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Fortschrittskonzepte und Fortschrittsmessung in ...

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Institut für Produktion <strong>und</strong> Industrielles Informationsmanagement<br />

Universität Duisburg-Essen, Campus Essen<br />

Univ.-Prof. Dr. Stephan Zelewski<br />

Stephan Zelewski <strong>und</strong> Naciye Akca (Hrsg.)<br />

<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong><br />

<strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong><br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

Tagungsband zur wissenschaftlichen Fachtagung<br />

der Wissenschaftlichen Kommission Wissenschaftstheorie<br />

im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) e.V.<br />

am 22. <strong>und</strong> 23. September 2005<br />

im Kompetenzzentrum für Kommunikation <strong>und</strong> Information<br />

(ComIn) Essen<br />

Essen 2005<br />

ISBN: 3-9809798-4-9<br />

© Alle Rechte vorbehalten.


<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong><br />

<strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />

durch Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse?<br />

Dr. Bernhard Hirsch<br />

1-38<br />

Beziehungen zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />

konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

Univ.-Prof. Dr. Jörg Becker / Dipl.-Wirt.-Inf. Daniel Pfeiffer<br />

39-57<br />

Konvergenz oder Divergenz der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung?<br />

Dr. Markus Gmür<br />

Die Relevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der<br />

Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />

Univ.-Prof. Dr. Harald Dyckhoff / Dipl.-Kff. Sylvia Rassenhövel<br />

Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong><br />

Bewertung wissenschaftlichen Fortschritts<br />

Dipl.-Kfm. Bernd-Oliver He<strong>in</strong>e / Dr. Matthias Meyer /<br />

Dipl.-Phys. Oliver Strangfeld<br />

58-84<br />

85-118<br />

119-138<br />

Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre<br />

– E<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung<br />

von Muster-Hypothesen –<br />

Univ.-Prof. Dr. Ute Schmiel<br />

139-164<br />

Funktionen <strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Fortschritts<br />

aus Strukturationstheoretischer Perspektive<br />

Dipl.-Kfm. Stephan Cappallo<br />

165-202<br />

Theoretischer Fortschritt – e<strong>in</strong>e Analyse<br />

aus der Perspektive des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

Univ.-Prof. Dr. Stephan Zelewski<br />

203-261


Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />

durch Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse?<br />

Bernhard Hirsch<br />

WHU Otto Beisheim Hochschule<br />

Lehrstuhl für Controll<strong>in</strong>g & Telekommunikation<br />

Stiftungslehrstuhl der Deutschen Telekom AG<br />

Burgplatz 2, D-56179 Vallendar<br />

Tel.: ++49/261/6509-476<br />

Fax: ++49/261/6509-479<br />

Mail: bhirsch@whu.edu<br />

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie durch die Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption<br />

Erkenntnisfortschritt erzielt werden kann. Es werden zum e<strong>in</strong>en Kriterien def<strong>in</strong>iert, wie<br />

e<strong>in</strong>e solche Integration methodologisch reflektiert zu erfolgen hat. Zum anderen werden<br />

fünf Integrationsvorschläge auf ihre Zweckmäßigkeit <strong>in</strong> Bezug auf die Berücksichtigung<br />

kognitiver Begrenzungen <strong>in</strong> der Interaktionsbeziehung Controller – Manager<br />

diskutiert. Die Methode der abnehmenden Abstraktion von L<strong>in</strong>denberg stellt sich als am<br />

besten geeignetes Verfahren dar.<br />

1<br />

1


1 Die Notwendigkeit wissenschaftlichen Fortschritts <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />

Die Notwendigkeit, wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, 1 ist <strong>in</strong> besonderem<br />

Maße für solche Teildiszipl<strong>in</strong>en der Betriebswirtschaftslehre e<strong>in</strong>e Herausforderung,<br />

die zwar e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Anspruch erheben, sich jedoch noch nicht auf<br />

e<strong>in</strong> gesichertes Vorgehen e<strong>in</strong>igen konnten, wie dieser Erkenntnisfortschritt bezogen auf<br />

e<strong>in</strong> spezifisches Untersuchungsobjekt bestmöglich erreicht werden kann. E<strong>in</strong>e solche<br />

Teildiszipl<strong>in</strong> stellt das Controll<strong>in</strong>g dar. 2 Bisher existierende Konzeptionen des Controll<strong>in</strong>gs<br />

verwenden zwar <strong>in</strong> der Regel die Ökonomie als theoretische Basis 3 , e<strong>in</strong>en spezifischen<br />

eigenen Kern haben sie jedoch nicht. 4 So stellt stellvertretend für viele Brockhoff<br />

fest, dass das Controll<strong>in</strong>g bisher wenig an Gr<strong>und</strong>lagenforschung aufzuweisen habe. 5<br />

Schneider hat se<strong>in</strong>en Vorwurf, das Controll<strong>in</strong>g habe das ihm Eigene zwischen „Supermann“<br />

<strong>und</strong> Buchhalter noch nicht gef<strong>und</strong>en, 6 <strong>in</strong> jüngster Zeit nochmals bekräftigt. 7<br />

E<strong>in</strong> Ausweg aus dieser Orientierungslosigkeit könnte e<strong>in</strong>e stärkere Fokussierung der<br />

Controll<strong>in</strong>gforschung auf verhaltensorientierte Aspekte von Akteuren liefern, die über<br />

1 Vgl. zum Erkenntnisfortschritt der Erfahrungswissenschaften Chmielewicz (1994), S. 129 ff.;<br />

Popper (1998), S. 198 ff. Chmielewicz (1994), S. 129 ff., weist auf das Dreiecksproblem der Ziele<br />

Neuheit, Wahrheit <strong>und</strong> Informationsgehalt h<strong>in</strong>. Popper (1998), S. 198, nimmt an, dass es „Ziel der<br />

empirischen Wissenschaft ist, befriedigende Erklärungen zu f<strong>in</strong>den für alles, was uns e<strong>in</strong>er Erklärung<br />

zu bedürfen sche<strong>in</strong>t.“ E<strong>in</strong> solches Ziel ist für den Controll<strong>in</strong>gkontext, der e<strong>in</strong>en sehr starken Bezug<br />

zur empirischen Realität aufweist, von besonderer Bedeutung. Jedoch hat das F<strong>in</strong>den von Erklärungen<br />

methodologisch reflektiert zu erfolgen. Vgl. dazu Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />

2 Vgl. als Überblick über die Diskussion Weber/Hirsch (2002) <strong>und</strong> Scherm/Pietsch (2004).<br />

3 Vgl. vor allem die prom<strong>in</strong>enten Konzeptionen von Horváth (2001); Küpper (2001); Ewert (2002);<br />

Weber (2004).<br />

4 Vgl. Kappler (2002), S. 161.<br />

5 Darunter versteht er die Suche nach e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlichen, über den E<strong>in</strong>zelfall h<strong>in</strong>ausgehenden Verständnis<br />

des Objekts der Forschung, die nicht anwendungsorientiert zu erfolgen hat. Als Beispiel<br />

nennt Brockhoff Arbeiten, die dem gr<strong>und</strong>sätzlichen Verständnis von controll<strong>in</strong>grelevanten Prozessen<br />

dienen. Vgl. Brockhoff (2002), S. 451 ff.<br />

6 Vgl. Schneider (1991), S. 765, der die Frage stellt: Wozu greifen e<strong>in</strong>zelne Controller nach e<strong>in</strong>er derartigen<br />

Selbstbeweihräucherung zum Supermann, wenn sie <strong>in</strong>nerlich überzeugt s<strong>in</strong>d, Controller können<br />

etwas Nützliches <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unternehmenshierarchie leisten?“<br />

7 Vgl. Schneider (2005), <strong>in</strong>sbes. S. 68 f. Überzeugende Beiträge zur Theorie des Controll<strong>in</strong>gs habe er,<br />

so Schneider, im Sammelband von Scherm/Pietsch (2004) nicht erkannt.<br />

2<br />

2


die ‚klassischen’ Verhaltensannahmen des homo oeconomicus bewusst h<strong>in</strong>ausgehen. 8<br />

So stellen Gaulhofer <strong>und</strong> Karlowitsch fest, dass die Bemühungen von Wissenschaftlern,<br />

dem Controll<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e theoretisch begründete Funktion <strong>und</strong> Konzeption zugr<strong>und</strong>e zu legen,<br />

von e<strong>in</strong>er „zu e<strong>in</strong>seitigen (...) Betonung der sachbezogenen Aspekte des Controll<strong>in</strong>g[s]<br />

gegenüber se<strong>in</strong>en verhaltensbezogenen Aspekten“ 9 geprägt s<strong>in</strong>d.<br />

Im deutschsprachigen Raum wird die systematische Berücksichtigung verhaltensorientierter<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong> der Forschung zum Controll<strong>in</strong>g zwar immer wieder gefordert, 10<br />

bisher aber nur kaum umgesetzt. 11 So f<strong>in</strong>den sich nur wenige Arbeiten, die sich mit der<br />

Perspektive e<strong>in</strong>es verhaltenswissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten Controll<strong>in</strong>gs ause<strong>in</strong>andersetzen.<br />

12 Wenn überhaupt e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Perspektive e<strong>in</strong>genommen wird, dann<br />

stehen weniger konzeptionelle Überlegungen im Fokus, sondern vor allem konkrete<br />

Handlungsempfehlungen für praktische Probleme, z.B. Gestaltung des Controll<strong>in</strong>gsystems<br />

e<strong>in</strong>er Behörde. 13<br />

Die bisher unzureichende Entwicklung e<strong>in</strong>er Controll<strong>in</strong>gtheorie im deutschsprachigen<br />

Raum legt es deswegen nahe, Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften stärker als<br />

bisher für die Erklärung controll<strong>in</strong>grelevanter Phänomene zu nutzen. 14 Wenn es gel<strong>in</strong>gt,<br />

durch die Heranziehung von Erkenntnissen aus der Psychologie, der Behavioral<br />

Account<strong>in</strong>g- <strong>und</strong> der Behavioral Economics-Forschung (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es höheren Er-<br />

8 Im Bereich des Rechnungswesens <strong>und</strong> Controll<strong>in</strong>gs, <strong>in</strong> dem Entscheidungen im Fokus stehen, eignet<br />

sich vor allem die Betrachtung von Konzepten <strong>und</strong> Erkenntnissen aus der Kognitionspsychologie,<br />

die untersucht, wie Menschen denken, <strong>und</strong> der Sozialpsychologie, die den E<strong>in</strong>fluss der Umwelt auf<br />

menschliches Denken <strong>und</strong> Verhalten untersucht. Vgl. dazu Koonce/Mercer (2005), S. 5.<br />

9 Gaulhofer (1989), S. 144. Das Zitat f<strong>in</strong>det sich wieder bei Karlowitsch (1997), S. 1.<br />

10 Vgl. Holzer/Lück (1978); Gaulhofer (1989).<br />

11 Vgl. Gaulhofer (1989), S. 148 ff.; Horváth (2001), S. 839 ff.; Littkemann (2004), S. 23. Im Gegensatz<br />

zu Deutschland gilt die Forschung zum Behavioral Account<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den angelsächsischen Ländern<br />

seit langem als etabliert. Darunter lässt sich die Nutzung der Erkenntnisse <strong>und</strong> Konzepte der<br />

Verhaltenswissenschaften für Fragestellungen im Account<strong>in</strong>g verstehen. Vgl. zur Def<strong>in</strong>ition <strong>und</strong> für<br />

e<strong>in</strong>en Überblick zum Forschungsstand des Behavioral Account<strong>in</strong>g z.B. Birnberg/Shields (1989),<br />

Shields (1997), (2002); zum Begriff erstmalig Bruns/DeCoster (1969), S. v.<br />

12 Vgl. z.B. Holzer/Lück (1978); Höller (1978); Wielpütz (1996); Karlowitsch (1997); Bramsemann et<br />

al. (2004). Letztere kommen jedoch über e<strong>in</strong>e Typologisierung von Forschungsrichtungen nicht<br />

h<strong>in</strong>aus.<br />

13 Vgl. z.B. Hoffjan (1998), der e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption für die B<strong>und</strong>esanstalt<br />

für Arbeit entwickelt; oder Wielpütz (1996), <strong>in</strong>sbes. S. 193 ff.<br />

14 Diese Forderung nach e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>beziehung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis des Account<strong>in</strong>g hat Macharz<strong>in</strong>a bereits 1973 erhoben. Vgl. dazu Macharz<strong>in</strong>a (1973), S. 3<br />

ff.<br />

3<br />

3


kenntnisgew<strong>in</strong>ns 15 ) bessere Erklärungsansätze für Fragestellungen im Rahmen der<br />

Tätigkeit von Controllern zu entwickeln, besteht die Chance e<strong>in</strong>er verbesserten theoretischen<br />

F<strong>und</strong>ierung der Controll<strong>in</strong>gfunktion. Ob e<strong>in</strong> solches Vorgehen zweckmäßig ist,<br />

<strong>und</strong> welche Anforderungen an e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption zu stellen<br />

s<strong>in</strong>d, damit mit ihr wissenschaftlicher Fortschritt generiert werden kann, ist Thema<br />

dieses Beitrags.<br />

Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Nach der Formulierung der Problemstellung <strong>in</strong> Abschnitt<br />

1 werden empirisch gestützte Argumente aufgeführt, die die Notwendigkeit der<br />

Berücksichtigung kognitiver Fähigkeiten von Managern als Aufgabe von Controllern<br />

aufzeigen. (Abschnitt 2). Aus dieser Notwendigkeit werden Anforderungen an die Integration<br />

verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption<br />

abgeleitet (Abschnitt 3). Darauf aufbauend gilt es nach e<strong>in</strong>em geeigneten<br />

Integrationsverfahren zu suchen, das e<strong>in</strong>e methodisch reflektierte Erweiterung<br />

der Annahmen der ökonomischen Theorie ermöglicht. E<strong>in</strong>schlägige Vorschläge dazu<br />

werden <strong>in</strong> Abschnitt 4 beschrieben <strong>und</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 5 <strong>in</strong> Bezug auf ihre Geeignetheit<br />

für typische Problemstellungen des Controll<strong>in</strong>gs bewertet. Abschnitt 6 fasst die Ergebnisse<br />

zusammen <strong>und</strong> zeigt den weiteren Forschungsbedarf auf.<br />

2 Controlleraufgaben <strong>und</strong> die Bedeutung kognitiver Begrenzungen von Managern<br />

Die Controll<strong>in</strong>g-Konzeption, die verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse am prom<strong>in</strong>entesten<br />

berücksichtigt, ist der Rationalitätssicherungsansatz von Weber <strong>und</strong> Schäffer.<br />

16 Weber <strong>und</strong> Schäffer verwenden e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>duktiven Zugang, um das Wesen <strong>und</strong> die<br />

Funktion des Controll<strong>in</strong>gs zu begründen. 17 Sie leiten aus der empirischen Beobachtung<br />

von Controllertätigkeiten typische Aufgaben von Controllern ab. Daraus entwickeln sie<br />

e<strong>in</strong> Verständnis von Controll<strong>in</strong>g.<br />

Die Aufgaben von Controllern stehen <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> Bezug zur Unternehmensplanung,<br />

zur Bereitstellung führungsrelevanter Informationen <strong>und</strong> weisen e<strong>in</strong>e Nähe zum Management<br />

auf. 18 Diese Nähe von Controllern zum Management, <strong>in</strong>sbesondere die Inter-<br />

15 Vgl. zum Erkenntnisgew<strong>in</strong>n Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />

16 Dies ist das Ergebnis der Analyse von Bramsemann et al. (2004).<br />

17 Vgl. Weber (2004), S. 7; Schäffer (2002). Der Beitrag von Weber stellt die aktuellste Beschreibung<br />

des Rationalitätssicherungsansatzes dar, der von Weber <strong>und</strong> Schäffer entwickelt wurde. Vgl. dazu<br />

auch gr<strong>und</strong>legend Weber/Schäffer (1999).<br />

18 Vgl. Weber (2004), S. 31 ff.; Schäffer (2002), S. 102 ff.<br />

4<br />

4


aktion von Managern <strong>und</strong> Controllern, lasse sich durch e<strong>in</strong>e Beschreibung der typischen<br />

Eigenschaften von Managern <strong>und</strong> Conrollern konkretisieren. Eigenschaften von Akteuren<br />

unterteilt Weber <strong>in</strong> (a) Fähigkeiten von Menschen <strong>und</strong> deren (b) Bereitschaft, diese<br />

auch e<strong>in</strong>zusetzen (Motivation). 19<br />

Ad (a): Im Rahmen e<strong>in</strong>er Fokussierung auf die Fähigkeiten von Akteuren im Interaktionszusammenhang<br />

Manager – Controller weist Weber auf das für die Erfüllung von<br />

Managementaufgaben erforderliche Fachwissen von Managern <strong>und</strong> Controllern h<strong>in</strong>. Er<br />

betont auch die Bedeutung psycho-sozialer Eigenschaften, die Führungskräfte besitzen<br />

sollten, um erfolgreich zu se<strong>in</strong>. 20 In der Realität besitzen Manager häufig ke<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />

betriebswirtschaftliche Spezialisierung. Controller könnten dagegen diese Fachkompetenz<br />

nachweisen. In Bezug auf persönliche E<strong>in</strong>stellungen würden Manager eher<br />

<strong>in</strong>tuitiv, emotional <strong>und</strong> oberflächlich agieren, während Controller als analytisch, nüchtern<br />

<strong>und</strong> klar begründend gelten. 21<br />

Ad (b): Auch <strong>in</strong> Bezug auf ihre Bereitschaft, ihre Fähigkeiten e<strong>in</strong>zusetzen (Motivation),<br />

würden sich Manager <strong>und</strong> Controller unterscheiden. So weise nicht nur die Pr<strong>in</strong>zipal-<br />

Agenten-Theorie auf Opportunismusgefahren h<strong>in</strong>, auch <strong>in</strong> der empirischen Beobachtung<br />

seien Probleme, dass sich Manager voll <strong>und</strong> ganz für die Unternehmensziele e<strong>in</strong>setzen,<br />

festzustellen. Dagegen könne den Controllern „eher positive Aussagen [zugeschrieben<br />

werden,] <strong>in</strong> denen auf <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sische Motivation <strong>und</strong> typisches „Schiedsrichterethos“<br />

(Neutralität sowie Unbestechlichkeit) verwiesen wird.“ 22<br />

Aus den Unterschieden <strong>in</strong> den Eigenschaften von Managern <strong>und</strong> Controllern leiten Weber<br />

<strong>und</strong> Schäffer typische Controlleraufgaben ab. 23 Diese ließen sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> führungsunterstützende<br />

Tätigkeiten (i.e.S.), andererseits <strong>in</strong> rationalitätssichernde Tätigkeiten<br />

unterteilen. Führungsunterstützende Tätigkeiten i.e.S. beschreibt Weber als „Tätigkeiten,<br />

die der Manager für die Lösung e<strong>in</strong>es Führungsproblems an den Controller übergibt,<br />

bevor er selbst zu e<strong>in</strong>em Urteil kommt.“ 24 Durch die Delegation dieser Tätigkeiten<br />

durch den Manager an den Controller kann sich der Manager entlasten <strong>und</strong> die Kompe-<br />

19 Vgl. Weber (2004), S. 33 f.<br />

20 Weber (2004), S. 34 f., nimmt dabei Bezug auf Staehle (1999), S. 331 ff.<br />

21 Vgl. Weber (2004), S. 37 f. Dieser weist darauf h<strong>in</strong>, dass die empirische Untersuchung von Weber et<br />

al. (2000), S. 20 f., die E<strong>in</strong>schätzungen unterstützen würde.<br />

22 Weber (2004), S. 38.<br />

23 Vgl. Weber (2004), S. 43 ff.; Schäffer (2002), S. 101 ff.<br />

24 Weber (2004), S. 43.<br />

5<br />

5


tenzen des Controllers nutzen, die dieser <strong>in</strong> höherem Maße besitzt als er selbst (Ergänzungsaufgabe<br />

des Controllers). Rationalitätssichernde Aufgaben s<strong>in</strong>d Aufgaben, die der<br />

Controller wahrnimmt, nachdem sich der Manager bereits e<strong>in</strong> Urteil gebildet hat: „Er<br />

wird vom Manager beauftragt, diese Lösung herauszufordern (Ergänzung) oder hat<br />

diese – im Auftrag hierarchisch höher stehender Manager – zu verh<strong>in</strong>dern (Begrenzung).“<br />

25 Die Rationalitätssicherung ist für Weber die orig<strong>in</strong>äre Controlleraufgabe. Diese<br />

stelle „e<strong>in</strong>e Kernaufgabe der Controller (...) [dar], die quasi „quer“ zu den traditionell<br />

unterschiedlichen Informations-, Planungs- <strong>und</strong> Kontrollaufgaben der Controller<br />

liegt.“ 26<br />

Verfolge man den <strong>in</strong>duktiven Weg weiter, so lasse sich aus der Rationalitätssicherungsaufgabe<br />

der Controller auch die Controll<strong>in</strong>gfunktion bestimmen: Weil sich bisher ke<strong>in</strong>e<br />

Führungsfunktion mit der Frage beschäftige, wie die Rationalität e<strong>in</strong>zelner Manager<br />

oder der Führungsfunktion <strong>in</strong>sgesamt gesichert werden soll, liege es nahe, Controll<strong>in</strong>g<br />

als Rationalitätssicherung der Führung als „orig<strong>in</strong>äre[n] Inhalt <strong>und</strong> Kern des Controll<strong>in</strong>g“<br />

27 anzusehen. Die spezifische Fragestellung des Controll<strong>in</strong>gs liege dar<strong>in</strong>, „[e]<strong>in</strong>en<br />

„zweiten Blick“ auf gef<strong>und</strong>ene Lösungen zu werfen, Fehler <strong>und</strong> andere Rationalitätsdefizite<br />

schon vor ihrem Wirksamwerden zu vermeiden (...) Ihr Spezifikum liegt <strong>in</strong> der<br />

Beantwortung der Frage, wie man Rationalitätsdefizite erkennt <strong>und</strong> wie man sie verm<strong>in</strong>dern<br />

oder beseitigen kann.“ 28<br />

Weil es sich bei Weber (2004) um e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>führungslehrbuch zum Controll<strong>in</strong>g handelt,<br />

werden methodologische Anforderungen an die Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption nicht thematisiert. 29<br />

In Weber (2004) - <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> Schäffer (2002) - bleibt unklar, wie Fähigkeitsdefizite<br />

von Akteuren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em erweiterten ökonomischen Ansatz konkret <strong>in</strong>tegriert werden<br />

können, welche Annahmen der ökonomischen Theorie <strong>in</strong> welchem Untersuchungskontext<br />

bestehen bleiben, welche wann aufgelöst bzw. erweitert werden sollen. Für die<br />

<strong>in</strong> diesem Beitrag zu klärende Frage, wie Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e ökonomisch basierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption <strong>in</strong>tegriert werden können, leisten auch<br />

25 Weber (2004), S. 43 f.<br />

26 Weber (2004), S. 45.<br />

27 Weber (2004), S. 48. Unter Rationalität versteht Weber die „herrschende Me<strong>in</strong>ung von Fachleuten<br />

h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er bestimmten Zweck-Mittel-Situation“ (Weber (2004), S. 51; im Orig<strong>in</strong>al kursiv).<br />

28 Weber (2004), S. 48.<br />

29 Darauf geht auch Schäffer (2002) nicht e<strong>in</strong>.<br />

6<br />

6


die weiteren Arbeiten von Weber <strong>und</strong> Schäffer nur wenig konkrete Hilfestellung.<br />

Gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch<br />

f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption, so ist e<strong>in</strong> Erkenntnisfortschritt im S<strong>in</strong>ne realitätsnäherer<br />

Erklärungen von kognitiven Manager-Begrenzungen zu erwarten. Daraus<br />

können theoretisch f<strong>und</strong>ierte Gestaltungsempfehlungen für Controller als Rationalitätssicherer<br />

der Manager abgeleitet werden. Es ist somit im Folgenden zu überlegen, ob <strong>und</strong><br />

wie e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e auf kognitive<br />

Begrenzungen der Manager Rücksicht nehmende Controll<strong>in</strong>gkonzeption erfolgen kann.<br />

3 Der Bedarf e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die<br />

Controll<strong>in</strong>g-Forschung<br />

Die Hauptl<strong>in</strong>ie der Kritik an der Verwendung der (neoklassischen) ökonomischen Theorie<br />

verläuft so, dass dieser zwar e<strong>in</strong>e hohe Effizienz bei der Erklärung von Hauptaspekten<br />

sozialer Probleme e<strong>in</strong>geräumt wird <strong>und</strong> sich daraus tragfähige Prognosen <strong>und</strong> Gestaltungsempfehlungen<br />

entwickeln lassen. 30 Die Erklärungskraft 31 der ökonomischen<br />

Methode stoße, so die Kritik, jedoch dann an Grenzen, wenn diese reale Phänomene<br />

außerhalb des Marktgeschehens nicht mehr ausreichend erklären kann. E<strong>in</strong>e solche Realitätsferne<br />

ökonomischer Modelle komme häufig dann zum Vorsche<strong>in</strong>, wenn die Prozesse<br />

der Urteilsbildung <strong>und</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung von Individuen <strong>in</strong> hohem Maße relevant<br />

für die Erklärung des Verhaltens der Akteure s<strong>in</strong>d. Während die Beschreibung<br />

<strong>und</strong> Erklärung solcher Prozesse <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Probleme als Markenzeichen<br />

der Psychologie gilt, bleibt die ökonomische Theorie „frequently silent regard<strong>in</strong>g<br />

the process <strong>und</strong>erly<strong>in</strong>g judgments and decisions.“ 32 Sie modelliert den Entscheider<br />

als e<strong>in</strong>en „’<strong>in</strong>tuitiven Statistiker’, der die verschiedenen Entscheidungsalternativen<br />

sorgsam [nach Kosten-Nutzen-Aspekten; d. Verf.] abwägt <strong>und</strong> se<strong>in</strong> ganzes verfügbares<br />

Vorwissen nach den Gesetzen der Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitstheorie <strong>und</strong> Logik auf das Entscheidungsproblem<br />

anwendet.“ 33<br />

Die Psychologie hat e<strong>in</strong>e Reihe von Theorien <strong>und</strong> Techniken entwickelt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e große<br />

30 Hauptaspekte s<strong>in</strong>d solche Aspekte, „ohne die man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Analyse des Phänomens nicht zu e<strong>in</strong>er<br />

adäquaten Problemlösung kommt.“ (L<strong>in</strong>denberg, 1991, S. 34). Dies br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e bewusste Vernachlässigung<br />

von Nebeneffekten mit sich. Vgl. dazu auch Knight (1921), S. 4.<br />

31 Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 4.1 dieses Beitrags.<br />

32 Koonce/Mercer (2005), S. 4. Zum Spannungsfeld zwischen Realitätsnähe e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> Ableitbarkeit<br />

<strong>und</strong> Erklärungseffizienz ökonomischer Theorie vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 39 f.<br />

33 Fischer et al. (2004), Sp. 240.<br />

7<br />

7


Zahl empirischer Belege gesammelt, um den Prozess der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung zu untersuchen.<br />

Dieser werde von der klassischen ökonomischen Theorie nicht problematisiert.<br />

34 Zahlreiche Studien zeigen, dass sich Individuen <strong>in</strong> sorgfältig konstruierten Experimenten<br />

häufig so verhalten, dass ihr Verhalten mit den Annahmen des homo oeconomicus<br />

nicht konsistent sei. 35 Schoemaker kommt zu dem Ergebnis, dass „at the <strong>in</strong>dividual<br />

level most of the empirical evidence is difficult to reconcile with the pr<strong>in</strong>ciple of<br />

expected utility maximation“ 36 . Kahneman <strong>und</strong> Tversky leiten aus ihren experimentell<br />

geprägten Forschungsergebnissen e<strong>in</strong> systematisches Fehlverhalten von Individuen gegenüber<br />

den Annahmen der Rational Choice-Theorie ab: „[O]ur research shows (…)<br />

that the axioms of rational choice are often violated consistently by sophisticated as well<br />

as naive respondents, and that the violations are often large and highly persistent.” 37<br />

Befürworter der neoklassischen Theorie argumentieren dagegen, die Rational Choice-<br />

Theorie sei nicht zu ersetzen. Sie erlaube es, e<strong>in</strong> klares <strong>und</strong> verständliches Modell mit<br />

klaren <strong>und</strong> überprüfbaren Implikationen zu verwenden. Dies sei auch dann s<strong>in</strong>nvoll,<br />

wenn e<strong>in</strong>ige dieser Implikationen durch experimentelle Beweise widerlegt s<strong>in</strong>d. Die<br />

Schärfe der ökonomischen Analyse dürfe auch aufgr<strong>und</strong> von Fehlern <strong>in</strong> der Rationalitätsannahme<br />

nicht aufgegeben werden. Das Festhalten an der Rational Choice-Theorie<br />

sei immer noch besser, als die strenge Orientierungskraft e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en deduktiven<br />

Folgerns für e<strong>in</strong>e Überfülle realitätsnäherer, aber auch komplexerer <strong>und</strong> wenig allgeme<strong>in</strong>erer<br />

Theorien e<strong>in</strong>es spezifischen Phänomens e<strong>in</strong>zutauschen. 38<br />

Für die Möglichkeit der Integration psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />

Theorie ist diese Kontroverse von hoher Bedeutung. Denn e<strong>in</strong>erseits wäre der Erkenntnisgew<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er Anwendung ökonomischer Modelle auf verschiedene Nicht-Marktbereiche<br />

sehr begrenzt, wenn die Modellannahmen nicht realistischer würden. Aber wenn<br />

andererseits bei dem Versuch, die Modellannahmen realistischer zu gestalten, die Vorteile<br />

der ökonomischen Modellbildung völlig verloren g<strong>in</strong>gen, dann s<strong>in</strong>d Zweifel an der<br />

34 Das führende Forschungsdesign stellten die experimentellen Studien von Tversky <strong>und</strong> Kahneman<br />

über kognitive Anomalien dar: „circumstances <strong>in</strong> which <strong>in</strong>dividuals exhibit surpris<strong>in</strong>g departures<br />

form rationality.“ (McFadden (1999), S. 79).<br />

35 Vgl. McFadden (1999), S. 79.<br />

36 Schoemaker (1982), S. 530. Frey erweitert die E<strong>in</strong>schätzung Schoemakers auch auf Feldstudien.<br />

Vgl. Frey (1988), S. 186.<br />

37 Tversky (1977), S. 210.<br />

38 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 734.<br />

8<br />

8


Nützlichkeit angebracht, auf e<strong>in</strong>e str<strong>in</strong>gente ökonomische Analyse zu verzichten. 39<br />

McFadden sieht die Antwort auf die Frage, <strong>in</strong>wieweit kognitive Anomalien <strong>in</strong> den Annahmen<br />

der ökonomischen Theorie e<strong>in</strong>e Rolle spielen (sollen), <strong>in</strong> Abhängigkeit von<br />

dem Ausmaß, „how rationality fails.“ So sei es möglich, dass das Standardmodell der<br />

ökonomischen Theorie unter bestimmten Umständen gut funktioniere. Es sei auch denkbar,<br />

dass sich Akteure <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Punkten des Entscheidungsprozesses konform zur<br />

Rationalitätsannahme verhielten, <strong>in</strong> anderen aber nicht. In e<strong>in</strong>em solchen Fall wäre das<br />

Verhalten zwar <strong>in</strong>konsistent zu den klassischen Rationalitätsannahmen, aber es würden<br />

F<strong>und</strong>amente existieren, die e<strong>in</strong>e Basis für e<strong>in</strong>e ökonomische Analyse darstellten. 40<br />

Betrachte man jedoch die experimentellen Studien zur Kognition der letzten 25 Jahre,<br />

so steche hervor, dass Menschen dar<strong>in</strong> versagten, Informationen adäquat - im S<strong>in</strong>ne der<br />

neoklassischen Rationalitätsannahmen - zu verarbeiten. 41 McFadden schließt daraus,<br />

dass die Rationalität <strong>in</strong> der Wahrnehmung bei menschlichen Akteuren ausbleibe. Dieses<br />

Ausbleiben sei systematisch, nachhaltig, überall vorhanden <strong>und</strong> trete <strong>in</strong> hohem Maße<br />

auf. 42<br />

McFadden leitet aus den empirischen Beweisen zu Anomalien Handlungsempfehlungen<br />

für die Theoriebildung ab: Die Herausforderung liege dar<strong>in</strong>, die Annahmen des homo<br />

oeconomicus <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es mehr psychologisch geprägten Ansatzes weiter zu entwickeln.<br />

Diejenigen Erkenntnisse der Verhaltensforschung, die die krassesten Mängel<br />

der klassischen Annahmen korrigieren, sollten <strong>in</strong> der Theoriebildung berücksichtigt<br />

werden. Die konkrete Lösung dieser Aufgabe sei zwar schwierig, aber nicht unmöglich.<br />

Der Vorschlag McFaddens, die ökonomische Theorie weiterh<strong>in</strong> als ‚Basistheorie’ zu<br />

verwenden, die es um psychologische Erkenntnisse zu erweitern gilt, ersche<strong>in</strong>t auch für<br />

Controll<strong>in</strong>gfragestellungen zweckmäßig. Dort geht es nicht nur darum, Motivationsprobleme<br />

von Managern zu modellieren. Vielmehr werden Erkenntnisse gesucht, die es erlauben,<br />

die (kognitiven) Beschränkungen von Akteuren (Managern) angemessen be-<br />

39 Vgl. ähnlich L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 734.<br />

40 Vgl. McFadden (1999), S. 84.<br />

41 Vgl. McFadden (1999), S. 96, <strong>und</strong> die Meta-Studie von Camerer/Hogarth (1999), die 74 anreizbezogene<br />

Studien untersuchten. Camerer/Hogarth kamen zu der Schlussfolgerung, dass irrationales<br />

Verhalten auch dann bestehen bleibt, wenn es starke Anreize gibt, sich rational zu verhalten.<br />

42 Vgl. McFadden (1999), S. 96 f. Vgl. ähnlich Eichenberger (1992), S. 26: „In Anbetracht der erwähnten<br />

Verzerrungen würde es kaum erstaunen, wenn die <strong>in</strong>dividuellen Erwartungen nicht so rational<br />

wären wie <strong>in</strong> der Ökonomik häufig angenommen wird. Tatsächlich f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der Literatur<br />

zunehmend Evidenz, die zeigt, dass die Erwartungen kaum vollständig rational s<strong>in</strong>d.“<br />

9<br />

9


schreiben <strong>und</strong> erklären zu können.<br />

4 Verfahren e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption<br />

4.1 Adäquanzkriterien der E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

Somit gilt es, die ökonomische Theorie um e<strong>in</strong>e kognitive Dimension zu erweitern. Es ist<br />

jedoch darauf zu achten, dass dies methodisch reflektiert geschieht, um sich nicht der<br />

Kritik der Oberflächlichkeit <strong>und</strong> Unsensibilität ausgesetzt zu sehen. 43 Wird das Verhältnis<br />

unterschiedlicher Modelle zue<strong>in</strong>ander bei der Theoriebildung <strong>und</strong> -anwendung nicht<br />

sorgfältig bedacht, entsteht leicht die Gefahr e<strong>in</strong>es eklektischen Vorgehens. 44 Deswegen<br />

hält Schneider e<strong>in</strong>e Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse nur dann für<br />

methodisch zweckmäßig, wenn diese nicht e<strong>in</strong>fach „abgeschrieben“, sondern mittels zu<br />

entwickelnder Übernahmekriterien geprüft, <strong>in</strong> Bezug auf die Geeignetheit der Methode<br />

kritisch h<strong>in</strong>terfragt <strong>und</strong> <strong>in</strong> die Sprache wirtschaftstheoretischer Modelle „übersetzt“ werden.<br />

45<br />

Will man sowohl die Fähigkeiten der Manager als auch deren Motivationsprobleme<br />

adäquat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Controll<strong>in</strong>g-Konzeption berücksichtigen, s<strong>in</strong>d somit Adäquanzkriterien<br />

der Erweiterung der ökonomischen Basis zu def<strong>in</strong>ieren. Adäquat ist e<strong>in</strong>e solche Erweiterung<br />

dann, wenn die erweiterte Theorie (a) zu e<strong>in</strong>er Zunahme an Erklärungskraft<br />

führt, (b) methodologische Oberflächlichkeiten <strong>und</strong> Unsensibilitäten, die sich häufig <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em eklektischen Vorgehen wieder f<strong>in</strong>den, 46 jedoch vermieden werden.<br />

Ad (a): E<strong>in</strong> höheres Maß an Erklärungskraft hat e<strong>in</strong>e (erweiterte) Theorie immer dann,<br />

wenn sie zu e<strong>in</strong>em Erkenntnisfortschritt beiträgt. Dieser entsteht immer dann, wenn die<br />

(erweiterte) Theorie neue, im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er höheren Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit oder e<strong>in</strong>es höheren<br />

Informationsgehalts bessere Erklärungen für bestimmte Problemstellungen zu geben<br />

vermag. 47 Damit impliziert ist die Idee e<strong>in</strong>er größeren Realitätsnähe von Theorien, also<br />

43 Heide (2001), S. 230 f., sieht den Beitrag von Müller als anschauliches Beispiel an, „wie e<strong>in</strong>seitig<br />

<strong>und</strong> oberflächlich bei der Gegenüberstellung der beiden Forschungsrichtungen vorgegangen werden<br />

kann.“ Vgl. dazu Müller (1995) <strong>und</strong> die Stellungnahmen von Bamberg/Trost (1995); Elschen (1995);<br />

Kossbiel (1995); Spremann (1995).<br />

44 Vgl. Osterloh/Grand (1995), S. 18.<br />

45 Vgl. Schneider (1983); Schneider (1987); ähnlich Heide (2001), S. 60.<br />

46 Vgl. Osterloh/Grand (1995), S. 18.<br />

47 Vgl. Chmielewicz (1994), S. 129 ff; Popper (1983), S. 139 ff.<br />

10<br />

10


der Wunsch, dass sich mit Hilfe von Theorien bestimmte (typische) empirische<br />

Phänomene möglichst wirklichkeitsnah erklären lassen. 48<br />

Ad (b): Gerade <strong>in</strong> sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, die von e<strong>in</strong>er hohen Komplexität<br />

gekennzeichnet s<strong>in</strong>d, 49 ist die Orientierung theoretischer Erklärungen an der<br />

praktischen Realität jedoch mit e<strong>in</strong>em Trade-off verb<strong>und</strong>en. Je realitiätsnaher die theoretischen<br />

Erklärungen empirischer Phänomene s<strong>in</strong>d, desto komplexer (mit mehr Annahmen<br />

ausgestattet) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel die zu verwendenden Theorien. 50 Da jedoch auch<br />

