, könnten dann als wichtige Hinweise für die Notwendigkeit<br />
gesehen werden, die eigene Arbeit <strong>und</strong> ihre Rahmenbedingungen kritisch<br />
zu reflektieren <strong>und</strong> eventuell zu verändern. Und niemand gibt solche<br />
Hinweise derart aufdringlich <strong>und</strong> deutlich wie eben jene Kinder <strong>und</strong><br />
Jugendliche, die als „nicht beschulbar“ gelten.<br />
17
Impulse für den Workshop 3: Über Bedingungen <strong>und</strong> Möglichkeiten,<br />
endlose <strong>und</strong> eskalierende Konfliktgeschichten zu beenden <strong>und</strong><br />
Räume für Lernprozesse zu eröffnen<br />
Impuls 1 Überblick<br />
Von <strong>Störer</strong>n <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong>n zu lernen – das wäre allerdings eine ganz<br />
andere Perspektive als diejenige, der angesichts eskalierender Konfliktgeschichten<br />
früher oder später nur noch die Frage einfällt: Wohin mit den<br />
<strong>Störer</strong>n? Die bewusst von uns gewählte Mehrdeutigkeit unseres Buchtitels<br />
<strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> kann bei der Frage, wie <strong>Gestörte</strong> <strong>und</strong> <strong>Störer</strong> von<br />
einander lernen könnten, hilfreich sein. Antworten wären auf drei Ebenen<br />
zu suchen:<br />
Die eine Ebene wurde schon angesprochen: Professionelle können die<br />
<strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong>n unter ihrer Klientel als wichtige Informanten für die<br />
institutionellen <strong>und</strong> professionellen Schwächen <strong>und</strong> Defizite ihrer Arbeit<br />
mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nutzen. Sie nehmen dann im<br />
Prinzip die gleiche Perspektive auf „den Fall“ ein wie die soziologische<br />
Fallanalyse in unserem Forschungsprojekt: Das störende <strong>und</strong> verweigernde<br />
Verhalten schwieriger Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher ist dabei insofern<br />
von Interesse, als es, einem Katalysator vergleichbar, die Schwächen<br />
<strong>und</strong> Defizite der Institution ans Licht bringt <strong>und</strong> damit Raum schafft sowohl<br />
für die Frage nach den institutionellen Anteilen an der Konflikteskalation<br />
als auch für die Frage nach notwendigen organisatorischen <strong>und</strong><br />
qualifikatorischen Veränderungen der Institution. Einiges spricht dafür,<br />
dass eine derartige Gr<strong>und</strong>haltung nicht nur für eine lernende Erziehungshilfeschule<br />
angebracht ist. Auch für die Regelschule dürfte gelten:<br />
Eine Schule, die lernt, ihren nicht angepassten <strong>und</strong> nur schwer beschulbaren<br />
Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ein guter Ort zu sein, ist sicher auch ein<br />
18
esserer Ort für alle anderen Schüler <strong>und</strong> wahrscheinlich auch für die<br />
Lehrer.<br />
Eine zweite Ebene wird beschritten, wenn es um die direkte pädagogische<br />
Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen geht. Unsere<br />
Falluntersuchungen haben deutlich gemacht, dass sinnvolle <strong>und</strong> verantwortungsvolle<br />
Arbeit in diesem Feld scheitern muss, wenn die Professionellen<br />
kein Verständnis für den Sinn der Verhaltensauffälligkeiten entwickeln<br />
können. Dabei geht es um beide Bedeutungen von „Verstehen“:<br />
das professionelle <strong>und</strong> intellektuelle Verständnis dessen, was die<br />
schwierigen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen – unbewusst – mit ihren Störungen<br />
ausdrücken <strong>und</strong> bewirken mögen, <strong>und</strong> das einfühlende Nachvollziehen<br />
möglicher psychischer Probleme <strong>und</strong> Konflikte, die sich hinter dem störenden<br />
Verhalten verbergen können <strong>und</strong> die in den Übertragungs- <strong>und</strong><br />
Gegenübertragungsbeziehungen Gestalt annehmen.<br />
<strong>Pädagogische</strong>s oder sozialpädagogisches Fallverstehen ist zwingend<br />
auf professionelle Arbeitsbündnisse mit den <strong>Störer</strong>n angewiesen. Nur<br />
wer auch bereit ist, sich in schwierige <strong>und</strong> anspruchsvolle Beziehungen<br />
mit ihnen verwickeln zu lassen, hat hier überhaupt die Chance des Lernens.<br />
Dass dies nur eine notwendige, nicht aber schon eine hinreichende<br />
Lernbedingung ist, zeigen die hilflosen Verstrickungen zwischen diesen<br />
Jugendlichen <strong>und</strong> ihren Professionellen in unseren Fallgeschichten.<br />
Fallverstehen entsteht eben nicht – oder nur in seltenen Ausnahmen –<br />
innerhalb der gestörten Arbeitsbeziehung zwischen dem Professionellen<br />
<strong>und</strong> dem schwierigen Jugendlichen; nicht hier, wo Wiederholungszwang<br />
<strong>und</strong> die unbewusste Automatik von Übertragung <strong>und</strong> Gegenübertragung<br />
so machtvoll inszeniert werden müssen <strong>und</strong> wo nur noch schwer auszumachen<br />
ist, auf welcher Seite sich <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> befinden.<br />
Eine dritte Ebene muss erst eröffnet werden: Es müssten Räume zur<br />
Verfügung stehen <strong>und</strong> institutionell gesichert sein für ein professionelles<br />
19
Beiseitetreten, Innehalten, Nachdenken. Äußere Räume, in denen die<br />
inneren Räume der Professionellen gepflegt, geschützt <strong>und</strong> bewahrt<br />
werden können. Denn genau der innere Raum ist es, an dem es den<br />
schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen mangelt – <strong>und</strong> der innere Raum<br />
als Raum des Probehandelns ist es, der in den agierten Konflikten permanent<br />
weiter angegriffen wird, während äußerer Handlungsdruck die<br />
Vorherrschaft gewinnt. Es geht also nicht <strong>und</strong> vor allem darum, noch aktiver,<br />
noch engagierter, noch einfallsreicher zu sein bei der Suche nach<br />
weiteren Maßnahmen oder Angeboten für diese Jugendlichen; sondern<br />
eher <strong>und</strong> zunächst darum, die Affekte <strong>und</strong> Gefühle auszuhalten, die in<br />
den Auseinandersetzungen mit ihnen hervorgerufen werden: Angst vor<br />
Versagen <strong>und</strong> Scheitern, Hilflosigkeit <strong>und</strong> Ratlosigkeit auf der einen Seite<br />
<strong>und</strong> Wut, Enttäuschung <strong>und</strong> Kränkung auf der anderen Seite. Das<br />
aber heißt: solche notwendigen inneren <strong>und</strong> äußeren Räume benötigen<br />
auch ihre Zeit; Zeiträume also, die sich an den Erfordernissen schwieriger<br />
Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse ausrichten – <strong>und</strong> nicht durchs ökonomische<br />
Kosten-Nutzen-Kalkül beschnitten werden.<br />
Und in diesem Schutzraum muss eine dritte Instanz zugelassen werden:<br />
als ein produktiver <strong>Störer</strong>, der – kompetent <strong>und</strong> selbst nicht verstrickt –<br />