Forscher kognitiven Beschränkungen unterliegen, 51 ist darauf zu achten, dass die (erweiterten)<br />

Theorien den Anforderungen der Systematizität <strong>und</strong> der E<strong>in</strong>fachheit unterliegen:<br />

Nur wenn Theorien e<strong>in</strong>e systematische, d.h. <strong>in</strong> Zusammenhänge e<strong>in</strong>ordnende,<br />

<strong>und</strong> möglichst e<strong>in</strong>fache Erklärung der zu beobachtenden Phänomene erlauben, können<br />

die Erklärungen von anderen Forschern nachvollzogen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er konzeptionellen <strong>und</strong><br />

empirischen Kritik unterzogen werden. 52 Gerade die kritische Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>und</strong><br />

Überprüfung von Hypothesen stellt für Popper e<strong>in</strong>e zentrale Voraussetzung für die Erlangung<br />

von Erkenntnisfortschritt dar: „We can learn from our mistakes.“ 53<br />

Um e<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>ne der eben formulierten Annahmen angemessenes Verfahren zu f<strong>in</strong>den,<br />

das e<strong>in</strong>e Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />

Analyse ermöglicht, s<strong>in</strong>d methodologische Unterschiede zwischen der Ökonomie <strong>und</strong><br />

Psychologie zu berücksichtigen. So betont L<strong>in</strong>denberg, dass sich die Ökonomie im<br />

Gegensatz zur Psychologie mit sozialen Phänomenen, also mit der Interaktion mehrerer<br />

Akteure, beschäftige. 54 Das <strong>in</strong> der Ökonomie verwendete Verhaltensmodell müsse deswegen<br />

vor allem <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e theoretische Orientierung für Analysen <strong>in</strong> (sehr)<br />

48 Vgl. Tietzel (1985), S. 88.<br />

49 Vgl. Suchanek (1994), S. 37 ff., der die Komplexitätsunterschiede sozialwissenschaftlicher Fragestellungen<br />

im Vergleich zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen herausarbeitet.<br />

50 Vgl. Z<strong>in</strong>tl (1989), S. 57 ff; Suchanek (1994), S. 55, der darauf h<strong>in</strong>weist, dass die “E<strong>in</strong>arbeitung all<br />

der verschiedenen Faktoren, die sozialwissenschaftliche Probleme mit sich br<strong>in</strong>gen, (…) zu<br />

unüberschaubar komplexen Theorien führen [würde], die sich dem Verständnis - <strong>und</strong> damit auch<br />

rationaler Kritik - entziehen würden.“<br />

51 Vgl. zur Systematizität Popper (1983), S. 139 ff.; Suchanek (1994), S. 56; zur E<strong>in</strong>fachheit Homann<br />

(1988), S. 112.<br />

52 Die Anforderung der Strukturiertheit gilt auch für naturwissenschaftliche Fragestellungen. Sie wird<br />

bereits von Popper gefordert. Die E<strong>in</strong>fachheit wird von diesem dagegen vernachlässigt. Vgl. dazu<br />

Suchanek (1994), S. 49.<br />

53 Popper (1969), S. 7.<br />

54 Das gleiche wie für die Ökonomie gelte für die Soziologie. Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 728 f.<br />

11<br />

11


komplizierten Kontexten zu geben. 55<br />

Im Folgenden werden fünf verschiedene Vorgehensweisen vorgestellt, die die aktuelle<br />

Diskussion zur Integration von Erklärungsansätzen aus unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

prägen. Die s<strong>in</strong>d (1) der ökonomische Imperialismus, (2) die Psychologisierung der Rationalitätsannahmen,<br />

(3) das Sequenzverfahren, (4) der Paralleldiskurs <strong>und</strong> (5) die Methode<br />

der abnehmenden Abstraktion. 56 Sie werden <strong>in</strong> Kapitel 5 auf ihre Geeignetheit zur<br />

Integration überprüft.<br />

4.2 Der ökonomische Imperialismus als mögliche Integrationsstrategie<br />

Die häufig als Imperialismus bezeichnete Forschungsstrategie geht von der Dom<strong>in</strong>anz<br />

e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> zur Erklärung sämtlicher relevanter Fragestellungen aus. Das im Kontext<br />

dieser Arbeit besonders hervorzuhebende Beispiel ist der vom Nobelpreisträger für<br />

Wirtschaftswissenschaften Becker geprägte, auf der Annahme e<strong>in</strong>es nutzenmaximierenden<br />

Akteurs beruhende ökonomische Imperialismus 57 . Becker wendet den ökonomischen<br />

Ansatz 58 nicht nur auf klassische wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen an,<br />

sondern untersucht Bereiche, die zuvor von anderen Diszipl<strong>in</strong>en bearbeitet wurden. Als<br />

Beispiele lassen sich Themen wie der Umfang <strong>und</strong> Determ<strong>in</strong>anten von Diskrim<strong>in</strong>ierung,<br />

Krim<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> Strafe, Heiratsverhalten <strong>und</strong> Geburtenraten, Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge,<br />

Investitionen <strong>in</strong> Bildung etc. anführen. 59 Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird Becker auch als „ökonomischer<br />

Imperialist“ bezeichnet. Das spezifische der Ökonomie liegt für Becker <strong>in</strong><br />

ihrem Ansatz: „[W]as die Ökonomie als Diszipl<strong>in</strong> von anderen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>in</strong> den<br />

Sozialwissenschaften hauptsächlich unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand sondern ihr<br />

Ansatz. (...) Ich b<strong>in</strong> der Auffassung, daß die besondere Stärke des ökonomischen Ansatzes<br />

dar<strong>in</strong> liegt, daß er e<strong>in</strong>e breite Skala menschlichen Verhaltens <strong>in</strong>tegrativ erfassen<br />

55 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 728.<br />

56 Diese Systematisierung basiert auf den Ausführungen von Osterloh/Grand (1995), S. 12ff., die drei<br />

der genannten Strategien aufführen, <strong>und</strong> auf Homann (2002a), S. 71 ff., der zu den hier beschriebenen<br />

Strategien noch e<strong>in</strong>e Reihe weiterer aufführt, die hier aufgr<strong>und</strong> ihrer spezifischen Problemorientierung<br />

nicht behandelt werden, so z.B. das Verfahren der Typologie von Frey, der nach unterschiedlichen<br />

Typen von Akteuren (eigennützig, gut- oder bösartig) unterscheidet; siehe dazu Frey<br />

(1990), S. 6. Dieses Vorgehen ersche<strong>in</strong>t für die Problemstellung dieser Arbeit bereits auf den ersten<br />

Blick als wenig geeignet, da sich weder Manager noch Controller als e<strong>in</strong>deutig gut- oder bösartig<br />

klassifizieren lassen.<br />

57 Vgl. Becker (1982a), (1993); Osterloh/Grand (1995), S. 12, <strong>und</strong> Homann (2002a), S. 70.<br />

58 Die drei wesentlichen Elemente des ökonomischen Ansatzes bilden dabei die Annahmen der ökonomischen<br />

Theoriebildung: (1) Nutzenmaximierendes Verhalten, (2) stabile Präferenzen <strong>und</strong> (3) die<br />

Existenz von Marktgleichgewichten. Vgl. dazu Eichenberger (1992), S. 1 ff.<br />

12<br />

12


kann.“ 60<br />

Der Ansatz erhebt somit den Anspruch, auf die verschiedensten Lebensbereiche <strong>und</strong><br />

damit auf sämtliche soziale Phänomene anwendbar zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> Handlungserklärungen<br />

zu liefern, die den Analysen anderer Diszipl<strong>in</strong>en überlegen s<strong>in</strong>d. Der ökonomische Imperialismus<br />

steht damit <strong>in</strong> Konkurrenz zu anderen imperialistischen E<strong>in</strong>zelwissenschaften.<br />

Der ökonomische Ansatz bietet nach der Auffassung Beckers „e<strong>in</strong>en wertvollen,<br />

e<strong>in</strong>heitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens“. 61 E<strong>in</strong>e<br />

eigentliche Integration psychologischer Annahmen f<strong>in</strong>det bewusst nicht statt: „Wer das<br />

Verhalten e<strong>in</strong>es bestimmten Individuums im E<strong>in</strong>zelfall erklären oder voraussagen will,<br />

fragt <strong>in</strong> der Regel tunlichst nicht den Ökonomen, sondern den Psychologen, den Erzieher,<br />

die Fre<strong>und</strong>e; auch Biographie <strong>und</strong> Weltanschauung geben wichtige Aufschlüsse.“ 62<br />

Becker nimmt somit e<strong>in</strong>e Priorisierung der ökonomischen Methode vor. Erkenntnisse<br />

der Psychologie werden für die Erklärung von Interaktionskontexten bewusst (weitgehend)<br />

ignoriert.<br />

4.3 Die Psychologisierung der Verhaltensannahmen als mögliche<br />

Integrationsstrategie<br />

Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Simon räumt wie die neoklassische<br />

Theorie zwar e<strong>in</strong>, dass fast alles menschliche Verhalten „a large rational component“<br />

besitzt. Jedoch schränkt er die Rationalitätsannahme auf e<strong>in</strong>e Rationalität im alltäglichen<br />

S<strong>in</strong>ne („agreeable to reason: not absurd, preposterous, extravagang, follish, fanciful,<br />

or the like; <strong>in</strong>telligent, sensible“) e<strong>in</strong> <strong>und</strong> versteht sie nicht im S<strong>in</strong>ne der von Ökonomen<br />

postulierten Nutzenmaximierung. 63 Simon kritisiert das ökonomische Rationalitätskonstrukt<br />

dah<strong>in</strong>gehend, dass die (kognitiven) Prozesse, die e<strong>in</strong>e Voraussetzung für<br />

rationale Entscheidungen darstellen, <strong>in</strong> der neoklassischen ökonomischen Theorie nicht<br />

beachtet werden. Diese würde die kognitive Dimension menschlichen Handelns weitgehend<br />

ausblenden. 64<br />

59 Vgl. Becker (1982b); Meyer (2005), S. 7.<br />

60 Becker (1982a), S. 3.<br />

61 Becker (1982a), S. 15.<br />

62 Homann (2002c), S. 125.<br />

63 Vgl. Simon (1978), S. 2.<br />

64 Vgl. ähnlich Meyer/He<strong>in</strong>e (2005), S. 14 f.<br />

13<br />

13


Das Rationalitätsverständnis der neoklassischen Theorie 65 , das Simon als “global rationality”<br />

66 bezeichnet, werde den Anforderungen e<strong>in</strong>er komplexen Welt nicht gerecht:<br />

„The simple notion of maximiz<strong>in</strong>g utility or profit could not be applied <strong>in</strong> situations<br />

where the optimum action depended on uncerta<strong>in</strong> environmental events, or upon the<br />

action of other rational agents (for example, imperfect competition).“ 67 Die Verwendung<br />

des globalen Rationalitätskonstrukts sei zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>fachen <strong>und</strong> statischen Situationen<br />

unproblematisch. Die moderne Welt sei jedoch durch Komplexität gekennzeichnet:<br />

“Complexity is deep <strong>in</strong> the nature of th<strong>in</strong>gs, and discover<strong>in</strong>g tolerable approximation<br />

procedures and heuristics that permit huge spaces to be searched very selectively lies at<br />

the heart of <strong>in</strong>telligence, whether human or artificial.” 68 Somit werden die beschränkten<br />

kognitiven Fähigkeiten von Akteuren für den Erfolg von Entscheidungen höchst relevant.<br />

Die kognitiven Fähigkeiten von Menschen zur Verarbeitung von Informationen<br />

stellen den entscheidenden Engpass dar. E<strong>in</strong>e Vernachlässigung des Informationsverarbeitungs-<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsprozesses der Akteure führe potenziell zu falschen Schlüssen.<br />

69 E<strong>in</strong>e Rationalitätstheorie, die dies nicht ausreichend <strong>in</strong> Betracht ziehe, ist für Simon<br />

nicht nur unvollständig, sondern könne Anwender ernsthaft <strong>in</strong> die Irre führen, <strong>in</strong>dem<br />

sie Sche<strong>in</strong>lösungen für ökonomische Fragen anbietet, die ke<strong>in</strong>e praktische Bedeutung<br />

aufweisen. 70<br />

Dem Konzept der globalen Rationalität stellt Simon das Konzept der bo<strong>und</strong>ed rationality<br />

entgegen, das mit dem Wissen über menschliches Entscheidungsverhalten <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang<br />

stehe. Das Konzept unterstellt weiterh<strong>in</strong>, dass Entscheider eigene Ziele verfolgen.<br />

Die Entscheider unterliegen aber auch e<strong>in</strong>er Reihe von technischen <strong>und</strong> kognitiven Beschränkungen:<br />

Sie müssen nach den vorhandenen Entscheidungsalternativen erst suchen.<br />

Sie besitzen unvollständiges <strong>und</strong> ungenaues Wissen über die Konsequenzen ihrer<br />

Handlungen. Sie wählen diejenigen Handlungen aus, die sie zufrieden stellen (satisfic<strong>in</strong>g).<br />

71<br />

Die Annahme der beschränkten Rationalität führe <strong>in</strong> vielen Fällen zu unterschiedlichen<br />

65 Vgl. Simon (1997), S. 17.<br />

66 Simon (1978), S. 9.<br />

67 Simon (1978), S. 9.<br />

68 Simon (1978), S. 12.<br />

69 Vgl. Simon (1978), S. 14.<br />

70 Vgl. Simon (1978), S. 12.<br />

71 Vgl. Simon (1997), S. 17 f. Vgl. zum Satisfic<strong>in</strong>g auch Homann (2002a), S. 71.<br />

14<br />

14


Schlussfolgerungen, dies sei anders bei der Annahme der globalen Rationalität. Dies sei<br />

darauf zurückzuführen, dass unter der Annahme der globalen Rationalität die Eigenschaften<br />

des Entscheiders, die nicht durch die Nutzenfunktion ausgedrückt werden,<br />

ke<strong>in</strong>e Rolle spielten. Theorien, die e<strong>in</strong> Verstehen menschlicher Denkprozesse ermöglichen,<br />

seien im Rahmen e<strong>in</strong>er klassischen ökonomischen Analyse nicht erforderlich.<br />

Deswegen sei es auch nicht erforderlich, psychologische Theorien zu verwenden. 72<br />

Nehme man jedoch e<strong>in</strong>e beschränkte Rationalität der Entscheider an, ergebe sich die<br />

Notwendigkeit der Heranziehung soziologischer <strong>und</strong> psychologischer Theorien, um das<br />

Verhalten des Entscheiders vorhersagen zu können. 73 Der Psychologie wird dabei sowohl<br />

e<strong>in</strong>e methodologische (theoriebildende) Funktion als auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Funktion<br />

(Bereitstellung von Forschungsergebnissen) e<strong>in</strong>geräumt. 74 Daneben könnten Theorien<br />

aus der künstlichen Intelligenz- <strong>und</strong> Informationsverarbeitungsforschung dazu beitragen,<br />

die Komplexität der menschlichen Informationsverarbeitung ansatzweise zu erklären.<br />

75<br />

Die Notwendigkeit der Heranziehung psychologischer Theorien für die Beschreibung<br />

des menschlichen Entscheidungsverhaltens untermauert Simon durch e<strong>in</strong>e weitere Spezifikation<br />

des Rationalitätsbegriffs. Er unterscheidet auch zwischen substantieller <strong>und</strong><br />

prozessualer Rationalität. Die substantielle Rationalität beschäftige sich mit der Frage,<br />

welche Handlung zur Nutzenmaximierung führe. Dabei werde e<strong>in</strong>e gegebene Situation<br />

vorausgesetzt. Diese werde analysiert, nicht der Entscheider selbst. Deswegen handle es<br />

sich bei der substantiellen Rationalität um e<strong>in</strong>e Theorie der Entscheidungsumwelt (<strong>und</strong><br />

der Nutzenfunktionen), aber nicht um e<strong>in</strong>e Theorie der Entscheider. Die prozessuale<br />

Rationalität beschäftige sich dagegen mit der Frage, wie der Entscheider Alternativen<br />

generiert <strong>und</strong> diese mite<strong>in</strong>ander vergleicht. Simon def<strong>in</strong>iert die prozessuale Rationalität<br />

als „effectiveness, <strong>in</strong> light of human cognitive powers and limitations, of the procedures<br />

used to choose actions“ 76 . Sie beruhe notwendigerweise auf e<strong>in</strong>er Theorie der menschli-<br />

72 Als Ausnahme nennt Simon psychologische Theorien, die die Erwartungen <strong>und</strong> Bedürfnisse von<br />

Akteuren aufzeigen.<br />

73 Erkenntnisse der Soziologie könnten, so Simon, dazu beitragen abzuschätzen, welche Informationen<br />

zum Entscheidungszeitpunkt im Gedächtnis des Entscheiders verfügbar s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche Bedürfnisse<br />

er wahrsche<strong>in</strong>lich haben könnte. Psychologische Erkenntnisse könnten aufzeigen, wie die Entscheidung<br />

dargestellt wird <strong>und</strong> wie elaboriert die Berechnungen s<strong>in</strong>d, die der Entscheider durchführen<br />

kann, um se<strong>in</strong>e Entscheidung zu treffen. Vgl. Simon (1997), S. 18.<br />

74 Vgl. Simon (1997), S. 98.<br />

75 Vgl. Simon (1978), S. 12.<br />

76 Simon (1978), S. 9.<br />

15<br />

15


chen Kognition. 77<br />

Die substantielle Rationalität sei eng mit der globalen Rationalität verb<strong>und</strong>en, während<br />

es e<strong>in</strong>e enge Verb<strong>in</strong>dung zwischen der beschränkten <strong>und</strong> der prozessualen Rationalität<br />

gebe. Weil Menschen nur beschränkte Kapazitäten <strong>in</strong> ihrem Wissen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihren „Rechenfähigkeiten“<br />

haben, gelte es, den Entscheidungsprozess genauer zu betrachten. Die<br />

globale Rationalität sei dagegen substantiell, sie gebe Antwort auf die gegenwärtigen<br />

objektiv feststellbaren Merkmale der Entscheidungssituation. Aber sie ist nur dann anwendbar,<br />

wenn die Situation ausreichend e<strong>in</strong>fach ist, so dass menschliche Entscheider<br />

die objektive Lösung wahrnehmen können. In komplizierteren Situationen, wie sie<br />

meistens <strong>in</strong> der Praxis auftreten, verlange die beschränkte menschliche Rationalität, dass<br />

die Entscheidungsprozesse verstanden werden, um das Verhalten der Entscheider vorhersagen<br />

zu können. Somit ist e<strong>in</strong>e Theorie der beschränkten Rationalität notwendigerweise<br />

e<strong>in</strong>e Theorie der prozessualen Rationalität. 78<br />

Bei der Bildung der Theorie der prozessualen Rationalität könnten, wie bereits erwähnt,<br />

Elemente aus den Nachbardiszipl<strong>in</strong>en wie der Kognitionspsychologie oder der Forschung<br />

zur künstlichen Intelligenz entliehen werden. Aber es bliebe noch e<strong>in</strong>e enorme<br />

Aufgabe bestehen, den Forschungsstand zu erweitern <strong>und</strong> für spezifische ökonomische<br />

Probleme anzupassen. 79 Dies müsse vor allem durch e<strong>in</strong>e Verstärkung der empirischen<br />

Arbeit geschehen: „The pr<strong>in</strong>cipal conclusion is that (…) [it] requires build<strong>in</strong>g an<br />

adequate, empirically based, theory of bo<strong>und</strong>ed rationality, that is, of procedural rationality,<br />

and apply<strong>in</strong>g the theory systematically to phenomena at both micro and macro<br />

levels.” 80<br />

Simon betont somit die Notwendigkeit der Heranziehung psychologischer Theorien <strong>und</strong><br />

Erkenntnisse für die Erklärung menschlichen Entscheidungsverhaltens. Im Gegensatz<br />

zu Becker betont er das Primat der Psychologie, wenn es um die Erklärung des Entscheidungsverhaltens<br />

von Akteuren geht. Wie die psychologischen Erkenntnisse speziell<br />

für ökonomische Probleme genutzt werden können, müsse durch empirische Forschung<br />

eruiert werden.<br />

77 Vgl. Simon (1997), S. 18.<br />

78 Vgl. Simon (1997), S. 18 f.<br />

79 Vgl. Simon (1978), S. 15.<br />

80 Simon (1997), S. 63.<br />

16<br />

16


4.4 Das Sequenzverfahren als mögliche Integrationsstrategie<br />

Frey spricht dem Menschen die Fähigkeit zu, rational zu handeln. Im Gegensatz zur<br />

klassischen Theorie geht er jedoch nicht von e<strong>in</strong>er Menge von Entscheidungsalternativen<br />

aus, die dem Entscheider vorgegeben ist <strong>und</strong> aus denen er die für ihn vorteilhafteste<br />

auswählt. Stattdessen betrachtet er die Entscheidung als e<strong>in</strong>en zweiphasigen Prozess.<br />

In der ersten „<strong>und</strong> entscheidend wichtigen Phase werden die für das Individuum<br />

persönlich relevanten (...) Alternativen betrachtet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachfolgenden Phase wird<br />

die Wahl zwischen diesen Alternativen getroffen.“ 81<br />

Die <strong>in</strong> Experimenten beobachteten Anomalien – Frey def<strong>in</strong>iert sie als Paradoxien – erklärt<br />

er durch e<strong>in</strong>e Unterscheidung e<strong>in</strong>es objektiven <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es ipsativen Möglichkeitsraumes.<br />

Der ipsative Möglichkeitsraum wird def<strong>in</strong>iert als Möglichkeitsraum, den Individuen<br />

als „für sich selbst relevant“ ansehen. 82 Der Unterschied zwischen dem ipsativen<br />

<strong>und</strong> dem objektiven Möglichkeitsraum sei nicht auf Faktoren wie die beschränkte Information<br />

oder mangelnde Intelligenz der Entscheider zurückzuführen. Diese Faktoren seien<br />

verantwortlich für den Unterschied zwischen dem objektiven <strong>und</strong> dem subjektiven<br />

Möglichkeitsraum. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Entscheidungstheorie bekannt. Der objektive <strong>und</strong> der<br />

ipsative Möglichkeitsraum unterschieden sich <strong>in</strong> vier Punkten: Während der objektive<br />

Möglichkeitsraum symmetrisch, marg<strong>in</strong>al <strong>und</strong> transpersonal sei <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Wahl zwischen<br />

Alternativen entsprechend der Erwartungsnutzentheorie zulasse, sei der ipsative<br />

Möglichkeitsraum absolut, asymmetrisch, persönlich <strong>und</strong> von e<strong>in</strong>er beschränkten Kontrolle<br />

der Alternativen geprägt. Absolut bedeute, so Frey, dass Akteure Alternativen entweder<br />

vollständig oder gar nicht <strong>in</strong> Erwägung ziehen <strong>und</strong> nicht, wie im objektiven Möglichkeitsraum,<br />

kle<strong>in</strong>e Veränderungen <strong>in</strong> den Alternativen mit (marg<strong>in</strong>alen) Kosten-/<br />

Nutzenabschätzungen bewerten würden. Asymmetrisch charakterisiere die fehlende<br />

Möglichkeit, „Alternativen, die <strong>in</strong> den ipsativen Raum e<strong>in</strong>gegangen s<strong>in</strong>d, (...) [zu] entfernen.“<br />

83 Persönlich bedeute, dass Alternativen aus der Perspektive e<strong>in</strong>es bestimmten<br />

Individuums betrachtet würden, die von Empfehlungen oder Handlungen Außenstehender<br />

<strong>in</strong> vielen Fällen abweichen dürften. Während im objektiven Möglichkeitsraum e<strong>in</strong>e<br />

Wahl zwischen Alternativen möglich sei, sei dies im ipsativen Möglichkeitsraum oft<br />

nicht möglich, weil autonome Prozesse, die sich auf die Kontrollmöglichkeit übergeord-<br />

81 Frey (1988), S. 182.<br />

82 Frey (1988), S. 183. Vgl. auch Frey (1989), S. 230 ff..<br />

83 Frey (1988), S. 183.<br />

17<br />

17


neter Instanzen zurückführen lassen, e<strong>in</strong>e solche Entscheidung verh<strong>in</strong>derten. 84<br />

Der ipsative Möglichkeitsraum werde, so Frey, durch e<strong>in</strong>e große Zahl verschiedener<br />

Faktoren def<strong>in</strong>iert. Wichtig seien <strong>in</strong> diesem Kontext Traditionen <strong>und</strong> Ideologien, persönliche<br />

Erfahrungen, Fram<strong>in</strong>g-Effekte, vor allem aber psychologische Prozesse. 85 Die<br />

im ipsativen Möglichkeitsraum stattf<strong>in</strong>dende Alternativengenerierung sei deswegen mit<br />

den Methoden der Psychologie zu erklären <strong>und</strong> zu beschreiben, während die <strong>in</strong> der<br />

zweiten Phase erfolgende Entscheidung zwischen den Alternativen dem Modell ökonomischen<br />

Verhaltens folgen soll. 86<br />

Damit nimmt Frey e<strong>in</strong>e objektspezifische Aufteilung der Anwendung der ökonomischen<br />

Methode <strong>und</strong> der Psychologie vor. Während die Psychologie für die Phase der Alternativengenerierung<br />

zuständig ist, sei die Ökonomie für die Phase der eigentlichen Entscheidung<br />

heranzuziehen.<br />

4.5 Der Paralleldiskurs als mögliche Integrationsstrategie<br />

Der von Homann vorgeschlagene Paralleldiskurs stellt e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre<br />

Vorgehensweise dar. 87 Der homo oeconomicus gilt <strong>in</strong> diesem Kontext nicht als gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

überlegenes Forschungsmodell, sondern vielmehr als Analysekonstrukt, das für<br />

bestimmte ökonomische Problemstellungen besonders zweckmäßig sei. Die theoretische<br />

Integration 88 mehrerer Diszipl<strong>in</strong>en zur Beantwortung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Fragestellungen<br />

kann nach der Strategie des Paralleldiskurses nur durch e<strong>in</strong>e separate Modellbetrachtung<br />

aus Sicht der verschiedenen E<strong>in</strong>zelwissenschaften <strong>und</strong> die anschließende Übersetzung<br />

ihrer Ergebnisse <strong>in</strong> die Sprache der jeweils anderen Diszipl<strong>in</strong> erfolgen.<br />

Homann illustriert das Vorgehen des Paralleldiskurses am Beispiel des Diskurses zwischen<br />

der Ethik <strong>und</strong> der Ökonomie. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Moral, die<br />

empirisch im Handeln von Managern beobachtbar ist, <strong>in</strong> der Theoriebildung der Ökonomie,<br />

Wirtschaftsethik <strong>und</strong> Ethik verarbeitet wird. 89 Dabei geht Homann gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

davon aus, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er komplexen Welt e<strong>in</strong>e funktionale Ausdifferenzierung <strong>und</strong> damit<br />

84 Vgl. Frey (1988), S. 183 f.<br />

85 Vgl. Frey (1988), S. 185.<br />

86 Vgl. Frey (1988), S. 187 ff.; Frey (1990), S. 181 ff. Auch Vanberg (1988) <strong>und</strong> Kliemt (1991)<br />

schränken die Anwendung des homo oeconomicus e<strong>in</strong>. Vgl. dazu auch Homann (2002a), S. 72.<br />

87 Vgl. Homann (2002a), S. 84 ff.<br />

88 Vgl. Suchanek (1994), S.1 ff. <strong>und</strong> 29 ff.<br />

89 Vgl. Homann (2002b), S. 45.<br />

18<br />

18


Arbeitsteilung der wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en die Fähigkeit e<strong>in</strong>er Gesellschaft zur<br />

Bearbeitung von komplexen Fragestellungen erhöht. 90 Als Konsequenz dieser Entwicklung<br />

sieht Homann die „Verselbständigung der gesellschaftlichen Subsysteme <strong>und</strong> der<br />

zugehörigen E<strong>in</strong>zelwissenschaften. Es verselbständigen sich Fragestellungen, Methoden<br />

<strong>und</strong> Vorschläge, Resultate.“ 91 So wäre die Psychologie für andere Fragestellungen zuständig<br />

als die Ökonomie. Die Diszipl<strong>in</strong>en würden sich unterschiedlicher Forschungsmethoden<br />

bedienen <strong>und</strong> zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.<br />

E<strong>in</strong>e solche Arbeitsteilung könne zu Konflikten zwischen den verselbständigten E<strong>in</strong>zelwissenschaften<br />

führen. Als klassisches Beispiel nennt Homann den Konflikt zwischen<br />

Ethos <strong>und</strong> Gew<strong>in</strong>nstreben: Sowohl der Ethik als auch der Ökonomie weist Homann e<strong>in</strong>en<br />

Erklärungs- <strong>und</strong> Gestaltungsauftrag zu. Die Ethik dürfte dem Ethos e<strong>in</strong>e höhere<br />

Priorität geben, die Ökonomie dem Gew<strong>in</strong>nstreben. Homann <strong>in</strong>terpretiert deswegen<br />

Ethik <strong>und</strong> Ökonomie „als zwei Diskurse e<strong>in</strong> <strong>und</strong> derselben Problematik menschlicher<br />

Interaktionen (...), als zwei Diskurse also, die jeweils verschieden ansetzen, verschiedene<br />

Methoden <strong>und</strong> verschiedene Klassen von Argumenten benutzen, die jedoch im Pr<strong>in</strong>zip,<br />

d.h. vom Gegenstandsbereich her, als deckungsgleich angenommen werden müssen.“<br />

92<br />

Weil die beiden Diskurse andere Schwerpunkte haben, andere Begriffe benutzen, ihre<br />

Bestandteile anders ordnen <strong>und</strong> auch unterschiedliche Methoden benutzen, könne Interdiszipl<strong>in</strong>arität<br />

nicht dadurch erzeugt werden, dass die <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Diskursen behandelten<br />

Gesichtspunkte, Motive <strong>und</strong> Handlungen der Akteure addiert werden, z.B. <strong>in</strong>dem<br />

zusätzliche Präferenzen <strong>in</strong> die ökonomische Nutzenfunktion e<strong>in</strong>gefügt werden. 93 Vielmehr<br />

müsse man bei der Durchführung des Paralleldiskurses „streng darauf achten,<br />

nicht unkontrolliert von dem e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> den anderen zu spr<strong>in</strong>gen, etwa um Argumentationslücken<br />

des e<strong>in</strong>en mit Hilfe von Versatzstücken aus dem anderen Diskurs zu überbrücken.“<br />

94 Dies sei methodisch unzuverlässig, weil dadurch die Erträge e<strong>in</strong>er streng<br />

ökonomischen Analyse verloren gehen. Natürlich würde e<strong>in</strong> solches Vorgehen auch<br />

theoretische Verluste implizieren. So könnten <strong>in</strong> Bezug auf das Verhältnis von Ethik<br />

<strong>und</strong> Ökonomie Phänomene wie menschliche Würde, Humanität, Pflicht <strong>und</strong> die Unbe-<br />

90 Vgl. Homann (2002b), S. 52.<br />

91 Homann (2002b), S. 52.<br />

92 Homann (2002b), S. 52 f.<br />

93 Homann (2002b), S. 53.<br />

94 Homann (2002b), S. 53.<br />

19<br />

19


d<strong>in</strong>gtheit des moralischen Gefühls ke<strong>in</strong>en unmittelbaren E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Ökonomie<br />

f<strong>in</strong>den, wenn sie nicht <strong>in</strong> deren Paradigma übersetzt werden können. 95<br />

Die Gr<strong>und</strong>idee des Paralleldiskurses bestehe dar<strong>in</strong>, „die Gew<strong>in</strong>ne aus der theoretischen<br />

Ausdifferenzierung zu realisieren, <strong>in</strong>dem die positive ökonomische Forschung methodisch<br />

sauber vorangetrieben wird, <strong>und</strong> die drohenden Verluste dadurch zu vermeiden,<br />

dass man ökonomische Analysen – selbstverständlich unter anderem Arrangement <strong>und</strong><br />

Weglassen vieler Details – bei Bedarf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ethischen Diskurs (zurück-)übersetzt.<br />

Übersetzen <strong>und</strong> Rückübersetzen s<strong>in</strong>d für diese Konzeption zentral.“ 96<br />

Homann sieht theoretische Gew<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Rekonstruktion ethischer Überlegungen <strong>in</strong><br />

ökonomischen Kategorien unter anderem dar<strong>in</strong>, dass moralische Normen bei unstrittigen<br />

Wertvorstellungen als „pragmatische Kurzfassungen ökonomischer Kalkulationen“<br />

<strong>in</strong>terpretiert werden können. Weil moralische E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Tugenden häufig<br />

e<strong>in</strong>e zuverlässige Befolgung der Normen ermöglichen, können Transaktionskosten gesenkt<br />

werden. 97 Für Homann stellen Ethik <strong>und</strong> Ökonomie die zwei Seiten e<strong>in</strong>er Medaille<br />

dar, die jedoch unterschiedlich geprägt s<strong>in</strong>d. Nur durch e<strong>in</strong>e Rekonstruktion ethischer<br />

Überlegungen <strong>in</strong> der Ökonomie <strong>und</strong> umgekehrt lasse sich der „methodisch heillose Weg<br />

vermeiden, die ‚Integration’ als Zusammenklauben von Versatzstücken aus verschiedenen<br />

Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> als Mix verschiedener Bestandteile zu verstehen.“ 98 Die Integration<br />

habe methodisch sauber zu erfolgen, sie bedürfe e<strong>in</strong>es theoretischen Rahmens <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>deutiger methodischer Anweisungen. 99 Sollen ethische Erkenntnisse <strong>in</strong> die Ökonomie<br />

übersetzt werden, ist das klassische Rationalmodell als Basismodell zu verwenden.<br />

Dieses könne z.B. durch die Berücksichtigung von Fram<strong>in</strong>geffekten verfe<strong>in</strong>ert werden.<br />

100<br />

Homann warnt somit vor e<strong>in</strong>er unreflektierten Übernahme von Erkenntnissen aus e<strong>in</strong>er<br />

anderen Diszipl<strong>in</strong>. Diese könne nur dann methodisch ‚sauber’ erfolgen, wenn die übernommenen<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong> die ‚Logik’ der übernehmenden Theorie übersetzt werden.<br />

95 Vgl. Homann (2002b), S. 53.<br />

96 Homann (2002b), S. 54. Im Orig<strong>in</strong>al teilweise kursiv.<br />

97 Homann (2002b), S. 55.<br />

98 Homann (2002b), S. 56.<br />

99 Homann (2002b), S. 56.<br />

100 Vgl. Homann (2002b), S. 56.<br />

20<br />

20


4.6 Die Methode der abnehmenden Abstraktion als mögliche Integrationsstrategie<br />

L<strong>in</strong>denberg schlägt die Methode der „abnehmenden Abstraktion“ als Integrationsstrategie<br />

vor. 101 Basis se<strong>in</strong>es Konzepts ist die folgende, für die Bildung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />

Theorien gr<strong>und</strong>legende Unterscheidung: Die Ökonomie (<strong>und</strong> auch die Soziologie) beschäftigten<br />

sich hauptsächlich damit, soziale Systeme zu analysieren: Ihr analytisches<br />

Primat fokussiere auf das Untersuchungsobjekt ‚soziale Systeme’. Um soziale Systeme<br />

<strong>und</strong> verb<strong>und</strong>ene soziale Phänomene zu erklären, verwenden beide Diszipl<strong>in</strong>en Handlungstheorien,<br />

d.h. ihr theoretisches Primat fokussiere auf das Individuum. Die beiden<br />

Primate beziehen sich deswegen auf zwei unterschiedliche Ebenen. In der Ökonomie<br />

gebe es e<strong>in</strong> theoretisches, aber ke<strong>in</strong> analytisches Interesse am Individuum. Die Analyse<br />

des Verhaltens von Individuen sei nur Hilfsmittel, um Erklärungen auf der sozialen<br />

Ebene zu erhalten. In der Psychologie dagegen sei der Anspruch e<strong>in</strong> anderer. Hier fokussierten<br />

sowohl die analytischen als auch die theoretischen Ziele der Forschung auf<br />

das Individuum (Abbildung 1). 102<br />

Primat<br />

Diszipl<strong>in</strong><br />

Psychologie<br />

Ökonomie/Soziologie<br />

Analytisches Primat<br />

Individuum<br />

Soziales System<br />

Theoretisches Primat<br />

Individuum 1 Individuum 2<br />

Abbildung 1: Unterschiedliche Schwerpunkte der Psychologie <strong>und</strong> der<br />

Ökonomie/Soziologie<br />

Quelle (ähnlich): L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />

Gehe man davon aus, dass das <strong>in</strong>haltliche Primat <strong>in</strong> beiden Fällen unterschiedlich ist,<br />

würden unterschiedliche Anforderungen an die Individualtheorien der Psychologie auf<br />

der e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong> an die Sozialtheorien der Ökonomie <strong>und</strong> Soziologie auf der anderen<br />

101 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), (1991), (1992). Erste Anfänge f<strong>in</strong>den sich bereits bei Lange (1875) <strong>und</strong><br />

Haller (1950), S. 173.<br />

102 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 52 f.; L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />

21<br />

21


Seite gestellt. Es gelte, zwei Arten von Theorien zu unterscheiden, die sich mit Individuen<br />

beschäftigen. Diese werden von L<strong>in</strong>denberg <strong>in</strong>dividual 1 -Theorie <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividual 2 -<br />

Theorie genannt. 103<br />

Auf Basis dieser Unterscheidung entwickelt L<strong>in</strong>denberg se<strong>in</strong> Konzept der abnehmenden<br />

Abstraktion. Dabei geht es ihm darum, die E<strong>in</strong>fachheit <strong>und</strong> Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit der<br />

ökonomischen Modellbildung möglichst beizubehalten <strong>und</strong> deren Basisannahmen problemspezifisch<br />

mit Brückenannahmen zu verb<strong>in</strong>den. Durch die methodisch reflektierte<br />

E<strong>in</strong>führung von Brückenannahmen könnten psychologische Erkenntnisse adäquat <strong>in</strong> der<br />

Ökonomie berücksichtigt werden. 104 Dies bedeutet für L<strong>in</strong>denberg, die Voraussetzungen<br />

zu erfüllen, die er an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual 2 -Theorie stellt: 105 Sie soll (a) wenige Informationen<br />

über jedes Individuum, auf das sie angewendet wird, benötigen. Sie muss es (b) erlauben,<br />

<strong>in</strong>stitutionelle <strong>und</strong> soziale Strukturbed<strong>in</strong>gungen als das Handeln bestimmende<br />

Zwischenziele <strong>und</strong> Zwänge von Handlungen zu def<strong>in</strong>ieren. Sie muss es (c) ermöglichen,<br />

dass psychologische (<strong>und</strong> dar<strong>in</strong> enthalten physiologische) Theorien ihre Annahmen<br />

bee<strong>in</strong>flussen. Sie muss es (d) ermöglichen, den Grad der Vere<strong>in</strong>fachung explizit auszudrücken.<br />

So muss es möglich se<strong>in</strong>, vere<strong>in</strong>fachte Annahmen derart e<strong>in</strong>zuführen, dass<br />

diese durch komplexere ersetzt werden können, sobald das vorliegende Wissen zunimmt.<br />

Sie muss (e) als Theorie formuliert werden, die menschliches Verhalten im<br />

Aggregat erklären kann.<br />

L<strong>in</strong>denberg nennt Bauste<strong>in</strong>e, die die Methode der abnehmenden Abstraktion kennzeichnen.<br />

Ihm geht es (i) darum, die Abstraktion bewusst als Entproblematisierung realer<br />

Phänomene zu verstehen. Diese Vere<strong>in</strong>fachung sollte nur dann, wenn erforderlich, aufgegeben<br />

werden. Er greift (ii) auf die auch <strong>in</strong> der klassischen Ökonomie zentrale Annahme<br />

e<strong>in</strong>es nutzenmaximierenden <strong>in</strong>dividuellen Akteurs zurück <strong>und</strong> verb<strong>in</strong>det diese<br />

mit Brückenannahmen. Er trifft (iii) Vorentscheidungen zum Akteur <strong>und</strong> zu Messmodellen.<br />

106 Im E<strong>in</strong>zelnen ist darunter folgendes zu verstehen:<br />

ad (i): In Bezug auf die Funktion der Abstraktion greift L<strong>in</strong>denberg auf die im Modellbau<br />

prom<strong>in</strong>ente Maxime „So e<strong>in</strong>fach wie möglich, so komplex wie nötig!“ zurück.<br />

Schwierige Aspekte sollten zuerst e<strong>in</strong>mal entproblematisiert werden: Annahmen s<strong>in</strong>d so<br />

zu wählen, dass für die Ableitung von Vorhersagen möglichst wenige zusätzliche An-<br />

103 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 52 f., L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />

104 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49 ff. Vgl. zur Adäquanz der Integration Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />

105 Vgl. auch zur Begründung der Anforderungen L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 737 ff.<br />

22<br />

22


nahmen gebraucht werden. 107 Durch die Reduktion des Grades der Abstraktion geht<br />

e<strong>in</strong>e schrittweise Problematisierung e<strong>in</strong>her. Diese habe das Ziel, „die Theorie realistischer<br />

zu machen“. 108 Dies erfolgt durch e<strong>in</strong> schrittweises Treffen zusätzlicher Annahmen.<br />

Mit dem H<strong>in</strong>zufügen von Zusatzannahmen gehe jedoch die Gefahr von zunehmender<br />

Komplexität <strong>und</strong> Qualitätsverlusten <strong>in</strong> der Analyse e<strong>in</strong>her: „Je größer die Unsicherheit<br />

über die benötigten Zusatzannahmen, die durch e<strong>in</strong>e Annahme verursacht wird,<br />

desto schlechter ist die Qualität der Problematisierungen.“ 109<br />

Um die Unsicherheit bezüglich der Zusatzannahmen so ger<strong>in</strong>g wie möglich zu halten,<br />

ist, so L<strong>in</strong>denberg, e<strong>in</strong>e Heuristik erforderlich. Dafür habe sich der methodologische Individualismus<br />

bewährt. Die Heuristik dürfe bei zunehmender Problematisierung nicht<br />

verloren gehen. Diesem Anspruch sei dadurch zu begegnen, dass die Handlungstheorie<br />

von den Annahmen getrennt werde, die <strong>in</strong> der abnehmenden Abstraktion geändert werden.<br />

Dies führt zu e<strong>in</strong>er Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>er Kerntheorie (der Handlungstheorie)<br />

<strong>und</strong> den Brückenannahmen, die erforderlich s<strong>in</strong>d, um Prognosen aus dieser<br />

Kerntheorie abzuleiten. 110 E<strong>in</strong>e Handlungstheorie sei umso mehr zur Erklärung von<br />

Phänomenen auf e<strong>in</strong>em kollektiven Niveau geeignet,“ je mehr sie es möglich macht,<br />

daß ihre Brückenannahmen entproblematisiert <strong>und</strong> auch wieder problematisiert werden<br />

können.“ 111 Dies gelte sowohl für strukturelle Brückenannahmen (wie die über Gew<strong>in</strong>nmaximierung),<br />

als auch für kognitive Brückenannahmen, wie z.B. über die Kapazität<br />

der Informationsverarbeitung. Aus diesem Gr<strong>und</strong> müsse es die Handlungstheorie „zulassen,<br />

Brückenannahmen auch mehr oder weniger zu ‚psychologisieren’“ 112 .<br />

ad (ii): Die bewährte Heuristik für die Beschreibung allgeme<strong>in</strong>er Hauptaspekte von<br />

sozialen Situationen stellt auch für L<strong>in</strong>denberg die Annahme des nutzenmaximierenden<br />

<strong>in</strong>dividuellen Akteurs dar. Dieser wird von L<strong>in</strong>denberg als RREEMM (Resourceful,<br />

106 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49 ff.<br />

107 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49.<br />

108 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49.<br />

109 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 50.<br />

110 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 51.<br />

111 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 54.<br />

112 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 54. Klassische, aus der Psychologie entnommene <strong>in</strong>dividual 1 -Theorien würden<br />

die beschriebenen Anforderungen nicht erfüllen. E<strong>in</strong>e auf die Bedürfnisse der abnehmenden Abstraktion<br />

zugeschnittene <strong>in</strong>dividual 2 -Theorie ließe sich als „das Gerippe e<strong>in</strong>er Theorie zielgerichteten<br />

Handelns, deren Muskeln <strong>und</strong> Fleisch durch Brückenannahmen angesetzt werden“ (ebd.), beschreiben.<br />

23<br />

23


Restricted, Evaluat<strong>in</strong>g, Expect<strong>in</strong>g, Maximiz<strong>in</strong>g Man) bezeichnet. 113 Die Annahme, dass<br />

sich der Akteur ‚resourceful’ verhalte, impliziere, dass dieser aktiv <strong>und</strong> <strong>in</strong>telligent nach<br />

Möglichkeiten, se<strong>in</strong>e Ziele zu verwirklichen, suche. Das ‚restricted’ bedeute, dass der<br />

Akteur aufgr<strong>und</strong> knapper Güter nur beschränkte Wahlmöglichkeiten habe. Durch das<br />

‚evaluat<strong>in</strong>g’ werde deutlich, dass der Akteur frühere, aktuelle <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Zukunft liegende<br />

Zustände <strong>und</strong> Geschehnisse bewerte. Letztere werden von dem Akteur mit e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit antizipiert. Der Akteur versuche, aus se<strong>in</strong>en beschränkten<br />

Möglichkeiten das Beste zu machen. Zu jeder der Annahmen müssten Brückenannahmen<br />

getroffen werden, damit die Theorie angewendet werden könne. E<strong>in</strong>e zunehmende<br />

Realitätsnähe der Brückennahmen habe e<strong>in</strong>e zunehmende Anzahl an Zusatzannahmen<br />

<strong>und</strong> eventuell auch e<strong>in</strong>e höhere Unsicherheit über die Zusatzannahmen zur Folge. 114<br />

ad (iii): Als Heuristiken für Brückenannahmen empfiehlt L<strong>in</strong>denberg e<strong>in</strong>e Fokussierung<br />

auf Präferenzen <strong>und</strong> Kognitionen. In Bezug auf kognitive Beschränkungen entstehe<br />

ohne ausgearbeitete Heuristik e<strong>in</strong>e hohe Unsicherheit über Zusatzannahmen. Die Annahmen<br />

der Psychologie könnten nicht e<strong>in</strong>fach übernommen werden, da sonst e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual<br />

2 -Theorie nur durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual 1 -Theorie ersetzt werde. Erforderlich sei dagegen<br />

e<strong>in</strong>e Theorie, „die uns angibt, wie wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuell 2 -Theorie auch <strong>in</strong> bezug auf<br />

kognitive Restriktionen (d.h. <strong>in</strong> bezug auf die Def<strong>in</strong>ition der Situation) realistischer machen<br />

können.“ 115<br />

4.7 Überblick über die Strategien zur Integration psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong><br />

die ökonomische Theorie<br />

Die folgende Abbildung 2 fasst die fünf Strategien zur Integration psychologischer Erkenntnisse<br />

nochmals zusammen. Ihre Leistungsfähigkeit für die Problemstellung dieser<br />

Arbeit wird im folgenden Abschnitt bewertet.<br />

113 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 55; L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 739, mit Verweisen auf Meckl<strong>in</strong>g (1976) <strong>und</strong><br />

L<strong>in</strong>denberg (1983).<br />

114 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 55 f.<br />

115 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 60.<br />

24<br />

24


Konzept <strong>und</strong> Autor Idee Annahmen<br />

Ökonomischer Imperialismus<br />

(G.S. Becker)<br />

Dom<strong>in</strong>anz des ökonomischen<br />

Ansatzes für sozialwissenschaftliche<br />

Fragestellungen<br />

Ke<strong>in</strong>e eigentliche Integration<br />

psychologischer Annahmen<br />

Beibehaltung der Annahmen des<br />

ökonomischen Verhaltensmodells<br />

Psychologisierung der<br />

Verhaltensannahmen<br />

(H. Simon)<br />

Dom<strong>in</strong>anz psychologischer<br />

Annahmen für Beschreibung des<br />

Entscheidungsverhaltens von<br />

Individuen<br />

Fokus auf empirische Analyse, um<br />

Integration zu konkretisieren<br />

Weitgehende Übernahme<br />

psychologischer Annahmen<br />

notwendig <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvoll<br />

Sequenzverfahren<br />

(B.S. Frey)<br />

Paralleldiskurs<br />

(K. Homann)<br />

Zweiteilung des Entscheidungsprozesses<br />

<strong>in</strong> Alternativengenerierung<br />

<strong>und</strong><br />

Entscheidung<br />

Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er Forschungslogik,<br />

um unreflektiertes Vorgehen zu<br />

vermeiden<br />

Dom<strong>in</strong>anz psychologischer<br />

Annahmen <strong>in</strong> Alternativengenierung<br />

Dom<strong>in</strong>anz ökonomischer<br />

Annahmen <strong>in</strong> Entscheidung<br />

(implizit:) Übersetzung<br />

psychologischer oder ethischer<br />

Annahmen <strong>in</strong> Sprache <strong>und</strong> Logik<br />

der Ökonomie<br />

Methode der abnehmenden<br />

Abstraktion<br />

(S. L<strong>in</strong>denberg)<br />

Unterscheidung analytisches <strong>und</strong><br />

theoretisches Primat der<br />

ökonomischen Forschung<br />

Basis- <strong>und</strong> Brückenannahmen für<br />

schrittweise Erweiterung des<br />

ökonomischen Ansatzes<br />

Ökonomische Annahmen als<br />

Basis<br />

Schrittweise problemspezifische<br />

Erweiterung des RREEMM<br />

Abbildung 2: Strategien zur Integration <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Erkenntnisse <strong>in</strong> die Ökonomie<br />

5 Problemspezifische Bewertung der Strategien zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />

Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische Theorie<br />

Die fünf Strategien zur Integration <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />

Theorie gilt es im Folgenden im H<strong>in</strong>blick auf die <strong>in</strong> dieser Arbeit anvisierte Problemstellung<br />

auf ihre Adäquanz zu bewerten. Als Adäquanzkriterium soll e<strong>in</strong>erseits gelten,<br />

dass die Integrationstrategien e<strong>in</strong>e Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

ermöglichen, die zu e<strong>in</strong>er realistischeren Erklärung empirisch zu beobachtender<br />

Controll<strong>in</strong>g-Phänomene führt. Andererseits soll das auszuwählende Verfahren den<br />

Anforderungen an e<strong>in</strong>e methodologisch reflektierte Theoriebildung genügen. 116 Dabei<br />

116 Vgl. Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />

25<br />

25


ist u.a. darauf zu achten, dass die Vorteile der ökonomischen Analyse (v.a. ihre e<strong>in</strong>fachen,<br />

systematischen Annahmen) als bewährte Theorie so gut es geht weiterh<strong>in</strong> genutzt<br />

werden können.<br />

(1) Imperialismus: Interpretiert man die spezifische Problemstruktur der ökonomischen<br />

Methode als „bestimmt durch zugleich geme<strong>in</strong>same <strong>und</strong> konfligierende Interessen der<br />

Interaktionspartner <strong>und</strong> die daraus folgenden Anreizstrukturen“ 117 <strong>und</strong> leitet man daraus<br />

e<strong>in</strong> Verständnis von Ökonomie als Wissenschaft ab, die sich „mit der Erklärung <strong>und</strong><br />

Gestaltung der Resultate von Interaktionen <strong>in</strong> Dilemmastrukturen“ 118 befasst, ermöglicht<br />

dies zwar gr<strong>und</strong>sätzlich, Sachverhalte nicht nur zu erklären, sondern auch Gestaltungsempfehlungen<br />

zu geben. 119 Um dieses Ziel zu erreichen, s<strong>in</strong>d die strengen ökonomischen<br />

Annahmen konsequent e<strong>in</strong>zuhalten, vor allem diejenigen, dass sich alle beteiligten<br />

Akteure rational verhalten <strong>und</strong> auf stabile Präferenzen zurückgreifen. 120<br />

E<strong>in</strong>e solche Fokussierung impliziert aber auch, dass die ökonomische Methode nur die<br />

aggregierten Resultate bestimmter Interaktionen erklären <strong>und</strong> dafür realistische Gestaltungsempfehlungen<br />

geben kann: „Typischerweise geht es um D<strong>in</strong>ge wie Inflationsrate,<br />

Krim<strong>in</strong>alitätsrate, Scheidungsrate, <strong>und</strong> (...) nicht um das Niveau solcher Raten, sondern<br />

um deren Veränderung <strong>in</strong> Abhängigkeit von Veränderungen <strong>in</strong> den Handlungsbed<strong>in</strong>gungen,<br />

den Restriktionen.“ 121 Die Vielzahl der mit Hilfe der Psychologie identifizierten<br />

Verhaltensanomalien von Individuen kann sie jedoch nicht erklären. E<strong>in</strong><br />

Rückgriff auf die Kosten-Nutzenaspekte e<strong>in</strong>er Situation würde den mentalen Restriktionen<br />

<strong>und</strong> vor allem den Widersprüchen, denen Individuen ausgesetzt s<strong>in</strong>d, zu wenig Aufmerksamkeit<br />

schenken. Gerade letztere hält McFadden jedoch für so bedeutsam, dass es<br />

e<strong>in</strong>er bewussten Integration dieser Phänomene <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzept zur Erklärung menschlicher<br />

Entscheidungen bedürfe. 122 Die neoklassische Rationalitätsannahme verschließt<br />

sich somit – auch wenn dies durch e<strong>in</strong>e Integration von Annahmen möglich wäre –<br />

weitgehend der systematischen Thematisierung von „Könnensdefiziten“. In E<strong>in</strong>klang<br />

mit McFadden ersche<strong>in</strong>t der ökonomische Ansatz im S<strong>in</strong>ne Beckers zur Erklärung von<br />

Verhalten von Individuen auf Märkten somit zwar weiterh<strong>in</strong> zweckmäßig. Wenn es um<br />

117 Homann (2002c), S. 118. Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al getilgt.<br />

118 Homann (2002c), S. 118.<br />

119 Vgl. Homann (2002c), S. 118.<br />

120 Vgl. Becker (1982a), S. 6, der von e<strong>in</strong>er fast „fast tautologischen Art“ spricht.<br />

121 Homann (2002c), S. 119.<br />

122 Vgl. McFadden (1999), S. 74. Staw (1991), S. 815, beschreibt zudem, wie psychologische Prozesse<br />

26<br />

26


das Entscheidungsverhalten von Individuen <strong>in</strong> Organisationen geht, wird die Auflösung<br />

des „Sche<strong>in</strong>werfers“ 123 , mit dem das Verhalten von Individuen erklärt werden soll, zu<br />

wenig präzise <strong>und</strong> somit nicht problemadäquat e<strong>in</strong>gestellt. Deswegen ist der ökonomische<br />

Imperialismus für die <strong>in</strong> dieser Arbeit adressierte Thematik, die auf e<strong>in</strong>e stärkere<br />

Berücksichtigung kognitiver Begrenzungen bei der Analyse des Entscheidungsverhaltens<br />

von Akteuren im Organisationskontext abstellt, nicht geeignet.<br />

(2) Psychologisierung der Rationalitätsannahmen: Simon hat mit der E<strong>in</strong>führung des<br />

Konstrukts der beschränkten Rationalität von Entscheidern e<strong>in</strong>en wesentlichen Beitrag<br />

zur Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie geleistet. Die Annahme der beschränkten<br />

Rationalität wird <strong>in</strong>zwischen auch <strong>in</strong> ökonomischen Theorien verwendet. 124<br />

Dennoch ist die Forschung von Simon auch kritisiert worden, vor allem aus methodischen<br />

Gesichtspunkten. E<strong>in</strong>e Hauptkritik gegen das Postulat e<strong>in</strong>er möglichst <strong>in</strong>tensiven<br />

Berücksichtigung psychologischer Aspekte im ökonomischen Ansatz lautet, dass sich<br />

die verhaltenswissenschaftliche Forschung mit anderen Problemen als die Ökonomie<br />

beschäftige. Das bedeute zwar nicht, dass z.B. die Wahrnehmungspsychologie <strong>und</strong> die<br />

E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die begrenzte Verarbeitungskapazität von Menschen für die Ökonomie<br />

ke<strong>in</strong>e Bedeutung hätten. So fokussiere auch die Ökonomie auf wahrgenommene <strong>und</strong><br />

verarbeitete Situationen. Doch dies rechtfertige nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>strumentelle Verwendung<br />

psychologischer Erkenntnisse im Rahmen e<strong>in</strong>es streng ökonomischen Ansatzes. 125 E<strong>in</strong>e<br />

völlige Infragestellung der klassischen Annahmen als konzeptionelle Gr<strong>und</strong>lage ökonomischer<br />

Forschung <strong>und</strong> das von Simon <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Anhängern mehr oder weniger<br />

deutlich verfolgte Vorhaben, die Psychologie zur theoretischen Basis ökonomischer<br />

Forschung zu machen, bleibt dagegen jedoch häufig „theoretisch unfruchtbar“. 126 Die<br />

Aufgabe der Annahme der objektiven Rationalität durch die H<strong>in</strong>zunahme psychologischer<br />

Theorien impliziert „die Gefahr des Vorwurfs e<strong>in</strong>es theorielosen Eklektizismus<br />

(...), der positive <strong>und</strong> normative Versatzstücke <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bunten Flickenteppich zusammenwebt“<br />

127 .<br />

Der Vorwurf Homanns wird von L<strong>in</strong>denberg bekräftigt: Dieser räumt zwar e<strong>in</strong>, dass die<br />

nicht nur das Verhalten e<strong>in</strong>zelner Akteure, sondern das gesamter Organisationen bee<strong>in</strong>flussen.<br />

123 Vgl. zur Sche<strong>in</strong>werfertheorie Popper (1998), S. 359 f.<br />

124 Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 416.<br />

125 Vgl. Homann (2002c), S. 121.<br />

126 Homann (2002c), S. 121.<br />

127 Homann (2002c), S. 128.<br />

27<br />

27


Qualität von Erklärungen verbessert werden könnte, wenn Verhaltensanomalien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Theorie <strong>in</strong>tegriert werden. Doch wenn Verhaltensökonomen vorschlagen, die unrealistische<br />

Nutzentheorie durch e<strong>in</strong>e realistischere psychologische Forschung zu ersetzen, vernachlässigten<br />

sie die Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e theoriegeleitete Forschung. So bräuchten<br />

zahlreiche psychologische Theorien zu viele Informationen, um e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Akteur<br />

zu beschreiben (z.B. die Lerntheorie). Je mehr Informationen e<strong>in</strong>e Theorie für die Beschreibung<br />

e<strong>in</strong>es Akteurs benötige, desto unwahrsche<strong>in</strong>licher sei es, dass diese für die<br />

Erklärung großer Aggregate genutzt werden könne. 128 Weil die Primate (analytisches<br />

bzw. theoretisches Primat) <strong>in</strong> der Ökonomik auf verschiedenen Ebenen liegen (soziales<br />

System bzw. Individuum), müsse e<strong>in</strong>e Handlungstheorie die simultane Aufmerksamkeit<br />

auf diese beiden Ebenen erlauben. Dies erfordere e<strong>in</strong>en Ansatz, der sich erheblich von<br />

der Psychologie unterscheide. 129<br />

Die Kritik Homanns <strong>und</strong> L<strong>in</strong>denbergs behält auch bei Betrachtung der jüngsten Arbeiten<br />

Simons ihr Gewicht. So äußert sich Simon gar nicht oder nur unklar zur methodologischen<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen ökonomischen <strong>und</strong> beispielsweise psychologischen<br />

Theorien. Der Anspruch an Theorien, dass diese abstrakt <strong>und</strong> „knapp“ an<br />

Annahmen se<strong>in</strong> müssen, um allgeme<strong>in</strong>gültige Erklärungen von ausreichender Prägnanz<br />

geben zu können, relativiert er <strong>und</strong> verlangt e<strong>in</strong> hohes Maß an Detailliertheit: “If we are<br />

managers, or if we are giv<strong>in</strong>g advice to managers, we need a theory of firms that encompasses<br />

a great deal of detail about their operation. And it must be a theory that describes<br />

realistically, not an “as if” theory. In both its descriptive and its normative aspects, it<br />

must describe, and prescribe for, the decision mak<strong>in</strong>g process of managers with close<br />

attention to the k<strong>in</strong>ds of knowledge that are atta<strong>in</strong>able and the k<strong>in</strong>ds of computations<br />

that can actually be carried out.” 130<br />

Für die Nutzung der Integrationsvorschläge lässt sich somit Folgendes festhalten: Zwar<br />

bietet Simon wichtige Anregungen für e<strong>in</strong>e Fokussierung der ökonomischen Theoriebildung<br />

auf die Begrenzungen menschlicher Kognition, doch es s<strong>in</strong>d von ihm wenige oder<br />

gar ke<strong>in</strong>e methodologischen H<strong>in</strong>weise zu erwarten, wie psychologische Erkenntnisse <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e ökonomische Theoriebildung reflektiert <strong>in</strong>tegriert werden können. Deswegen ist<br />

das von Simon et al. postulierte Vorgehen im Controll<strong>in</strong>gkontext wenig zweckmäßig.<br />

128 Dies lasse sich auf die e<strong>in</strong>fache Begründung zurückführen, dass die notwendigen Informationen<br />

schwerer beschafft werden könnten.<br />

129 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 53 ff., <strong>und</strong> (1990), S. 737 ff.<br />

130 Simon (1997), S. 63.<br />

28<br />

28


(3) Sequenzverfahren: Probleme bei der Anwendung des Sequenzverfahrens entstehen<br />

dadurch, dass die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en nicht e<strong>in</strong>deutig<br />

geklärt s<strong>in</strong>d. So kritisieren Osterloh <strong>und</strong> Grand, dass beim Sequenzverfahren offen<br />

bleibe, „wie die verschiedenen diszipl<strong>in</strong>ären Schwerpunkte methodisch zue<strong>in</strong>ander<br />

stehen.“ 131 Auch Homann steht e<strong>in</strong>em solchen Vorgehen kritisch gegenüber. Nach der<br />

Methodologie des kritischen Rationalismus sei e<strong>in</strong> solches Vorgehen „als zu wenig theoretisch<br />

[zu] qualifizieren.“ 132 Trotz mancher Berührungspunkte werden verschiedene<br />

Forschungslogiken der e<strong>in</strong>zelnen Diszipl<strong>in</strong>en zu wenig reflektiert mite<strong>in</strong>ander vermischt.<br />

Das Sequenzverfahren ersche<strong>in</strong>t für die Problemstellung dieser Arbeit auch deswegen<br />

als wenig geeignet, weil es die phasenübergreifende Verwobenheit der verschiedenen<br />

Erklärungen aus Ökonomie <strong>und</strong> Psychologie 133 – e<strong>in</strong> Entscheidungsprozess lässt sich<br />

nicht <strong>in</strong> separierbare Teilphasen schneiden, die unabhängig vone<strong>in</strong>ander ablaufen – ausblendet.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass Verhaltensanomalien sowohl im Rahmen der Alternativengenerierung,<br />

als auch im Rahmen der eigentlichen Entscheidung empirisch festzustellen<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Verzicht auf den Erklärungsbeitrag der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> der Entscheidungsphase,<br />

wie dies von Frey postuliert wird, ersche<strong>in</strong>t daher wenig zweckmäßig.<br />

(4) Paralleldiskurs: Homann weist darauf h<strong>in</strong>, dass sich Moralvorstellungen als Verkürzungen<br />

ökonomischer Kalküle erklären lassen. 134 Überträgt man diese Überlegung auf<br />

das Verhältnis Psychologie-Ökonomie, so lassen sich dabei durchaus Parallelen ableiten:<br />

Anomalien können als „Verkürzungen“ ökonomischer Kalküle rekonstruiert werden.<br />

So kann beispielsweise der <strong>in</strong> der experimentellen Forschung festgestellte Fram<strong>in</strong>geffekt<br />

als kostengünstige Abkürzung der Informationssuche durch menschliche<br />

Akteure <strong>in</strong>terpretiert werden. 135 Fram<strong>in</strong>g kann dazu beitragen, Transaktionskosten bei<br />

Entscheidungen zu sparen. Dadurch können Entscheidungsprozesse verkürzt <strong>und</strong> vere<strong>in</strong>facht<br />

werden.<br />

Im Kontext von Controll<strong>in</strong>gfragestellungen ist e<strong>in</strong>e ökonomische „Rekonstruktion“ des<br />

Fram<strong>in</strong>geffekts jedoch wenig zweckmäßig. So kann e<strong>in</strong>e Orientierung der Manager an<br />

131 Osterloh/Grand (1995), S. 14.<br />

132 Homann (2002b), S. 73.<br />

133 Vgl. dazu im Kontext des Arbeitsverhaltens Jost (2000), S. 73 ff.<br />

134 Homann (1999), S. 7, spricht von e<strong>in</strong>er „Abbreviatur von langen ökonomischen Überlegungen“; vgl.<br />

ähnlich Hirsch (2002), S. 65.<br />

135 Vgl. zum Fram<strong>in</strong>g z.B. Tversky/Kahneman (1981).<br />

29<br />

29


vergangenen Entscheidungen aus deren <strong>in</strong>dividueller Perspektive durchaus s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong><br />

− sie sparen ‚<strong>in</strong>terne’ Suchkosten durch die Reduzierung von Komplexität − jedoch erweist<br />

sich e<strong>in</strong> solches Verhalten im Interaktionskontext Controller − Manager aus Gesamtunternehmens<strong>in</strong>teresse<br />

als unerwünscht: Weil die geframten Entscheidungen e<strong>in</strong>zelner<br />

Manager weitreichende (negative) Konsequenzen <strong>in</strong> Bezug auf die Performance<br />

des Unternehmens haben, wird <strong>in</strong> der Unternehmenspraxis bewusst nach Kontroll- <strong>und</strong><br />

Steuerungsmechanismen gesucht, die das ‚Fehlverhalten’ der Manager reduzieren sollen.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ökonomisches Kalkül übersetzte Plausibilisierung e<strong>in</strong>es solchen Fehlverhaltens<br />

ersche<strong>in</strong>t kontraproduktiv, da die Unternehmen geframte Entscheidungen<br />

vermeiden wollen.<br />

Neben dieser <strong>in</strong>haltlichen Kritik am Paralleldiskurs s<strong>in</strong>d es vor allem methodologische<br />

Überlegungen, die e<strong>in</strong>e Verwendung des Paralleldiskurses zur Entwicklung e<strong>in</strong>er verhaltensorientierten<br />

Controll<strong>in</strong>gtheorie als nur bed<strong>in</strong>gt zweckmäßig ersche<strong>in</strong>en lassen.<br />

Osterloh/Grand konstatieren, dass es sich beim von Homann postulierten Paralleldiskurs<br />

nicht um e<strong>in</strong> gleichberechtigtes Zusammenwirken verschiedener Diszipl<strong>in</strong>en handle.<br />

Zwar gehe es im ersten Schritt um e<strong>in</strong>e konsequente Ausformulierung e<strong>in</strong>zelner Modelle<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em parallelen, vone<strong>in</strong>ander erst e<strong>in</strong>mal unabhängigen Diskurs. Die Crux bestünde<br />

jedoch <strong>in</strong> dem sich anschließenden Versuch der Übersetzung, z.B. von ethischen<br />

oder psychologischen Term<strong>in</strong>i <strong>in</strong> die Sprache der Ökonomik <strong>und</strong> umgekehrt. Wie diese<br />

Übersetzung zu geschehen habe, dafür werde ebenso wenig Hilfestellung gegeben wie<br />

bei der Frage, „wie die verschiedenen diszipl<strong>in</strong>ären Heuristiken bei der Lösung praktischer<br />

Probleme <strong>in</strong>tegriert werden sollen“ 136 .<br />

Die für diesen Beitrag besonders relevante Kritik geht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e etwas andere Richtung:<br />

Zwar ersche<strong>in</strong>t es uns aus Gründen der Arbeitsteilung durchaus vernünftig, Anomalien<br />

im Entscheidungsverhalten von Individuen durch die psychologische Forschung zu<br />

identifizieren. Jedoch ersche<strong>in</strong>t es aus Gründen der Erklärungskraft, die mit e<strong>in</strong>em<br />

erweiterten, realitätsnäheren ökonomischen Modell erzielt werden soll, zweckmäßig,<br />

diese Phänomene für die spezifische Problemstellung (der Zuweisung der<br />

Rationalitätssicherungsaufgabe an Controller) stärker als Homann es vorschlägt <strong>in</strong> das<br />

Forschungsmodell zu <strong>in</strong>tegrieren. Homanns These, „Für die re<strong>in</strong> positive Abschätzung<br />

der aggregierten Folgen menschlichen Handelns <strong>in</strong> (...) universalen asymmetrischen<br />

Interaktionsstrukturen ist der homo oeconomicus das unübertroffene <strong>und</strong> unverzichtbare<br />

136 Osterloh/Grand (1995), S. 13.<br />

30<br />

30


Analyse<strong>in</strong>strument“ 137 , ist deswegen aufgr<strong>und</strong> der hohen systematischen Bedeutung von<br />

Verhaltensanomalien als zu wenig fe<strong>in</strong> <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>seitig justiert. Weil sich Homann mit<br />

(zu) wenigen, aber dafür klaren Verhaltensannahmen aus der Welt der Ökonomie zufrieden<br />

gibt, verzichtet er e<strong>in</strong>erseits auf konkretere H<strong>in</strong>weise, wie kognitive Begrenzungen<br />

der Akteure <strong>in</strong> die ökonomische Argumentationslogik e<strong>in</strong>gebaut werden können.<br />

Andererseits kann er durch die zum<strong>in</strong>dest implizit vorgenommene problemspezifisch zu<br />

starke Priorisierung der ökonomischen Verhaltensannahmen gegenüber Annahmen der<br />

Psychologie oder Philosophie Erklärungspotentiale, die sich aus e<strong>in</strong>er wirklich <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären<br />

Analyse ergeben, nicht nutzen. E<strong>in</strong>e geschlossene Erklärung komplexer<br />

‚Könnensphänomene’ auf Basis e<strong>in</strong>er reflektierten Verarbeitung beider Theorierichtungen<br />

unterbleibt. Deswegen bleibt Homanns Vorschlag im Kontext dieses Beitrags wenig<br />

fruchtbar.<br />

(5) Methode der abnehmenden Abstraktion: L<strong>in</strong>denberg muss sich aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es bewussten<br />

Integrationspostulats weder den Vorwurf gefallen lassen, durch die Fokussierung<br />

auf zu enge Verhaltensannahmen (wie beim Imperialismus) relevante Explananda<br />

systematisch auszublenden. Noch besteht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept die Gefahr, dass Schnittstellen<br />

nicht def<strong>in</strong>iert oder Erklärungsmodelle „nebene<strong>in</strong>ander her“ diskutiert werden<br />

(wie beim Sequenzverfahren bzw. Paralleldiskurs). Vielmehr versucht er, den ökonomischen<br />

Erklärungsrahmen <strong>in</strong>takt zu lassen <strong>und</strong> ihn gegebenenfalls durch Erkenntnisse der<br />

Psychologie methodologisch reflektiert zu präzisieren.<br />

Für die Verwendung der Methode der abnehmenden Abstraktion im Rahmen dieser<br />

Arbeit spricht e<strong>in</strong>e Reihe von Argumenten: Durch die Festlegung auf die Ökonomie als<br />

Basistheorie erfolgt e<strong>in</strong>e pragmatische Reduktion der Forschungsperspektive, die e<strong>in</strong>e<br />

hochselektive Forschung ermöglicht. Dabei können die Vorteile der ökonomischen<br />

Methode, die sich aus deren Klarheit <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fachheit ergeben, weiterh<strong>in</strong> (so gut wie<br />

möglich) genutzt werden. L<strong>in</strong>denberg hat konkrete Regeln zum Vorgehen der Integration<br />

psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> das ökonomische Basismodell aufgestellt. Er<br />

schlägt e<strong>in</strong>e schrittweise „Anreicherung“ des ökonomischen Erklärungsmodells mit<br />

psychologischen Annahmen vor. Diese Anreicherung habe sparsam <strong>und</strong> nur dann zu erfolgen,<br />

wenn sie auch <strong>in</strong> Bezug auf das zu erklärende Untersuchungsobjekt notwendig<br />

ersche<strong>in</strong>t. Unreflektiertes eklektisches Vorgehen wird dadurch vermieden. 138 E<strong>in</strong>e<br />

137 Homann (2002a), S. 82. Hervorhebung des Orig<strong>in</strong>als getilgt.<br />

138 Die Vorteile der Methode der abnehmenden Abstraktion betont auch Homann. Vgl. Homann<br />

(2002a), S. 83; Homann (2002c), S. 126: „Selbstverständlich s<strong>in</strong>d entsprechende Erkenntnisse an-<br />

31<br />

31


schrittweise Präzisierung der (kognitiven) Restriktionen von Entscheidern durch die<br />

H<strong>in</strong>zuziehung von Erkenntnissen aus der Psychologie ermöglicht e<strong>in</strong>e ‚fe<strong>in</strong>ere’ Analyse<br />

des Verhaltens von Individuen. Dies trägt der Bedeutung e<strong>in</strong>er realitätsnäheren Berücksichtigung<br />

kognitiver Defizite als Voraussetzung für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Steuerung von<br />

Organisationen <strong>in</strong> hohem Maße Rechnung. Der hohe Abstraktionsgrad, auf dem L<strong>in</strong>denberg<br />

Vorschläge zum Integrationsprozess psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> ökonomische<br />

Modelle macht, ermöglicht e<strong>in</strong>e problemspezifische Erweiterung der ökonomischen<br />

Basistheorie. Beispielsweise gel<strong>in</strong>gt es, Erklärungsmodelle für Problemstellungen im<br />

Controll<strong>in</strong>gkontext, der durch die Besonderheit der Interaktionsbeziehung Manager (als<br />

Entscheider) <strong>und</strong> (Zentral-)Controller (u.a. als Bereitsteller von Informationen <strong>und</strong> beauftragter<br />

‚Kontrolleur’ der Bereiche) geprägt ist, anders zu konkretisieren als Erklärungsmodelle,<br />

die zur Erklärung von Verhaltensanomalien im K<strong>und</strong>enverhalten verwendet<br />

werden.<br />

Es zeigt sich, dass sich von den fünf diskutierten Integrationsstrategien nur der Ansatz<br />

von L<strong>in</strong>denberg als für die Problemstellung am zweckmäßigsten erweist. Dieser Ansatz<br />

versucht im Gegensatz zu den anderen Ansätzen die (situationsspezifisch) ‚richtige Balance’<br />

zwischen den unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en Ökonomie <strong>und</strong> Psychologie zu f<strong>in</strong>den.<br />

Gel<strong>in</strong>gt dies, können die Vorteile der beiden Diszipl<strong>in</strong>en produktiv genutzt werden.<br />

6 Zusammenfassung <strong>und</strong> weiterer Forschungsbedarf<br />

Weber <strong>und</strong> Schäffer arbeiten zwar e<strong>in</strong>e hohe konzeptionelle Bedeutung kognitiver Beschränkungen<br />

von Managern als Gr<strong>und</strong> für den Rationalitätssicherungsbedarf der Führung<br />

heraus, doch auch sie geben ke<strong>in</strong>e methodologischen Empfehlungen zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische Theorie. Gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

der Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption,<br />

so ist mit e<strong>in</strong>em Erkenntnisfortschritt im S<strong>in</strong>ne realitätsnäherer Erklärungen<br />

von kognitiven Manager-Begrenzungen zu erwarten. Daraus können Gestaltungsempfehlungen<br />

für Controller als Rationalitätssicherer der Manager abgeleitet werden.<br />

Dies macht die Notwendigkeit der Heranziehung von Integrationsvorschlägen erforderderer<br />

Wissenschaften [<strong>in</strong> der Ökonomik, d.Verf.] zu berücksichtigen, aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

strengen ökonomischen Forschungsansatz, <strong>in</strong> dem sie dann den Restriktionen zugeschlagen werden<br />

müssen. Erkenntnisse anderer Wissenschaften werden gemäß der „Methode der abnehmenden Abstraktion“<br />

verwendet, aber im Rahmen e<strong>in</strong>es ökonomischen Problemaufrisses.“<br />

32<br />

32


lich. Mit dem ökonomischen Imperialismus, der Psychologisierung der Rationalitätsannahmen,<br />

dem Sequenzverfahren, dem Paralleldiskurs <strong>und</strong> der Methode der abnehmenden<br />

Abstraktion werden <strong>in</strong> der Literatur fünf Integrationsverfahren angeboten. Der ökonomische<br />

Imperialismus <strong>und</strong> die Psychologisierung der Rationalitätsannahmen s<strong>in</strong>d<br />

deswegen abzulehnen, weil sie für Fragestellungen, <strong>in</strong> denen kognitive Begrenzungen<br />

von Akteuren im Interaktionskontext e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielen, e<strong>in</strong>e zu e<strong>in</strong>seitige Betonung<br />

e<strong>in</strong>er Forschungsdiszipl<strong>in</strong> postulieren. Die im Sequenzverfahren vorgeschlagene<br />