die Beziehungs- <strong>und</strong> Konfliktdynamik zum Gegenstand von Reflexion<br />
macht. Das kann in weniger schwierigen Fällen einfach die Kollegin sein,<br />
die „von außen“ zuschaut <strong>und</strong> sehen kann, was dem verstrickten Kollegen<br />
absolut verborgen bleibt; das kann eine Gruppe von Kollegen sein,<br />
die regelmäßig <strong>und</strong> wechselseitig sich berät <strong>und</strong> dabei eines der Konzepte<br />
Kollegialer Fallberatung einsetzt; das können professionelle Dritte<br />
in interdisziplinären Fallgesprächen oder in der Supervision sein; <strong>und</strong><br />
das kann auch ein Forschungsteam sein, das „von außen“ kommt <strong>und</strong><br />
mit „fremden Augen“ das Vertraute unter die Lupe nimmt <strong>und</strong> aufstört.<br />
Immer aber wird diese notwendige Dritte Instanz zum <strong>Störer</strong> werden<br />
20
müssen. Schon die erste Botschaft – dass da Hilfe von außen nötig sei<br />
<strong>und</strong> gebraucht werde – hat etwas Kränkendes; gerade für Professionelle,<br />
deren Beruf es ist, zu lehren, zu helfen, <strong>und</strong> zu fördern. Noch kränkender<br />
<strong>und</strong> verstörender aber ist die zweite Botschaft, die der ersten stets auf<br />
den Fuß folgt: dass in diesen Konfliktbeziehungen jeder Einzelkämpfer<br />
unweigerlich seine Professionalität einbüßt, nicht mehr Herr im eigenen<br />
Haus ist, getrieben wird von der unbewussten Verwicklung der eigenen<br />
mit einer fremden Psychodynamik. Und zur Kränkung kommt unweigerlich<br />
– wie stets – die Scham hinzu; denn um Versagen, Missbrauch, Entblößung<br />
<strong>und</strong> Beschämung geht es fast immer in den verstrickten Beziehungen;<br />
nur zu verständlich, dass die Beteiligten kein intuitives oder<br />
spontanes Bedürfnis entwickeln, diese Erfahrungen „öffentlich“ zu machen.<br />
Das unterstreicht noch einmal, wie wichtig es ist, dass Räume für<br />
eine Dritte Instanz geschützte Räume <strong>und</strong> dass die zugelassenen störenden<br />
Dritten auch schützende Dritte sind.<br />
21
Impuls 2 Das Instrument der Kollegialen <strong>und</strong> Interdisziplinären<br />
Fallberatung 6<br />
Die Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher zeigen deutlich,<br />
dass wir es hier zentral mit Beziehungsstörungen oder auch mit schwer<br />
gestörten Beziehungen zu tun haben. Ein angemessenes Fallverstehen<br />
kann sich deshalb nicht auf eine statische Diagnose der seelischen „Störung“<br />
des Jugendlichen beschränken. Auch im günstigsten Fall einer Diagnose<br />
der Psychodynamik des Jugendlichen <strong>und</strong> seiner Beziehungsgestaltung<br />
bleibt Fallverstehen einseitig. Immer gehören zu einer Beziehung<br />
zwei – <strong>und</strong> das gilt auch für die schwer gestörten Beziehungen dieser<br />
Jugendlichen zu Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe <strong>und</strong> zu den dort arbeitenden<br />
Professionellen. Deren Beziehungsgestaltung ist alles andere als „frei“<br />
<strong>und</strong> „offen“ für die jeweiligen Anforderungen der einzelnen Jugendlichen.<br />
Ziele sind vorgegeben, ebenfalls die Methoden <strong>und</strong> Verfahren, diese Ziele<br />
umzusetzen; die Räume <strong>und</strong> Zeiten sind vorstrukturiert, desgleichen<br />
die Ressourcen <strong>und</strong> Kompetenzen der Professionellen. Bestenfalls kann<br />
von einem mehr oder weniger engen Korridor gesprochen werden, dessen<br />
Ränder institutionell vorgeschrieben <strong>und</strong> innerhalb dessen Bandbreite<br />
die Professionellen „frei“ sind für variierende Beziehungsangebote. Zu<br />
jedem Fallverstehen also gehört neben der individuellen Konfliktdynamik<br />
des betreffenden Jugendlichen zwingend der institutionelle Anteil an der<br />
Konfliktdynamik <strong>und</strong> Konfliktgeschichte. Diese beiden Themen sind für<br />
ein angemessenes Fallverstehen unabdingbar <strong>und</strong> müssen in einen dynamischen<br />
Bezug zu einander gebracht werden. Insofern ist es sicher<br />
kein Zufall, dass im Bereich der Jugend- <strong>und</strong> Erziehungshilfe Instrumente<br />
<strong>und</strong> Verfahren entwickelt wurden, die diesen Prozess des Fallverstehens<br />
professionell anzuleiten <strong>und</strong> zu strukturieren versuchen. Und eben-<br />
6 S. <strong>Störer</strong> <strong>und</strong> <strong>Gestörte</strong> Band 2 Kap. IV<br />
22
falls kein Zufall ist, dass im Zentrum dieser Instrumente das Bemühen<br />
steht, die Dynamik der Beziehungen zwischen den Jugendlichen <strong>und</strong> ihren<br />
Familien einerseits <strong>und</strong> den Professionellen in Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />
andererseits zu verstehen <strong>und</strong> als „Werkzeug des Fallverstehens“ zu<br />
nutzen.<br />
Der geregelte <strong>und</strong> regelmäßige Einsatz von Verfahren der kollegialen<br />
<strong>und</strong> interdisziplinären Fallberatung ist eine produktive Alternative zum<br />
Mythos des Neuanfangs. Ziel ist Aufklärung über die allerdings in weiten<br />
Teilen unbewusste Beziehungsdynamik in der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen<br />
– Aufklärung, die die Gestalt kontinuierlicher <strong>und</strong> organisierter<br />
Lernprozesse hat. 7 Exemplarisch soll hier ein psychoanalytisch orientiertes<br />
Verfahren ausführlicher vorgestellt werden.<br />
Sozialpädagogisches Fallverstehen<br />
Ein Sammelband unter dem Titel „Was tun mit schwierigen Kindern?“ 8<br />
berichtet über ein dreijähriges Modell- <strong>und</strong> Forschungsprojekt, das in den<br />
Jahren zwischen 1999 <strong>und</strong> 2002 „in Kooperation mit dem kommunalen<br />
Jugendamt <strong>und</strong> einigen Trägern der freien Jugendhilfe aus Köln sowie<br />
der Universität Koblenz-Landau“ realisiert wurde.<br />
Der Frage nach „den Ursachen für auffälliges <strong>und</strong> störendes Verhalten<br />
sowie für die Eskalation von Lebens- <strong>und</strong> Hilfeverläufen“ ging das Projekt<br />
„durch eine umfassende Auswertung konkreter Einzelfälle“ nach.<br />
7 Dieser Hinweis muss eher verstärkt werden – durch die Warnung vor einer neuen Illusion: durch<br />
kollegial <strong>und</strong> interdisziplinär angeleitete <strong>und</strong> kontrollierte Reflexion <strong>und</strong> Identifikation könne die Macht<br />
unbewusster Verstrickungen „einfach“ außer Kraft gesetzt werden. Viel spricht gerade bei diesen<br />
schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen dafür, eine psychoanalytisch geschulte <strong>und</strong> in der psychotherapeutischen<br />
Arbeit erfahrene Fachkraft als Dritte Instanz hinzuzuziehen; dies nicht zuletzt um der<br />
sinnvollen Abgrenzung sozialpädagogischen Fallverstehens von therapeutischer Diagnostik <strong>und</strong> Arbeit<br />