Zweiteilung e<strong>in</strong>es Entscheidungsprozesses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Alternativengenerierung <strong>und</strong> <strong>in</strong> die<br />

eigentliche Entscheidung <strong>und</strong> die sich anschließende phasenweise Zuweisung der Verwendung<br />

unterschiedlicher Diszipl<strong>in</strong>en ist mit Abgrenzungsproblemen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Kritik<br />

an der Wissenschaftlichkeit dieses Vorgehens verb<strong>und</strong>en. Als ebenso wenig geeignet<br />

hat sich der Paralleldiskurs erwiesen, der e<strong>in</strong>e Übersetzung psychologischer Erkenntnisse<br />

<strong>in</strong> die ökonomische Theoriewelt fordert. Dadurch können die kognitiven Begrenzungen<br />

von Akteuren nicht mit der nötigen Prom<strong>in</strong>enz erklärt werden.<br />

Die Methode der abnehmenden Abstraktion, die von dem Soziologen L<strong>in</strong>denberg vorgeschlagen<br />

wird, erweist sich für die Problemstellung dieser Arbeit am zweckmäßigsten.<br />

Durch die schrittweise Heranziehung von Brückenannahmen wird es möglich,<br />

Fragestellungen, die sich durch e<strong>in</strong> unterschiedliches Ausmaß an kognitiven Beschränkungen<br />

von Managern auszeichnen, theoretisch reflektiert zu bearbeiten. E<strong>in</strong>e Konkretisierung<br />

dieser Anwendung sollte Gegenstand weiterer Forschungsbemühungen se<strong>in</strong>.<br />

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38<br />

38


Beziehungen zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />

konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

Jörg Becker<br />

European Research Center for Information Systems (ERCIS)<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

Daniel Pfeiffer<br />

European Research Center for Information Systems (ERCIS)<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

Abstract<br />

Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet die Frage, welche Auswirkungen die Übernahme der<br />

Unterscheidung zwischen dem behavioristischen <strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten<br />

Paradigma nach Hevner et al. für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat. Als Implikationen dieses<br />

Schrittes können zwei Alternativen identifiziert werden: die Beschränkung des<br />

wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>erseits oder aber e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />

Neuausrichtung des Fachs andererseits. Dieses Ergebnis motiviert zu e<strong>in</strong>er kritischen Analyse<br />

der behavioristisch / konstruktionsorientiert Dichotomie. Diese Untersuchung wird auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage des strukturalistischen Theorieverständnisses durchgeführt. Als Konsequenz ergibt<br />

sich, die strenge Unterscheidung zwischen den beiden Forschungsansätzen aufzugeben. Auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage dieses Ergebnisses wird e<strong>in</strong>e modifizierte Darstellung der beiden Forschungskonzeptionen<br />

entwickelt.<br />

Schlüsselworte: konstruktionsorientiertes <strong>und</strong> behavioristisches Paradigma, Strukturalismus<br />

39


E<strong>in</strong>leitung<br />

Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat <strong>in</strong> den 35 Jahren ihres Bestehens gewaltige <strong>in</strong>formationstechnische<br />

Veränderungen <strong>in</strong> Unternehmen <strong>und</strong> der Verwaltung wissenschaftlich begleitet<br />

<strong>und</strong> mitgeprägt. Bed<strong>in</strong>gt durch die zu bewältigenden Aufgaben hat die Diszipl<strong>in</strong> das Profil<br />

e<strong>in</strong>er praxisorientierten Wissenschaft gewonnen, die sich durch e<strong>in</strong>e große forschungsmethodische<br />

Vielfalt <strong>und</strong> den Reichtum an praktisch verwertbaren Forschungsresultaten<br />

auszeichnet. Der Bedarf an neuen Erkenntnissen, Methoden <strong>und</strong> Werkzeugen seitens der<br />

Wirtschaft machten es jedoch mitunter erforderlich, die theoretische Absicherung der<br />

Forschungsergebnisse zugunsten ihres zügigen praktischen E<strong>in</strong>satzes zurückzustellen (vgl.<br />

Frank (2002), S. 6). Als Reaktion auf diese Entwicklung wurde <strong>in</strong> den letzten 10 Jahren<br />

immer wieder der Versuch unternommen, die gewonnenen Erkenntnisse der<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zu ordnen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es theoretischen Kerns zu verdichten (vgl.<br />

Greiffenberg (2003); Patig (2001); Zelewski (2003)).<br />

E<strong>in</strong> <strong>in</strong> der wissenschaftlichen Diskussion viel beachteter Vorschlag <strong>in</strong> diesem Kontext stammt<br />

aus dem Bereich der Information Systems Forschung, der Schwesterdiszipl<strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik im <strong>in</strong>ternationalen Umfeld. Hevner et al. (2004) entwerfen <strong>in</strong> Ihrem<br />

Artikel e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Bezugsrahmen zur Untergliederung der Information Systems<br />

Diszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en behavioristischen (Behavioral Science) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en konstruktionsorientierten<br />

(Design Science) Zweig. Die Aufgabe der behavioristischen Forschung, deren Wurzeln im<br />

naturwissenschaftlichen Bereich liegen, sehen Hevner et al. <strong>in</strong> der Bildung <strong>und</strong> Überprüfung<br />

von Theorien über IT-Artefakte (vgl. March; Smith (1995)). Die Suche <strong>und</strong> empirische<br />

Absicherung von Hypothesen, welche die organisatorischen <strong>und</strong> zwischenmenschlichen<br />

Phänomene der Entwicklung von Informationssystemen erklären oder vorhersagen, s<strong>in</strong>d<br />

Gegenstand dieses Paradigmas. Ziel der behavioristischen Forschung ist die Wahrheitsf<strong>in</strong>dung<br />

anhand der empirischen Angemessenheit von Theorien. Das konstruktionsorientierte<br />

Paradigma orientiert sich h<strong>in</strong>gegen am Vorgehen der Ingenieurwissenschaften <strong>und</strong> hat die<br />

Konstruktion sowie die Bewertung von IT-Artefakten zum Gegenstand. Die IT-Artefakte<br />

umfassen Produkte, die im Kontext der Anlyse, des Entwurfs <strong>und</strong> der Implementierung von<br />

Informationssystemen entstehen bzw. zum E<strong>in</strong>satz kommen. Zu den IT-Artefakten rechnen<br />

Hevner et al. Sprachen, Methoden, Modelle sowie Implementierungen. Tabelle 1 beschreibt<br />

diese IT-Artefakte näher. Ziel der konstruktionsorientierten Forschung ist es, für die<br />

Wissenschaft bzw. die Praxis nützliche IT-Artefakte zu schaffen.<br />

40


Sprache<br />

Methode<br />

Modell<br />

Implementierung<br />

Vokabular sowie Regelmenge zur Beschreibung e<strong>in</strong>er Domäne<br />

Planmäßiges Vorgehen zur Erfüllung e<strong>in</strong>er bestimmten Aufgabe<br />

Repräsentation e<strong>in</strong>es Ausschnitts e<strong>in</strong>er Domäne auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

e<strong>in</strong>er Sprache<br />

Realisierung e<strong>in</strong>es IT-Artefakts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Anwendungsumgebung<br />

Tabelle 1: IT-Artefakte nach Hevner et al. (2004)<br />

Das behavioristische <strong>und</strong> das konstruktionsorientierte Paradigma werden als zwei verschiedene,<br />

jedoch komplementäre Phasen der Information Systems Forschung <strong>in</strong>terpretiert<br />

(vgl. Hevner; March (2003), S. 111). Beide Phasen werden mit unterschiedlichen Forschertypen<br />

personell besetzt, die über verschiedenartige Qualifikationen verfügen. Während die<br />

konstruktionsorientierte Forschung IT-Artefakte erstellt, bildet die behavioristische Forschung<br />

Theorien über diese Artefakte <strong>und</strong> versucht den Wahrheitsgehalt dieser Theorien zu überprüfen.<br />

Theorien, die sich als empirisch angemessen erwiesen haben, dienen wiederum den<br />

konstruktionsorientierten Forschern, um neue IT-Artefakte anzufertigen. Tabelle 2 fasst die<br />

Merkmale der behavioristischen <strong>und</strong> der konstruktionsorientierten Forschung zusammen.<br />

Behavioristische<br />

Forschung<br />

Forschungsfrage Wie <strong>und</strong> wieso? Wie gut?<br />

Forschungsergebnis Theorien IT-Artefakte<br />

Forschungsaktivitäten • Theoriebildung<br />

• Theorieüberprüfung<br />

Forschungsziel Wahrheit Nützlichkeit<br />

Konstruktionsorientierte<br />

Forschung<br />

• Konstuktion von Artefakten<br />

• Artefaktbewertung<br />

Tabelle 2: Behavioristische <strong>und</strong> konstruktionsorientierte Forschung nach Hevner et al. (2004)<br />

Empirische Analysen der Publikationen im Bereich der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zeigen, dass die<br />

Diszipl<strong>in</strong> bislang maßgeblich dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzuordnen ist (vgl.<br />

Chen; Hirschheim (2004), S. 210ff; Frank (1997), S. 24; Roithmayr; Ka<strong>in</strong>z (1994), S. 178ff.).<br />

E<strong>in</strong>e Beschränkung des Forschungsgegenstandes der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik gemäß dem<br />

konstruktionsorientierten Paradigma hätte die folgenden Konsequenzen:<br />

1. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik wäre nicht <strong>in</strong> der Lage eigene Theorien zu entwickeln. Der<br />

Begriff „Theorie“ ist nicht Bestandteil des konstruktionsorientierten Forschungsansatzes.<br />

Aufgabe des konstruktionsorientierten Forschers ist es IT-Artefakte zu<br />

entwickeln, nicht jedoch Theorien über diese zu bilden.<br />

41


2. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik könnte ke<strong>in</strong>en eigenen, sie von anderen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

differenzierenden Theoriekern herausbilden. Gemäß des komplementären Charakters<br />

der zwei Paradigmen nach Hevner et al. könnte die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik, wenn<br />

überhaupt, die Konstruktion von IT-Artefakten nur auf Basis von Theorien<br />

angrenzender Forschungsgebiete wissenschaftlich begründen. Sie könnte sich von<br />

anderen Diszipl<strong>in</strong>en daher nicht durch e<strong>in</strong>en orig<strong>in</strong>ären Theoriekern abgrenzen,<br />

sondern nur durch Ihren Betrachtungsgegenstand, welcher durch den Fokus auf<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationssysteme <strong>in</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> Verwaltung<br />

charakterisiert ist.<br />

3. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik würde auf e<strong>in</strong>en Ausbildungsstudiengang reduziert werden.<br />

Das Fehlen e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns sowie das nicht vorhandene Bestreben e<strong>in</strong>en<br />

solchen zu entwickeln, würde die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik gemäß der meisten Wissenschaftsbegriffe<br />

nicht als Wissenschaft qualifizieren (vgl. Balzer (1997), S. 11ff.;<br />

Carnap (1932), S. 432ff.). Die durch die Diszipl<strong>in</strong> erreichte Durchdr<strong>in</strong>gung deutscher<br />

Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten würde sie zwar als Studiengang nicht gegenstandlos<br />

machen gleichwohl aber auf ihren Ausbildungsaspekt reduzieren.<br />

Alternativ wäre es möglich, die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik sowohl dem behavioristischen als auch<br />

dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzurechnen. Dies hätte die folgenden Konsequenzen:<br />

1. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik müsste sich deutlich stärker als bislang an der angloamerikanischen<br />

Information Systems Forschung orientierten <strong>und</strong> deren positivistisch<br />

geprägten, quantitativen Forschungsansatz <strong>in</strong>tegrieren. In der angloamerikanischen<br />

Information Systems Forschung machen quantitative Verfahren e<strong>in</strong>en signifikanten<br />

Teil der wissenschaftlichen Arbeit bezüglich des behavioristischen Paradigmas aus<br />

(vgl. Galliers; Land (1987), S. 900; M<strong>in</strong>gers (2001), S. 240, Orlikowski; Baroudi<br />

(1991), S. 7). Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik ist primär durch den konstruktionsorientierten<br />

Ansatz geprägt. E<strong>in</strong>e Verschiebung des Forschungsschwerpunkts der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

würde die <strong>in</strong>haltliche Neuausrichtung von Lehrplänen, Konferenzen <strong>und</strong><br />

Zeitschriften im deutschsprachigen Raum notwendig machen <strong>und</strong> die wissenschaftliche<br />

Positionierung der Diszipl<strong>in</strong> nachhaltig bee<strong>in</strong>flussen 1 .<br />

1 Zu beurteilen, ob e<strong>in</strong>e Verlagerung des thematischen <strong>und</strong> methodischen Schwerpunkts des Faches s<strong>in</strong>nvoll<br />

ersche<strong>in</strong>t, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Hier wird nur gefragt ob dies für die Diszipl<strong>in</strong> notwendig ist, um<br />

e<strong>in</strong>en eigenen Theoriekern herausbilden zu können.<br />

42


2. E<strong>in</strong> starker Fokus auf behavioristische Forschungsaspekte würde die Gefahr des<br />

Verlustes des Praxisbezugs implizieren. In der Information Systems Forschung wird<br />

der rigorose E<strong>in</strong>satz statistischer Methoden unter Vernachlässigung der<br />

Anwendbarkeit des Forschungsresultats bereits seit längerem kritisch reflektiert (vgl.<br />

Lee (1999)). E<strong>in</strong>e Übernahme des behavioristischen Paradigma <strong>in</strong> die<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik müsste daher mit der Förderung des praktischen Bezugs der<br />

Forschungsergebnisse durch e<strong>in</strong>en situationsadäquaten E<strong>in</strong>satz qualitativer <strong>und</strong><br />

quantitativer Forschungsmethoden e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Sowohl die Beschränkung auf das konstruktionsorientierte Paradigma, wie auch die<br />

Integration beider Forschungsansätze <strong>in</strong> die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik haben nachhaltige Folgen<br />

für das wissenschaftliche Selbstverständnis des Fachs. Während die erste Alternative e<strong>in</strong>e<br />

Beschränkung des wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> impliziert, hat die zweite<br />

Alternative e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Neuausrichtung der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zur Folge. Die Konsequenzen<br />

dieser beiden Alternativen dienen als Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e kritische wissenschaftstheoretische<br />

Prüfung der Dichotomie zwischen behavioristischer <strong>und</strong> konstruktionsorientierter<br />

Forschung.<br />

Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird wie folgt vorgegangen: Im nächsten Abschnitt<br />

erfolgt e<strong>in</strong>e genaue Untersuchung der Interdependenzen zwischen dem behavioristischen <strong>und</strong><br />

dem konstruktionsorientierten Paradigma anhand des Theoriebegriffs. Es wird exemplarisch<br />

anhand e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells gezeigt, dass die Behauptung e<strong>in</strong>er Dichotomie<br />

zwischen beiden Paradigmen nicht aufrechtzuerhalten ist. Im dritten Abschnitt dieses Beitrags<br />

wird daher e<strong>in</strong>e alternative Interpretation der Unterscheidung zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />

konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Rollenkonzepts entwickelt, die nicht zu<br />

den zuvor kritisierten Widersprüchen führt. Dieser Beitrag schließt mit e<strong>in</strong>er<br />

Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Ausblick auf weiteren<br />

Forschungsbedarf.<br />

IT-Artefakte <strong>und</strong> Theorien<br />

Im letzten Abschnitt wurde bereits beschrieben, dass es sich bei dem behavioristischen (BP)<br />

<strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten Paradigma (KP) nach Hevner et al. um zwei von e<strong>in</strong>ander<br />

verschiedene, komplementäre Ansätze der Information Systems (IS) Forschung handelt. In<br />

extensionaler Schreibweise lässt sich dies wie folgt darstellen:<br />

(A1)<br />

BP ∩ KP =<br />

∅<br />

43


(A2)<br />

BP ∪ KP =<br />

IS<br />

Forschungsergebnis des konstruktionsorientierten Paradigma s<strong>in</strong>d IT-Artefakte. Das behavioristische<br />

Paradigma beschäftigt sich h<strong>in</strong>gegen mit Theorien. Formal kann man dies wie<br />

folgt ausdrücken:<br />

(A3)<br />

T ⊂<br />

P<br />

(A4)<br />

A ⊂ KP<br />

Inhaltliche Überlegungen haben im letzten Abschnitt zu der Folgerung geführt, dass es sich<br />

bei Theorien (T) sowie Artefakten (A) gemäß Hevner et al. um disjunkte Mengen handeln<br />

muss. Formal ausgedrückt heißt dies:<br />

(A5)<br />

A ∩ T<br />

= ∅<br />

Wäre (A5) falsch, würde gelten: ∃ x ∈ A : x ∈T<br />

. Aus (A3) <strong>und</strong> (A4) würde folgen:<br />

∃ x ∈ KP : x ∈ BP . Dies wiederum wäre e<strong>in</strong> Verstoß gegen (A1). Die Aussage (A1) gilt also<br />

genau dann, wenn Behauptung (A5) korrekt ist.<br />

Um zu widerlegen, dass BP <strong>und</strong> KP zwei disjunkte Forschungsansätze darstellen, reicht es aus<br />

zu zeigen, dass e<strong>in</strong> Artefakt x existiert, welches gleichzeitig den Charakter e<strong>in</strong>er Theorie<br />

besitzt.<br />

Die IT-Artefakte Sprachen, Modelle <strong>und</strong> Implementierungen, wie sie im konstruktionsorientierten<br />

Paradigma benannt werden, s<strong>in</strong>d wohl def<strong>in</strong>ierte Begriffe <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik <strong>und</strong> der Information Systems Diszipl<strong>in</strong> (vgl. Becker et al. (2001), S.<br />

8f.; Shanks; Tansley; Weber (2003), S. 85; Stachowiak (1973), S. 322f.; Wand et al. (1995),<br />

S. 286). Über ihre gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung <strong>und</strong> Verwendung besteht e<strong>in</strong> breiter Konsens.<br />

Der Begriff Methode ist <strong>in</strong> der wissenschaftlichen Diskussion stärker umkämpft, wobei auch<br />

hier e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Gr<strong>und</strong>verständnis darüber herrscht, dass es sich bei e<strong>in</strong>er Methode um<br />

e<strong>in</strong> planmäßiges Vorgehen zur Erreichung von bestimmen Zielen handelt (vgl. Chroust<br />

(1992), S. 50; Wand; Weber (2002), S. 364). Man kann davon ausgehen, dass sich Hevner<br />

et al. mit ihrer Verwendung des Begriffs IT-Artefakt auf dieses allgeme<strong>in</strong>e Verständnis<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft beziehen. Wäre dies nicht der Fall, so würde es sich<br />

bei dem Vorschlag von Hevner et al. um e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> normatives Konstrukt handeln, ohne Bezug<br />

zur Forschungspraxis. Bei der <strong>in</strong>haltlichen Prüfung des Begriffs «IT-Artefakt», «Sprache»,<br />

«Methode», «Modell», «Implementierung» wird aus diesem Gr<strong>und</strong> auf die e<strong>in</strong>schlägige<br />

Literatur zurückgegriffen.<br />

44


Der Begriff «Theorie», aus dem behavioristischen Paradigma, ist im Kontext der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

sowie der Information Systems Diszipl<strong>in</strong> weniger stark belegt (vgl. Metacalfe<br />

(2004)). Hevner et al. verstehen unter e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>e auf Pr<strong>in</strong>zipien beruhende Erklärung<br />

für Phänomene (vgl. Hevner et al. (2004), S. 80). Diese Def<strong>in</strong>ition ist im Vergleich zu den<br />

Theoriekonzeptionen aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie nur wenig ausgearbeitet. Um<br />

dem Vorwurf e<strong>in</strong>er Fehldeutung des Theoriebegriffs bei Hevner et al. zu begegnen, werden<br />

daher für die Analyse des Gebrauchs des Begriffs «Theorie» zwei Fälle unterschieden:<br />

(F1)<br />

(F2)<br />

E<strong>in</strong>erseits wird geprüft, ob die Aussage (A1) hält, wenn Hevner et al. den<br />

Theoriebegriff eigens für das behavioristische Paradigma def<strong>in</strong>ieren, also <strong>in</strong> normativer<br />

Weise nutzen.<br />

Andererseits wird untersucht, was bezüglich der Richtigkeit von Aussage (A1)<br />

folgt, wenn Hevner et al. den Theoriebegriff nur referenziell verwenden <strong>und</strong> sich<br />

<strong>in</strong> Ihren Überlegungen auf e<strong>in</strong> wissenschaftstheoretisch etabliertes Theorieverständnis<br />

beziehen. Für e<strong>in</strong> derartiges Theorieverständnis wird im Rahmen dieses<br />

Beitrags auf den Strukturalismus zurückgegriffen.<br />

Um den ersten Weg (F1) zu beschreiten ist es erforderlich, die Theoriekonzeption von Hevner<br />

et al. e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Prüfung zu unterziehen. Der Theoriebegriff von Hevner et al. enthält<br />

zwei konstituierende Elemente. E<strong>in</strong>erseits ist e<strong>in</strong>e Theorie e<strong>in</strong>e Erklärung für etwas.<br />

Andererseits beruht die Theorie auf Pr<strong>in</strong>zipien. Um (A1) zu widerlegen gilt es nun e<strong>in</strong> IT-<br />

Artefakt zu f<strong>in</strong>den, für welches sich diese beiden Aussagen ebenfalls als zutreffend erweisen.<br />

Modelle können unter anderem <strong>in</strong> Beschreibungs- <strong>und</strong> Erklärungsmodelle unterteilt werden<br />

(vgl. Strahr<strong>in</strong>ger (1996), S. 21ff). Erklärungsmodelle, die auf Beschreibungsmodellen aufbauen,<br />

dienen dazu, generalisierte Aussagen über die beschriebenen realen Sachverhalte zu<br />

liefern. In e<strong>in</strong>em Reorganisationsprojekt könnte es sich dabei beispielsweise um e<strong>in</strong><br />

Wirtschaftlichkeitskalkül handeln, was auf Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>es Geschäftsprozessmodells anwendbar<br />

ist <strong>und</strong> erklärt, wieso die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es bestimmten Anwendungssystems zu<br />

Effizienzsteigerungen führen wird. E<strong>in</strong>e solche Modellierung wird im Allgeme<strong>in</strong>en methodisch<br />

unterstützt durchgeführt <strong>und</strong> basiert auf Pr<strong>in</strong>zipien, wie dem der Abstraktion oder der<br />

Strukturierung (vgl. Balzert (1998), S. 558ff). Daher erfüllt e<strong>in</strong> auf Basis von Pr<strong>in</strong>zipien<br />

erstelltes Erklärungsmodell die Anforderungen an e<strong>in</strong>e Theorie nach Hevner et al. E<strong>in</strong> solches<br />

Modell bzw. e<strong>in</strong>e derartige Theorie ist daher sowohl dem konstruktionsorientierten als auch<br />

dem behavioristischen Paradigma zuzuordnen.<br />

45


Falls Hevner et al. ihren Theoriebegriff also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em normativen S<strong>in</strong>ne gebrauchen, so ist die<br />

Gr<strong>und</strong>annahme der Disjunktheit der beiden Paradigmen (A1) nicht haltbar. Mit dem zweiten<br />

Fall (F2), also der Referenzierung e<strong>in</strong>es etablierten Theorieverständnisses, beschäftigt sich der<br />

nächste Abschnitt.<br />

Konzeptionelle Modelle <strong>und</strong> Theorien<br />

In diesem Abschnitt werden zunächst die Gr<strong>und</strong>konzepte des Strukturalismus vorgestellt, der<br />

exemplarisch als e<strong>in</strong> verbreiteter wissenschaftstheoretischer Ansatz beschrieben wird.<br />

Anschließend wird der Versuch unternommen, e<strong>in</strong> konzeptionelles Modell aus strukturalistischer<br />

Sicht als Theorie zu rekonstruieren.<br />

Die wissenschaftstheoretische Konzeption des Strukturalismus<br />

Die wissenschaftstheoretische Konzeption des Strukturalismus entstand im Jahr 1971 mit<br />

John Sneeds Buch „Logical Structure of Mathematical Physics“ (vgl. Sneed (1971)). Seither<br />

hat sich der Strukturalismus mit mehr als 700 Publikationen zu e<strong>in</strong>em gut etablierten <strong>und</strong> breit<br />

e<strong>in</strong>gesetzten Ansatz zur Beschreibung von Theorien entwickelt (für e<strong>in</strong>e detaillierte<br />

Bibliographie vgl. Diederich; Ibara; Mormann (1989); Diederich; Ibara; Mormann (1994)).<br />

Im Rahmen dieses Beitrags können nur e<strong>in</strong>ige Gr<strong>und</strong>konzepte des Strukturalismus vorgestellt<br />

werden. Die Darstellungen stützen sich hauptsächlich auf Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987).<br />

Der Strukturalismus nutzt e<strong>in</strong>e spezifische Menge an Konstrukten um die <strong>in</strong>nere Struktur der<br />

Wissenschaft abzubilden. Wissenschaft wird dabei als e<strong>in</strong> komplexes Netzwerk aus<br />

vone<strong>in</strong>ander abhängigen Theorien betrachtet. Als e<strong>in</strong>fachste Form e<strong>in</strong>er Theorie wird das<br />

Theorieelement angesehen. E<strong>in</strong> Theorieelement T setzt sich aus e<strong>in</strong>em Theoriekern K <strong>und</strong> den<br />

<strong>in</strong>tendierten Anwendungen I der Theorie zusammen ( T = K( T ), I(<br />

T ) ). Die <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungen beschreiben den empirisch relevanten Realweltausschnitt, auf den der<br />

Theoriekern zutreffen soll. Der Theoriekern ist wiederum aus der Menge der potentiellen<br />

Modelle 2 M p (T) der Theorie, aus der Menge der Modelle M(T) der Theorie, aus der Menge der<br />

partiell potentiellen Modelle M pp (T) der Theorie sowie dem globalen L<strong>in</strong>k GL(T) der Theorie<br />

2 Der Begriff „Modell“ bezieht sich im Rahmen des Strukturalismus auf den semantischen Modellbegriff (vgl.<br />

Moul<strong>in</strong>es (2002), S. 1). Dieser ist vom Begriff des konzeptionellen Modells zu unterscheiden, wie er <strong>in</strong> der<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik verwendet wird. Gemäß der noch folgenden Ausführungen kann e<strong>in</strong> semantisches Modell<br />

als Interpretation (Belegung) e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells aufgefasst werden.<br />

46


zusammengesetzt 3 ( K( T ) = M ( T ), M ( T ), M ( T ), GL(<br />

T ) ). Tabelle 3 erläutert die Bestandteile<br />

des Theoriekerns näher.<br />

p<br />

pp<br />

M p (T)<br />

M(T)<br />

M pp (T)<br />

GL(T)<br />

Die Menge der potentiellen Modelle e<strong>in</strong>er Theorie beschreibt diejenigen<br />

Phänomene, für die es plausibel ersche<strong>in</strong>t zu fragen, ob die Theorie auf sie<br />

pr<strong>in</strong>zipiell zutreffen kann. Die potentiellen Modelle müssen somit ausschließlich<br />

den term<strong>in</strong>ologischen Apparat e<strong>in</strong>er Theorie erfüllen. Man kann die potentiellen<br />

Modelle daher auch als formale Charakterisierung der begrifflichen<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Theorie auffassen.<br />

Die Menge der Modelle e<strong>in</strong>er Theorie charakterisiert diejenigen Phänomene, auf<br />

welche die Theorie wirklich zutrifft. Die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie müssen sowohl<br />

deren term<strong>in</strong>ologischen Apparat als auch deren gesetzartigen Aussagen erfüllen.<br />

Die Menge der partiell potentiellen Modelle e<strong>in</strong>er Theorie geht aus der Menge<br />

der potentiellen Modelle hervor, <strong>in</strong>dem die T-theoretischen Konstrukte aus dem<br />

term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie entfernt werden. T-theoretischen<br />

Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie s<strong>in</strong>d genau die Größen oder Funktionen, deren Werte<br />

sich nicht bestimmen lassen, ohne auf die Theorie T selbst zurückzugreifen.<br />

Der globale L<strong>in</strong>k beschreibt diejenige Teilmenge der potentiellen Modelle<br />

( L( T ) ⊆ M<br />

p<br />

( T ) ), die alle <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>er Theorie erfüllt. E<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>tertheoretischer L<strong>in</strong>k stellt e<strong>in</strong>e Beziehung zwischen den term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparaten zweier Theorien her. Die <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks erklären, aus<br />

welcher anderen Theorie die T-nicht-theoretischen Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie T<br />

stammen. Durch <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks ist es möglich, Beziehungen zwischen<br />

Theorien <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es semantischen Netzwerks aufzubauen.<br />

Tabelle 3: Bestandteile e<strong>in</strong>es Theoriekerns<br />

Strukturalistische Rekonstruktion e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells<br />

Gr<strong>und</strong>lage der strukturalistischen Rekonstruktion bildet das konzeptionelle Modell, welches<br />

<strong>in</strong> Abbildung 1 dargestellt ist. Dieses Modell ist <strong>in</strong> der Sprache des Entity Relationsship<br />

Modells (ERM) formuliert <strong>und</strong> repräsentiert die Beziehung zwischen e<strong>in</strong>er Person <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Adresse auf e<strong>in</strong>em deutschen Hotelmeldebogen. Das Modell gibt an, dass e<strong>in</strong>er Person<br />

höchstens e<strong>in</strong>e Adresse zugeordnet werden kann, während e<strong>in</strong>e Adresse zu m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er<br />

Person gehören muss.<br />

Abbildung 1: Konzeptionelles Modell zum Hotelmeldebogen<br />

3 Auf die Betrachtung von Constra<strong>in</strong>ts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Approximations-Apparats wird im Rahmen dieses Beitrags<br />

verzichtet.<br />

47


Im Strukturalismus werden Theorien durch <strong>in</strong>formelle mengentheoretische Prädikate<br />

axiomatisiert. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>formelles mengentheoretisches Prädikat bildet e<strong>in</strong>e logische Konjunktion<br />

von Axiomen (vgl. Stegmüller (1973), S. 39f.). Diese Axiome dürfen sowohl durch formelle<br />

als auch durch <strong>in</strong>formelle sprachliche Mittel beschrieben se<strong>in</strong>.<br />

Die Rekonstruktion des konzeptionellen Modells zum Hotelmeldebogen (HMB) beg<strong>in</strong>nt mit<br />

der Beschreibung der potentiellen Modelle, welche die begrifflichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

von HMB erfüllen. Die Menge der potentiellen Modelle von HMB lässt sich wie folgt<br />

darstellen:<br />

M p (HMB): x ist e<strong>in</strong> potentielles Modell des Hotelmeldebogenmodells ( x ∈ M (HMB)<br />

) genau<br />

dann, wenn es e<strong>in</strong> P, A <strong>und</strong> z gibt, sodass gilt:<br />

(1) x = P,<br />

A,<br />

z ;<br />

(2) P ist e<strong>in</strong>e endliche Menge;<br />

(3) A ist e<strong>in</strong>e endliche Menge;<br />

(4) z ist e<strong>in</strong>e Relation mit: z ⊆ P × A.<br />

Die beabsichtigte Interpretation dieses mengentheoretischen Prädikats lautet: P ist e<strong>in</strong>e<br />

Menge von Personen, A ist e<strong>in</strong>e Menge von Adressen, z ist e<strong>in</strong>e Relation die angibt, welche<br />

Adresse e<strong>in</strong>er Person zugeordnet ist.<br />

Um zu den Modellen von HMB zu gelangen, wird die Menge der potentiellen Modelle<br />

e<strong>in</strong>geschränkt ( M ( HMB)<br />

⊆ M ( HMB)<br />

), <strong>in</strong> dem man zusätzlich zu den term<strong>in</strong>ologischen<br />

p<br />

Axiomen weitere (gesetzgebende) Aussagen ergänzt. Die Menge der Modelle von HMB kann<br />

<strong>in</strong> Anlehnung an Fettke; Loos (2005) folgendermaßen dargstellt werden:<br />

M(HMB): x ist e<strong>in</strong> Modell des Hotelmeldebogenmodells ( x M (HMB)<br />

) genau dann, wenn<br />

es e<strong>in</strong> P, A <strong>und</strong> z gibt, so dass gilt:<br />

(1) x = P,<br />

A,<br />

z ;<br />

(2) x ∈ M (HMB)<br />

;<br />

p<br />

(3) ∀ p ∈ P ( ∃!<br />

a ∈ A : ( p,<br />

a)<br />

∈ z) ∨ ( ¬∃a<br />

∈ A : ( p,<br />

a)<br />

∈ z)<br />

: ;<br />

(4) ∀ a ∈ A : ∃p<br />

∈ P : ( p,<br />

a)<br />

∈ z .<br />

p<br />

48


Axiom (3) gibt an, dass e<strong>in</strong>er Person höchstens e<strong>in</strong>e Adresse zugeordnet werden darf. Axiom<br />

(4) bestimmt, dass jede Adresse m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Person zugeordnet se<strong>in</strong> muss. Diese beiden<br />

Axiome bilden <strong>in</strong> konjunktiver Verknüpfung das F<strong>und</strong>amentalgesetz von HMB <strong>und</strong><br />

repräsentieren damit gleichzeitig den nomothetischen (gesetzgebenden) Anspruch des<br />

konzeptionellen Modells HMB.<br />

Vor der Rekonstruktion der partiell potentiellen Modelle von HMB muss der theoretische<br />

Status von P, A sowie z geklärt werden. Dies ist erforderlich, da sich M pp (HMB) durch<br />

Elim<strong>in</strong>ation der HMB-theoretischen Konstrukte aus M p (HMB) ergibt. Dazu wird zunächst<br />

angenommen, dass P, A <strong>und</strong> z HMB-theoretisch s<strong>in</strong>d mit dem Ziel, e<strong>in</strong>en Widerspruch<br />

herbeizuführen. Wären P, A <strong>und</strong> z HMB-theoretisch, so würde das konzeptionelle Modell<br />

HMB die Bedeutung der Begriffe «Person», «Adresse» sowie der (universellen) semantischen<br />

Relation «ist zugeordnet» <strong>in</strong> solipsistischer Weise festsetzen <strong>und</strong> jeden Bezug zu e<strong>in</strong>em<br />

bestehenden Begriffsverständnis negieren. Folglich würde HMB ke<strong>in</strong>erlei deskriptiven<br />

Anspruch <strong>in</strong> sich tragen, sondern wäre re<strong>in</strong> normativer Natur. Da jedes konzeptionelle Modell<br />

per Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong> Beschreibungsmodell darstellt, führt e<strong>in</strong>e derartige Interpretation zu e<strong>in</strong>em<br />

offensichtlichen Widerspruch (vgl. Strahr<strong>in</strong>ger (1996), S. 22; Wand et al. (1995), S. 286). Es<br />

wird daher davon ausgegangen, dass sowohl P, A wie auch z HMB-nicht-theoretische<br />

Konstrukte s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> sich für diese Elemente geeignete <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks f<strong>in</strong>den lassen.<br />

Etwas formaler ausgedrückt wird angenommen, dass sich der Wahrheitswert von<br />

p ∈ P ∨ a ∈ A ∨ p, a ∈ z für die Objekte p, a bzw. e<strong>in</strong> Paar von Objekten p, a unabhängig<br />

davon bestimmen lässt, ob bereits e<strong>in</strong>e Anwendung zu HMB vorliegt.<br />

Bevor der globale L<strong>in</strong>k GL(HMB) des konzeptionellen Modells beschrieben werden kann, ist<br />

e<strong>in</strong> kurzer Exkurs erforderlich, <strong>in</strong> dem die strukturalistische Notation der <strong>in</strong>tertheoretischen<br />

L<strong>in</strong>ks beleuchtet wird. E<strong>in</strong> (konkreter) <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>k im Strukturalismus verlangt,<br />

dass die beiden mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung stehenden Theorien bereits vollständig rekonstruiert<br />

wurden (vgl. Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987), S. 61) . Im Fall von konzeptionellen Modellen<br />

erweist sich dieser Umstand als unzweckmäßig, da noch ke<strong>in</strong> Bestand an strukturalistisch<br />

beschriebenen Basistheorien vorliegt. Die strukturalistische Darstellung e<strong>in</strong>es konzeptionellen<br />

Modells würde daher zunächst die Rekonstruktion der verwendeten Fachsprache sowie deren<br />

strukturalistische Explikation erfordern. Da für viele Domänen bereits Vorschläge für e<strong>in</strong>e<br />

Referenzterm<strong>in</strong>ologie unterbreitet wurden, ist e<strong>in</strong>e erneute Explikation der Fachsprache aus<br />

m<strong>in</strong>destens den folgenden beiden Gründen nicht zweckmäßig:<br />

49


1. Ontologien, Fachbegriffs- <strong>und</strong> Referenzmodelle beziehen e<strong>in</strong>en Großteil ihres<br />

Nutzenspotentials aus ihrer Standard setzenden Wirkung. Die Explikation e<strong>in</strong>er, wenn<br />

auch nur syntaktisch veränderten Konzeptionalisierung derselben Domäne, würde<br />

diesem standardisierenden Effekt entgegenwirken.<br />

2. Die Erfassung <strong>und</strong> Beschreibung der Fachsprache e<strong>in</strong>er Anwendungsdomäne <strong>in</strong> Form<br />

e<strong>in</strong>er Ontologie, e<strong>in</strong>es Fachbegriffs- oder Referenzmodells ist e<strong>in</strong> aufwendiger<br />

Vorgang. Aus ökonomischen Gesichtspunkten ersche<strong>in</strong>t es daher angezeigt, auf e<strong>in</strong>e<br />

erneute Rekonstruktion zu der Domänensprache zu verzichten <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong>e<br />

vorhandene Konzeptionalisierung zurückzugreifen.<br />

Die <strong>in</strong> der strukturalistischen Notation des <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks vorhandene Indexierung<br />

der Axiome wird daher durch die Verwendung e<strong>in</strong>es Uniform Resource Identifiers (URI)<br />

ersetzt (vgl. The Internet Society (2005)). Durch diesen Mechanismus können bereits<br />

vorhandene Ontologien durch e<strong>in</strong> strukturalistisch rekonstruiertes konzeptionelles Modell<br />

referenziert werden.<br />

Der globale L<strong>in</strong>k von GL(HMB) hat <strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller Schreibweise die folgende Gestalt:<br />

⎧x<br />

= P,<br />

A,<br />

z ∈ M<br />

p<br />

( HMB)<br />

⎪<br />

P referenziert PERS:Person,<br />

GL(<br />

HMB)<br />

= ⎨ A referenziert ADDR:Address,<br />

⎪ z referenziert UMLS:Associated_With.<br />

⎪<br />

⎩<br />

⎫<br />

⎪<br />

⎬<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎭<br />

PERS, ADDR <strong>und</strong> UMLS stehen für die <strong>in</strong> Tabelle 4 bezeichneten URIs, die jeweils e<strong>in</strong>e<br />

Ontologie referenzieren.<br />

ADDR<br />

UMLS<br />

http://daml.umbc.edu/ontologies/ittalks/address<br />

http://www.tridedalo.com.br/2003/07/umls/<br />

Tabelle 4: URIs zu Ontologien<br />

Da weder P, A noch z HMB-theoretischer Natur s<strong>in</strong>d, ergeben sich die partiell potentiellen<br />

Modelle von HMB wie folgt:<br />

M pp (HMB): y ist e<strong>in</strong> partiell potentielles Modell des Hotelmeldebogenmodells<br />

( y ∈ M (HMB)) genau dann, wenn e<strong>in</strong> x = P, A,<br />

z ∈ M ( HMB)<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> y = P,<br />

A,<br />

z<br />

pp<br />

existieren.<br />

p<br />

50


Da nun alle Bestandteile des Theoriekerns von HMB rekonstruiert wurden, kann dessen<br />

Gestalt wie folgt angegeben werden:<br />

K( HMB)<br />

= M ( HMB),<br />

M ( HMB),<br />

M ( HMB),<br />

GL(<br />

HMB)<br />

p<br />

pp<br />

Das konzeptionelle Modell zum Hotelmeldebogen kann somit folgendermaßen als Theorieelement<br />

dargestellt werden werden:<br />

T ( HMB)<br />

= K(<br />

HMB),<br />

I(<br />

HMB)<br />

, wobei die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen I(HMB) deutsche<br />

Hotelmeldebögen s<strong>in</strong>d, auf denen Personen mit deren Adresse erfasst werden.<br />

HMB hat empirischen Gehalt, da partiell potentielle Modelle von HMB existieren, die sich<br />

nicht zu e<strong>in</strong>em Modell von HMB ergänzen lassen (vgl. Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987),<br />

S. 92). Beispielsweise werden bei der Ummeldung des Hauptwohnsitzes e<strong>in</strong>er Person mehrere<br />

Adressen, nämlich auch alle Nebenwohnsitze, erfasst.<br />

Damit ist die Rekonstruktion von HMB als Theorieelement <strong>und</strong> damit als elementarste Form<br />

e<strong>in</strong>er Theorie im S<strong>in</strong>ne des Strukturalismus abgeschlossen. Gleichzeitig wurde auch für den<br />

Fall (F2) gezeigt, also falls sich Hevner et al. <strong>in</strong> Ihren Ausführungen implizit auf das Theoriekonzept<br />

des Strukturalismus beziehen sollten, dass Annahme (A1) nicht haltbar ist.<br />

Man könnte nun versuchen (A1) zu retten, <strong>in</strong>dem man argumentiert, dass HMB ke<strong>in</strong>e<br />

adäquate Repräsentation des ursprünglichen konzeptionellen Modells darstellt, da HMB<br />

ke<strong>in</strong>en Bezug auf die Modellierungssprache ERM mehr be<strong>in</strong>haltet. Diesem Vorwurf liegt die<br />

Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass die verwendete Modellierungssprache die Bedeutung des<br />

konzeptionellen Modells maßgeblich bee<strong>in</strong>flusst (vgl. Pfeiffer; Niehaves (2005)). Dieses<br />

Argument kann entkräftet werden, <strong>in</strong>dem man den term<strong>in</strong>ologischen Apparat von HMB<br />

zusätzlich um Axiome der Form „X ist e<strong>in</strong> Entity-Typ“ oder „X ist e<strong>in</strong> Relationsship-Typ“<br />

ergänzt. Ähnlich wie dies für die Fachsprache hier demonstriert wurde, könnte man auch für<br />

die Modellierungssprache <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks formulieren <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>en Bezug zur<br />

Sprache ERM herstellen.<br />

Es wäre zudem möglich, gegen die Widerlegung von (A1) e<strong>in</strong>zuwenden, dass sich Hevner<br />

et al. im Fall (F2) nicht auf den Strukturalismus beziehen, sondern auf e<strong>in</strong>e<br />

wissenschaftstheoretische Konzeption XY, die per Def<strong>in</strong>ition die Begriffe IT-Artefakt <strong>und</strong><br />

Theorie als disjunkt ansieht. In diesem Fall müsste zunächst der Nachweis erbracht werden,<br />

dass sich e<strong>in</strong>e solche Konzeption XY überhaupt konsistent vertreten lässt. Sie müsste dem<br />

Vorwurf begegnen, dass die Erstellung von Theorien e<strong>in</strong> kreativer Vorgang ist, bei dem sich<br />

51


die Methoden des konstruktiven Paradigma als nützliches Hilfsmittel erweisen (vgl. Hooker<br />

(2004), S. 75). Die Entkräftung dieses Arguments dürfte schwer fallen, da sich diese Kritik<br />

ebenfalls direkt gegen Annahme (A1) richtet, diesmal jedoch nicht auf Ebene der<br />

Forschungsergebnisse (IT-Artefakte, Theorien), sondern auf Ebene der Forschungsmethoden.<br />

Es wurde <strong>in</strong> den letzten beiden Abschnitten gezeigt, dass im Fall (F1) Erklärungsmodelle die<br />

Rolle von Theorien e<strong>in</strong>nehmen können <strong>und</strong> sich im Fall (F2) e<strong>in</strong>e spezielle Klasse der<br />

Beschreibungsmodelle, die konzeptionellen Modelle, als Theorien <strong>in</strong>terpretieren lassen.<br />

Dadurch wurde Annahme (A1) widerlegt die besagt, dass es sich bei dem behavioristischen<br />

<strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten Paradigma um zwei disjunkte Forschungsansätze handelt.<br />

Für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik haben die identifizierten Überlappungen zwischen dem<br />

konstruktionsorientierten <strong>und</strong> dem behavioristischen Paradigma die folgenden Konsequenzen:<br />

1. Für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik besteht gr<strong>und</strong>sätzlich die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en eigenen<br />

Theoriekern herauszubilden. Auch wenn die Forschungsarbeit der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

hauptsächlich dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzurechnen ist, so<br />

ist sie doch <strong>in</strong> der Lage Theorien zu entwickeln. Es besteht die Möglichkeit, dass sich<br />

diese Theorien <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns verdichten lassen.<br />

2. Um e<strong>in</strong>en Theoriekern herauszubilden ist es für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik nicht<br />

zw<strong>in</strong>gend erforderlich, den behavioristischen Forschungsansatz zu <strong>in</strong>tegrieren. Da die<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik auch im Rahmen des konstruktionsorientierten Paradigma<br />

Theorien entwickeln kann, ist e<strong>in</strong>e Übernahme von Forschungsmethoden <strong>und</strong><br />

Lehr<strong>in</strong>halten des behavioristischen Paradigma nicht ausschlaggebend, um e<strong>in</strong>en<br />

orig<strong>in</strong>ären Theoriekern zu entwickeln 4 .<br />

Synthese der Forschungsansätze<br />

Es wurde im letzten Abschnitt gezeigt, dass sich die These (A1) von Hevner et al. nicht halten<br />

lässt. Annahme (A1) geht davon aus, dass sich der behavioristische <strong>und</strong> der konstruktionsorientierte<br />

Forschungsansatz zue<strong>in</strong>ander disjunkt verhalten. Es wird daher vorgeschlagen<br />

Annahme (A1) unter Beibehaltung von (A2) wie folgt zu modifizieren:<br />

(A1') ( BP ∩ KP ⊂ BP)<br />

∧ ( BP KP ⊂ KP)<br />

4 Ob es andere Gründe für e<strong>in</strong>e Übernahme von Forschungsmethoden <strong>und</strong> Lehr<strong>in</strong>halten aus der Information<br />

Systems Diszipl<strong>in</strong> gibt, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.<br />

52


These (A1') lässt zwar Überschneidungen zwischen den beiden Forschungsansätzen zu, betont<br />

jedoch auch gleichzeitig die Unterschiede, die zwischen den zwei Konzeptionen bestehen. Die<br />

Widerlegung von These (A1) hat daher nicht zur Konsequenz, dass der behavioristische <strong>und</strong><br />

der konstruktionsorientierte Forschungsansatz zusammenfallen. Die behavioristische Forschungskonzeption<br />

geht primär der Frage nach, wie sich organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche<br />

Phänomene r<strong>und</strong> um IT-Artefakte erklären <strong>und</strong> vorhersagen lassen. Gegenstand<br />

des konstruktionsorientierten Forschungsansatzes ist h<strong>in</strong>gegen vorrangig die Entwicklung von<br />

Problem beschreibenden <strong>und</strong> Problem lösenden Artefakten im Rahmen der Informationssystementwicklung.<br />

Die Überlappungen zwischen den beiden Ansätzen lassen sich beispielhaft<br />

wie folgt charakterisieren:<br />

1. Die behavioristische Forschung kann IT-Artefakte nutzen <strong>und</strong> entwickeln, um Aufschluss<br />

über bestimmte organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche Phänomene zu<br />

gew<strong>in</strong>nen. Zur Gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>er Hypothese über die Ursachen der Veränderung der<br />

K<strong>und</strong>enzufriedenheit vor <strong>und</strong> nach der E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er Customer Relationsship<br />

Management (CRM) Software kann es beispielsweise s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, die Schnittstellen<br />

<strong>und</strong> Abläufe zwischen den Unternehmen <strong>und</strong> ihren K<strong>und</strong>en vor <strong>und</strong> nach der<br />

Systeme<strong>in</strong>führung jeweils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konzeptionellen Modell festzuhalten.<br />

2. Die konstruktionsorientierte Forschung kann Theorien über <strong>und</strong> für die Informationssystementwicklung<br />

nutzen <strong>und</strong> entwickeln. Es wäre beispielsweise möglich,<br />

Informationssystementwicklungsmethoden um explizite Aussagen anzureichern,<br />

welche die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Methode festlegen sowie angeben, welcher<br />

konkrete Nutzen durch den E<strong>in</strong>satz der Methode gestiftet wird (vgl. Greiffenberg<br />

(2003)). Die Aussagen dieser „theorieähnlichen Methoden“ könnten schließlich mit<br />

behavioristischen Mitteln bezüglich ihrer empirischen Angemessenheit untersucht<br />

werden.<br />

3. Es können Methoden aus der bevarioristischen Forschung e<strong>in</strong>gesetzt werden, um zu<br />

beurteilen, wie gut e<strong>in</strong> IT-Artefakt e<strong>in</strong>e bestimmte Aufgabe erfüllt. Beispielsweise<br />

könnte man die Ausführungsgeschw<strong>in</strong>digkeit e<strong>in</strong>er bestimmten Software unter unterschiedlichen<br />

E<strong>in</strong>satzszenarien <strong>und</strong> technischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen empirisch auswerten.<br />

4. Es lassen sich Methoden aus der konstruktionsorientierten Forschung verwenden, um<br />

Theorien über organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche Phänomene zu entwickeln.<br />

Beispielsweise könnte die Rekonstruktion der Fachsprache e<strong>in</strong>er Anwendungsdomäne<br />

53


wertvolle H<strong>in</strong>weise dafür liefern, wieso e<strong>in</strong>e IT-Outsourc<strong>in</strong>g Maßnahme gescheitert<br />

ist.<br />

Die identifizierten Überschneidungen zwischen den zwei Forschungsansätzen führen zu<br />

folgenden Modifikationen an den Aussagen (A3) <strong>und</strong> (A4):<br />

(A3')<br />

(A4')<br />

T ∪ A' ⊂ mit A'<br />

⊆ A<br />

A ∪ T' ⊂ KP mit T ' ⊆ T<br />

Die Thesen (A3') <strong>und</strong> (A4') sagen aus, dass IT-Artefakte mit bestimmten E<strong>in</strong>schränkungen<br />

auch im Rahmen der behavioristischen Forschungskonzeption von Interesse s<strong>in</strong>d, ebenso wie<br />

Theorien im Kontext des konstruktionsorientierten Ansatzes als Forschungsergebnisse<br />

Relevanz besitzen. Zwei sehr ähnliche Aussagen ließen sich auch für die<br />

Forschungsmethoden der beiden Ansätze formulieren. Die Konsequenzen von (A1’), (A3’)<br />

<strong>und</strong> (A4’) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Tabelle 5 dargstellt.<br />

Behavioristische<br />

Forschung<br />

Konstruktionsorientierte<br />

Forschung<br />

Forschungsfrage Wie <strong>und</strong> wieso? Was ist das Problem?<br />

Wie gut ist die Lösung?<br />

Forschungsergebnis<br />

Forschungsaktivitäten<br />

Theorien<br />

IT-Artefakte<br />

Konstruktion<br />

Überprüfung<br />

Forschungsziel Empirische Angemessenheit Nützlichkeit<br />

Tabelle 5: Synthese der Forschungsansätze<br />

Während sich die Forschungsfrage <strong>und</strong> das Forschungsziel der beiden Ansätze klar<br />

unterscheiden, s<strong>in</strong>d die Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Forschungsaktivitäten nicht e<strong>in</strong>deutig<br />

vone<strong>in</strong>ander getrennt. Dar<strong>in</strong> kommt der Umstand zum Ausdruck, dass die konstruktionsorientierte<br />

<strong>und</strong> die behavioristische Konzeption zwei eng gekoppelte, <strong>in</strong>terdependente<br />

Ansätze im Forschungskreislauf darstellen, die e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen gegenseitigen<br />

Befruchtung bedürfen.<br />

Zusammenfassung<br />

Ausgangspunkt dieses Beitrages bildete die Frage, welche Auswirkungen die Übernahme der<br />

Unterscheidung zwischen behavioristischen <strong>und</strong> konstruktionsorientierten Paradigma für die<br />

Wirtschafts<strong>in</strong>formatik impliziert. Die daraus abgeleiteten Konsequenzen, die e<strong>in</strong>e Be-<br />

54


schränkung des wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen<br />

Neuausrichtung andererseits be<strong>in</strong>halteten, motivierten zu e<strong>in</strong>er genauen Analyse der<br />

behavioristisch / konstruktionsorientiert Dichotomie. Ergebnis dieser Untersuchung war, dass<br />

diese strenge Unterscheidung <strong>in</strong> der vorliegenden Form nicht aufrechterhalten werden kann<br />

<strong>und</strong> die Kont<strong>in</strong>uität der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik bezüglich Forschungsmethodik <strong>und</strong><br />

Lehr<strong>in</strong>halten nicht zugunsten der Bildung e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns geopfert werden<br />

muss. Daraus resultierte e<strong>in</strong>e modifizierte Darstellung der beiden Forschungsansätze, die im<br />

letzten Abschnitt entwickelt wurde.<br />

Die Aufgabe der Dichotomie zwischen den zwei Ansätzen, führte im Verlauf dieses Beitrags<br />

zur Transformation der behavioristischen <strong>und</strong> konstruktionsorientierten Forschungskonzeption<br />

von disjunkten Paradigmen zu Rollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Forschungsprojekt.<br />

Aus dieser Um<strong>in</strong>terpretation folgen zwei Konsequenzen für die praktische Forschungstätigkeit<br />

des Wirtschafts<strong>in</strong>formatikers:<br />

1. Es ist für e<strong>in</strong>en Forscher nicht erforderlich sich dauerhaft zwischen e<strong>in</strong>er der beiden<br />

Konzeptionen zu entscheiden. Vielmehr kann er Forschungsmethoden <strong>und</strong><br />

Forschungsergebnisse pragmatisch nach se<strong>in</strong>em Forschungsziel wählen. Dies führt zu<br />

e<strong>in</strong>em forschungsmethodischen Pluralismus, der die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik auf<br />

fruchtbare Weise um Elemente aus der Information Systems Forschung bereichern<br />

kann.<br />

2. Trotz der für den Forscher gewonnenen Flexibilität ist die orientierungsfördernde<br />

Funktion der beiden Forschungsansätze erhalten geblieben. Möchte man Fragen nach<br />

dem Wie oder dem Wieso e<strong>in</strong>es Phänomens beantworten, so stellen Theorien <strong>und</strong><br />

deren Überprüfung den groben Rahmen der Forschung dar. Geht es h<strong>in</strong>gegen um die<br />

Lösung e<strong>in</strong>es praktisch motivierten Problems, so bildet die Konstruktion von IT-<br />

Artefakten den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Überlegungen.<br />

Die Synthese der beiden Forschungsansätze basiert auf den Interdependenzen, die zwischen<br />

IT-Artefakten <strong>und</strong> Theorien bestehen. Die Natur dieser Beziehungen genau zu explizieren ist<br />

Aufgabe weiterer Forschung. Die Bearbeitung dieser Aufgabe stellt gleichzeitig e<strong>in</strong>en Schritt<br />

<strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik dar.<br />

55


Literatur<br />

Balzer, W.: Die Wissenschaft <strong>und</strong> ihre Methoden. Freiburg 1997.<br />

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57


Markus Gmür<br />

Konvergenz oder Divergenz<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung?<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternational vergleichende bibliometrische Analyse<br />

Vortrag im Rahmen der Fachtagung der wissenschaftlichen Kommission Wissenschaftstheorie<br />

im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V.<br />

Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, 22.-23.09.2005<br />

Dr. Markus Gmür<br />

European Bus<strong>in</strong>ess School (ebs)<br />

International University Schloß Reichartshausen<br />

Lehrstuhl Organisation <strong>und</strong> Personal<br />

D-65375 Oestrich-W<strong>in</strong>kel<br />

Tel. 06723-69153<br />

e-mail: markus.gmuer@ebs.de<br />

58<br />

0


Zusammenfassung:<br />

Die Frage der Angleichung der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre an Methoden<br />

<strong>und</strong> Themen der nordamerikanisch geprägten, <strong>in</strong>ternationalen Forschung wird seit den 90er<br />

Jahren auch <strong>in</strong> der Organisationsforschung diskutiert. E<strong>in</strong>e solche auch empirisch nachvollziehbare<br />

Annäherung lässt sich aus der Perspektive verschiedener Theorien <strong>und</strong> Modelle der<br />

Entwicklung von Scientific Communities erklären: Anarchische, altruistische <strong>und</strong> funktionale<br />

Modelle legen eher e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>anderbewegung, ökonomische <strong>und</strong> <strong>in</strong>stitutionalistische<br />

Modelle eher e<strong>in</strong>e Angleichung der deutschsprachigen an die nordamerikanische Community<br />

nahe. E<strong>in</strong>e Zitations- <strong>und</strong> Kozitationsanalyse der Organisationsforschung zu Beg<strong>in</strong>n<br />

<strong>und</strong> Ende der 90er Jahren legt die Vermutung nahe, dass es <strong>in</strong> diesem Zeitraum zwar zu<br />

e<strong>in</strong>er formalen, nicht aber zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Annäherung gekommen ist.<br />

Zielsetzung der Studie<br />

Der vorliegende Beitrag wurde für die Fachtagung der wissenschaftlichen Kommission<br />

Wissenschaftstheorie 2005 unter dem Titel '<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong><br />

Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik' verfasst. Er zeigt,<br />

- wie sich Fortschritt <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />

<strong>und</strong> der deutschsprachigen Scientific Community <strong>in</strong> den 90er Jahren<br />

im direkten Vergleich manifestiert hat,<br />

- mit welchen Theorien sich die Entwicklung wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Konvergenz oder Divergenz regionaler Scientific Communities erklären<br />

lassen,<br />

- wie sich die bibliographischen Methoden der Zitations- <strong>und</strong> Kozitationsanalyse anwenden<br />

lassen, um die Entwicklung wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere die<br />

Divergenz <strong>und</strong> Konvergenz regionaler Scientific Communities zu beschreiben.<br />

Der Fortschrittsbegriff selbst wird dabei nicht gesondert thematisiert. Es wird unterstellt,<br />

dass jede Veränderung <strong>in</strong> den <strong>in</strong>haltlichen Schwerpunkten e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong><br />

Ausdruck e<strong>in</strong>es 'Fortschreitens' ist. Dieser allgeme<strong>in</strong>ere Fortschrittsbegriff ist von<br />

e<strong>in</strong>em engeren, naturwissenschaftlich geprägten Begriffsverständnis zu unterscheiden,<br />

wonach Fortschritt das fortlaufende Ersetzen von falschen durch richtige Theorien se<strong>in</strong> soll.<br />

Von e<strong>in</strong>er Stellungnahme zu der Frage, ob die betriebswirtschaftliche Organisationsforschung<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e im engeren S<strong>in</strong>ne fortschrittsfähige Diszipl<strong>in</strong> ist, wird abgesehen.<br />

59<br />

1


Organisationsforschung im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />

Zwischen 1975 <strong>und</strong> 1995 beschäftigt sich die Organisationsforschung verstärkt mit der<br />

eigenen Diszipl<strong>in</strong> im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich, ohne zu e<strong>in</strong>em abschließenden Ergebnis<br />

gelangt zu se<strong>in</strong>. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob zwischen den e<strong>in</strong>zelnen regionalen<br />

Scientific Communities Geme<strong>in</strong>samkeiten oder Unterschiede überwiegen <strong>und</strong> welchen<br />

E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong>sbesondere die nordamerikanische Forschung auf die übrigen regionalen Communities<br />

hat.<br />

Zu diesem Themenkomplex wurde e<strong>in</strong>e Reihe von Studien veröffentlicht. Sie s<strong>in</strong>d für unsere<br />

Fragestellung nach e<strong>in</strong>er Annäherung der deutschen an die nordamerikanische Forschung<br />

<strong>in</strong>sofern hilfreich, als sie Aufschluss darüber geben, ob sich zum<strong>in</strong>dest auf <strong>in</strong>ternationaler<br />

Ebene e<strong>in</strong>e auf Nordamerika fokussierte Konvergenz der Organisationsforschung abzeichnet:<br />

Dies lässt sich überprüfen, <strong>in</strong>dem man die Ergebnisse der ersten, 1976 veröffentlichten<br />

Studie von Kassem (1976) <strong>und</strong> die der neueren, zwischen 1984 <strong>und</strong> 1995 publizierten Studien<br />

(Whitley 1984; Aldrich 1988; H<strong>in</strong><strong>in</strong>gs 1988; Lammers 1990; Boyacigiller/Adler 1991;<br />

Üsdiken/Pasadeos 1995) e<strong>in</strong>ander gegenüber stellt.<br />

Mitte der 70er Jahre kommt Kassem (1976) zum Ergebnis, dass die Forschung <strong>in</strong> Nordamerika<br />

<strong>und</strong> Europa durch f<strong>und</strong>amentale Unterschiede gekennzeichnet sei. Diese Unterschiede<br />

erstrecken sich gleichermaßen auf den <strong>in</strong>haltlichen Forschungsschwerpunkt, die Methodologie<br />

<strong>und</strong> das Selbstverständnis der Forscher: Während <strong>in</strong> Nordamerika eher die Mikroperspektive<br />

gewählt <strong>und</strong> entsprechend das Verhältnis zwischen Individuum <strong>und</strong> Organisation<br />

thematisiert wurde, bevorzugten europäische Organisationsforscher eher die Makroperspektive<br />

<strong>und</strong> stellten die Beziehung zwischen Organisation <strong>und</strong> Umwelt <strong>in</strong> den Mittelpunkt ihrer<br />

Analysen. Bei der Ableitung von Gestaltungsempfehlungen steht <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />

Organisationsforschung die Suche nach dem 'one best way' im Vordergr<strong>und</strong>, woh<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong><br />

Europa stärker situativ argumentiert wird. Schließlich ersche<strong>in</strong>en Kassem die nordamerikanischen<br />

Organisationsforscher deutlich an der Lösung praktischer Organisationsprobleme<br />

<strong>in</strong>teressiert, woh<strong>in</strong>gegen es den europäischen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um die Theoriebildung im S<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er Erklärung des Phänomens Organisation g<strong>in</strong>g.<br />

In den 80er Jahren stellt sich das Bild anders dar: Mehrere Studien konstatieren e<strong>in</strong>e wachsende<br />

Homogenität der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung <strong>und</strong> schreiben dabei der<br />

nordamerikanischen Forschung e<strong>in</strong>e Schlüsselstellung zu. So resümiert Lammers (1990),<br />

dass sich so etwas wie e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler 'ma<strong>in</strong>stream' der Organisationsforschung herausgebildet<br />

hat. Aus se<strong>in</strong>er Sicht gründet er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmende Soziologisierung, die wiederum<br />

ihren Ausdruck <strong>in</strong> zwei dom<strong>in</strong>ierenden organisationstheoretischen Erklärungsmodellen<br />

f<strong>in</strong>det: der Organisation als sozio-kulturellem bzw. als politischem System. Dies geht spiegelbildlich<br />

e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>em Randdase<strong>in</strong> alternativer Perspektiven, wie beispielsweise der<br />

marxistisch orientierten Richtung (Aldrich 1988). Die treibende Kraft der nordamerikanischen<br />

Organisationsforschung bei dieser Entwicklung belegt auch die Studie von Boyacigil-<br />

60<br />

2


ler/Adler (1991). Demnach haben sich bisher kaum eigenständige nationale Traditionen <strong>in</strong><br />

der Organisationsforschung herausbilden können. Auch Whitley (1984) schließt sich dieser<br />

Beobachtung an <strong>und</strong> relativiert die Dom<strong>in</strong>anz der nordamerikanischen Forschung nur im<br />

H<strong>in</strong>blick auf gesellschaftspolitisch bed<strong>in</strong>gte Sonderaspekte der Organisationsforschung, wie<br />

z.B. die Bedeutung von Arbeitsbeziehungen.<br />

Der Bef<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nordamerikanisch forcierten Konvergenz der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung<br />

wird allerd<strong>in</strong>gs nicht von allen Studien gestützt: Obwohl er denselben Fokus<br />

wie Aldrich (1988) wählt, nämlich die im Umfeld der von Donaldson (1985) aufgeworfene<br />

Frage, welchen Stellenwert sozialwissenschaftliche Erkenntnisse <strong>in</strong> der Organisationsforschung<br />

haben sollen, stellt H<strong>in</strong><strong>in</strong>gs (1988) nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen<br />

nordamerikanischer <strong>und</strong> europäischer Organisationsforschung fest. Er beklagt e<strong>in</strong>e wachsende<br />

<strong>und</strong> im Zuge der Donaldson-Debatte selbstauferlegte Isolation der nordamerikanischen<br />

Organisationsforschung von den <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> Europa produzierten sozialwissenschaftlichen<br />

theoretischen Anstößen. Ebenfalls ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e Konvergenz<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung lässt die Studie von Üsdiken/Pasadeos<br />

(1995) zu. Sie gelangen zum Ergebnis, dass die Organisationsforschung neben Phasen der<br />

Konvergenz auch Phasen der Divergenz durchläuft <strong>und</strong> sich zum Zeitpunkt ihrer Studie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Phase der Divergenz bef<strong>in</strong>det, obwohl sie diese These aufgr<strong>und</strong> des fehlenden Längsschnittvergleichs<br />

nicht selbst belegen können.<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es ke<strong>in</strong>en Konsens darüber gibt, wie sich die<br />

europäische <strong>und</strong> die nordamerikanische Forschung zue<strong>in</strong>ander verhalten <strong>und</strong> ob sie im<br />

Verlauf ihrer Entwicklung ähnlicher oder unterschiedlicher geworden s<strong>in</strong>d. Im nächsten<br />

Schritt soll nun die Entwicklung der deutschsprachigen Forschung näher betrachtet werden.<br />

Entwicklungsl<strong>in</strong>ien der deutschen Organisationsforschung<br />

Die ersten deutschsprachigen Publikationen zu Fragen der Unternehmensorganisation<br />

f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den 70er Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>genieurwissenschaftlich<br />

dom<strong>in</strong>iert. Obwohl ab 1900 zunehmend auch kaufmännische Organisationsfragen erörtert<br />

werden, ist, ähnlich wie <strong>in</strong> den USA im Umfeld des Taylorismus (Taylor 1911), bis <strong>in</strong> die<br />

30er Jahre e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> technisches Gr<strong>und</strong>verständnis <strong>in</strong> der praxisorientierten Organisationslehre<br />

vorherrschend. Davon unabhängig entwickelt sich die Organisationslehre als akademische<br />

Diszipl<strong>in</strong> wie die Allgeme<strong>in</strong>e Betriebswirtschaftslehre aus e<strong>in</strong>em Nebene<strong>in</strong>ander philosophisch-idealistischer<br />

<strong>und</strong> nationalökonomischer Wurzeln.<br />

Im Gegensatz zur US-amerikanischen Managementlehre seit den Harvard-Hawthorne-<br />

Studien <strong>in</strong> den 30er Jahren grenzte sich die betriebswirtschaftliche Organisationslehre auch<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er tendenziell gesellschaftskritischen sozialwissenschaftlichen Industrie- <strong>und</strong><br />

Organisationsforschung ab. Die Betriebswirtschaftslehre <strong>in</strong> Deutschland def<strong>in</strong>iert sich<br />

überwiegend als ökonomische Diszipl<strong>in</strong>. In ihr nimmt die Organisationslehre als theorie-<br />

61<br />

3


gestützte Forschungsdiszipl<strong>in</strong> so lange nur e<strong>in</strong>e Randposition e<strong>in</strong>, bis die Ökonomie <strong>in</strong> den<br />

80er Jahren die Wende von der Neoklassik zur Institutionenökonomie (Williamson 1975;<br />

1985) vollzieht. Aufgr<strong>und</strong> der bestehenden Theorielücke wendet sich jedoch die Organisationsforschung<br />

seit den 70er Jahren zunehmend der soziologischen Organisationsforschung<br />

aus dem angelsächsischen Raum zu <strong>und</strong> begründet die verhaltenswissenschaftliche Richtung<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Betriebswirtschaftslehre (Staehle 1988). Die 90er Jahre s<strong>in</strong>d schließlich<br />

durch e<strong>in</strong>e zunehmend offen ausgetragene Ause<strong>in</strong>andersetzung um die angemessene Theorief<strong>und</strong>ierung<br />

der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung gekennzeichnet, die bis<br />

zum heutigen Zeitpunkt noch anhält (Weibler 1996; Weibler/Wald 2004). Damit e<strong>in</strong>her geht<br />

auch die <strong>in</strong>ternationale Öffnung, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vermehrten <strong>in</strong>ternationalen Austausch<br />

von Forschern, ihrer zunehmenden Verpflichtung zu <strong>in</strong>ternationalen Publikationen <strong>in</strong> englischsprachigen<br />

Tagungen, Fachzeitschriften <strong>und</strong> Curricula <strong>in</strong> der Ausbildung niederschlägt.<br />

Dennoch kann von erheblichen Unterschieden ausgegangen werden, die vor allem darauf<br />

zurückzuführen s<strong>in</strong>d, dass sich die Betriebswirtschaftslehre <strong>in</strong> Deutschland über e<strong>in</strong>en<br />

langen Zeitraum h<strong>in</strong>weg eigenständig, d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Sprache mit anerkannten wissenschaftlichen<br />

Zeitschriften <strong>und</strong> Tagungen entwickelt hat.<br />

Die Erklärung der Konvergenz wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en<br />

In der Wissenschaftssoziologie haben sich bislang vier Modelle herausgebildet, mit denen<br />

die Entwicklung von Scientific Communities erklären lassen: e<strong>in</strong> anarchisches, e<strong>in</strong> ökonomisches,<br />

e<strong>in</strong> altruistisches <strong>und</strong> e<strong>in</strong> funktionales Modell der Scientific Community. Alle diese<br />

Modelle gehen von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit der Community aus; es lassen sich aber auch Schlussfolgerungen<br />

für die Frage ableiten, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen es zu e<strong>in</strong>er Annäherung von<br />

zwei benachbarten Communities kommen kann <strong>und</strong> ob vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Annäherung<br />

der deutschen <strong>und</strong> nordamerikanischen Organisationsforschung zu erwarten ist. In<br />

diesem Beitrag werden sie durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalistisches Modell erweitert, das besonders<br />

<strong>in</strong>teressant ersche<strong>in</strong>t, die Koevolution verschiedener Communities e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> zu beschreiben<br />

<strong>und</strong> erklären.<br />

Anarchisches<br />

Modell<br />

Altruistisches<br />

Modell<br />

Funktionales<br />

Modell<br />

Ökonomisches<br />

Modell<br />

Institutionales<br />

Modell<br />

Klassische Hauptvertreter Lakatos Hagström Merton Storer DiMaggio/Powell<br />

Wesentliche<br />

Entwicklungsanstöße<br />

Erkenntnis<br />

Anerkennung<br />

<strong>und</strong> kollektive<br />

Identitätsbildung<br />

Effizienz des<br />

Wissenschaftsbetriebs<br />

Gesellschaftliche<br />

Anerkennung<br />

Zwang<br />

Normierung<br />

Mimese<br />

Prognose zur Entwicklung<br />

regionaler Communities <strong>in</strong><br />

der Organisationsforschung<br />

ke<strong>in</strong>e<br />

Annäherung<br />

ke<strong>in</strong>e<br />

Annäherung<br />

ke<strong>in</strong>e<br />

Annäherung<br />

<strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong><br />

methodische<br />

Annäherung<br />

<strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong><br />

methodische<br />

Annäherung<br />

Tab. 1: Modelle wissenschaftlicher Entwicklung<br />

62<br />

4


Das Anarchische Modell des kritischen Rationalismus (Lakatos 1971) geht davon aus, dass<br />

sich e<strong>in</strong>e Community aus unabhängigen <strong>und</strong> rational handelnden E<strong>in</strong>zelwissenschaftlern zusammensetzt,<br />

deren <strong>in</strong>dividuelle Zielsetzung dar<strong>in</strong> besteht, wissenschaftliche Probleme zu<br />

lösen. E<strong>in</strong>e Kontaktaufnahme f<strong>in</strong>det dann statt, wenn der e<strong>in</strong>zelne Forscher glaubt, se<strong>in</strong>e<br />

Probleme leichter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kooperation mit anderen Forschern lösen zu können. Das treibende<br />

Motiv der Wissenschaft <strong>und</strong> ihrer Kooperationsformen ist <strong>in</strong> diesem Modell die Suche<br />

nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass die Mitglieder <strong>in</strong>nerhalb<br />

oder zwischen wissenschaftlichen Communities sich wahrnehmen <strong>und</strong> ane<strong>in</strong>ander orientieren,<br />

hängt demnach vor allem von der Vielfalt der Problemstellungen ab, mit denen sich die<br />

Mitglieder ause<strong>in</strong>andersetzen, <strong>und</strong> dem Aufwand, der zu ihrer Lösung notwendig ist:<br />

- Je größer die Vielfalt der Problemstellungen ist, um so ger<strong>in</strong>ger ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

dass der e<strong>in</strong>zelne Forscher andere Forscher f<strong>in</strong>det, die an derselben Frage<br />

arbeiten.<br />

- Je höher der Aufwand ist, der zur Problemlösung notwendig ist, um so höher ist die<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass der e<strong>in</strong>zelne Forscher es für vorteilhaft ansieht, mit anderen<br />

Forschern zusammenzuarbeiten bzw. sich an ihren Standards zu orientieren.<br />

Die Organisationsforschung ist durch e<strong>in</strong>e lange Tradition konkurrierender oder isolierter<br />

Paradigmen gekennzeichnet (Burrell/Morgan 1979; Astley/Van de Ven 1983), die dem<br />

e<strong>in</strong>zelnen Forscher große Freiheiten <strong>in</strong> der Wahl se<strong>in</strong>es theoretischen Bezugsrahmens lässt.<br />

Im Gegensatz zu weiten Bereichen naturwissenschaftlicher oder technischer Forschung gibt<br />

es auch ke<strong>in</strong>e konsensfähigen Erkenntnisziele, an denen sich das Ausmaß wissenschaftlichen<br />

Fortschritts bestimmen ließe, auch wenn immer wieder Versuche unternommen<br />

wurden, Standards für e<strong>in</strong>e fortschrittsfähige Organisationsforschung durchzusetzen<br />

(Donaldson 1985, Reed 1985, Pfeffer 1993). Auch die zweite Bed<strong>in</strong>gung ist im Fall der<br />

Organisationsforschung kaum gegeben. Die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände wird<br />

durch e<strong>in</strong>e Vielfalt <strong>in</strong> den Untersuchungsmethoden begleitet. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen<br />

Forschung haben sich die Instrumente organisationswissenschaftlicher Studien<br />

<strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten kaum verändert <strong>und</strong> die zunehmende Komplexität von Methoden<br />

der Datenauswertung wurde durch die Kapazitäten der elektronischen Datenverarbeitung<br />

stets mehr als kompensiert. Somit ist es aus der Perspektive des anarchischen Modells unwahrsche<strong>in</strong>lich,<br />

dass es <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung zu e<strong>in</strong>er Konvergenz<br />

zwischen verschiedenen Scientific Communities kommt.<br />

Im Altruistischen Modell gründet e<strong>in</strong>e Scientific Community auf dem wechselseitigen "giftgiv<strong>in</strong>g"<br />

der beteiligten Wissenschaftler (Hagström 1965). Die wechselseitigen Geschenke<br />

bestehen dabei <strong>in</strong> den Kollegen zugänglich gemachten Erkenntnissen. H<strong>in</strong>ter diesem Verhalten<br />

steht der Wunsch, e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same wissenschaftliche Identität herzustellen bzw. zu<br />

bewahren. Hagström geht davon aus, dass sich unter den Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er staatlichen oder<br />

donativen F<strong>in</strong>anzierung wissenschaftlicher Forschung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em relativ ger<strong>in</strong>gen Wettbe-<br />

63<br />

5


werbsdruck um knappe Ressourcen e<strong>in</strong> solches Austauschpr<strong>in</strong>zip gegenüber dem <strong>in</strong>dividuellen<br />

Streben nach persönlichem Erfolg durchzusetzen vermag. Die Motivation zu wissenschaftlicher<br />

Forschung <strong>und</strong> Veröffentlichung ihrer Ergebnisse resultiert daraus, Anerkennung<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er überschaubaren Geme<strong>in</strong>schaft von Forscherkollegen zu erlangen.<br />

Wenn verschiedene Communities vone<strong>in</strong>ander getrennt s<strong>in</strong>d, weil sie beispielsweise mit<br />

unterschiedlichen Methoden arbeiten oder <strong>in</strong> verschiedenen Sprachen kommunizieren, fehlt<br />

der Anstoß zum Austausch über die Grenzen der e<strong>in</strong>zelnen Communities h<strong>in</strong>weg. Wo die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Identität besteht, verstärkt sie sich. Mit dem Wachstum<br />

e<strong>in</strong>er Community kann es allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>er Spaltung kommen, weil mit zunehmender<br />