willen; aber auch, um einen eventuell aufkommenden Ruf nach Psychotherapie kritisch überprüfen<br />
zu können.<br />
8 J.Henkel/M.Schnapka/C.Schrapper (Hrsg.) 2002 Was tun mit schwierigen Kindern? Votum-Verlag<br />
Münster o.J.<br />
23
Dabei konzentrierten sich die Falluntersuchungen auf eine „doppelte<br />
Blickrichtung“:<br />
„In der Beratung <strong>und</strong> Analyse aktueller Lebens- <strong>und</strong> Hilfegeschichten sollte differenziert<br />
herausgearbeitet werden, welche materiellen, psychosozialen <strong>und</strong><br />
biographischen Belastungen junge Menschen in krisenhaft zugespitzte Situationen<br />
bringen, die sich dann in ‚besonders schwierigen’ Verhaltensweisen aktualisieren<br />
können. Ebenso wurden in den Fallanalysen die Reaktions- <strong>und</strong><br />
Handlungsmuster des Hilfesystems in den Blick genommen <strong>und</strong> die wechselseitigen<br />
Bezüge zwischen Klienten <strong>und</strong> Hilfesystem untersucht“. 9<br />
Einleitend betont Christian Schrapper das Gewicht jener zweiten Blickrichtung<br />
auf den Einzelfall: „Schwierige Kinder werden nicht schwierig<br />
geboren, sondern das Leben hat sie dazu gemacht“ – <strong>und</strong> ein nicht unbeträchtlicher<br />
Teil dieses Lebens ist eben das im „Helfersystem“:<br />
„Ihr Leben leben diese Kinder nicht nur in Familie, Milieu <strong>und</strong> Clique, es ‚spielt’ zu erheblichen<br />
Teilen auch in Kindergarten, Schule, Beratungsstelle <strong>und</strong> Jugendamt, in<br />
Jugendzentrum <strong>und</strong> Erziehungshilfe, im Kontakt mit Polizei <strong>und</strong> Psychiatrie. Und in<br />
den zuletzt genannten Stationen <strong>und</strong> Schauplätzen liegt das Aufregende <strong>und</strong> Beunruhigende<br />
dieser Einsicht für die Professionellen: Ihr Anteil an den Lernerfahrungen<br />
<strong>und</strong> Bildungsanstrengungen ‚schwieriger’ Kinder … ist erheblich. Auch <strong>und</strong> gerade im<br />
Umgang mit Personen <strong>und</strong> Bedingungen des ‚Helfersystems’ lernen Kinder einen<br />
wesentlichen Teil des Verhaltens <strong>und</strong> der Orientierungen, die sie zu ‚schwierigen’<br />
Kindern machen. … Nicht nur Disziplinierung <strong>und</strong> Ausgrenzung traditioneller Jugendfürsorge<br />
… auch die modernisierte Jugendhilfe mit ihren vielfältigen Angeboten <strong>und</strong><br />
Arbeitsformen, mit ihren theoretisch aufgeklärten Einsichten <strong>und</strong> methodisch ausgefeilten<br />
Konzepten, mit ihrem qualifizierten Personal <strong>und</strong> erheblich gewachsenen Ressourcen<br />
trägt in erheblichem Umfang dazu bei, Kindern zu schaden“. 10<br />
Ader <strong>und</strong> Schrapper sehen hier geradezu eine conditio sine qua non angemessenen<br />
Fallverstehens:<br />
9 J.Henkel/M.Schnapka/C.Schrapper (Hrsg.) 2002:10<br />
10 C.Schrapper 2002:20f. Über "schwierige Kinder" - Erfahrungen, Fragestellungen <strong>und</strong> Ansatzpunkte<br />
sozialpädagogischer Arbeit in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe; in: Henkel, J./Schnapka, M./ Schrapper, C.<br />
(Hrsg.) 2002: Was tun mit schwierigen Kindern? Münster<br />
24
„Der intensive Blick auf einen ‚schwierigen Fall’ ist folglich immer auch ein<br />
Blick in den Spiegel einer ‚schwierigen Organisation’. Erst wenn die Schwierigkeiten<br />
<strong>und</strong> Dysfunktionalitäten in der eigenen Organisation, im Team, mit<br />
der Wirtschaftlichen Jugendhilfe, mit den FachkollegInnen beim freien Träger<br />
oder mit den angrenzenden Systemen der Psychiatrie, Polizei oder Schule offenbar<br />
werden können, kann auch das Verstehen <strong>und</strong> vor allem das Handeln<br />
in einem komplexen <strong>und</strong> komplizierten Fall produktiv entwickelt werden“. 11<br />
Und gleichsam resümierend bemerkt Christian Schrapper:<br />
„Gemeinsame Erfahrung aller Beteiligten bleibt, dass der Blick auf die ‚schwierigen<br />
Kinder’ auch ein Blick auf die eigenen Schwierigkeiten ist, auf die persönlichen<br />
Belastungen <strong>und</strong> Krisen ebenso wie die professionellen Unsicherheiten<br />
<strong>und</strong> Differenzen, auf die Probleme <strong>und</strong> Auseinandersetzungen in <strong>und</strong><br />
zwischen den Organisationen <strong>und</strong> Institutionen <strong>und</strong> nicht zuletzt auf die Unzulänglichkeit<br />
<strong>und</strong> Begrenztheit von Theorien <strong>und</strong> Hilfekonzepten. Diese Verbindungen<br />
<strong>und</strong> Verstrickungen machen die Beschäftigung mit dem Thema<br />
‚schwierige Kinder’ so belastend, aber auch so lohnenswert“. 12<br />
„Diese Verbindungen <strong>und</strong> Verstrickungen“ zu begreifen <strong>und</strong> so zum Instrument<br />
des Fallverstehens zu machen, ist der wohl wichtigste praktische<br />
Ertrag dieses Untersuchungsprojekts; ein Verfahren des Kollegialen<br />
Fallverstehens, das im Rahmen des „Kölner Forschungs- <strong>und</strong> Modellprojekts“<br />
eingesetzt <strong>und</strong> weiterentwickelt wurde:<br />
„Der konkrete Ablauf des kollegialen Fallverstehens orientiert sich an zentralen<br />
Fragestellungen, die jeweils in einer Arbeitsphase bearbeitet werden:<br />
• Was ist der Fall? Was soll beraten werden? (Fallvorstellung)<br />
• Welche Informationen sind noch wichtig? Was müssen wir noch wissen?<br />
(Rückfragen)<br />
11 S.Ader/C.Schrapper 2002:65 Fallverstehen <strong>und</strong> Deutungsprozesse in der sozialpädagogischen<br />
Praxis der Jugendhilfe; in: Henkel, J./Schnapka, M./Schrapper, C. (Hrsg.) 2002: Was tun mit schwierigen<br />
Kindern? Votum-Verlag Münster o.J.<br />
12 C.Schrapper 2002:24<br />
25
• Wer denkt / empfindet / wünscht / befürchtet was? Welche Bilder <strong>und</strong> Assoziationen<br />
zum Fall <strong>und</strong> zur Szene entstehen? (Identifikation / Fallinszenierung)<br />
• Was wird gebraucht? Welche Aufträge gibt es an die HelferInnen? Welche<br />
Ressourcen stehen zur Verfügung? (Mögliche Handlungsorientierungen)<br />
• Wer tut was bis wann? (Nächster Schritt)<br />
• Wie war’s? Was hat’s gebracht? (Reflexion)<br />
Im Mittelpunkt dieser Form der kollegialen Fallberatung steht das „szenische<br />
Fallverstehen“. Die Beziehungen sowohl innerhalb der Familie als<br />
auch zwischen ihr <strong>und</strong> dem Helfersystem werden – das ist der Anspruch<br />
– systematisch zum Gegenstand der kollegialen Reflexion; wo Verstrickung<br />
<strong>und</strong> Wiederholungszwang herrschen, eröffnen sich – das ist die<br />
Erwartung – neue Möglichkeiten des Fallverstehens.<br />
„Im szenischen Fallverstehen geht es um die Öffnung des Falles … <strong>und</strong> um<br />
die Abbildung der Beziehungsdynamiken, die sowohl die Familie in ihren Beziehungen<br />
untereinander, in ihren Ängsten, Enttäuschungen, Aggressionen,<br />
Zufriedenheiten u.Ä. veranschaulicht, als auch die Beziehungen zwischen den<br />