Größe <strong>und</strong> Komplexität die gegenseitige Versicherung über die geme<strong>in</strong>same Identität<br />

schwieriger wird. Für die Organisationsforschung treffen diese Bed<strong>in</strong>gungen ebenso zu wie<br />

e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ger Wettbewerbsdruck, da diese Forschungsdiszipl<strong>in</strong> nur beschränkt fortschrittsfähig<br />

im naturwissenschaftlichen S<strong>in</strong>n <strong>und</strong> eher durch periodische Moden <strong>und</strong><br />

Mythen geprägt ist. Daraus ergibt sich für unsere Forschungsfrage ebenfalls die Prognose,<br />

dass es zu ke<strong>in</strong>er Annäherung der deutschen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />

kommt.<br />

Die 'arbeitsteilige Produktion' von Wissen steht im Mittelpunkt des Funktionalen Modells<br />

der Scientific Community (Merton 1973). Angesichts e<strong>in</strong>es immer stärker wachsenden Wissenschaftsbetriebs<br />

hebt es auf die vorherrschenden Arbeitsprozeduren als soziale Klammer<br />

ab. Die Effizienz dieser <strong>in</strong>ternen Prozesse zu steigern, ist die wesentliche Triebfeder wissenschaftlichen<br />

Arbeitens. Demnach setzen sich <strong>in</strong> fortschrittsfähigen Diszipl<strong>in</strong>en effizientere<br />

gegenüber weniger effizienten Methoden durch. Fehlt dagegen e<strong>in</strong> konsensfähiges Effizienzkriterium,<br />

kann sich e<strong>in</strong>e Vielfalt der Methoden <strong>und</strong> Fragestellungen erhalten. In der<br />

wirtschafts- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Forschung s<strong>in</strong>d als Methoden vor allem Konstrukte<br />

<strong>und</strong> Theorien anzusehen, welche die Forschertätigkeit lenken. E<strong>in</strong> Effizienzkriterium<br />

wäre demnach die Bewährung oder Widerlegung dieser Theorien – <strong>und</strong> das <strong>in</strong>sbesondere im<br />

direkten Wettbewerb der verschiedenen Schulen. Das wird vor allem dadurch verh<strong>in</strong>dert,<br />

dass die vorherrschenden Theorien nicht falsifikationsfähig angelegt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ihre eigenen<br />

Effizienzkriterien def<strong>in</strong>iert haben. Der Multiparadigmenansatz (Morgan 1986) <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Organisationsforschung legt zudem nahe, eher von e<strong>in</strong>er gegenseitigen Ergänzung der Erklärungsleistungen<br />

verschiedener Theorien als von e<strong>in</strong>er direkten Konkurrenz zwischen<br />

ihnen auszugehen, wie das die multiparadigmatische Studie von Hassard (1991) e<strong>in</strong>drucksvoll<br />

zeigt. Ansatzpunkte für e<strong>in</strong>e effizienzsteigernde Bere<strong>in</strong>igung von Methoden fehlen auf<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Ebene, wenn sie nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er nationalen Community<br />

möglich s<strong>in</strong>d. Für die Organisationsforschung gibt es deshalb wenig Anlass für e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>ternationale Standardisierung <strong>und</strong> Annäherung.<br />

Im Ökonomischen Modell wird die Scientific Community wie e<strong>in</strong> Warenmarkt behandelt:<br />

Es geht <strong>in</strong> der Tat um den Austausch des sozialen 'Gutes' gesellschaftlicher Anerkennung<br />

64<br />

6


(Storer 1966). Das wissenschaftliche 'Handeln' ist nicht auf Erkenntnisfortschritt ausgerichtet,<br />

sondern auf die Err<strong>in</strong>gung dieses Gutes als Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Verbesserung der eigenen<br />

Position <strong>in</strong> weiteren Tauschprozessen. Die Wahl e<strong>in</strong>es bestimmten Paradigmas oder e<strong>in</strong>er<br />

Forschungsrichtung stellt für den e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaftler e<strong>in</strong>e Investitionsentscheidung<br />

dar. Sich e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>flussreichen Richtung anzuschließen, reduziert das persönliche Risiko, die<br />

angestrebte Anerkennung nicht zu erlangen. Etablierte Forschungsrichtungen tendieren<br />

dazu, weiter zu wachsen, weil sie nachrückenden Forschern günstige Produktionsbed<strong>in</strong>gungen<br />

verschaffen, solange sich noch aussichtsreiche Forschungsgebiete <strong>in</strong>nerhalb der Grenzen<br />

der Richtung eröffnen, die aufmerksamkeitserzeugende Ergebnisse versprechen.<br />

Erschöpft sich die Ausbeute neuer Erkenntnisse <strong>in</strong>nerhalb der Forschungsrichtung, so<br />

kommt es zum Abbröckeln, was dar<strong>in</strong> besteht, dass ke<strong>in</strong>e neuen Forscher mehr e<strong>in</strong>treten<br />

<strong>und</strong> die verbleibenden etablierten Forscher abtreten (Stephan 1996; Franck/Jungwirth 2001).<br />

Es ersche<strong>in</strong>t also plausibel, dass es vor allem dann zu e<strong>in</strong>er Annäherung zwischen zwei<br />

regionalen Communities kommt, wenn e<strong>in</strong>e von beiden besonders attraktive Perspektiven<br />

für Nachwuchsforscher verspricht, die E<strong>in</strong>trittsbarrieren niedrig s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e rasche<br />

Abfolge von Paradigmen <strong>und</strong> Theorien e<strong>in</strong>e schleichende Erschöpfung der Perspektiven<br />

<strong>in</strong>nerhalb der attraktiven Community verh<strong>in</strong>dert. Es ist davon auszugehen, dass die<br />

nordamerikanische Organisationsforschung solche günstigen Bed<strong>in</strong>gungen bietet. Die Anerkennung<br />

für Beiträge im nordamerikanischen Diskurs wächst zunehmend gegenüber solchen<br />

<strong>in</strong> der eigenen, deutschsprachigen Community. So s<strong>in</strong>d auch die E<strong>in</strong>trittsbarrieren <strong>in</strong><br />

den englischsprachigen Diskurs s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren zunehmend gefallen, <strong>in</strong>dem die<br />

Zahl von Kongressen <strong>und</strong> Fachzeitschriften, die zu englischsprachigen Beiträgen e<strong>in</strong>laden,<br />

seit e<strong>in</strong>iger Zeit stetig anwächst. Das ökonomische Modell lässt deshalb durchaus e<strong>in</strong>e Annäherung<br />

der deutschsprachigen an die nordamerikanische Forschung erwarten.<br />

Aus der Perspektive des <strong>in</strong>stitutionalistischen Modells lautet die zentrale Frage: Unter welchen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen kommt es zu Isomorphie der Organisationsstrukturen regionaler Scientific<br />

Communities <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Forschungsdiszipl<strong>in</strong>?<br />

Die <strong>in</strong>stitutionalistische Theorie (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983) hat sich im<br />

Laufe der 90er Jahre zu e<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>flussreichsten Theorien der Organisationsforschung<br />

entwickelt, wie die zunehmenden Zitationsanteile <strong>in</strong> den führenden Journals zeigt (Gmür<br />

2003: 39). Auf die Frage der organisationalen Entwicklung von Scientific Communities<br />

wurde diese Theorie bislang noch nicht angewandt. Wie aber im Folgenden gezeigt wird,<br />

bietet sich e<strong>in</strong> Institutionelles Modell der Scientific Community besonders dafür an, um zu<br />

Erkenntnissen über die Beziehungen zwischen verschiedenen Communities zu gelangen.<br />

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen <strong>in</strong> diesem Modell Fragen der E<strong>in</strong>bettung von<br />

Organisationen als Medium <strong>in</strong>stitutioneller Arrangements <strong>in</strong> ihr <strong>in</strong>stitutionelles Umfeld. In<br />

gewisser Weise wird also die Blickrichtung des Institutionalismus umgekehrt, <strong>in</strong>dem nicht<br />

mehr die Bedeutung bestimmter Institutionen für deren Umwelt thematisiert wird, sondern<br />

die externe Bed<strong>in</strong>gtheit eben dieser Institutionen.<br />

65<br />

7


Im Mittelpunkt e<strong>in</strong>er neo<strong>in</strong>stitutionalistischen Erklärung steht die regionale Scientific Community<br />

e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong>, hier der Organisationsforschung, als Institution <strong>und</strong> die <strong>in</strong>ternationale<br />

Organisationsforschung selbst als deren <strong>in</strong>stitutionelles Umfeld. Der Begriff der<br />

Institution steht für Regeln <strong>und</strong> Praktiken, welche die Entscheidungen <strong>und</strong> das Verhalten<br />

der Mitglieder dauerhaft leiten. Die Scientific Community ist e<strong>in</strong> Personenverband, der an<br />

e<strong>in</strong>em abgrenzbaren wissenschaftlichen Projekt aktiv beteiligten <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>teragierenden<br />

Wissenschaftler (Bühl 1974), welche die geme<strong>in</strong>samen Praktiken <strong>und</strong> Regeln anwenden.<br />

Im Fall der vorliegenden Untersuchung fiel die Entscheidung für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />

<strong>und</strong> regionale Def<strong>in</strong>ition der Scientific Community: Von e<strong>in</strong>er deutschen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nordamerikanischen<br />

organisationswissenschaftlichen Community zu sprechen, ist nicht nur angesichts<br />

der Ausgangsfrage der Untersuchung notwendig, sondern wird auch durch die<br />

Beobachtung gerechtfertigt, dass im Fall der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung e<strong>in</strong>e,<br />

verglichen mit anderen Diszipl<strong>in</strong>en, starke Regionalisierung festzustellen ist. Sie zeigt sich<br />

daran, dass beispielsweise im Fall der deutschen <strong>und</strong> nordamerikanischen Organisationsforschung<br />

weitgehend überschneidungsfreie Wissenschaftlerverbände, Publikationssprachen<br />

<strong>und</strong> -organe vorliegen<br />

Das <strong>in</strong>stitutionelle Modell geht davon aus, dass e<strong>in</strong>e Institution die <strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Umfeld herrschenden 'Mythen' (Meyer/Rowan 1977) widerspiegelt <strong>und</strong> nicht professionelle<br />

Anforderungen. Solche Anforderungen wären beispielsweise die Nutzung besonders bewährter<br />

Theorien <strong>und</strong> empirischer Forschungsmethoden. Deshalb ist der wichtigste<br />

Bezugspunkt für das Verhalten e<strong>in</strong>er Scientific Community nicht die Produktion neuen wissenschaftlichen<br />

Wissens, sondern die Legitimation im <strong>in</strong>stitutionellen Feld durch Übernahme<br />

der dort <strong>in</strong>stitutionalisierten Regeln – d.h. <strong>in</strong> diesem Fall: allgeme<strong>in</strong> akzeptierte<br />

Vorstellungen über wissenschaftlich s<strong>in</strong>nvolle Themen <strong>und</strong> Methoden. Folge dieser Adaption<br />

der wissenschaftlichen Konventionen ihres <strong>in</strong>stitutionellen Feldes ist die wechselseitige<br />

Annäherung der regionalen Scientific Communities <strong>und</strong> damit die wachsende Isomorphie<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung, was verwendete Sprachen, Publikationsorgane,<br />

Arbeitsweisen <strong>und</strong> Prioritäten <strong>in</strong> der Themenwahl betrifft.<br />

An dieser Stelle lassen sich die ursprünglich nur empiristisch formulierten Annahmen über<br />

die Entwicklung der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten <strong>in</strong>stitutionalistischen<br />

Hypothese auch theoretisch fassen: Das Streben nach Legitimation im <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Feld läßt die e<strong>in</strong>zelnen regionalen organisationswissenschaftlichen Scientific Communities<br />

dort herrschende Themen <strong>und</strong> Methoden übernehmen, was gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er<br />

wachsenden Isomorphie der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung ist.<br />

Pr<strong>in</strong>zipiell kommen Imitation, Normung <strong>und</strong> Zwang als Auslöser isomorphischer Effekte <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen Feld <strong>in</strong> Frage (DiMaggio/Powell 1983), d.h. die Übernahme mit<br />

besonders hoher Legitimation versehener Verhaltensmuster e<strong>in</strong>er anderen Institution (=<br />

Imitation), die Anerkennung bestimmter professioneller Standards <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Feld (= Normung) bzw. die Unterwerfung unter dort kodifizierte Regeln (= Zwang). Im Fall<br />

der Organisationsforschung dürfte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Imitation stattf<strong>in</strong>den: Angesichts der<br />

66<br />

8


paradigmatischen Gr<strong>und</strong>satzdiskussionen der letzten Jahre könnte die Kopie der Forschung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen wenigen Scientific Communities e<strong>in</strong>e Strategie se<strong>in</strong>, die Unsicherheit über den<br />

Status der eigenen Diszipl<strong>in</strong> zu verr<strong>in</strong>gern. Zwang könnte <strong>in</strong>sofern als Auslöser wirken, als<br />

die kritischen Ressourcen <strong>in</strong> der Organisationsforschung, nämlich Publikationsforen, an<br />

Stellenwert gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong>e Zentralisierung erfahren. Allerd<strong>in</strong>gs haben<br />

Zitations<strong>in</strong>dizes <strong>und</strong> Peer-Review-Verfahren als Manifestationen dieser Entwicklung <strong>in</strong> den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Scientific Communities noch e<strong>in</strong>en sehr unterschiedlichen Stellenwert. Normierung<br />

als letzter möglicher Isomorphieauslöser dürfte angesichts der nach wie vor ger<strong>in</strong>gen<br />

professionellen Vernetzung der Organisationsforschung dagegen von eher nachgeordneter<br />

Bedeutung se<strong>in</strong>.<br />

Imitation <strong>und</strong> Zwang als wahrsche<strong>in</strong>liche Isomorphieauslöser werden im Fall der Organisationsforschung<br />

also dazu führen, dass die <strong>in</strong>ternationale Isomorphie e<strong>in</strong>seitig, d.h. auf e<strong>in</strong>e<br />

führende Scientific Community ausgerichtet auftritt: Nicht nur die lange Tradition <strong>und</strong> das<br />

hohe Ansehen, sondern auch die Tatsache, dass sie die Heimat der wesentlichen <strong>in</strong>ternationalen<br />

Fachjournale ist, sprechen daher für e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz der nordamerikanischen Organisationsforschung.<br />

Diese Annäherung der übrigen Scientific Communities an die nordamerikanische<br />

dürfte allerd<strong>in</strong>gs erst zeitlich verzögert auftreten, da <strong>in</strong> der Regel zwischen dem<br />

Auftreten, der Wahrnehmung <strong>und</strong> der Rezeption e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Trends mehrere<br />

Jahre liegen, die der Literaturverarbeitung, Umsetzung <strong>in</strong> Forschungsarbeit <strong>und</strong> Texterstellung<br />

gewidmet s<strong>in</strong>d. Aufgr<strong>und</strong> des notwendigen Rezeptionsaufwands erfolgt die Angleichung<br />

der übrigen Scientific Communities an die nordamerikanische mit mehrjähriger Verzögerung.<br />

Untersuchungsmethodik<br />

Gr<strong>und</strong>lage der empirischen Studie s<strong>in</strong>d Zitationsdaten von Veröffentlichungen wissenschaftlichen<br />

Zeitschriften im Zeitraum von 1990 bis 1999. Die Daten werden mit der bibliographischen<br />

Methode der Kozitationsanalyse untersucht. Mit dieser Methode lässt sich die<br />

Struktur wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en analysieren <strong>und</strong> abbilden. E<strong>in</strong>e Kozitation von zwei<br />

Veröffentlichungen oder Autoren liegt vor, wenn sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren Veröffentlichung<br />

geme<strong>in</strong>sam zitiert werden, d.h. im selben Literaturverzeichnis genannt s<strong>in</strong>d. Die Kozitationsanalyse<br />

beruht auf zwei gr<strong>und</strong>legenden Annahmen:<br />

- Das Zitat ist e<strong>in</strong> geeigneter Indikator für wissenschaftliche Kommunikation (Small<br />

1978) <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage zur Identifizierung von '<strong>in</strong>visible colleges'. Mit<br />

diesem Begriff werden Netzwerke von Forschern bezeichnet, die <strong>in</strong> ihren Publikationen<br />

aufe<strong>in</strong>ander Bezug zu nehmen, ohne formal organisatorisch mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>en<br />

zu se<strong>in</strong> (Crane 1972; Lievrouw 1989). Die Zitationshäufigkeit ist e<strong>in</strong> valides <strong>und</strong><br />

reliables Maß für die Bedeutung, die der zitierten Quelle – gleichgültig ob zustimmend<br />

oder kritisierend – zugesprochen wird.<br />

67<br />

9


- Die Kozitation zweier Autoren oder Publikationen ist e<strong>in</strong> geeigneter Indikator für die<br />

Messung ihrer <strong>in</strong>haltlichen Nachbarschaft. Die Kozitationshäufigkeit ist e<strong>in</strong> valides<br />

<strong>und</strong> reliables Maß zur Beantwortung der Frage, welche Autoren oder Publikationen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er engen Beziehung zue<strong>in</strong>ander stehen bzw. ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Bezüge aufweisen<br />

(Small 1978; White/Griffith 1981).<br />

Der Schwerpunkt kozitationsanalytischer Forschung liegt traditionell <strong>in</strong> den Naturwissenschaften,<br />

jedoch liegen <strong>in</strong>zwischen auch für verschiedene sozialwissenschaftliche Diszipl<strong>in</strong>en<br />

Studien vor. Obwohl die vorliegenden Studien ähnliche Ziele verfolgen, ist die Methodenvielfalt<br />

noch beträchtlich. Je nachdem, wie die e<strong>in</strong>zelnen Kozitationsbeziehungen gewichtet<br />

<strong>und</strong> nach welchem Verfahren sie zu Clustern zusammengefügt werden, zeigen sich<br />

unterschiedliche Ergebnisse, wie die wenigen bislang vorliegenden Studien zur Methodenevaluation<br />

zeigen (Small/Sweeney 1984; Gmür 2003).<br />

Zur Organisationsforschung liegen bislang zwei Studien vor: Culnan et al. (1990) untersuchten<br />

die Kozitationsstrukturen zwischen 52 gezielt ausgewählten nordamerikanischen<br />

Organisationsforschern <strong>und</strong> ermittelten faktoranalytisch zwei etwa gleich stark besetzte<br />

Hauptrichtungen: Auf den ersten Faktor, den die Autoren als Makroansatz bezeichneten,<br />

luden 22 Autoren mit e<strong>in</strong>er strukturorientierten Ausrichtung, auf den zweiten Faktor, den<br />

Mikroansatz, weitere 21 Autoren mit e<strong>in</strong>em überwiegend organisationspsychologischen<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Üsdiken/Pasadeos (1995) untersuchten nordamerikanische <strong>und</strong> europäische<br />

Kozitationsstrukturen auf der Basis aller Veröffentlichungen der "Adm<strong>in</strong>istrative Science<br />

Quarterly" bzw. der "Organization Studies" im Zeitraum von 1990 bis 1992. Sie stellen für<br />

die nordamerikanische Forschung e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz der populationsökologischen Forschung<br />

fest, während sich für das breiter ausgerichtete europäische Journal mehrere, aber <strong>in</strong> sich<br />

locker gekoppelte Theoriecluster zeigen. Ihre Cluster ermitteln sie nicht faktoranalytisch,<br />

sondern <strong>in</strong>dem sie die Anzahl der Kozitationsbeziehungen auf diejenigen mit den absolut<br />

höchsten Werten beschränken. Diese Vorgehensweise ist vor allem dazu geeignet, den<br />

konzeptionellen Kern e<strong>in</strong>er Forschungsrichtung herauszuarbeiten, während die Differenzierungen<br />

<strong>in</strong>nerhalb dieser Richtung verborgen bleiben (Gmür 2003: 45).<br />

Zur Analyse der Konvergenz zwischen der deutschen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />

wurden mehrere zitations- <strong>und</strong> kozitationsanalytische Indikatoren gebildet:<br />

a) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den Rangreihen der meistzitierten Publikationen: Für beide Communities<br />

<strong>und</strong> Zeitperioden wurden die jeweils 10 meistzitierten Publikationen ermittelt<br />

<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Liste zusammengeführt. Für jede der <strong>in</strong>sgesamt 40 Quellen wurde<br />

die relative Zitationshäufigkeit (gemessen an der Anzahl der ausgewerteten Artikel) <strong>in</strong><br />

allen vier Gruppen ermittelt. Als Distanzmaß wurde der Pearson Korrelationskoeffizient<br />

gewählt. Bei hoher Ähnlichkeit erreicht der Koeffizient e<strong>in</strong>en positiven Wert, der gegen<br />

1 strebt. E<strong>in</strong> Koeffizient um den Nullpunkt steht für e<strong>in</strong>e mittlere Ähnlichkeit, während<br />

e<strong>in</strong> hoher negativer Koeffzient e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>imale Ähnlichkeit repräsentiert. Dem gewählten<br />

68 10


Indikator liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass sich zwei Communities <strong>in</strong> dem Maße<br />

ane<strong>in</strong>ander annähern, wie sie ihrer Forschung dieselben Quellen zugr<strong>und</strong>e legen. Da die<br />

deutschsprachige Literatur aufgr<strong>und</strong> der e<strong>in</strong>seitig wirksamen Sprachbarriere <strong>in</strong> der<br />

nordamerikanischen Forschung fast überhaupt nicht rezipiert wird, steht hier die Frage<br />

im Mittelpunkt, ob sich der Anteil englischsprachiger Quellen <strong>in</strong> der deutschen<br />

Organisationsforschung erhöht hat <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem Maße deutsche Forscher sich an denjenigen<br />

Publikationen orientieren, die auch <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung am<br />

e<strong>in</strong>flussreichsten s<strong>in</strong>d.<br />

b) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den Rangreihen der meistzitierten Journals: Für beide Communities<br />

<strong>und</strong> Zeitperioden wurden die jeweils 10 Journals ermittelt, <strong>in</strong> denen die meisten der<br />

zitierten Publikationen veröffentlicht wurden, <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Liste zusammengeführt.<br />

Für jedes der 40 Journals wurde die relative Zitationshäufigkeit (gemessen an der<br />

Anzahl der ausgewerteten Artikel) <strong>in</strong> allen vier Gruppen ermittelt. Als Distanzmaß<br />

wurde hier ebenfalls der Pearson Korrelationskoeffizient gewählt. Auch diesem Indikator<br />

liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass sich e<strong>in</strong>e Konvergenz dar<strong>in</strong> zeigt, dass zwei<br />

Communities auf dieselben Fachzeitschriften zurückgreifen. Im vorliegenden Fall geht<br />

es um die Frage, ob deutsche Forscher sich zunehmend auf Artikel <strong>in</strong> englischsprachigen<br />

Journals beziehen.<br />

c) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den theoretischen Schwerpunkten: Für beide Communities <strong>und</strong><br />

Zeitperioden wurde e<strong>in</strong> Kozitationsnetzwerk erstellt, das zeigt, welche Publikationen<br />

nicht nur am häufigsten zitiert, sondern aufgr<strong>und</strong> ihrer Kozitation mit anderen Publikationen<br />

e<strong>in</strong>e zentrale Stellung <strong>in</strong>nerhalb der Community e<strong>in</strong>nehmen. Außerdem wurden<br />

für jede der vier Artikelgruppen die e<strong>in</strong>flussreichsten Schulen identifiziert <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander<br />

verglichen.<br />

Datensatz<br />

Die Untersuchung von Üsdiken <strong>und</strong> Pasadeos, <strong>in</strong> der die Zitationsstrukturen der "Adm<strong>in</strong>istrative<br />

Science Quarterly" (ASQ) als Indikator für die nordamerikanische Organisationsforschung<br />

gewählt wurde, bildet auch den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, wurde<br />

jedoch erweitert:<br />

- Der Untersuchungszeitraum besteht aus zwei Zeitperioden Anfang <strong>und</strong> Ende der 90er<br />

Jahre, um Veränderungen <strong>in</strong> den Differenzen zwischen den beiden Communities messen<br />

zu können. Die ausgewerteten Veröffentlichungen stammen aus den Zeiträumen<br />

1990-92 <strong>und</strong> 1997-99.<br />

- Die Struktur der nordamerikanischen Organisationsforschung wurde auf Basis von<br />

Veröffentlichungen der "Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly" (ASQ) <strong>und</strong> der "Academy<br />

of Management Review" (AMR) untersucht. Beide Journals nehmen <strong>in</strong>nerhalb der<br />

managementorientierten Organisationsforschung ähnlich führende Positionen e<strong>in</strong>, wei-<br />

69 11


sen aber unterschiedliche Theorieschwerpunkte auf. So zeigt sich beispielsweise, dass<br />

die Dom<strong>in</strong>anz der populationsökologischen Forschung Anfang der 90er Jahre spezifisch<br />

für die ASQ galt <strong>und</strong> dort auch mit e<strong>in</strong>er starken Präsenz evolutionstheoretischer<br />

Forscher im Herausgeber-Board e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g, wodurch die Repräsentativität der ASQ<br />

für die nordamerikanische Organisationsforschung <strong>in</strong> Frage gestellt ist. Die AMR wurde<br />

auch aus Gründen der Vergleichbarkeit gewählt, weil sie als nicht-empirisches Journal<br />

die konzeptionell orientierte Organisationsforschung repräsentiert, die <strong>in</strong> der deutschen<br />

Community traditionell e<strong>in</strong>e starke Rolle spielt 1 .<br />

Für den nordamerikanischen Datensatz wurden alle Artikel der ASQ <strong>und</strong> AMR ausgewählt,<br />

die im SSCI unter den Kategorien "Article", "Note" oder "Review" erfasst s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> deren<br />

Verfasser zum Zeitpunkt der Veröffentlichung <strong>in</strong> Nordamerika tätig s<strong>in</strong>d. Ausgeklammert<br />

blieben die Sonderausgaben mit explizitem Themenschwerpunkten <strong>und</strong> besonderer Herausgeberschaft.<br />

Da nicht der gesamte Zeitraum, sondern nur e<strong>in</strong>zelne Dreijahreszeiträume<br />

ausgewertet wurden, könnte die Häufung mehrerer Artikel zu e<strong>in</strong>em spezifischen Thema zu<br />

e<strong>in</strong>er Verzerrung der relativen Gewichte der Schulen <strong>in</strong>nerhalb der Community führen.<br />

Diese Vorgehensweise entspricht zudem derjenigen von Üsdiken/Pasadeos (1995). Für die<br />

Kozitationsanalyse wurden alle Quellen mit e<strong>in</strong>er Autorennennung erfasst.<br />

Adm<strong>in</strong>istrative Science<br />

Quarterly (ASQ)<br />

Academy of Management<br />

Review (AMR)<br />

Anzahl<br />

Artikel<br />

1990 - 1992 1997 - 1999<br />

Ø Quellen<br />

pro Artikel<br />

Anzahl<br />

Artikel<br />

Ø Quellen<br />

pro Artikel<br />

49 57,0 56 79,4<br />

74 80,4 67 87,2<br />

Gesamt 123 70,3 123 83,6<br />

Tab. 2: Datensatz Nordamerika<br />

Im Gegensatz zum nordamerikanischen Raum existiert <strong>in</strong> den 90er Jahren <strong>in</strong> Deutschland<br />

ke<strong>in</strong>e Zeitschrift mit e<strong>in</strong>em Peer-Review-Verfahren, das auf die Organisationsforschung<br />

spezialisiert ist. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu organisationstheoretischen Fragen<br />

verteilen sich auf e<strong>in</strong>e Reihe von betriebswirtschaftlichen, soziologischen <strong>und</strong> psychologischen<br />

Journals. Um e<strong>in</strong>e Vergleichbarkeit zu erreichen, wurde der Kreis der Fachzeitschriften<br />

auf alle <strong>in</strong> Deutschland ersche<strong>in</strong>enden betriebswirtschaftlichen Periodika e<strong>in</strong>gegrenzt. Es<br />

handelt sich dabei um vier allgeme<strong>in</strong>e betriebswirtschaftliche Zeitschriften, die alle vor<br />

1950 gegründet wurden, sowie die "Zeitschrift für Personalforschung" <strong>und</strong> die "Managementforschung",<br />

die beide erst um 1990 entstanden s<strong>in</strong>d, aber e<strong>in</strong>e zentrale Rolle für die<br />

Organisationsforschung spielen.<br />

Da aber nur e<strong>in</strong> Bruchteil der Artikel der Organisationsforschung zuzuordnen s<strong>in</strong>d, wurde<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Auswahl vorgenommen. Dies erwies sich als schwierig, da allgeme<strong>in</strong><br />

70 12


akzeptierte Abgrenzungskriterien zwischen der Organisationslehre <strong>und</strong> anderen betriebswirtschaftlichen<br />

Diszipl<strong>in</strong>en fehlen. Die Auswahl erfolgte deshalb durch den Autor <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>en weiteren Organisationsforscher, die im ersten Schritt e<strong>in</strong>e Liste von Schlüsselbegriffen<br />

entwarfen <strong>und</strong> anschließend unabhängig vone<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>e Auswahl nach folgenden<br />

Kriterien vornahmen.<br />

• Aus Journals mit Schlüsselwort-Index wurden diejenigen Artikel ausgewählt, die mit<br />

dem Begriff "Organisation" oder e<strong>in</strong>em anderen <strong>in</strong>stitutionellen Organisationsbegriff<br />

(Netzwerk, Kultur oder Gruppe) verschlagwortet s<strong>in</strong>d.<br />

• Zusätzlich dazu wurden <strong>in</strong> sämtlichen Zeitschriften diejenigen Artikel ausgewählt, <strong>in</strong><br />

deren Titel das Wort "Organisation", "organisatorisch" oder e<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutioneller Organisationsbegriff<br />

enthalten ist.<br />

Wo die beiden Forscher zu e<strong>in</strong>er unterschiedlichen Entscheidung für oder gegen e<strong>in</strong>en<br />

Artikel gelangten oder Unklarheit über nachträglich zu berücksichtigenden Schlüsselbegriffe<br />

entstand, wurde nach Diskussion e<strong>in</strong>e abschließende Entscheidung gefällt.<br />

E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Artikel wurde ausgeschieden, weil se<strong>in</strong>e Verfasser englischsprachig <strong>und</strong> an<br />

e<strong>in</strong>er britischen Universität tätig s<strong>in</strong>d. Wie Tabelle 3 zeigt, ist die Zahl der Veröffentlichungen<br />

zur Organisationsforschung <strong>in</strong> wissenschaftlichen Journals beschränkt, konnte aber<br />

nicht erhöht werden, ohne die <strong>in</strong>haltliche Vergleichbarkeit mit dem nordamerikanischen<br />

Datensatz zu gefährden.<br />

Anzahl<br />

Artikel<br />

1990 - 1992 1997 - 1999<br />

Ø Quellen<br />

pro Artikel<br />

Anzahl<br />

Artikel<br />

Ø Quellen<br />

pro Artikel<br />

Die Betriebswirtschaft 13 39,2 15 53,3<br />

Zeitschrift für<br />

Betriebswirtschaft<br />

Zeitschrift für betriebswirtschaftliche<br />

Forschung<br />

Betriebswirtschaftliche<br />

Forschung <strong>und</strong> Praxis<br />

Zeitschrift für<br />

Personalforschung<br />

5 22,4 12 29,8<br />

3 30,3 4 45,8<br />

3 14,7 1 21,0<br />

3 33,0 5 49,6<br />

Managementforschung 11 90,1 6 82,3<br />

Gesamt 38 48,9 43 48,0<br />

Tab. 3: Datensatz Deutschland/Österreich/Schweiz<br />

71 13


Ergebnisse<br />

Tabelle 4 zeigt jeweils die zehn meistzitierten Publikationen für die regionalen Communities<br />

<strong>und</strong> die beiden Untersuchungszeiträume. Es erstaunt wohl nicht, dass die zehn meistzitierten<br />

Quellen <strong>in</strong> den nordamerikanischen Journals ausschließlich auch von amerikanischen<br />

Forschern stammen. Dagegen bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der deutschen Rangreihe fünf bzw.<br />

drei deutschsprachige Quellen. Ger<strong>in</strong>ger ist hier auch der Anteil von Zeitschriftenartikeln,<br />

obwohl auch die englischsprachige Organisationsforschung im Vergleich etwa mit der<br />

Market<strong>in</strong>g- oder Account<strong>in</strong>gforschung (Roth/Gmür 2003; Meyer et al. 2005) noch als<br />

'Buchwissenschaft' bezeichnet werden kann, <strong>in</strong> der zitationsanalytisch Monographien e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Stellung e<strong>in</strong>nehmen.<br />

Nordamerika<br />

Deutschland<br />

1990 - 1992<br />

1997 - 1999<br />

Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 26%<br />

Pfeffer/Salancik (1978) External Control 24%<br />

Hannan/Freeman (1977) <strong>in</strong> AJS 17%<br />

DiMaggio/Powell (1983) <strong>in</strong> ASR 16%<br />

Porter (1980) Competitive Strategy 16%<br />

March/Simon (1958) Organisations 15%<br />

Williamson (1975) Markets and Hierarchies 14%<br />

Meyer/Rowan (1977) <strong>in</strong> AJS 14%<br />

Weick (1979) Social Psychology of Organiz<strong>in</strong>g 13%<br />

Hannan/Freeman (1989) Organizational Ecology12%<br />

DiMaggio/Powell (1983) <strong>in</strong> ASR 25%<br />

Pfeffer/Salancik (1978) External Control 25%<br />

Meyer/Rowan (1977) <strong>in</strong> AJS 21%<br />

Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 19%<br />

Nelson/W<strong>in</strong>ter (1982) Evolutionary Theory 17%<br />

Granovetter (1985) Economic Action 16%<br />

Weick (1979) Social Psychology of Organiz<strong>in</strong>g 16%<br />

March/Simon (1958) Organisations 15%<br />

Cyert/March (1963) Behavioral Theory 15%<br />

Barney (1991) <strong>in</strong> JoM 14%<br />

Morgan (1986) Images of Organization 18%<br />

Staehle (1988) Management 18%<br />

Ouchi (1980) <strong>in</strong> ASQ 16%<br />

Williamson (1985) Economic Institutions 16%<br />

Chandler (1962) Strategy and Structure 13%<br />

Cyert/March (1963) Behavioral Theory 13%<br />

Peters/Waterman (1972) Search of Excellence 13%<br />

Probst (1987) Selbstorganisation 13%<br />

Williamson (1975) Markets and Hierarchies 13%<br />

Kieser/Kubicek (1976) Organisation 12%<br />

Kieser/Kubicek (1976) Organisation 26%<br />

March/Simon (1958) Organisations 19%<br />

Sydow (1992) Strategische Netzwerke 19%<br />

Williamson (1985) Economic Institutions 19%<br />

Picot et al. (1996) Grenzenlose Unternehmung 16%<br />

Luhmann (1980) Soziale Systeme 14%<br />

Pfeffer/Salancik (1978) External Control 14%<br />

Picot (1982) <strong>in</strong> DBW 14%<br />

Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 14%<br />

Burns/Stalker (1961) Management of Innovation12%<br />

Tab. 4: Die e<strong>in</strong>flussreichsten Basispublikationen (%-Werte geben an, wie groß der Anteil<br />

der analysierten Artikel ist, <strong>in</strong> denen die betreffende Quelle zitiert wird).<br />

Die Hälfte der meistzitierten Quellen Anfang der 90er Jahre s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Nordamerika auch Ende<br />

der 90er Jahre noch unter den ersten zu f<strong>in</strong>den, gleichgültig, ob man von den 10 oder 50<br />

meistzitierten Quellen ausgeht. In der deutschsprachigen Organisationsforschung s<strong>in</strong>d es<br />

h<strong>in</strong>gegen nur knapp e<strong>in</strong> Viertel, was andeutet, dass es <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung<br />

e<strong>in</strong>e größere Konstanz <strong>in</strong> den dom<strong>in</strong>ierenden Theorien <strong>und</strong> Fragestellungen gibt. Abbildung<br />

1 fasst die vergleichenden Betrachtungen zusammen. Demnach zeigt die nordamerikanische<br />

Forschung, gemessen an den Ähnlichkeiten <strong>in</strong> den meistzitierten Quellen, e<strong>in</strong>e hohe Kont<strong>in</strong>uität.<br />

Alle übrigen Abstandsmaße zeigen e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Ähnlichkeit, was sich <strong>in</strong> den negativen<br />

Korrelationskoeffizienten ausdrückt.<br />

72 14


Nordamerika<br />

1990-92<br />

-.02<br />

Deutschland<br />

1990-92<br />

+ .79 -.01<br />

-.02 -.24<br />

Nordamerika<br />

1997-99<br />

-.15<br />

Deutschland<br />

1997-99<br />

Abb. 1: Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> der Nutzung der e<strong>in</strong>flussreichsten Basispublikationen<br />

Die Unterschiede zwischen der deutschsprachigen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />

bleiben im Zeitverlauf bestehen, ja sie sche<strong>in</strong>en sich sogar noch leicht von -<br />

.02 auf -.15 zu verstärken. Da die ger<strong>in</strong>gste Ähnlichkeit (-.24) zwischen der nordamerikanischen<br />

Forschung Anfang der 90er <strong>und</strong> der deutschsprachigen Forschung Ende der 90er<br />

Jahre besteht, gibt es auch ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte dafür, dass es zu e<strong>in</strong>er Übernahme nordamerikanischer<br />

Schwerpunkte <strong>in</strong> der deutschsprachigen Forschung gekommen wäre.<br />

In Tabelle 5 <strong>und</strong> Abbildung 2 s<strong>in</strong>d die entsprechenden Ergebnisse der Auswertung für die<br />

zitierten Journals dargestellt.<br />

Nordamerika<br />

Deutschland<br />

1990 - 1992<br />

1997 - 1999<br />

Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 4,9<br />

Academy of Management Review 3,1<br />

Academy of Management Journal 2,6<br />

Journal of Applied Psychology 1,6<br />

American Sociological Review 1,4<br />

American Journal of Sociology 1,2<br />

Strategic Management Journal 1,1<br />

Organizational Behavior and Decision Processes 1,0<br />

Journal of Personality and Social Psychology ,9<br />

Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,8<br />

Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 6,1<br />

Academy of Management Review 4,1<br />

Academy of Management Journal 4,0<br />

Strategic Management Journal 3,2<br />

American Journal of Sociology 1,8<br />

American Sociological Review 1,8<br />

Organization Science 1,4<br />

Journal of Applied Psychology ,9<br />

Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,9<br />

Journal of Personality and Social Psychology ,8<br />

Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 1,1<br />

Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1,1<br />

Academy of Management Review ,8<br />

Die Betriebswirtschaft ,8<br />

Zeitschrift Führung <strong>und</strong> Organisation ,8<br />

Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,7<br />

Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung ,7<br />

Strategic Management Journal ,7<br />

American Journal of Sociology ,4<br />

Academy of Management Journal ,4<br />

Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 1,2<br />

Academy of Management Review 1,1<br />

Zeitschrift für Betriebswirtschaft ,7<br />

Strategic Management Journal ,7<br />

Academy of Management Journal ,6<br />

Die Betriebswirtschaft ,6<br />

Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung ,5<br />

Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,4<br />

Management Science ,4<br />

Journal of Management Studies ,3<br />

Tab. 5: Die meistzitierten Journals (Die Werte geben an, wie groß die durchschnittliche Zahl der<br />

zitierten Artikel aus dem jeweiligen Journal pro analysiertem Artikel ist)<br />

73 15


Während –wie zu erwarten – die beiden meistzitierten Journals <strong>in</strong> Nordamerika die ASQ<br />

<strong>und</strong> AMR s<strong>in</strong>d, aus denen auch die analysierten Artikel stammten, wird die Entscheidung<br />

für diese beiden Zeitschriften dadurch bestätigt, dass sie auch für die deutschsprachigen<br />

Forscher die beiden wichtigsten englischsprachigen Journals s<strong>in</strong>d.<br />

Die Abstandsmaße <strong>in</strong> Abbildung 2 zeigen für die zitierten Journals e<strong>in</strong> deutlich anderes<br />

Bild, als es sich für die meistzitierten Publikationen abgezeichnet hat. Dass sämtliche Koeffizienten<br />

höher s<strong>in</strong>d, ist nicht überraschend, weil er sich aus der hier gewählten Analysemethode<br />

ergibt: Die Zahl der potenziell zitationsfähigen Monographien <strong>und</strong> Artikel ist um<br />

e<strong>in</strong> Vielfaches höher als die Zahl der Fachzeitschriften; deshalb kommt es statistisch auch<br />

zu deutlich weniger Verschiebungen. Dessen ungeachtet fallen e<strong>in</strong>ige Besonderheiten auf:<br />

- Die Journalnutzung hat sich <strong>in</strong> Nordamerika im Zeitverlauf kaum verändert. Dagegen<br />

deuten sich im Fall der deutschen Forschung trotz des hohen Koeffizienten bereits<br />

Veränderungen an.<br />

- Es kommt im Zeitverlauf zu e<strong>in</strong>er Annäherung der Journalnutzung, die sich an der<br />

Ende der 90er Jahre deutlich höheren Ähnlichkeit zwischen der nordamerikanischen<br />

<strong>und</strong> der deutschsprachigen Organisationsforschung ablesen lässt (von +.26 zu +.68).<br />

Dass e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Annäherung der deutschen an die nordamerikanische Forschung<br />

vorliegt, ist daran zu erkennen, dass der Diagonalpfeil von 'Nordamerika 1990-92' zu<br />

'Deutschland 1997-99' e<strong>in</strong>en höheren Koeffizienten aufweist als der Pfeil für den<br />

direkten Vergleich 1990-92, während die Koeffizienten der Pfeile von den beiden<br />

nordamerikanischen Kohorten zu 'Deutschland 1990-92' nahezu gleich s<strong>in</strong>d (+.26 <strong>und</strong><br />

+.30).<br />

Nordamerika<br />

1990-92<br />

+ .26<br />

Deutschland<br />

1990-92<br />

+ .92<br />

Nordamerika<br />

1997-99<br />

+ .58<br />

+ .30<br />

+ .68<br />

+ .80<br />

Deutschland<br />

1997-99<br />

Abb. 2: Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> der Nutzung der e<strong>in</strong>flussreichsten Fachzeitschriften<br />

Dieser Bef<strong>und</strong> wird durch e<strong>in</strong>e Zeitschriftenanalyse gestützt, <strong>in</strong> der ebenfalls e<strong>in</strong>e im Zeitverlauf<br />

zunehmende Nutzung englischsprachiger Journals festgestellt wurde. Sie entspricht<br />

auch weitgehend den nordamerikanischen Zitationsmustern, <strong>in</strong>dem sie sich zum e<strong>in</strong>en auf<br />

verhaltenswissenschaftlich orientierte Managementjournals (beispielsweise ASQ, AMR <strong>und</strong><br />

74 16


AMJ), zum anderen auf die führenden soziologischen Zeitschriften (AJS <strong>und</strong> ASR) richtet,<br />

während ökonomische Zeitschriften noch e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ges Gewicht haben (Gmür 2002).<br />

Die Ergebnisse der Kozitationsanalyse zeigen die folgenden Abbildungen 3 bis 6. Anfang<br />

der 90er Jahre zeigt sich, wie das schon Üsdiken/Pasadeos (1995) konstatieren, e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ante<br />

Stellung für drei Forschungsrichtungen:<br />

- die Populationsökologie um die Veröffentlichungen von Hannan <strong>und</strong> Freeman <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

mit den beiden e<strong>in</strong>flussreichsten Monographien der Kont<strong>in</strong>genztheorie von<br />

Thompson <strong>und</strong> Lawrence/Lorsch.<br />

- der Neo<strong>in</strong>stitutionalismus um die beiden Autorenpaare Meyer/Rowan <strong>und</strong> DiMaggio/<br />

Powell sowie Scott <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit der Ressourcenabhängigkeitstheorie von Pfeffer/Salancik.<br />

- die ökonomische Organisationstheorie um Williamson, Fama, Jensen <strong>und</strong> Meckl<strong>in</strong>g.<br />

Sie gliedert sich <strong>in</strong> die Transaktionskostentheorie <strong>und</strong> den Pr<strong>in</strong>zipal-Agenten-Ansatz.<br />

Williamson<br />

Ouchi<br />

1985<br />

1980<br />

Williamson<br />

1975<br />

Granovetter<br />

Alchian/Demsetz<br />

1985<br />

1972<br />

Jensen/Meckl<strong>in</strong>g<br />

1976<br />

Fama<br />

Berle/Means<br />

1980<br />

1932<br />

Scott<br />

1987<br />

Me yer/Scott<br />

1983<br />

DiMaggio/Powell<br />

1983<br />

Fama/Jensen<br />

Jensen/Ruback<br />

Herman<br />

1983<br />

1983<br />

1981<br />

CoCit > 0,5<br />

CoCit > 0,4<br />

CoCit > 0,3<br />

Meyer/Rowan<br />

1977<br />

Pfeffer/Salancik<br />

1978<br />

Kozitationsnetzwerk<br />

Nordamerika 1990-1992<br />

(123 Artikel)<br />

Lawrence/Lorsch<br />

1967<br />

Thompson<br />

1967<br />

Aldrich<br />

1979<br />

S<strong>in</strong>gh et al.<br />

Hannan/Freeman<br />

Carroll/Delacroix<br />

1986a<br />

Barnett/Carroll<br />

1977<br />

1982<br />

1987<br />

Tuma/Hannan<br />

St<strong>in</strong>chcombe<br />

1984<br />

1965<br />

Hannan/Freeman<br />

Freeman/Hannan<br />

1989<br />

1983<br />

Delacroix et al.<br />

1989<br />

McKelve y<br />

Hannan/Freeman<br />

S<strong>in</strong>gh et al.<br />

1982<br />

1984<br />

1986b<br />

Child<br />

1972<br />

Abb. 3: Kozitationsnetzwerk Nordamerika 1990-92<br />

Ende der 90er Jahre zeigt sich bei der hier gewählten Vorgehensweise e<strong>in</strong> nur <strong>in</strong> Details verändertes<br />

Bild: Die Populationsökologie ist immer noch als eigenständiges Cluster um die<br />

Veröffentlichungen von Hannan <strong>und</strong> Freeman erkennbar. Die Bedeutung, gemessen an der<br />

Zitationshäufigkeit, hat sich aber etwas zugunsten des Neo<strong>in</strong>stitutionalismus verschoben,<br />

der immer noch durch die zentralen Veröffentlichungen von Meyer/Rowan <strong>und</strong> DiMaggio/<br />

Powell geprägt ist, aber über die Arbeiten von Palmer et al., Mizruchi <strong>und</strong> Haunschild mit<br />

der ökonomischen Netzwerk- <strong>und</strong> Institutionenforschung (Williamson, Granovetter, R<strong>in</strong>g/<br />

Van de Ven, Gulati) verknüpft ist.<br />

75 17


Kozitationsnetzwerk<br />

Wernerfeldt<br />

Cohen/Lev<strong>in</strong>thal<br />

1984 Dierickx/Cool<br />

Nordamerika 1997-1999<br />

Glaser/Strauss<br />

1990<br />

1989<br />

Barney/Ouchi<br />

(123 Artikel)<br />

1967<br />

1986<br />

Nelson/W<strong>in</strong>ter<br />

Barney<br />

1982<br />

Hannan/Freeman<br />

1991<br />

Porter<br />

Miles/Huberman<br />

1977<br />

Baum<br />

1984<br />

1980<br />

1996<br />

Hannan/Freeman<br />

Granovetter<br />

Burt<br />

Hannan/Carroll<br />

Axelrod<br />

1989<br />

1973<br />

1992<br />

Podolny<br />

1992<br />

1984<br />

Donaldson/Preston<br />

1994<br />

1995<br />

Amburgey et al.<br />

Granovetter<br />

Baum/Oliver<br />

1993<br />

Freeman<br />

1985<br />

Oliver<br />

Powell et al.<br />

1991<br />

Rogers<br />

1984<br />

1990<br />

1996<br />

Jones<br />

1962<br />

St<strong>in</strong>chcombe<br />

1995<br />

Powell/Di Maggio<br />

Hannan/Freeman<br />

Powell<br />

Gulati<br />

1965<br />

1991<br />

1990<br />

1995<br />

Haunschild<br />

1984<br />

Williamson<br />

1993<br />

1985<br />

R<strong>in</strong>g/Van de Ven<br />

Tuma/Hannan<br />

Burns/Whooley<br />

Haveman<br />

1992<br />

1994<br />

Mizruchi<br />

1993<br />

1993<br />

Williamson<br />

1992<br />

1991<br />

Parkhe<br />

Palmer et al.<br />

Me yer/Scott<br />

1993<br />

Useem<br />

Williamson<br />

1993<br />

1983<br />

1984<br />

1975<br />

Burt<br />

Fligste<strong>in</strong><br />

DiMaggio/Powell<br />

Fama/Jensen<br />

1987<br />

1990<br />

1983<br />

Walsh/Seward<br />

1983<br />

Jensen/Meckl<strong>in</strong>g<br />

Galaskiewicz/Wasserman<br />

1990<br />

Eisenhardt<br />

1976<br />

1989<br />

Lorsch/Maciver<br />

DiMaggio/Powell<br />

1989<br />

Mace<br />

1989<br />

1991<br />

1971<br />

Meyer/Rowan<br />

Hambrick/Mason<br />

1977<br />

1984<br />

Westphal/Zajac<br />

Oliver<br />

1994<br />

Wiersema/Bantel<br />

1991<br />

O‘Reilly et al.<br />

Zenger/Lawrence<br />

1992<br />

1989<br />

1989<br />

Berger/Luckmann<br />

1966<br />

Pfeffer/Salancik<br />

1978<br />

CoCit > 0,5<br />

CoCit > 0,4<br />

CoCit > 0,3<br />

Abb. 4: Kozitationsnetzwerk Nordamerika 1997-99<br />

Bezüge bestehen auch zum Pr<strong>in</strong>izipal-Agenten-Ansatz (Fama, Jensen, Mace) <strong>und</strong> von dort<br />

zur organisationalen Demographieforschung (Hambrick, Wiersema, O'Reilly). Schließlich<br />

s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Cluster zur Stakeholder-Theorie (Donaldson/Preston, Jones) sowie<br />

e<strong>in</strong>e locker verknüpfte Gruppe zum 'Resource Based View' <strong>in</strong>nerhalb der Strategieforschung<br />

(Barney) erkennbar. Das bedeutet, dass sich die Schwerpunkte <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />

Forschung im Verlauf der 90er Jahre zwar ausdifferenziert, aber nicht erheblich verlagert<br />

haben.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der ger<strong>in</strong>geren Anzahl auswertbarer Artikel <strong>und</strong> Zitate ist es im Fall der deutschsprachigen<br />

Organisationsforschung schwieriger, e<strong>in</strong> klares Bild über die dom<strong>in</strong>ierenden<br />

Forschungsrichtungen <strong>und</strong> ihre Abgrenzung zu erhalten.<br />

Im Zeitraum 1990-92 lasen sich zwei <strong>in</strong>haltlich konsistente Cluster identifizieren. Das erste<br />

Cluster steht für die ökonomische Organisationstheorie, deren meistzitierten Quellen die<br />

Veröffentlichungen von Williamson <strong>und</strong> Ouchi s<strong>in</strong>d. Neben den sieben englischsprachigen<br />

f<strong>in</strong>den sich hier auch drei deutschsprachige Quellen. Das zweite Cluster wird von der Systemtheorie<br />

gebildet, wobei Probst, Weick <strong>und</strong> Perrow zentrale Positionen e<strong>in</strong>nehmen.<br />

Schließlich ist auch noch e<strong>in</strong> Cluster zum organisationalen Lernen erkennbar (Cyert/March,<br />

Shrivastava, Argyris/Schön, Bateson), das sich aber formal nur schwer abgrenzen lässt. Die<br />

übrigen Quellen weisen ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Zusammenhänge auf.<br />

76 18


Weick<br />

1979<br />

Gutenberg<br />

1951<br />

Luhmann<br />

Probst<br />

1984<br />

1987<br />

Luhmann<br />

1986<br />

Weick<br />

1976<br />

Jarillo<br />

Williamson<br />

1988<br />

1975<br />

Alchian/Demsetz<br />

Ouchi<br />

1972<br />

1980<br />

Coase<br />

1937<br />

Williamson<br />

1985<br />

Kozitationsnetzwerk<br />

Deutschland 1990-1992<br />

(38 Artikel)<br />

Türk<br />

1989<br />

Shrivastava<br />

Scott<br />

1983<br />

Cyert/March<br />

1981<br />

1963<br />

Argyris/Schön<br />

Perrow<br />

1978<br />

1984<br />

Greipel<br />

1988<br />

Bateson<br />

Peters/Waterman<br />

Schreyögg<br />

1972<br />

1982<br />

1984<br />

Staehle<br />

Thompson<br />

1980<br />

1967<br />

Frese<br />

1987<br />

Morgan<br />

Piore/Sabel<br />

1986<br />

1984<br />

Pfeffer/Salancik<br />

Gutenberg<br />

1978<br />

1960<br />

March/Sim on<br />

Grabher<br />

1988<br />

Weber<br />

1958<br />

1921<br />

Bea<br />

Altmann/Sauer<br />

1988<br />

1989<br />

deutsch<br />

englisch<br />

CoCit > 0,5<br />

CoCit > 0,4<br />

CoCit > 0,3<br />

Abb. 5: Kozitationsnetzwerk Deutschland 1990-92<br />

Das Netzwerk für den Zeitraum 1997-99 zeigt wie schon für die nordamerikanische Organisationsforschung<br />

e<strong>in</strong>e Ausdifferenzierung; hier allerd<strong>in</strong>gs verb<strong>und</strong>en mit e<strong>in</strong>er deutlichen<br />

Gewichtsverlagerung.<br />

Kozitationsnetzwerk<br />

Picot/Reichwald<br />

Hauschildt<br />

1994<br />

1993<br />

Luhmann<br />

Deutschland 1997-1999<br />

1988a<br />

Thompson<br />

(43 Artikel)<br />

Luhmann<br />

1967<br />

Wildemann<br />

Womack et al.<br />

Giddens<br />

1997<br />

1980<br />

1990<br />

Pfeffer/Salancik<br />

1984<br />

Weick<br />

1978<br />

Neuberger<br />

1979<br />

Williamson<br />

Maturana<br />

1995<br />

1991<br />

1982<br />

Meyer/Rowan<br />

Drumm<br />

Olson<br />

1977<br />

1996<br />

Arrow<br />

1965<br />

Hall/Saias<br />

1985<br />

1980<br />

Loose/Sydow<br />

Hammer/Champy<br />

March/Olsen<br />

1993<br />

1976<br />

1994<br />

Burns/Stalker<br />

Lawrence/Lorsch<br />

1961<br />

1967<br />

Alchian/Demsetz<br />

Cyert/March<br />

Kieser/Kubicek<br />

1972<br />

1963<br />

Chandler<br />

1976<br />

Laux<br />

Frese<br />

Hayek<br />

1962<br />

1990<br />

1993<br />

1969<br />

Kieser<br />

March/Simon<br />

1993<br />

Miles/Snow<br />

1958<br />

1978<br />

Picot<br />

Hayek<br />

1982<br />

Picot et al.<br />

Gutenberg<br />

Schreyögg<br />

1945<br />

Smith<br />

1996<br />

1951<br />

1984<br />

deutsch<br />

Staehle<br />

1776<br />

Kühl<br />

1991<br />

1994<br />

englisch<br />

Schreyögg<br />

Williamson<br />

Jarillo<br />

Williamson<br />

Sydow<br />

1996<br />

Davidow/Malone<br />

1985<br />

1988<br />

CoCit > 0,5<br />

1975<br />

1992<br />

1992<br />

CoCit > 0,4<br />

CoCit > 0,3<br />

Abb. 6: Kozitationsnetzwerk Deutschland 1997-99<br />

77 19


Als Cluster mit m<strong>in</strong>destens vier vollständig vernetzten Quellen erkennbar s<strong>in</strong>d die Kont<strong>in</strong>genztheorie<br />

(Kieser/Kubicek, Chandler, Miles/Snow <strong>und</strong> Hall/Salas), die Systemtheorie<br />

(Luhmann, Weick, Maturana) <strong>und</strong> die ökonomische Organisationstheorie (Willliamson,<br />

Olson, Arrow <strong>und</strong> Loose/Sydow). Allerd<strong>in</strong>gs ist aber auch hier zu berücksichtigen, dass das<br />

kle<strong>in</strong>e Sample die <strong>in</strong>haltliche Interpretation <strong>und</strong> Abgrenzung der Cluster erschwert.<br />

Zusammenfassend zeigt die Kozitationsanalyse, dass die e<strong>in</strong>zige wesentliche Berührungsfläche<br />

zwischen der nordamerikanischen <strong>und</strong> der deutschsprachigen Organisationsforschung<br />

die ökonomische Organisationstheorie darstellt. Diese zeigt sich über den gesamten Zeitraum<br />

h<strong>in</strong>weg <strong>in</strong> beiden regionalen Communities als ähnlich e<strong>in</strong>flussreich <strong>und</strong> wird auch,<br />

abgesehen von den deutschsprachigen Veröffentlichungen, von denselben Autoren <strong>und</strong> Publikationen<br />

geprägt. Darüber h<strong>in</strong>aus bestehen <strong>in</strong> den 90er Jahren gleichbleibend große Unterschiede:<br />

Populationsökologie <strong>und</strong> Neo<strong>in</strong>stitutionalismus konnten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der deutschsprachigen<br />

Forschung bis Ende der 90er Jahre nicht durchsetzen, <strong>und</strong> die sich wesentlich an den<br />

Arbeiten von Luhmann orientierende Systemtheorie hat <strong>in</strong> den USA ke<strong>in</strong> Pendant.<br />

Wo es Überschneidungen <strong>in</strong> der Zitierung e<strong>in</strong>zelner e<strong>in</strong>flussreicher Publikationen gibt, werden<br />

diese <strong>in</strong> Nordamerika <strong>und</strong> Deutschland teilweise auch unterschiedlich rezipiert, was<br />

sich <strong>in</strong> Kozitationsbeziehungen zu jeweils unterschiedlichen benachbarten Theorien niederschlägt.<br />

Das zeigt <strong>in</strong>sbesondere das Beispiel von Weick (1979).<br />

Die Daten aus der Zitations- <strong>und</strong> der Kozitationsanalyse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Indikator dafür, dass sich<br />

im untersuchten Zeitraum die <strong>in</strong>haltlichen Schwerpunkte <strong>in</strong> der deutschsprachigen Forschung<br />

rascher verändert haben als <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung, dass diese Veränderung<br />

aber nicht zu e<strong>in</strong>er Annäherung zwischen den beiden Communities geführt hat.<br />

1990-92<br />

Nordamerika<br />

- Ökonomische Organisationstheorie<br />

- Populationsökologie<br />

- Neo<strong>in</strong>stitutionalismus<br />

Deutschland<br />

- Ökonomische Organisationstheorie<br />

- Systemtheorie<br />

- Organisationale Lerntheorie<br />

1997-99<br />

- Ökonomische Organisationstheorie<br />

- Neo<strong>in</strong>stitutionalismus<br />

- Populationsökologie<br />

- Resource Based View<br />

Tab. 6: Dom<strong>in</strong>ierende Forschungsrichtungen<br />

- Ökonomische Organisationstheorie<br />

- Systemtheorie<br />

- Kont<strong>in</strong>genztheorie<br />

78 20


Abschließende Bewertung <strong>und</strong> Ausblick<br />

Deutschsprachige Organisationsforscher nutzen im Verlauf der 90er Jahre zunehmend dieselben<br />

Journals wie ihre nordamerikanischen Kollegen, aber sie greifen andere Gedanken<br />

auf. So lässt sich e<strong>in</strong> zentrales Ergebnis dieser Studie über die Frage der Annäherung zwischen<br />

der deutschsprachigen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Scientific Community <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Organisationsforschung zusammenfassen. Die Analyseergebnisse führen mit Blick auf<br />

die e<strong>in</strong>gangs vorgestellten Modelle wissenschaftlicher Entwicklung zu e<strong>in</strong>em mehrdeutigen<br />

Ergebnis.<br />

Nach dem anarchischen, dem altruistischen <strong>und</strong> dem funktionalen Modell wissenschaftlicher<br />

Entwicklung war e<strong>in</strong>e Annäherung im <strong>in</strong>ternationalen Austausch unter den spezifischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der Organisationsforschung nicht zu erwarten. Sie sche<strong>in</strong>en durch die<br />

vorliegenden Studienergebnisse bestätigt. Zwei der Modelle ließen dagegen e<strong>in</strong>e Annäherung<br />

der beiden regionalen Communities erwarten. Lassen sich Erklärungen f<strong>in</strong>den, warum<br />

sich die Annahmen des ökonomischen <strong>und</strong> des <strong>in</strong>stitutionalistischen Modells durch die vorliegenden<br />

Daten auf den ersten Blick nicht bestätigen ließen?<br />

Obwohl der <strong>in</strong>stitutionalisierte Druck auf die deutschsprachige Organisationsforschung stetig<br />

zunimmt, hat er <strong>in</strong> den 90er Jahren noch nicht dazu geführt, dass es zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen<br />

Angleichung der Forschung gekommen wäre. Dass es nur zu e<strong>in</strong>er formalen Übernahme<br />

nordamerikanischer Standards gekommen ist, <strong>in</strong>dem vermehrt Veröffentlichungen <strong>in</strong> nordamerikanischen<br />

Zeitschriften rezipiert werden, bestätigt e<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong>gedanken der neo<strong>in</strong>stitutionalistischen<br />

Theorie: In e<strong>in</strong>em organisationalen Feld werden Praktiken übernommen,<br />

soweit sie zur Legitimierung dienen, aber entkoppelt von den Kernprozessen der Leistungserstellung.<br />

Die Forscher <strong>in</strong> der deutschsprachigen Community verfolgen weiter eigenständige<br />

Fragestellungen, aber um ihre Legitimitätsbasis zu sichern, 'schmücken' sie – überspitzt<br />

gesagt – ihre Veröffentlichungen mit Zitaten, welche e<strong>in</strong>e Referenz auf die Ma<strong>in</strong>streamforschung<br />

signalisieren.<br />

Es lassen sich aber auch mögliche Ursachen dafür aufführen, worum sich der offensichtliche<br />

Anpassungsdruck noch nicht so stark auf das ökonomische Kalkül deutschsprachiger<br />

Forscher ausgewirkt hat, dass sich dies <strong>in</strong> den Zitationsstrukturen niedergeschlagen hätte.<br />

E<strong>in</strong>e mögliche Erklärung besteht <strong>in</strong> Wanderungsbewegungen zwischen den regionalen<br />

Communities: Deutschsprachige Forscher, die sich am Ma<strong>in</strong>stream der nordamerikanischen<br />

Forschung orientieren, verlegen entweder ihren Arbeitsort nach Nordamerika, oder sie publizieren<br />

gar nicht mehr <strong>in</strong> deutschsprachigen Zeitschriften. Das hätte langfristig zur Folge,<br />

dass die deutschsprachige Community zwar weiter ihren eigenen Schwerpunkten folgt, aber<br />

personell ausgedünnt wird, weil immer weniger Nachwuchswissenschaftler noch e<strong>in</strong>treten.<br />

E<strong>in</strong>e zweite Ursache könnte im gewählten Zeitraum liegen: Vielleicht reicht e<strong>in</strong> Zeitraum<br />

von r<strong>und</strong> sieben Jahren für die Identifizierung von Anpassungsprozessen nicht aus. E<strong>in</strong>e<br />

Folgestudie könnte hier Klarheit schaffen. Gerade bei der neo<strong>in</strong>stitutionalistischen Richtung<br />

zeigen sich mittlerweile erste Anzeichen e<strong>in</strong>er zunehmenden Verankerung dieses Ansatzes<br />

79 21


<strong>in</strong> der deutschsprachigen Community, was sich beispielsweise daran ersehen lässt, dass <strong>in</strong><br />

diesem Jahr erstmalig e<strong>in</strong>e eigene Tagung zur <strong>in</strong>stitutionalistischen Organisationstheorie an<br />

der Wirtschaftsuniversität Wien durchgeführt wurde.<br />

Wor<strong>in</strong> zeigt sich Fortschritt <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung? Die<br />

Studie liefert Anhaltspunkte dafür, dass sich Fortschritt im <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerb der<br />

Forscher <strong>und</strong> Communities über Anpassung vollziehen kann. Diese Anpassung ist e<strong>in</strong>seitig,<br />

wenn es wie gegenwärtig <strong>in</strong> der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre e<strong>in</strong>en breiten<br />

Konsens darüber gibt, dass die 'andere' Community erfolgreicher ist. Gegenläufig zur (e<strong>in</strong>geschränkten)<br />

Annäherung zwischen den regionalen Communities zeigen die hier dargestellten<br />

Kozitationsnetzwerke e<strong>in</strong>en Trend zur Ausdifferenzierung. Die Dichte der Cluster<br />

nimmt ab. Die Zahl isolierter Gruppen von thematisch verb<strong>und</strong>enen Publikationen jenseits<br />

der zentralen Schwerpunkte nimmt dagegen zu. Ob der hier festgestellte Trend verallgeme<strong>in</strong>erungsfähig<br />

ist, können nur Studien zu nachfolgenden Perioden <strong>und</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Vergleiche<br />

zeigen.<br />

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84 26


Beitrag zur Fachtagung<br />

<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong><br />

Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

vom 22. bis zum 23. September 2005 <strong>in</strong> Essen<br />

Rassenhövel, Sylvia / Dyckhoff, Harald<br />

Die Relevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Beurteilung<br />

der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />

Dipl.-Kff. Sylvia Rassenhövel<br />

RWTH Aachen<br />

Lehrstuhl für Unternehmenstheorie,<br />

Umweltökonomie <strong>und</strong> Industrielles<br />

Controll<strong>in</strong>g<br />

Templergraben 64<br />

52056 Aachen<br />

Telefon +49 241 80-96573<br />

Fax +49 241 80-92179<br />

rassenhoevel@lut.rwth-aachen.de<br />

Prof. Dr. Harald Dyckhoff<br />

RWTH Aachen<br />

Lehrstuhl für Unternehmenstheorie,<br />

Umweltökonomie <strong>und</strong> Industrielles<br />

Controll<strong>in</strong>g<br />

Templergraben 64<br />

52056 Aachen<br />

Telefon +49 241 80-96176<br />

Fax +49 241 80-92179<br />

lut@lut.rwth-aachen.de<br />

85


2<br />

Die Beurteilung der Leistungen <strong>in</strong> Forschung <strong>und</strong> Lehre gew<strong>in</strong>nt durch die im Rahmen der<br />

aktuellen Bildungsreformen verstärkte Autonomie, den damit verb<strong>und</strong>enen Forderungen nach<br />

Rechenschaftslegung sowie dem <strong>in</strong>tensivierten Wettbewerb im Hochschulbereich zunehmend<br />

an Bedeutung. Zur Schaffung der erforderlichen Leistungstransparenz werden zum e<strong>in</strong>en Peer<br />

Reviews durchgeführt, zum anderen vor allem aber auch Indikatoren erhoben. Diese sollen<br />

e<strong>in</strong> objektives Bild über die Hochschulleistungen geben <strong>und</strong> bilden so vielfach die Basis für<br />

Mittelverteilungen oder die Aufstellung von Rank<strong>in</strong>gs. Im Bereich der Forschung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang <strong>in</strong>sbesondere Drittmittelkennzahlen sehr häufig erfasste Größen. Deren<br />

Aussagemöglichkeiten <strong>und</strong> -grenzen zur Beurteilung der Forschung im Hochschulbereich<br />

werden im Folgenden untersucht.<br />

Zunächst wird kurz auf Forschung <strong>und</strong> Leistung im Allgeme<strong>in</strong>en sowie auf Möglichkeiten zu<br />

deren Beurteilung e<strong>in</strong>gegangen (Abschnitt 1). Anschließend wird die Beurteilung der Forschungsleistung<br />

mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren betrachtet, wobei diese aus produktionstheoretischer<br />

Perspektive analysiert <strong>und</strong> im H<strong>in</strong>blick auf ihre pr<strong>in</strong>zipielle Eignung zur Bewertung<br />

der Forschungseffektivität <strong>und</strong> -effizienz untersucht werden (Abschnitt 2). Auf diesen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

basieren die im dritten Abschnitt <strong>in</strong> diesem Kontext durchgeführten Überlegungen zur<br />

Bedeutung der Periodenabgrenzung, die sich zum e<strong>in</strong>en auf <strong>in</strong>dividuelle, zum anderen auf<br />

aggregierte Forschungstätigkeiten beziehen.<br />

1. Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />

Wenn die Forschungsleistung im Hochschulbereich beurteilt werden soll, muss zunächst geklärt<br />

werden, was Forschung bzw. Hochschulforschung ist, was unter dem Begriff Leistung,<br />

<strong>in</strong>sbesondere Forschungsleistung verstanden wird <strong>und</strong> wie diese im Hochschulbereich beurteilt<br />

werden kann.<br />

1.1. Forschung<br />

Auf die erste Frage „Was ist Forschung?“ gibt es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Antwort. Statt e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen<br />

Def<strong>in</strong>ition f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der Literatur verschiedene Begriffsklärungen, die häufig<br />

allgeme<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, die sich zum Teil aber auch auf bestimmte Arten von Forschung beziehen.<br />

E<strong>in</strong>e generelle, für statistische Erhebungen <strong>in</strong>ternational anerkannte Def<strong>in</strong>ition der OECD<br />

bezeichnet beispielsweise Forschung (<strong>und</strong> Entwicklung) als „systematische, schöpferische<br />

Arbeit zur Erweiterung des Kenntnisstandes, e<strong>in</strong>schließlich der Erkenntnisse über den Men-<br />

86


3<br />

schen, die Kultur <strong>und</strong> die Gesellschaft sowie deren Verwendung mit dem Ziel, neue Anwendungsmöglichkeiten<br />

zu f<strong>in</strong>den.“ 1<br />

Um die Tätigkeit der Forschung sowie ihre Bedeutung besser verstehen, außerdem spezielle<br />

Def<strong>in</strong>itionen richtig e<strong>in</strong>ordnen zu können, ist e<strong>in</strong>e Klassifizierung s<strong>in</strong>nvoll. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

kann diesbezüglich zwischen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er funktionellen Gliederung unterschieden<br />

werden. Bei erstgenannter stehen die durchführenden bzw. f<strong>in</strong>anzierenden Stellen im<br />

Mittelpunkt der Betrachtung. So geschieht z.B. die wichtigste <strong>in</strong>stitutionelle Aufteilung nach<br />

den fünf Sektoren „Wirtschaft“, „Staat“, „Private Organisationen ohne Erwerbszweck“,<br />

„Hochschulen“ <strong>und</strong> „Ausland“. Die funktionelle Klassifizierung erfolgt dagegen nach den<br />

charakteristischen Merkmalen der Forschung. Differenziert wird hier etwa nach der Art der<br />

Tätigkeit <strong>in</strong> „Gr<strong>und</strong>lagenforschung“, „angewandte Forschung“ <strong>und</strong> „(experimentelle) Entwicklung“<br />

oder nach Wissenschaftsbereichen, wie „Geistes- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften“, Biologie<br />

<strong>und</strong> Mediz<strong>in</strong>“, „Naturwissenschaften“ <strong>und</strong> „Ingenieurwissenschaften“. 2<br />

Im vorliegenden Kontext ist e<strong>in</strong>e Fokussierung auf den Sektor der „Hochschulen“ erforderlich.<br />

E<strong>in</strong>e mögliche Klärung des Begriffs akademischer Forschung liefert das Hochschulrahmengesetz<br />

(HRG), nach dem diese „der Gew<strong>in</strong>nung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie<br />

der wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>legung <strong>und</strong> Weiterentwicklung von Lehre <strong>und</strong> Studium“ 3 dient.<br />

Um die verschiedenen Merkmale der Hochschulforschung bei Beurteilungen angemessen<br />

berücksichtigen zu können, soll an dieser Stelle kurz zwischen Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungsforschung<br />

differenziert werden. 4<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung lässt sich als Produktion neuen öffentlichen (<strong>und</strong> nicht unmittelbar<br />

auf Verwertung ausgerichteten) Wissens über die Welt auffassen; die Produktion neuen (praktisch)<br />

verwertbaren Wissens kann dagegen als angewandte Forschung verstanden werden. 5<br />

Wie aus diesen Def<strong>in</strong>itionen bereits hervorgeht, liegt e<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied der beiden<br />

Forschungsarten <strong>in</strong> der Nutzung der gewonnen Erkenntnisse. Während im Allgeme<strong>in</strong>en die<br />

Ergebnisse der Gr<strong>und</strong>lagenforschung nicht kommerziell verwertet, sondern <strong>in</strong> wissenschaftlichen<br />

Fachzeitschriften publiziert oder z.B. auf Fachtagungen verbreitet werden, s<strong>in</strong>d die aus<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

OECD (1982), S. 29.<br />

Vgl. OECD (1982), S. 46 ff., <strong>und</strong> DFG (2003), S. 21.<br />

HRG (2004), § 22 Satz 1.<br />

Da bei der Hochschulforschung Entwicklung e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle spielt, wird sie hier – wie auch häufiger<br />

<strong>in</strong> der Praxis üblich – nicht weiter von der angewandten Forschung abgegrenzt.<br />

Vgl. beispielsweise die Def<strong>in</strong>itionen von (Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungs-)Forschung bei Chalmers (1999),<br />

S. 23, Brockhoff (1999), S. 48, <strong>und</strong> der OECD (1982), S. 70 f.<br />

87


4<br />

der Anwendungsforschung erzielten Resultate häufig geheim zu halten. Letztere richten sich –<br />

anders als diejenigen der Gr<strong>und</strong>lagenforschung – auf spezifische praktische Ziele <strong>und</strong> sollen<br />

nicht selten dem Erwerb von Wettbewerbsvorteilen dienen, welche durch Patente oder Lizenzen<br />

gesichert werden können. Die praktische Verwertbarkeit solcher Ergebnisse ist daher e<strong>in</strong><br />

entscheidender Faktor für den Erfolg der angewandten Forschung. 6<br />

Beiden Forschungstypen geme<strong>in</strong>sam ist die Neuheit des generierten Wissens. In diesem Zusammenhang<br />

besteht jedoch das Problem der Abgrenzung des Wortes „neu“. Im strengen<br />

S<strong>in</strong>ne bezieht es sich auf objektiv neues Wissen, also auf Weltneuheiten; im weniger strengen<br />

S<strong>in</strong>ne fällt auch re<strong>in</strong> subjektiv neues Wissen darunter, also Neuheiten für den jeweiligen Entscheidungsträger.<br />

Wenngleich die Diskussionen hierüber laut Brockhoff im S<strong>in</strong>ne der subjektiven<br />

Neuheit als beendet gelten, 7 soll angemerkt werden, dass zum<strong>in</strong>dest der Veröffentlichungsaspekt<br />

der Gr<strong>und</strong>lagenforschung eher für die objektive Perspektive spricht, da entsprechende<br />

Forschungsergebnisse jedem zugänglich s<strong>in</strong>d bzw. se<strong>in</strong> sollten <strong>und</strong> daher e<strong>in</strong>e mehrfache<br />

Produktion gleichen Wissens vermieden werden kann.<br />

Das Verständnis der Forschung als Produktion neuen Wissens weist auf die Komb<strong>in</strong>ation verschiedener<br />

Produktionsfaktoren im Forschungsprozess h<strong>in</strong>. Dabei handelt es sich um bewusste,<br />

planmäßige, systematische Prozesse, bei denen die menschliche Kreativität von primärer<br />

Bedeutung ist. 8 Zwar basiert Wissensgew<strong>in</strong>nung nicht selten auf Zufällen, doch muss dann <strong>in</strong><br />

der Regel bei den eigentlichen Entdeckungen auf den Zufall <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Inspiration<br />

noch e<strong>in</strong>e strukturierte, oft zeitaufwändige <strong>und</strong> mühsame Untersuchung folgen, wie es<br />

beispielsweise von der Erf<strong>in</strong>dung der Röntgenstrahlen <strong>und</strong> der „Post it“-Notizzettel berichtet<br />

wird. Diese durchdachten Aktivitäten führen allerd<strong>in</strong>gs nicht mit Sicherheit zu neuem Wissen.<br />

Stattdessen s<strong>in</strong>d sie immer mit Ungewissheit verb<strong>und</strong>en, 9 deren Ausprägung bei der Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

im Vergleich zu derjenigen bei der angewandten Forschung aufgr<strong>und</strong> der fehlenden<br />

bzw. ger<strong>in</strong>geren spezifischen Zielorientierung als stärker vermutet werden kann. 10<br />

In der Praxis ist die hier vorgestellte abstrakte Unterscheidung zwischen den zwei Forschungskategorien<br />

mit Problemen verb<strong>und</strong>en. So können e<strong>in</strong>zelne Forschungsprojekte, wie<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Vgl. OECD (1982), S. 70, <strong>und</strong> Kommission der Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften (2005), S. 8.<br />