Familienmitgliedern <strong>und</strong> den Mitgliedern des Hilfesystems. Diese Beziehungsdynamiken<br />
werden in der Szene des Fallverstehens durch Rollenidentifikation<br />
<strong>und</strong> das Einsammeln von assoziativen Gedanken, Bildern <strong>und</strong> Gefühlen reaktiviert<br />
<strong>und</strong> damit in das Bewusstsein der Beteiligten gehoben. Diese Technik<br />
leitet sich aus der Balint-Gruppenarbeit ab, die ursprünglich von Michael Balint<br />
für Mediziner <strong>und</strong> Therapeuten zum besseren Verstehen ihres Klientensystems<br />
<strong>und</strong> der Beziehungsbedeutungen entwickelt wurde“ 13 .<br />
13 S.Ader/M.Thiesmeier:2002:80f. Kollegiales Fallverstehen <strong>und</strong> Fallkonsultationen als Instrumente<br />
sozialpädagogischer Analyse <strong>und</strong> Deutung; in: Henkel, J./Schnapka, M./ Schrapper, C. (Hrsg.) 2002:<br />
Was tun mit schwierigen Kindern? Votum-Verlag Münster o.J.<br />
26
Impuls 3: Ein Beispiel – <strong>und</strong> eine erfolgreiche Anwendung<br />
Im Frankfurter Zentrum für Erziehungshilfe, einem BFZ, in dem Förderschulpädagogen<br />
<strong>und</strong> Sozialpädagogen intensiv mit den städtischen Regelschulen<br />
kooperieren – mit dem Ziel, durch Beratungsarbeit <strong>und</strong> pädagogische<br />
Förderung den drohenden Schulverweis verhaltensgestörter<br />
Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher zu verhindern, wird seit vielen Jahren ein Konzept<br />
der interdisziplinären <strong>und</strong> kollegialen Fallberatung eingesetzt – <strong>und</strong><br />
mittlerweile auch für die Weiterbildungsarbeit der Regelschullehrer angeboten.<br />
Es sei hier kurz vorgestellt:<br />
Kollegiale Fallberatung (ZfEHi)<br />
1. Fallbericht des/der Ratsuchenden (FE)<br />
Der Fallbericht (FE) (möglichst spontan – freimütig – konkret – eigene<br />
Eindrücke); dabei: Schilderung einer konkreten, typischen Situation.<br />
Was ist die aktuelle Beratungsfrage? (2x5=10 Min.)<br />
Die Echor<strong>und</strong>e (Gruppe) (r<strong>und</strong>um <strong>und</strong> keine Erläuterungen, Nachfragen,<br />
Vorschläge, Interpretationen, sondern: Welche Gefühle, Affekte,<br />
Körperempfindungen verspüren die Zuhörer?<br />
Kurze Rückmeldung durch die FE: Sagen mir diese Gefühle<br />
etwas, sind sie mir nah – fern – fremd? (5 Min.)<br />
Sachliche Rückfragen/Informationsfragen (Gruppe an FE) (Kurz –<br />
keine Begründung der Frage, keine Erläuterungen oder Interpretationen,<br />
keine Lösungsvorschläge; nur: sachliche Nachfragen zum Fall mit Blick<br />
auf die Beratungsfrage.<br />
Kurze Antworten – Ergänzungen (FE an Gruppe) (10 Min.)<br />
2. Problemanalyse<br />
Auftragsklärung (durch die Gruppe, dann Rückmeldung durch FE)<br />
- (A) Welche Aufträge werden – möglicherweise – von den<br />
Beteiligten an die Fallverantwortlichen gerichtet - möglichst<br />
für alle wichtigen Akteure im Fall (Gruppe)<br />
• assoziativ – spekulativ - hypothetisch<br />
- Rückmeldung: Welche (vermuteten) Aufträge treffen zu –<br />
welche nicht? (FE) (10 Min.)<br />
- (B) Welche Aufträge hat FE möglicherweise angenommen<br />
(Gruppe)<br />
• assoziativ – spekulativ - hypothetisch<br />
- Rückmeldung: Was trifft zu – was nicht? (FE) (10 Min.)<br />
Was liegt vor? – Gruppendiskussion (Gruppe)<br />
27
(A) Konfliktanteile des Schülers/der Schülerin?<br />
- Interaktionszusammenhang der Störung?<br />
- Interpretationsangebote: Was treibt den Schüler/die Schülerin?<br />
Was ist die offene/geheime Botschaft oder Mitteilung<br />
an Lehrer <strong>und</strong> Schule?<br />
(B) Konfliktanteile von Schule <strong>und</strong> Lehrer?<br />
- Interpretationsangebote<br />
- Was ist die offene/geheime Botschaft oder Mitteilung an<br />
Eltern <strong>und</strong> Schüler?<br />
(C) Einbeziehung der FE<br />
(D) Versuch einer Zusammenfassung des Problemverständnisses<br />
(Gruppe: R<strong>und</strong>e – jeder sagt eine These)<br />
(E) Fragen an FE: Hat sich die Fragestellung verändert?<br />
Worunter leiden Sie am meisten? (20 Min.)<br />
3. Lösungswege – nächste Schritte<br />
3.1 Zielformulierung (FE): schriftlich festhalten. „Ich möchte erreichen<br />
dass …<br />
3.2 Angebote möglicher nächster Schritte (Gruppe): sammeln<br />
<strong>und</strong> schriftlich festhalten<br />
3.3 Gewichten der Angebote <strong>und</strong> nächster Lösungsschritt (FE)<br />
3.4 Was gibt es für Realisierungshilfen? (Gruppe) (15 Min.)<br />
4. Schlussr<strong>und</strong>e – Reflexion über den Verlauf der Fallberatung<br />
4.1 Zufriedenheit mit den Ergebnissen der Beratung<br />
4.2 Raus aus dem Fall: Reflexion der Gruppendynamik<br />
4.3 Das letzte Wort: die FE (5 Min.)<br />
Vor mehr als fünf Jahren wurde im Frankfurter Stadtteil Gallusviertel ein<br />
R<strong>und</strong>er Tisch eingerichtet, an dem Vertreter aller wichtigen örtlichen Einrichtungen<br />
<strong>und</strong> Träger der Hilfe zur Erziehung <strong>und</strong> Erziehungshilfe teilnahmen:<br />
Das Jugendamt mit seinem ASD, Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer aus<br />
Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Förderschulen, Erzieherinnen <strong>und</strong> Erzieher aus den Kitas<br />
<strong>und</strong> Horts, Mitarbeiter der offenen Jugendarbeit <strong>und</strong> einiger Beratungsstellen.<br />
Beschlossen wurde zunächst eine verbindliche Mitarbeit für ein<br />
Jahr <strong>und</strong> 10 Sitzungen für eine Gruppe von ca. 15 Professionellen. Jede<br />
Fallberatung war relativ streng auf 90 Minuten begrenzt. Die Sitzungen<br />
der R<strong>und</strong>en Tische wurden professionell moderiert – zunächst von Experten<br />
verschiedener Verfahren, dann in den folgenden Jahren von den<br />
28
Fachleuten des Zentrums für Erziehungshilfe. Nach der einjährigen Experimentalphase<br />
hat sich der R<strong>und</strong>e Tisch für das Konzept des ZfEHi<br />
entschieden <strong>und</strong> arbeitet seit dem selbständig <strong>und</strong> kontinuierlich weiter.<br />
In der Begründung dieses Projekts hieß es:<br />
Aus Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe wird seit Jahren auf ein Problem hingewiesen,<br />
das zunehmend die dort arbeitenden Professionellen belastet, wenn nicht gar<br />
überfordert: Die Zahl der schwierigen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen mit erheblichen<br />
Integrationsproblemen nimmt zu, immer mehr Familien erweisen sich als nicht<br />
bereit oder in der Lage, ihren Kinder das mitzugeben, was diese benötigen,<br />
um die Angebote von Kindergarten <strong>und</strong> Kindertagesstätte, von Hort <strong>und</strong> Schule<br />
<strong>und</strong> der offenen Jugendarbeit für ihre Entwicklung zu nutzen.<br />
Es handelt sich hier um ein brennendes Querschnittsthema, dass zwingend<br />
die fachliche Vernetzung der Professionellen <strong>und</strong> ihrer Einrichtungen vor Ort<br />
verlangt. Obgleich Vernetzung seit Jahren in der fachinternen Debatte ein<br />
zentraler Begriff ist, kann in der Praxis von einer Integration der Hilfe- <strong>und</strong><br />
Förderprozesse <strong>und</strong> –systeme nur ansatzweise gesprochen werden: das gilt<br />
innerhalb des gegliederten Regelschulsystems, das gilt innerhalb der Bereiche<br />
der Jugendhilfe <strong>und</strong> das gilt nicht zu letzt für die Kooperation von Schule <strong>und</strong><br />
Jugendhilfe.<br />
Ein gemeinsames interdisziplinäres Forschungsprojekt über Konfliktgeschichten<br />
nicht beschulbarer Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher mit Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />
hat die institutionellen Probleme in der Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
deutlich gemacht:<br />
1. Die Hilfe- <strong>und</strong> Förderprozesse sind selten integriert. In der Regel sind sie<br />
bestimmt durch Brüche, Abbrüche – also durch mangelhafte Kontinuität.<br />
Die kontinuierliche <strong>und</strong> verlässliche Fallverantwortung in einer Hand <strong>und</strong><br />
die kompetente Hilfe <strong>und</strong> Leistungssteuerung aus einer Hand ist eher die<br />
Ausnahme. Wo diese Prozesse integriert werden, liegt es meist am individuellen<br />
Engagement einzelner Professioneller, die von ihren Institutionen<br />
für diese Arbeit nicht hinreichend mit Kompetenzen <strong>und</strong> Ressourcen ausgestattet<br />
werden <strong>und</strong> deshalb häufig an ständiger Selbstüberforderung <strong>und</strong><br />
Selbstüberlastung leiden – <strong>und</strong> nicht selten scheitern.<br />
29
2. Die Hilfe- <strong>und</strong> Fördersysteme sind selten integriert. Fast immer arbeiten<br />
Maßnahmen, Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen "am gleichen Fall" nebeneinander<br />
her oder gar gegeneinander. Die Steuerung des Hilfe- <strong>und</strong> Förderfeldes<br />
durch eine fallverantwortliche Stelle ist ebenso die seltene Ausnahme,<br />
wie die interdisziplinäre Kooperation zwischen den fall-beteiligten Professionellen.<br />
Auch hier gilt: Ausnahmen müssen sich eher gegen die institutionellen<br />
Rahmenbedingungen ihrer Arbeit durchsetzen, als dass sie institutionelle<br />
Unterstützung finden.<br />
3. Es fehlt in der Regel ein professionelles Fallverständnis. Während im Bereich<br />
der sozialen Arbeit es durchaus wichtige Ansätze zum kollegialen<br />
<strong>und</strong> interdisziplinären Fallverstehen gibt, kann im Bereich der Regelschule<br />
davon kaum die Rede sein. Hier wie dort aber dominiert bei den Professionellen<br />
das – begründete – Gefühl, eigentlich nicht genau zu wissen, "ob<br />
man das Richtige tut" <strong>und</strong> "ob man es richtig tut". Entscheidungen für Hilfe<strong>und</strong><br />
Fördermaßnahmen orientieren sich in der Regel eher am örtlichen Angebot<br />
als an dem, was die Klienten wirklich brauchten. Die Defizite hier<br />
sind:<br />
• Es gibt kaum professionell eingeübte Instrumente <strong>und</strong> Verfahren des<br />
kollegialen Fallverstehens – <strong>und</strong> wo es gute Ansätze dafür gibt, fehlen<br />
den Professionellen die Ressourcen <strong>und</strong> Kompetenzen, diese Instrumente<br />
regelmäßig <strong>und</strong> kontrolliert anzuwenden.<br />
• Es gibt kaum fachlich erprobte Instrumente <strong>und</strong> Verfahren der interdisziplinären<br />
Fallberatung – <strong>und</strong> die Nutzung vorhandener Ansätze gehört<br />
in der Regel nicht zum professionellen Selbstverständnis. Auch hier<br />
fehlen meist die Ressourcen <strong>und</strong> Kompetenzen.<br />
• Das Instrument der regelmäßigen Fallsupervision steht den Professionellen<br />
nur höchst selten zur Verfügung – in Bereich der Regelschule ist<br />
es meist unbekannt.<br />
Diese Instrumente aber sind unverzichtbare Hilfsmittel in der Arbeit mit<br />
schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen. Es kennzeichnet die spezifische<br />
Belastung der Arbeit in diesem Feld, dass diese Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
die für sie verantwortlichen Professionellen in schwer erträgliche Beziehungskonflikte<br />
verwickeln, sie in eskalierende Kämpfe um Macht <strong>und</strong> Kontrolle<br />
verstricken. In kaum einem anderen Bereich des Erziehungswesens<br />
30
wird die berufliche Fachlichkeit derart intensiv herausgefordert <strong>und</strong> bedroht<br />
wie hier.<br />
4. Ohne den geregelten <strong>und</strong> regelmäßigen Einsatz von Verfahren der kollegialen<br />
<strong>und</strong> interdisziplinären Fallberatung <strong>und</strong> der gemeinsamen Fallsupervision<br />
werden alle Ansätze der Vernetzung der Fallarbeit – sei es die vertikale<br />
Integration von Hilfe- <strong>und</strong> Förderprozessen, sei es die horizontale Integration<br />
von Hilfe- <strong>und</strong> Fördersystemen – mit hoher Wahrscheinlichkeit die<br />
hier möglichen Synergieeffekte verfehlen, dafür aber den Akteuren hohe<br />
Reibungsverluste einhandeln. Vernetzung bleibt eine Phrase oder sie beginnt<br />
bei der interdisziplinären Fallberatung. Denn hier werden die unterschiedlichen<br />
fachlichen Perspektiven „auf den Fall“ wechselseitig erfahren,<br />
schult sich das Wissen um die eigenen professionellen Grenzen, eröffnen<br />
sich die realen Möglichkeiten örtlicher Arbeitsteilung <strong>und</strong> Kooperation <strong>und</strong><br />
werden wichtige Voraussetzungen geschaffen für eine gemeinsame interdisziplinäre<br />
Praxis der Hilfe- <strong>und</strong> Förderplanung: fallbezogen <strong>und</strong> fallübergreifend.<br />
Die mittlerweile jahrelangen Erfahrungen mit diesem R<strong>und</strong>en Tisch im<br />
Frankfurter Gallusviertel belegen eindruckvoll, dass Professionelle verschiedener<br />
Berufsgruppen, die mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
arbeiten, überaus kreativ mit einander kommunizieren können,<br />
wenn die Orientierung am Einzelfall vorgegeben <strong>und</strong> ein professionelles<br />
Instrument der Fallberatung eingesetzt wird. Nicht die sonst üblichen Rivalitäten<br />
<strong>und</strong> wechselseitigen Vorurteile prägten die Arbeitsatmosphäre<br />
des R<strong>und</strong>en Tisches, sondern das gemeinsame Interesse an der Arbeit,<br />
die Neugier auf die fachspezifische Fallperspektive der Anderen <strong>und</strong> die<br />
Bereitschaft von einander zu lernen.<br />
31
Impuls 4: Kollegiales Fallverstehen – eine Dritte Instanz<br />
Es hat sich im Bereich der Familien- <strong>und</strong> Jugendhilfe mittlerweile eine<br />
ganze Reihe von Verfahren der kollegialen <strong>und</strong> interdisziplinären Fallberatung<br />
„eingebürgert“ 14 .<br />
Es gibt Formen, bei denen die Fallvorstellung freier <strong>und</strong> weniger vorbereitet<br />
stattfindet, um so der unbewussten Auswahl durch die Fallverantwortlichen<br />
mehr Raum zu geben. Manchmal wird nach der Formulierung<br />
der Beratungsfrage ein Reflexionsprozess der Gesamtgruppe eingezogen<br />
darüber, ob diese Frage von allen akzeptiert wird oder ob nicht eine<br />
andere Beratungsfrage in diesem Fall angemessener wäre. Die wichtigsten<br />
Variationen finden sich in der Identifikationsr<strong>und</strong>e/Fallinszenierung:<br />
Hier gibt es identifizierende „Aufstellungen“ der in den Fall verwickelten<br />
Akteure, Rollenspiele oder wechselseitige Befragungen, gezielte Arrangements<br />
mit einem inneren Kreis von Akteuren <strong>und</strong> einem äußeren Kreis<br />
von Beobachtern, oder auch „nur“ das freie Assoziieren, bei dem Teilnehmer<br />
sich in diesen oder jenen Akteur des vorgestellten Falles hineinversetzen.<br />
Die Phase des Sammelns von Bildern, Stimmungen, Eindrücken<br />
nach der Identifikationsr<strong>und</strong>e ist unterschiedlich streng strukturiert –<br />
durch vorgegebene Fragen bzw. offene Impulse <strong>und</strong> Ermutigungen, über<br />
die eigenen Gefühle <strong>und</strong> Affekte zu berichten. Der Übergang zur Frage:<br />
Was wird gebraucht? geschieht manchmal direkt, bei anderen Varianten<br />
in indirekter Annäherung: zunächst als Frage, was der „Fall“ wirklich<br />
brauchte – ohne die Schere des immer schon knappen Angebots im<br />
Kopf; dann als Frage: Was können wir von dem, was gebraucht wird,<br />
ermöglichen? Auch die Schlussreflexion variiert in Ausführlichkeit <strong>und</strong><br />
Themenvielfalt: Die fallzuständige Fachkraft spiegelt der Gruppe zurück,<br />
14 Dass der Einsatz dieses wichtigen Instruments der Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
noch immer die Ausnahme ist, ist bedauerlich; dass dort, wo dieses Instrument eingesetzt wird, die<br />
Jugend- <strong>und</strong> Familienhilfe meist „unter sich“ <strong>und</strong> die Schule „außen vor“ bleibt, ist ein Zeichen für die<br />
defizitäre Kooperation von Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe.<br />
32
was sie aus der Beratung für die weitere Fallbearbeitung „mitnimmt“ <strong>und</strong><br />
welche nächsten Schritte sie ernsthaft in Erwägung zieht; die Gruppe reflektiert<br />
ihre Arbeitsatmosphäre <strong>und</strong> ihre Kreativität; <strong>und</strong> die im Fall deutlich<br />
gewordenen Schwächen <strong>und</strong> Defizite des örtlichen Hilfesystems<br />
werden zusammengetragen <strong>und</strong> dokumentiert.<br />
Doch trotz aller Varianten lassen sich zentrale gemeinsame Merkmale<br />
kollegialen Fallverstehens identifizieren <strong>und</strong> für jedes dieser Merkmale<br />
gilt: Sie helfen den Professionellen, in reflektierende Distanz zu ihren<br />
Fallverstrickungen zu treten <strong>und</strong> sie lenken zugleich den professionellen<br />
Blick auf folgenreiche Dimensionen entgleister Kommunikation im Feld.<br />
1. Es ist ein geregeltes Verfahren<br />
Ganz entscheidend ist, dass die Arbeit des kollegialen Fallverstehens<br />
nach klaren Regeln verläuft. Festgelegt ist: die Zeitdauer der Fallberatung,<br />
die einzelnen Schritte oder Phasen der Beratung, wer darf jetzt reden<br />
<strong>und</strong> wer muss jetzt schweigen <strong>und</strong> zuhören, wann sind nur Nachfragen<br />
erlaubt, wann darf diskutiert werden, welche Frage, welches Thema<br />
ist jetzt dran, was hat zu warten.<br />
• Wichtig ist die Verbindlichkeit der Regeln. Denn nur dann können Regelverletzungen<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> auf ihre eventuelle Bedeutung<br />
für das Fallverständnis hin reflektiert werden <strong>und</strong> nur dann können<br />
kontraproduktive Regeln identifiziert <strong>und</strong> neue Regeln des kollegialen<br />
Fallverstehens ausgehandelt werden. Das aber sind zentrale Themen<br />
zugleich in den Konfliktinszenierungen der schwierigen Kinder oder<br />
Jugendlichen <strong>und</strong> in den Reaktionen von Professionellen <strong>und</strong> ihren<br />
Institutionen.<br />
• Wichtig ist das Einhalten der Regeln. Denn sie schützen die Teilnehmer<br />
der kollegialen Fallberatung voreinander. Die Arbeit mit schwierigen<br />
Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ist emotional extrem belastend.<br />
33
Versagensängste sind immer auch Ängste vor Beschämung. Die intensive<br />
Beschäftigung mit dem „Fall“ weckt starke Affekte <strong>und</strong> starke<br />
Abwehrreaktionen: Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit <strong>und</strong> Gefühle<br />
der Entwertung <strong>und</strong> Missachtung der eigenen professionellen Arbeit<br />
können, wenn überhaupt, nur im Schutz von Regeln der Fallberatung<br />
zugelassen werden. Und dann erst können sie in der kollegialen Fallberatung<br />
manifest <strong>und</strong> zum Gegenstand der gemeinsamen Reflexion<br />
werden – eine ganz entscheidende Voraussetzung für das Verständnis<br />
der oft archaischen Vernichtungs- <strong>und</strong> Entwertungsängste, die von<br />
den schwierigen Jugendlichen zwanghaft abgewehrt werden müssen.<br />
• Wichtig ist die spezifische Eigenart der Regeln. Die besteht darin,<br />
dass Strukturen der kollegialen Fallberatung vorgegeben werden, die<br />
für die Verstrickung der Teilnehmer mit dem „Fall“ <strong>und</strong> zugleich für die<br />
reflexive Distanz zu ihm sorgen. Dieser schwierigen Balance dienen<br />
Anweisungen wie: an dieser Stelle nur „Rückfragen …, die der Information<br />
dienen <strong>und</strong> für die Beratung erforderlich sind, die jedoch keine<br />
Bewertung <strong>und</strong> Interpretation beinhalten sollen“. Vor allem aber ist an<br />
dieser Stelle die gleichsam experimentelle Verstrickung der Teilnehmer<br />
mit dem Fall in der Identifikationsr<strong>und</strong>e/Fallinszenierung zu nennen:<br />
Jetzt ist die fallverantwortliche Fachkraft „draußen“ <strong>und</strong> ihre Kollegen<br />
sind „drinnen“. Rivalitäten unter Kollegen, Spaltungen zwischen<br />
verschiedenen Berufsgruppen, Spannungen zwischen weiblichen <strong>und</strong><br />
männlichen Teilnehmern bekommen eine neue „Bühne“, auf der jenseits<br />
von Arbeitsdruck, Handlungszwang <strong>und</strong> Entscheidungsernst<br />
„gespielt <strong>und</strong> experimentiert“ werden kann. Dies wird als eine wichtige<br />
Voraussetzung dafür angesehen, die manipulativen <strong>und</strong> spaltenden<br />
Konfliktstrategien schwieriger Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher als Gestalten<br />
zwanghaften Selbstschutzes zu entziffern.<br />
34
2. Es ist ein regelmäßig einzusetzendes Verfahren.<br />
Was in der einzelnen kollegialen Fallberatung am Ende stattfinden soll,<br />
die gemeinsame Reflexion über die Arbeitsatmosphäre der Gruppe, wird<br />
in der Kontinuität eines längerfristigen Beratungsprozesses befestigt, um<br />
das „Miteinander eine(r) Kultur der Rückmeldung <strong>und</strong> Beratung zu entwickeln,<br />
in der kritische Einschätzungen über unterschiedliche Vorstellungen,<br />
Werte <strong>und</strong> Arbeitsweisen einen Platz haben“. 15<br />
• Wichtig ist der regelmäßige Einsatz kollegialer Fallberatung. Gerade<br />
dann, wenn unterschiedliche Berufsgruppen beteiligt sind, eröffnet nur<br />
die wiederholte Erfahrung gemeinsamer kollegialer Fallberatung die<br />
Chance, wechselseitige Fremdheiten – in der Fallorientierung, in der<br />
Arbeitsweise, in der fachlichen Zielsetzung <strong>und</strong> in der normativen Haltung<br />
– kennen zu lernen <strong>und</strong> als produktive Bereicherung zu erleben.<br />
Nur die Anerkennung der jeweils anderen, fremden Professionalität<br />
macht es möglich, die eigenen Grenzen ohne Scham zu identifizieren<br />
<strong>und</strong> zu akzeptieren; das ist eine zentral wichtige Kompetenz in einem<br />
Arbeitsfeld, das von Kämpfen um Macht <strong>und</strong> Kontrolle, von Allmacht<strong>und</strong><br />
Ohnmachtphantasien bevölkert ist.<br />
• Wichtig ist die verbindliche Teilnahme über einen längeren Arbeitsprozess.<br />
Der kann zeitlich begrenzt sein, sollte aber die Möglichkeit<br />
bieten, dass jeder Teilnehmer mindestens einmal einen eigenen Fall<br />
vor- <strong>und</strong> zur Beratung stellt. Gerade im schulischen Bereich sind die<br />
Möglichkeiten für Erfahrungen mit kollegialer Teamarbeit selten. Der<br />
Einzelkämpfer vor seiner Klasse ist noch immer die Regel. Die in diesem<br />
Feld so wichtige Haltung der Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit 16 ist nur im sozialen<br />
Kontext kollegial geteilter Verantwortung zu realisieren. Das Instrument<br />
des kollegialen Fallverstehens kann hier wichtige korrigie-<br />
15 S.Ader/M.Thiesmeier:2002:80<br />
16 s. T.v.Freyberg/A.Wolff 2005:313ff.<br />
35
ende Erfahrungen vermitteln: Erfahrungen, die unverzichtbar sind in<br />
einer Arbeit, in der die Einstellung zu „Fehlern“ eng verknüpft ist mit<br />
der Haltung gegenüber „<strong>Störer</strong>n“.<br />
• Wichtig ist der verlässliche Ort für kollegial genutzte Distanz. Die Arbeit<br />
mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ist begleitet von einer<br />
permanenten Bedrohung der eigenen Professionalität. Verstrickungen<br />
hier sind so unverzichtbar wie unvermeidbar. Und die Konfliktinszenierungen<br />
der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen zielen häufig genau auf die<br />
inneren Räume ihrer Erwachsenen, die unter dem anhaltenden Handlungs-<br />
<strong>und</strong> Entscheidungsdruck verloren zu gehen drohen. Allein die<br />
Möglichkeit, nach der Darstellung eines eigenen Falles sich zurückzulehnen,<br />
zuzuhören, nachzudenken, dem „Schauspiel“ der Akteure in<br />
der Identifikationsr<strong>und</strong>e zuzuschauen, kann manchmal W<strong>und</strong>er wirken.<br />
Wer in diesem Feld arbeitet, braucht verlässliche <strong>und</strong> regelmäßig<br />
offen stehende „Räume“, um Abstand zu gewinnen, innezuhalten,<br />
sich aus der Fallverstrickung lösen – <strong>und</strong> sie zum Verstehen des<br />
„Falls“ nutzen zu können.<br />
3. Es ist ein interdisziplinär arbeitendes Verfahren.<br />
Einiges darüber ist schon gesagt. Die Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong><br />
Jugendlichen erfordert zwingend die fachliche Kooperation sehr unterschiedlicher<br />
Institutionen <strong>und</strong> Professionen. Kennzeichen des differenzierten<br />
Hilfe- <strong>und</strong> Fördersystems in Deutschland ist jedoch seine historisch<br />
tief eingegrabene Arbeitsteilung zwischen Schule, Jugendhilfe,<br />
Therapie <strong>und</strong> Beratung, Polizei <strong>und</strong> Justiz.<br />
• Wichtig ist die interdisziplinäre Zusammensetzung der Fallberatung,<br />
weil sie die Voraussetzung schaffen kann für interdisziplinäre Kooperation.<br />
Die arbeitsteilige Organisation der Hilfe <strong>und</strong> Förderung hat<br />
nicht nur zu einer fraktionierten Perspektive auf die Jugendlichen ge-<br />
36
führt, sondern auch zu wechselseitig nur schwer vermittelbaren Arbeitsansätzen.<br />
Die Konfliktgeschichten unserer Untersuchung belegen<br />
durchgängig beides: Das Hilfesystem ist horizontal kaum integriert<br />
<strong>und</strong> diese schwierigen Jugendlichen <strong>und</strong> ihre Familien nutzen die<br />
Brüche <strong>und</strong> Widersprüche im Hilfesystem „systematisch“ für ihre unbewussten<br />
Strategien der Spaltung <strong>und</strong> des gegeneinander Ausspielens.<br />
• Eine kontinuierliche interdisziplinäre Fallberatung ist ein guter Ort, eine<br />
fehlerfre<strong>und</strong>liche professionelle Haltung einzuüben. Die nämlich<br />
setzt voraus, dass die eigenen individuellen <strong>und</strong> professionellen<br />
Grenzen eingesehen <strong>und</strong> akzeptiert werden können: Man erfährt sich<br />
als Teil eines Netzwerks von Professionellen, die alle in der Arbeit mit<br />
diesen schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nur zu häufig im Dunkeln<br />
tappen, nicht verstehen, auf Vermutungen angewiesen sind <strong>und</strong><br />
nie wirklich wissen, ob das, was sie tun, das Richtige ist. Eine „fehlerfre<strong>und</strong>liche“<br />
Haltung versucht „auf Probe“ zu handeln, rechnet mit eigenen<br />
Fehlentscheidungen <strong>und</strong> ist offen <strong>und</strong> bereit, aus den Fehlern<br />
– wenn sie nun geschehen sind – wenigstens zu lernen. Wie wichtig<br />
in diesem Feld eine derartige Haltung ist, wird einsichtig, wenn man<br />
sich vor Augen führt, dass genau diese Haltung den schwierigen Kindern<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen eben nicht zur Verfügung steht: Erbittert leugnen<br />
sie ja die eigenen Fehler, suchen die Schuld bei den anderen –<br />
als gehe es um ihr Leben; <strong>und</strong> mit erbarmungsloser Penetranz reiten<br />
sie auf Fehlern ihrer Erwachsenen herum, unfähig, sich <strong>und</strong> anderen<br />
etwas zu schenken.<br />
• Die kontinuierliche Erfahrung mit interdisziplinärer Fallberatung relativiert<br />
auf heilsame Weise die Illusion des Neuanfangs in diesem Arbeitsfeld.<br />
Die einzelnen Professionellen erfahren sich im Kontext einer<br />
längeren Konfliktgeschichte, <strong>und</strong> der Abwehrcharakter hinter dem My-<br />
37
thos des Neuanfangs kann eingesehen werden: Abgewehrt <strong>und</strong> verharmlost<br />
nämlich werden zum einen die professionelle Hilflosigkeit<br />
<strong>und</strong> Bedürftigkeit des „Einzelkämpfers“ <strong>und</strong> abgewehrt <strong>und</strong> verharmlost<br />
werden zum anderen die seelische Hilflosigkeit <strong>und</strong> Bedürftigkeit<br />
des „gestörten Jugendlichen“. In der kollegialen Fallberatung kann<br />
einsichtig werden, dass der Mythos des Neuanfangs den inneren <strong>und</strong><br />
den äußeren Zugang zum Verstehen der Jugendlichen versperrt.<br />
Denn der innere Zugang zum Verstehen setzt voraus, dass die „Übertragungsaffekte“,<br />
beispielsweise die Ängste der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
vor Entwertung oder Vernichtung, angenommen, zugelassen<br />
<strong>und</strong> reflektiert werden; der äußere Zugang zum Verstehen setzt voraus,<br />
dass die eigenen „Gegenübertragungsaffekte“, beispielsweise<br />
die Ängste der Professionellen vor Versagen, Scheitern, Demontage,<br />
angenommen, zugelassen <strong>und</strong> reflektiert werden.<br />
4. Es ist ein angeleitetes Verfahren.<br />
Dass kollegiales Fallverstehen als regelmäßiges <strong>und</strong> regelhaftes Verfahren<br />
einer Leitung bedarf, dürfte einleuchten. Denn die nicht involvierte,<br />
gleichsam „externe“ Leitung mit eigener Autorität sichert das Einhalten<br />
der Regeln. Dieses schwierige Feld ist voller Minen: Fehler, Unsicherheiten,<br />
Rivalitäten, Kränkungen, Beschämungen <strong>und</strong> Versagensängste,<br />
aber auch Wut, Empörung <strong>und</strong> aggressive Abwehr von Zumutungen. All<br />
das übt einen starken Sog aus zu Grenzverletzungen – im beruflichen<br />
Alltag, aber auch im Verfahren des kollegialen Fallverstehens.<br />
• Wichtig also ist, die schützenden Grenzen <strong>und</strong> Regeln zu sichern gegen<br />
die destruktiven Tendenzen, die in der Auseinandersetzung mit<br />
den Problemen dieser schwierigen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen unweigerlich<br />
hochkommen; <strong>und</strong> dazu bedarf es einer leitenden Autorität als<br />
Dritter Instanz.<br />
38
• Vielleicht noch wichtiger als die Sorge für die Einhaltung der Verfahrensregeln<br />
ist die Sorge dafür, dass die Perspektive auf den Fall im<br />
Zentrum der kollegialen Fallberatung gewahrt wird. Zu groß ist die<br />
permanente Versuchung, der Gruppendynamik, die durch die Identifikationsr<strong>und</strong>e<br />
geradezu provoziert wird, agierend nachzugeben. Hier<br />
bedarf es der kompetenten Leitung, die immer wieder den Blick der<br />
Gruppe zurückführt auf die Frage, wie das Kind, wie der Jugendliche<br />
das Verhalten „seiner“ Erwachsenen erleben, verstehen, einordnen<br />
<strong>und</strong> beantworten mag. Wie wichtig diese immer wieder aufgenötigte<br />
Rückkehr zum Einzelfall ist, mag einleuchten, wenn man bedenkt,<br />
dass es gerade der unbewusste Sinn der Konfliktinszenierungen der<br />
Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen ist, alle Großen ihrer Welt so zu „beschäftigen“,<br />
dass sie für diese entscheidende Frage nach dem Sinn der Dynamik<br />
nichts mehr übrig haben.<br />
5. Eine kleine Zusammenfassung<br />
Das Verfahren des interdisziplinären kollegialen Fallverstehens kann<br />
begriffen werden als die institutionalisierte Einführung einer Dritten Instanz<br />
in die professionelle Arbeit mit schwierigen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />
Die Konfliktgeschichten schwieriger Jugendlicher mit Schule <strong>und</strong><br />
Jugendhilfe können auch als Konflikte entziffert werden, in denen es<br />
darum geht, ob „Dritte“ zugelassen werden. Das ist zuerst meist der Vater,<br />
dann sind es externe Erzieher <strong>und</strong> Lehrer, schließlich sind es „die<br />
Regeln“ <strong>und</strong> „die Grenzen“. In den Schulkonflikten geht es immer auch<br />
um die Frage: Kann der störende Dritte angenommen, akzeptiert <strong>und</strong> in<br />
seiner begrenzenden, schützenden <strong>und</strong> produktiv-kreativen Funktion genutzt<br />
werden – oder muss er ausgeschlossen, abgewehrt, vernichtet,<br />
entwertet oder korrumpiert werden. Der Kampf der schwierigen Kinder<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen gegen die Schule ist im Kern immer ein Abwehrkampf<br />
39
gegen die für sie bedrohliche Macht einer dritten Instanz. Sie haben in<br />
ihren frühen Beziehungserfahrungen den Dritten nicht als Schutz <strong>und</strong><br />
Chance erleben <strong>und</strong> verinnerlichen können. Das väterliche Gesetz ist<br />
ihnen nur in seiner gewalttätigen, verletzenden, kränkenden oder verratenden<br />
Gestalt begegnet. Deshalb gilt ihre erbitterte Abwehr dieser dritten<br />
Instanz – <strong>und</strong> deshalb zielen ihre unbewussten Konfliktstrategien gegenüber<br />
ihren Professionellen auf „Verstrickung“: Der Verstrickte verliert<br />
seine professionelle Distanz <strong>und</strong> seine Autonomie als Dritte Instanz.<br />
Deshalb findet sich bei „verstrickten“ Professionellen so oft die nämliche<br />
Abwehr des Dritten: Er wird als bedrohlich <strong>und</strong> beschämend – also störend<br />
- wahrgenommen <strong>und</strong> abgewehrt oder verführt. Im Verfahren der<br />
kollegialen Fallberatung kann der notwendige störende Dritte zugleich<br />
als schützender Dritter erfahren werden. Das unterscheidet ihn vom destruktiven<br />
<strong>Störer</strong>. Der produktive störende Dritte setzt also sichere, geregelte<br />
<strong>und</strong> geschützte Räume <strong>und</strong> Zeiten voraus, die entlastet sind vom<br />
Handlungs- <strong>und</strong> Entscheidungsdruck des Alltags <strong>und</strong> von den Sanktionen<br />
<strong>und</strong> Gratifikationen bei Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg; Zeiten <strong>und</strong> Räume für<br />
ein professionelles Beiseitetreten, Innehalten, Nachdenken, für gemeinsame<br />
Reflexion. Denn es geht um äußere Räume, in denen die inneren<br />
Räume der Professionellen bewahrt, geschützt <strong>und</strong> bereichert werden<br />
können. Ein solcher innerer Raum nämlich fehlt den schwierigen Kindern<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen; als Raum des Lernens <strong>und</strong> Probehandelns wird dieser<br />
innere Raum in den agierten Konflikten permanent angegriffen, während<br />
Handlungsdruck die Vorherrschaft gewinnt. Deshalb geht es nicht<br />
vor allem darum, noch aktiver, noch engagierter, noch einfallsreicher zu<br />
sein bei der Suche nach weiteren Maßnahmen oder Angeboten für diese<br />
Jugendlichen; es geht eher <strong>und</strong> zunächst darum, die Affekte auszuhalten,<br />
die in den Auseinandersetzungen mit ihnen hervorgerufen werden:<br />
Angst vor Versagen <strong>und</strong> Scheitern, Hilflosigkeit <strong>und</strong> Ratlosigkeit auf der<br />
40
einen Seite; <strong>und</strong> Wut, Enttäuschung <strong>und</strong> Kränkung auf der anderen Seite.<br />
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