Vgl. Brockhoff (1999), S. 48.<br />

Vgl. Brockhoff (1999), S. 49 f.<br />

Vgl. Brockhoff (1999), S. 49.<br />

10 Bezieht man aber z.B. die Zielerreichung auf technische Produktziele, so können laut Brockhoff (1999),<br />

S. 55, „auch <strong>in</strong> der Gr<strong>und</strong>lagenforschung Erfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten auftreten, die nicht unter denjenigen<br />

für Entwicklungsprojekte liegen.“<br />

88


5<br />

z.B. e<strong>in</strong>e Studie über die soziökonomischen E<strong>in</strong>flussvariablen von Studierendenleistungen,<br />

sowohl Elemente der Gr<strong>und</strong>lagen- als auch der Anwendungsforschung enthalten. 11<br />

Da im Folgenden (weitgehend) auf e<strong>in</strong>e Differenzierung zwischen beiden Forschungskategorien<br />

verzichtet werden kann, wird – sofern nicht explizit darauf verwiesen ist – vere<strong>in</strong>fachend<br />

zusammenfassend von der „Produktion neuen Wissens“ gesprochen.<br />

1.2. (Forschungs-)Leistung<br />

Auf die zweite im Vorfeld e<strong>in</strong>er Beurteilung der Forschungsleistung zu beantwortende Frage<br />

„Was ist Leistung, <strong>in</strong>sbesondere Forschungsleistung?“ ist ebenfalls ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Lösung<br />

zu f<strong>in</strong>den. Der Begriff „Leistung“ hat <strong>in</strong> verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Bedeutungen.<br />

Selbst <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>zelner Fachgebiete existieren mehrere Leistungsverständnisse.<br />

In der Soziologie gibt es z.B. den statischen <strong>und</strong> den dynamischen Leistungsbegriff <strong>und</strong> <strong>in</strong> der<br />

Betriebswirtschaft wird der Term<strong>in</strong>us <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als Gegenbegriff zu Kosten verwandt.<br />

Daneben gibt es dort beispielsweise potenzial-, prozess- <strong>und</strong> ergebnisorientierte Auffassungen,<br />

die Interpretationen des Begriffs im S<strong>in</strong>ne der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz sowie die<br />

Gleichsetzung mit Performance oder Value Added. 12<br />

Aufgr<strong>und</strong> der zahlreichen Bedeutungs- <strong>und</strong> Verwendungsmöglichkeiten ist der Term<strong>in</strong>us<br />

Leistung für den jeweiligen Kontext zu spezifizieren. Zur Beurteilung von Forschung wird er<br />

zwar häufig benutzt, allerd<strong>in</strong>gs existiert (noch) ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Def<strong>in</strong>ition. Theorie <strong>und</strong><br />

Praxis zeigen aber immer wieder deutlich, dass aus betriebswirtschaftlicher Perspektive folgende<br />

Aspekte – alle<strong>in</strong> oder <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation – von Bedeutung s<strong>in</strong>d: Effektivität <strong>und</strong> Effizienz,<br />

Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz. Welche genau betrachtet werden (sollten), ist abhängig<br />

von den jeweiligen Interessenten <strong>und</strong> deren Informationsbedürfnissen. Um diesen allen<br />

gerecht zu se<strong>in</strong>, werden die e<strong>in</strong>zelnen Aspekte hier kurz diskutiert.<br />

Effektivität <strong>und</strong> Effizienz<br />

Effektivität stellt ganz allgeme<strong>in</strong> die zweckbezogene Wirksamkeit e<strong>in</strong>er Handlung dar, das<br />

heißt e<strong>in</strong>e Tätigkeit ist dann effektiv, wenn die erzielten Wirkungen (Effekte) den beabsichtigten<br />

Zwecken entsprechen. Dabei s<strong>in</strong>d Zwecke die aufgr<strong>und</strong> ursprünglicher Handlungsmotive<br />

primär relevanten Ziele, also die Beweggründe des Handelns. 13<br />

11 Vgl. das ähnliche Beispiel <strong>in</strong> OECD (1982), S. 72.<br />

12 Vgl. unter anderem den Überblick über verschiedene Leistungsverständnisse bei Becker (2003), S. 11 ff.<br />

13 Vgl. Dyckhoff/Ahn (2001), S. 112 ff.<br />

89


6<br />

Effizienz wird als wirtschaftliche Wirksamkeit e<strong>in</strong>er Handlung verstanden. Diese ist optimal,<br />

wenn Verschwendung vermieden wird, also ke<strong>in</strong>e Verbesserung der ausgelösten Wirkungen<br />

möglich ist, ohne bei den sek<strong>und</strong>är relevanten Zielen – ger<strong>in</strong>ger Mittele<strong>in</strong>satz, Erzeugung<br />

erwünschter Nebenfolgen <strong>und</strong> M<strong>in</strong>derung unerwünschter Nebenfolgen – e<strong>in</strong>e Verschlechterung<br />

hervorzurufen. 14<br />

E<strong>in</strong>e Forschungstätigkeit ist demnach effektiv, wenn sie den Zweck der Produktion neuen<br />

Wissens erfüllt. Sie ist effizient, wenn e<strong>in</strong> verbesserter Erkenntnisgew<strong>in</strong>n nur mit e<strong>in</strong>em höheren<br />

Ressourcene<strong>in</strong>satz bzw. e<strong>in</strong>er Verschlechterung h<strong>in</strong>sichtlich der Nebenfolgen möglich ist.<br />

Welche Details bei solch e<strong>in</strong>er Effektivitäts- <strong>und</strong> Effizienzbetrachtung der Hochschulforschung<br />

entscheidend se<strong>in</strong> können, ist beispielhaft <strong>in</strong> Abbildung 1 dargestellt.<br />

Primäres Ziel<br />

Sek<strong>und</strong>äre Ziele<br />

Zweck erreichen<br />

Mittel sparsam e<strong>in</strong>setzen<br />

Erwünschte Nebenfolgen<br />

erzeugen<br />

Unerwünschte Nebenfolgen<br />

m<strong>in</strong>dern<br />

Produktion neuen Wissens<br />

Personal<br />

• Wissenschaftliches<br />

Personal<br />

− Professoren<br />

− Sonstiges wissenschaftliches<br />

Personal<br />

• Nichtwiss. Personal<br />

Förderung des wiss.<br />

Nachwuchses<br />

• Promotionen<br />

• Habilitationen<br />

Verbesserung der Lehre<br />

„Büchse der Pandora“<br />

Atomenergie<br />

Gentechnik<br />

Umweltverschmutzung<br />

...<br />

Sachmittel<br />

Förderung der <strong>in</strong>ternationalen<br />

Zusammenarbeit<br />

F<strong>in</strong>anzmittel<br />

• Planmäßige Mittel<br />

• Drittmittel<br />

Abbildung 1: Ziele der Hochschulforschung 15<br />

Qualität <strong>und</strong> Quantität<br />

Qualität ist e<strong>in</strong> vager Begriff, der sich grob mit Beschaffenheit oder Güte umschreiben lässt.<br />

Genauer def<strong>in</strong>iert ihn z.B. die Deutsche Gesellschaft für Qualität e.V. als „Gesamtheit von<br />

14 Vgl. Dyckhoff/Ahn (2001), S. 112 ff.<br />

15 Modifikation der Ziel- <strong>und</strong> Indikatorenstruktur von Dyckhoff et al. (2005), S. 63.<br />

90


7<br />

Merkmalen (<strong>und</strong> Merkmalswerten) e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit bezüglich ihrer Eignung, festgelegte <strong>und</strong><br />

vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen.“ 16<br />

Dieser Versuch der Begriffsklärung deutet darauf h<strong>in</strong>, dass Qualität immer subjektiv ist, da<br />

die Auswahl der betrachteten Eigenschaften <strong>und</strong> deren geforderter Ausmaße <strong>in</strong>dividuell verschieden<br />

se<strong>in</strong> können. Entsprechend schwierig erweist sich auch die Formulierung allgeme<strong>in</strong>er<br />

Gütekriterien für die Forschung. H<strong>in</strong>zu kommt, dass Forschung, <strong>in</strong>sbesondere Gr<strong>und</strong>lagenforschung,<br />

weitgehend <strong>in</strong>s Unbekannte gerichtet ist – sie dient schließlich der Generierung<br />

neuen Wissens – <strong>und</strong> somit Qualitätsanforderungen nur schwierig zu benennen s<strong>in</strong>d.<br />

Ebenso wird Quantität häufig als wesentlicher Leistungsaspekt angesehen. Diese ist generell,<br />

also auch bei der Produktion neuen Wissens, eng mit der Qualität verb<strong>und</strong>en.<br />

Relevanz<br />

Mit Relevanz ist generell die Bedeutsamkeit e<strong>in</strong>es Aspektes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Zusammenhang<br />

geme<strong>in</strong>t. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der Forschungsbeurteilung kann diese auf die Wichtigkeit<br />

des neu produzierten Wissens für die Gesellschaft – entsprechend der objektiven Neuheit<br />

– 17 oder aber im S<strong>in</strong>ne des subjektiven Neuheitsverständnisses auf die unmittelbar Betroffenen<br />

bezogen werden. Dabei ist zwischen der theoretischen, re<strong>in</strong> wissenschaftlichen Bedeutung<br />

der Forschungsergebnisse <strong>und</strong> deren praktischer Verwertbarkeit zu differenzieren.<br />

1.3. Beurteilung der Forschungsleistung<br />

Nachdem geklärt wurde, was unter Forschung <strong>und</strong> Leistung verstanden wird, ist nun auf die<br />

Frage e<strong>in</strong>zugehen, wie Forschungsleistung im Hochschulbereich beurteilt werden kann.<br />

Gemäß obigen Ausführungen sollte bei e<strong>in</strong>er gesamthaften Beurteilung der Forschung im<br />

Hochschulbereich zum e<strong>in</strong>en dem <strong>in</strong>dividuellen Gegenstand der zu beurteilenden Forschung,<br />

zum anderen der Komplexität <strong>und</strong> Vielfältigkeit des Leistungsbegriffs Rechnung getragen<br />

werden.<br />

Um Forschung überhaupt erfassen <strong>und</strong> von anderen D<strong>in</strong>gen abgrenzen zu können, ist das Erkennen<br />

der <strong>in</strong> Abschnitt 1.1 genannten konstituierenden Merkmale: Öffentlichkeit des Gr<strong>und</strong>lagenwissens<br />

bzw. praktische Verwertbarkeit des angewandten Wissens sowie generell die<br />

Neuheit des entstandenen Wissens, e<strong>in</strong>e wesentliche Voraussetzung. Zur Beurteilung muss<br />

16 DGQ (1995), Nr. 1.5, S. 30.<br />

17 So fordert beispielsweise die Kommission der Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften (2005, S. 7) die Relevanz der<br />

Forschung für die Gesellschaft.<br />

91


8<br />

die Forschung <strong>in</strong> Beziehung gesetzt werden zu der Forschung früherer Perioden, festgelegten<br />

Standards oder vergleichbaren Objekten. Dabei sollten stets die unterschiedlichen Ausmaße<br />

von Zufallswirkungen <strong>und</strong> planmäßigem Vorgehen, aber auch die variierende Unsicherheit<br />

der Erf<strong>in</strong>dungsprozesse Berücksichtigung f<strong>in</strong>den. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d spezifische Merkmale<br />

der zu beurteilenden E<strong>in</strong>heit zur Unterscheidung heranzuziehen, wie etwa die wirtschaftliche<br />

Lage e<strong>in</strong>es Hochschulstandorts, die unter anderem die Möglichkeiten zur Forschungskooperation<br />

<strong>und</strong> zum Wissenstransfer bee<strong>in</strong>flussen kann, oder z.B. das Alter e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung zwecks<br />

Beachtung eventueller Vorteile traditioneller Hochschulen gegenüber Neugründungen. Da<br />

Forschung von Natur aus sehr heterogen ist, zwischen Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungsforschung<br />

oft nicht klar differenziert werden kann <strong>und</strong> nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der wachsenden<br />

Spezialisierung <strong>in</strong> der Wissenschaft, erweist sich allerd<strong>in</strong>gs die Sicherstellung e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Vergleichbarkeit als außerordentlich schwierig. Um <strong>in</strong> der Praxis zum<strong>in</strong>dest den unterschiedlichen<br />

Forschungs<strong>in</strong>halten verschiedener Wissenschaftsbereiche gerecht zu werden,<br />

wird üblicherweise empfohlen, nur fachspezifische Vergleiche durchzuführen.<br />

Um bei Forschungsbewertungen e<strong>in</strong>em im obigen S<strong>in</strong>ne komplexen <strong>und</strong> vielfältigen Leistungsverständnis<br />

gerecht zu werden, müssen die verschiedenen Leistungsaspekte – Effektivität<br />

<strong>und</strong> Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz – Beachtung f<strong>in</strong>den. Entsprechend<br />

ist zu beurteilen, <strong>in</strong>wieweit neues Wissen produziert <strong>und</strong> ob dabei Verschwendung vermieden<br />

wird, von welcher Güte <strong>und</strong> welchem Ausmaß die gewonnenen Erkenntnisse s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche<br />

Relevanz sie für Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis haben. Dass solche Leistungse<strong>in</strong>schätzungen subjektiv<br />

s<strong>in</strong>d, wurde bereits an e<strong>in</strong>igen Stellen deutlich, z.B. bei der Thematisierung des Qualitätsbegriffs<br />

im Abschnitt 1.2. Die Subjektivität zeigt sich aber <strong>in</strong>sbesondere auch dann, wenn<br />

die Analyse auf bestimmte Aspekte fokussiert wird. So <strong>in</strong>teressieren sich beispielsweise Forschungsförderer<br />

vorwiegend für die Effizienz <strong>und</strong> Relevanz der Forschung, für Wissenschaftler<br />

zählt dagegen mehr deren Effektivität <strong>und</strong> wissenschaftliche Güte.<br />

Die Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich kann mit Hilfe verschiedener<br />

Methoden erfolgen. Zum e<strong>in</strong>en ist die Erhebung von (mehr oder weniger subjektiven) Expertenurteilen<br />

möglich (Peer Reviews), andererseits können Leistungs<strong>in</strong>dikatoren die Basis e<strong>in</strong>er<br />

Beurteilung se<strong>in</strong>. Die Komb<strong>in</strong>ation beider Verfahren führt schließlich zu e<strong>in</strong>em so genannten<br />

„Informed Peer Review“. 18<br />

18 E<strong>in</strong> solches wird z.B. vom Wissenschaftsrat (2004, S. 43) zur Bewertung der Forschung empfohlen.<br />

92


9<br />

Indikatoren – die im Folgenden ausschließlich betrachtet werden – dienen generell der näherungsweisen<br />

Abbildung bzw. Beurteilung e<strong>in</strong>er als wichtig erachteten, sich aber e<strong>in</strong>er unmittelbaren<br />

Erfassung entziehenden Größe. Sie werden oftmals als Kennzahlen erfasst <strong>und</strong><br />

manchmal zu e<strong>in</strong>em Gesamt<strong>in</strong>dikator (Index) aggregiert. Da Zusammenhänge zwischen den<br />

sicht- bzw. messbaren Indikatoren <strong>und</strong> dem zu erfassenden Indikandum <strong>in</strong> der Regel nur sehr<br />

schwierig festzustellen s<strong>in</strong>d, sollte die Auswahl <strong>und</strong> Komb<strong>in</strong>ation von Indikatoren immer mit<br />

äußerster Sorgfalt erfolgen. Kritisch zu prüfen ist dabei vor allem, ob die Wirklichkeit valide<br />

<strong>und</strong> reliabel reflektiert werden kann. 19<br />

Als Beurteilungsmaße für die Forschungsleistung sollen Indikatoren – wie oben erläutert –<br />

auf deren Effektivität <strong>und</strong> Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität bzw. Relevanz h<strong>in</strong>weisen. Abbildung<br />

2 zeigt beispielhaft Leistungs<strong>in</strong>dikatoren auf, die <strong>in</strong> der aktuellen Praxis der nationalen<br />

Forschungsbeurteilung verwendet <strong>und</strong> <strong>in</strong> Rank<strong>in</strong>gs ausgewiesen werden.<br />

CHE<br />

FOCUS<br />

DFG<br />

Drittmittel<br />

Patente<br />

Promotionen<br />

Publikationen<br />

Reputation<br />

Zitationen<br />

Drittmittel<br />

Reputation<br />

Zitationen<br />

Ausländische Geförderte des<br />

Deutschen Akademischen<br />

Austauschdienstes (DAAD)<br />

Drittmittel<br />

Gastwissenschaftler, Preisträger<br />

<strong>und</strong> Stipendiaten der Alexander<br />

vom Humboldt-Stiftung (AvH)<br />

Publikationen<br />

Zitationen<br />

Abbildung 2: Forschungs<strong>in</strong>dikatoren <strong>in</strong> der Praxis 20<br />

Dieser kle<strong>in</strong>e Überblick über die Leistungsbeurteilung der Forschung mittels Indikatoren zeigt<br />

bereits deren unterschiedliche Ausrichtungsmöglichkeiten. So sollen etwa durch das CHE-<br />

Forschungsrank<strong>in</strong>g die Forschungsaktivitäten der Universitäten beleuchtet <strong>und</strong> so genannte<br />

19 Zu Indikatoren vgl. beispielsweise Schnell/Hill/Esser (2005), S. 131 ff.<br />

20 Vgl. das CHE-Forschungsrank<strong>in</strong>g (Berghoff et al., 2005), das FOCUS-Rank<strong>in</strong>g (FOCUS, 2004) <strong>und</strong> das<br />

DFG-Förderrank<strong>in</strong>g (DFG, 2003).<br />

93


10<br />

forschungsstarke Fakultäten hervorgehoben werden, 21 das FOCUS-Rank<strong>in</strong>g versucht – auf<br />

Basis von Forschungs- <strong>und</strong> Lehr<strong>in</strong>dikatoren – die besten deutschen Universitäten zu ermitteln<br />

22 <strong>und</strong> der Schwerpunkt des DFG-Förderrank<strong>in</strong>gs liegt auf Maßgrößen zur Abbildung der<br />

Forschungsförderung. 23 In der Praxis werden die jeweiligen Kennzahlen auf verschiedenen<br />

Hochschulebenen e<strong>in</strong>gesetzt, z.B. national <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternational zur Schaffung von Transparenz<br />

<strong>und</strong> zum Erkennen von Forschungseliten, auf Länder- <strong>und</strong> Hochschulebene zur <strong>in</strong>dikatorgestützten<br />

Mittelverteilung sowie zum Controll<strong>in</strong>g <strong>und</strong> <strong>in</strong> Fachbereichen bei der Berufung von<br />

Professoren.<br />

E<strong>in</strong>e genauere Betrachtung der e<strong>in</strong>zelnen Indikatoren zeigt zudem, dass diese <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Rank<strong>in</strong>gs auf vielfältige Arten erhoben, ausgewiesen <strong>und</strong> aggregiert werden. 24<br />

Weiterh<strong>in</strong> ist schon alle<strong>in</strong> an den drei, <strong>in</strong> Abbildung 2 aufgezeigten aktuellen Beispielen zu<br />

erkennen, dass unter anderem Drittmittelkennzahlen – trotz kontroverser Diskussionen über<br />

deren Aussagemöglichkeiten – <strong>in</strong> der Praxis e<strong>in</strong>e große Rolle spielen. Diese spiegelt sich auch<br />

bei Betrachtung anderer <strong>in</strong>dikatorgestützter Forschungsbeurteilungen wider. So verdeutlicht<br />

etwa folgendes Zitat aus dem Controll<strong>in</strong>g-Konzept der RWTH Aachen den hohen Stellenwert<br />

von Drittmittelkennzahlen auf der Hochschulebene: „Aufgr<strong>und</strong> fehlender flächendeckender,<br />

gleichen Standards entsprechender <strong>und</strong> mit vertretbarem Aufwand nutzbarer Zitationsstudien<br />

konzentriert sich das Forschungscontroll<strong>in</strong>g der RWTH Aachen derzeit auf die kont<strong>in</strong>uierliche<br />

<strong>und</strong> systematische Erfassung, Darstellung <strong>und</strong> Interpretation von forschungsrelevanten<br />

Drittmitteldaten.“ 25<br />

In den nächsten Abschnitten wird untersucht, <strong>in</strong>wieweit diese, <strong>in</strong> der Praxis hohe Wertschätzung<br />

von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren auch aus theoretischer Perspektive gerechtfertigt ist. Dabei<br />

stehen <strong>in</strong>sbesondere zeitliche Aspekte im Fokus der Analyse.<br />

2. Beurteilung der Forschungsleistung mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

Wie bereits erwähnt, werden Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren vielfach <strong>und</strong> <strong>in</strong> unterschiedlicher Form<br />

e<strong>in</strong>gesetzt. Die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten werden nun erläutert <strong>und</strong> auf die-<br />

25<br />

21 Vgl. Berghoff et al. (2005), S. B-1.<br />

22 Vgl. FOCUS (2004), S. 110 ff.<br />

23 Vgl. DFG (2003), S. 18.<br />

24 So werden beispielsweise <strong>in</strong> den genannten Rank<strong>in</strong>gs unterschiedliche Drittmittelkennzahlen erhoben. Das<br />

CHE ermittelt verausgabte Drittmittel (vgl. CHE, 2005, S. B-2), im FOCUS-Rank<strong>in</strong>g werden e<strong>in</strong>geworbene<br />

Drittmittel aufgeführt (vgl. FOCUS, 2004, S. 134) <strong>und</strong> ebenso fließen <strong>in</strong> das DFG-Förderrank<strong>in</strong>g – neben den<br />

verausgabten – vorrangig die bewilligten Gelder e<strong>in</strong> (vgl. DFG, 2003, S. 18 f.).<br />

RWTH Aachen (2004), S. 25.<br />

94


11<br />

ser Gr<strong>und</strong>lage die Beurteilung der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz mittels Drittmittelkennzahlen<br />

untersucht.<br />

2.1. Drittmittel(<strong>in</strong>dikatoren) aus produktionstheoretischer Perspektive<br />

Bevor Drittmittel <strong>in</strong> diesem Abschnitt detailliert aus Sicht der Produktionstheorie analysiert<br />

werden, ist e<strong>in</strong>e kurze Klärung des Begriffs erforderlich. Nach § 25 Absatz 2 des Hochschulrahmengesetzes<br />

liegt Drittmittelforschung <strong>in</strong> Hochschulen vor, wenn Forschungsvorhaben<br />

„nicht aus den der Hochschule zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln, sondern aus Mitteln<br />

Dritter f<strong>in</strong>anziert werden“ 26 . Diese zusätzlichen zweckgeb<strong>und</strong>enen Gelder werden von<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Stellen wettbewerblich auf Basis bestimmter Kriterien an e<strong>in</strong>zelne<br />

Forscher <strong>und</strong> Forschungsgruppen vergeben. Der Gewährung geht meist e<strong>in</strong> Antrag voraus, der<br />

von Gutachtern geprüft wird. Die Mittelvergabe kann daraufh<strong>in</strong> entweder e<strong>in</strong>malig oder<br />

mehrmalig, dann aber zeitlich befristet erfolgen.<br />

Aus produktionstheoretischer Perspektive können diese Fördergelder unterschiedlich betrachtet<br />

werden. Sie s<strong>in</strong>d dabei verschiedenen Stufen e<strong>in</strong>es um die Wirkungen (Outcome) erweiterten<br />

Produktionsmodells, wie es <strong>in</strong> Abbildung 3 skizziert ist, zuordenbar.<br />

Input<br />

Prozess<br />

Output<br />

Outcome<br />

Abbildung 3:<br />

(Erweitertes) Produktionsmodell<br />

Aus re<strong>in</strong> technischer Perspektive stellen Drittmittel Input der Forschung dar. In dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

<strong>in</strong>formieren Drittmittelkennzahlen lediglich über neben der Gr<strong>und</strong>ausstattung zur Verfügung<br />

stehende f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen für Personal <strong>und</strong> Sachmittel – also über „zusätzliches“<br />

Forschungspotenzial – sagen aber nichts über die damit (eventuell) verb<strong>und</strong>ene Produktion<br />

neuen Wissens aus. Wenn diese Ausgaben – <strong>in</strong>terpretiert als Forschungs<strong>in</strong>put – daher auch<br />

nicht die Effektivität, Qualität <strong>und</strong> Quantität bzw. Relevanz der damit f<strong>in</strong>anzierten Forschung<br />

26 HRG (2004), § 25 Abs. 1.<br />

95


12<br />

reflektieren können, so sollten sie zum<strong>in</strong>dest gr<strong>und</strong>sätzlich bei Effizienzbetrachtungen berücksichtigt<br />

werden.<br />

Der E<strong>in</strong>satz von Fördergeldern kann auch auf (sichtbare) Forschungsaktivität <strong>und</strong> damit auf<br />

den Prozess der Forschung h<strong>in</strong>weisen. In diesem S<strong>in</strong>ne lässt sich mittels Drittmittelkennzahlen<br />

auf die Qualität <strong>und</strong> Quantität der Tätigkeiten, nicht aber auf die Leistung h<strong>in</strong>sichtlich des<br />

produzierten Wissens als Ergebnis des Forschungsprozesses schließen. Bei solchen Prozessbeurteilungen<br />

wird unterstellt, dass die Gelder s<strong>in</strong>nvoll für die Forschung ausgegeben werden.<br />

Ob sich aber z.B. e<strong>in</strong> Forscher wirklich gedanklich mit e<strong>in</strong>em drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Projekt<br />

beschäftigt, wenn er dieses vorgibt, oder ob er sich tatsächlich ganz anderen Forschungsbereichen<br />

widmet, ist wohl kaum kontrollierbar.<br />

Neben der <strong>in</strong>put- <strong>und</strong> prozessorientierten Interpretation von Drittmitteln werden diese auch als<br />

Outcome der Forschung aufgefasst. Dabei liegt der Gedanke zugr<strong>und</strong>e, dass die Drittmittelvergabe<br />

an bereits erfolgte Leistungen anknüpft, worunter allerd<strong>in</strong>gs nicht allgeme<strong>in</strong>e vergangene<br />

Forschungserfolge <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Reputation zu verstehen s<strong>in</strong>d, sondern<br />

konkrete projektbezogene Vorarbeiten, die <strong>in</strong> Form f<strong>und</strong>ierter (Fortsetzungs-)Anträge zum<br />

Ausdruck kommen. Diese werden häufig mit zur Publikation e<strong>in</strong>gereichten Manuskripten<br />

verglichen <strong>und</strong> als Ergebnis der Forschung (Output) <strong>in</strong>terpretiert, dessen Wirkungen sich<br />

schließlich <strong>in</strong> der Zuweisung bzw. Nichtzuweisung von Fördergeldern zeigen. 27 In diesem<br />

S<strong>in</strong>ne bilden Drittmittelmaßgrößen die bewertete Kreativität, also den von den Geldgebern<br />

honorierten Ideenreichtum des jeweiligen Antragstellers ab <strong>und</strong> weisen außerdem auf die Fähigkeit<br />

des Forschers h<strong>in</strong>, selber Potenzial zu schaffen <strong>und</strong> Projekte zu f<strong>in</strong>anzieren.<br />

Drittmittelmaße als Outcome<strong>in</strong>dikatoren können aber nicht – wie es oftmals irrtümlich durch<br />

z.B. Rank<strong>in</strong>gs suggeriert wird – bzw. nur unter bestimmten Annahmen das (eigentliche) Forschungsergebnis<br />

reflektieren. Denn mit der Antragstellung von Fördergeldern wird ke<strong>in</strong> neu<br />

geschaffenes Wissen dokumentiert, sondern nur (e<strong>in</strong>em begrenzten Personenkreis) e<strong>in</strong>e Idee<br />

zur Wissensproduktion vorgestellt. Selbst wenn bereits im Rahmen der Vorarbeiten für die<br />

Erstellung e<strong>in</strong>es Erstantrages neue Erkenntnisse entstanden se<strong>in</strong> sollten oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fortsetzungsantrag<br />

auf bereits gewonnene Ergebnisse verwiesen wird, so s<strong>in</strong>d diese Anträge <strong>in</strong> der<br />

Regel nicht zur Veröffentlichung <strong>und</strong> auch nicht zur weiteren Verwertung bestimmt. Insofern<br />

stellen Drittmittelanträge ke<strong>in</strong>en konkreten Forschungsoutput dar <strong>und</strong> entsprechend können<br />

27 Vgl. Hornbostel (1997), S. 234. Hier werden allerd<strong>in</strong>gs die Drittmittel selber als Output der Forschung bezeichnet.<br />

96


13<br />

auf Drittmitteln basierende Outcome<strong>in</strong>dikatoren auch nicht zur Beurteilung vergangener Forschungsleistung,<br />

sondern allenfalls zur Prognose zukünftiger Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Nur unter Zugr<strong>und</strong>elegung der Tatsache, dass die Vergabe von Fördergeldern an dokumentierte<br />

Forschungskonzepte anknüpft, <strong>und</strong> mit der Annahme, dass geförderte Projekte gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

erfolgreich s<strong>in</strong>d, können Drittmittelkennzahlen als auf das Endergebnis bezogene<br />

Outcomemaßgrößen verwendet werden. Das heißt, Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren stellen allenfalls<br />

dann Maße zur Beurteilung der Forschungsleistung dar, wenn e<strong>in</strong>e hohe Korrelation zwischen<br />

den antragsbezogenen Vorarbeiten, deren Wirkungen <strong>in</strong> der Zuweisung bzw. Nichtzuweisung<br />

von Drittmitteln zum Ausdruck kommen, <strong>und</strong> der eigentlichen, forschungszweckbezogenen<br />

Produktion neuen Wissens unterstellt wird, das heißt der E<strong>in</strong>satz von Fördergeldern<br />

mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu neuem Wissen führt.<br />

Zur Veranschaulichung dieses – für die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren als Outcomemaße<br />

entscheidenden – Zusammenhangs betont Abbildung 4 die Unterscheidung zwischen<br />

der Vor- <strong>und</strong> der Hauptleistung e<strong>in</strong>es drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Forschungsprojektes <strong>und</strong> die hier<br />

vere<strong>in</strong>fachend als determ<strong>in</strong>istisch angenommene Beziehung zwischen den für das Projekt<br />

erhaltenen Geldern <strong>und</strong> dem damit produzierten neuen Wissen.<br />

Vorleistungen (Zweck: Antragserstellung)<br />

Input<br />

Drittmittelantrag<br />

Antragserstellung<br />

Drittmittel<br />

Prognose!<br />

Hauptleistungen (Zweck: Produktion neuen Wissens)<br />

Input<br />

Wissensproduktion<br />

neu<br />

produziertes<br />

Wissen<br />

Outcome<br />

Abbildung 4:<br />

Vor- <strong>und</strong> Hauptleistung drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschung<br />

Wenn von solch e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlichen, durch die Höhe der Gelder bestimmten Erfolg der<br />

Drittmittelforschung ausgegangen wird, können die Outcome<strong>in</strong>dikatoren nicht nur zur Beurteilung<br />

der Effektivität, sondern auch der Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz<br />

herangezogen werden. In die Effizienzbetrachtung fließen die Drittmittel dann <strong>in</strong> zweifacher<br />

97


14<br />

H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>: e<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>genommenen Gelder als H<strong>in</strong>weis auf den Forschungserfolg,<br />

andererseits aber auch die verausgabten Mittel als Maß für den Ressourcenverbrauch zu<br />

berücksichtigen.<br />

Drittmittel geben H<strong>in</strong>weise auf die Qualität der (geplanten) Forschungsvorhaben, weil sie –<br />

wie oben bereits erwähnt – im Wettbewerb um Forschungse<strong>in</strong>kommen vergeben werden <strong>und</strong><br />

die Bewilligungen Ergebnisse umfangreicher Begutachtungsprozesse darstellen. Die wissenschaftliche<br />

Güte geförderter Forschungsprojekte wird durch die kritischen Würdigungen seitens<br />

der Gutachter aus der Scientific Community bzw. der Wirtschaft sicher gestellt. So werden<br />

nur die als <strong>in</strong>novativ, Erfolg versprechend <strong>und</strong> förderungswürdig beurteilten Projektideen<br />

f<strong>in</strong>anziert.<br />

Die Höhe der Forschungsförderung lässt – zum<strong>in</strong>dest unter der Annahme e<strong>in</strong>es hoch korrelierten<br />

Zusammenhangs zwischen den Drittmitteln e<strong>in</strong>es Projektes <strong>und</strong> der Wissensproduktion<br />

– Aussagen über die Quantität der Forschung zu. Darüber h<strong>in</strong>aus spiegeln solche Outcomekennzahlen<br />

die Relevanz der geplanten Forschung wider, denn schließlich werden nur solche<br />

Vorhaben unterstützt, die für die Gesellschaft im Allgeme<strong>in</strong>en bzw. die Förderer im Speziellen<br />

als bedeutsam e<strong>in</strong>geschätzt werden.<br />

Die hier dargestellten verschiedenen produktionstheoretischen Sichtweisen der Drittmittel<br />

s<strong>in</strong>d Gr<strong>und</strong> für die vielfältige Verwendung entsprechender Indikatoren <strong>in</strong> der Praxis. 28 Die<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Konflikte sowie <strong>in</strong>sbesondere die Problematik der Annahme e<strong>in</strong>er hohen<br />

Korrelation zwischen Drittmitteln <strong>und</strong> Forschungserfolg bei der Verwendung der endergebnisorientierten<br />

Outcomemaße sollten bei der Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren stets<br />

bewusst se<strong>in</strong>. Letztere wird im Folgenden anhand mehrerer Beispiele zur Beurteilung der Forschungseffektivität<br />

<strong>und</strong> -effizienz veranschaulicht.<br />

2.2. Beurteilung der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forschung mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

Die Untersuchung der effektivitäts- <strong>und</strong> effizienzbezogenen Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren erfolgt<br />

durch Gegenüberstellung der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Periode von zwei Forschern (A <strong>und</strong> B) erbrachten<br />

Leistungen. Dabei wird – wie im Abschnitt 1.2 erläutert – Effektivität verstanden<br />

als zweckbezogene Wirksamkeit, wobei der Zweck der Forschung dar<strong>in</strong> liegt, neues Wissen<br />

28 Vgl. etwa die Verwendung von Drittmitteln als Input bei Fandel (2003) <strong>und</strong> als Output bzw. Outcome <strong>in</strong> den<br />

gängigen Rank<strong>in</strong>gs, von z.B. Berghoff et al. (2005), dem FOCUS (2004) <strong>und</strong> der DFG (2003).<br />

98


15<br />

zu produzieren. Effizienz wird als Verhältnis von erreichtem Zweck <strong>und</strong> Mittele<strong>in</strong>satz aufgefasst.<br />

Im Weiteren nicht angesprochene Aspekte, wie z.B. die erwünschten <strong>und</strong> unerwünschten<br />

Nebenfolgen oder <strong>in</strong>stitutionelle Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Forschung, s<strong>in</strong>d als nicht existent<br />

bzw. nicht relevant angenommen.<br />

Zur Leistungsbeurteilung werden folgende zwei Perspektiven herangezogen:<br />

• In Perspektive I s<strong>in</strong>d nur die e<strong>in</strong>gesetzten bzw. verausgabten 29 Drittmittel sichtbar.<br />

Alle sonstigen forschungsbezogenen Aspekte, wie der Prozess <strong>und</strong> das neu produzierte<br />

Wissen, bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „Black Box“, so dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren den e<strong>in</strong>zigen<br />

Anhaltspunkt bei der Forschungsbeurteilung darstellen. Gemäß der („strengen“)<br />

Interpretation der endergebnisorientierten Outcomekennzahlen wird bei dieser Modellbetrachtung<br />

von e<strong>in</strong>em determ<strong>in</strong>istischen Zusammenhang zwischen den Drittmitteln<br />

e<strong>in</strong>es Projekts <strong>und</strong> dessen Erfolg ausgegangen.<br />

• Perspektive II ermöglicht e<strong>in</strong>en Überblick über die gesamte Forschung, <strong>in</strong>sbesondere<br />

auch über das neu produzierte Wissen. Sowohl Effektivität <strong>und</strong> Effizienz als auch<br />

Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie die Relevanz der Forschung können direkt gemessen <strong>und</strong><br />

beurteilt werden. Es muss hier also ke<strong>in</strong> gr<strong>und</strong>sätzlicher Erfolg drittmittelf<strong>in</strong>anzierter<br />

Forschung unterstellt werden.<br />

Während folglich Perspektive I lediglich zeigt, was Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren erfassen, wird <strong>in</strong><br />

Perspektive II zusätzlich deutlich, was wirklich <strong>in</strong> der Forschung geschieht bzw. geleistet<br />

wird. Die Vergleichbarkeit der auf diesen unterschiedlichen Gr<strong>und</strong>lagen basierenden Forschungsbeurteilungen<br />

wird nun anhand dreier unterschiedlicher Fälle dargelegt.<br />

Fall 1<br />

Im Fall 1 arbeiten die Forscher A <strong>und</strong> B unter vollständig gleichen Bed<strong>in</strong>gungen. In dem betrachteten<br />

Zeitraum steht ihnen <strong>in</strong>sbesondere dieselbe Drittmittelmenge zur Verfügung, die<br />

komplett <strong>in</strong> die jeweilige Forschung e<strong>in</strong>fließt.<br />

Perspektive I<br />

Wie soeben beschrieben <strong>und</strong> <strong>in</strong> Abbildung 5 dargestellt, ist <strong>in</strong> der Perspektive I lediglich die<br />

Höhe an Fördergeldern sichtbar. Die Urteile über die Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B können<br />

daher nur auf Basis von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren getroffen werden. Unter der Annahme,<br />

29 Im Folgenden wird stets vere<strong>in</strong>fachend angenommen, dass Drittmittele<strong>in</strong>nahmen <strong>und</strong> -ausgaben identisch<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

99


16<br />

dass Drittmittel sowohl Input der Forschung darstellen als auch auf deren Zweck h<strong>in</strong>weisen,<br />

lassen sich A <strong>und</strong> B aufgr<strong>und</strong> der übere<strong>in</strong>stimmenden Drittmittelhöhe als gleich effektiv <strong>und</strong><br />

effizient beurteilen. Ihre Leistung ist demnach völlig identisch.<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 5: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 1)<br />

Perspektive II<br />

In Perspektive II s<strong>in</strong>d neben der Drittmittelhöhe weitere Informationen über die Wissensproduktion<br />

bekannt, so dass die Zweckerreichung unmittelbar – <strong>und</strong> nicht <strong>in</strong>direkt auf der Basis<br />

von Ersatzgrößen – beurteilt werden kann. Im vorliegenden Fall wird unterstellt, dass die von<br />

A <strong>und</strong> B neu gewonnen Erkenntnisse ke<strong>in</strong>e (wertmäßigen) Unterschiede aufweisen (siehe<br />

Abbildung 6). Da somit alle betrachteten Aspekte identisch s<strong>in</strong>d, können auch ke<strong>in</strong>e Differenzen<br />

<strong>in</strong> der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forscher festgestellt werden. A <strong>und</strong> B leisten folglich<br />

das Gleiche.<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Wert des<br />

Wissens<br />

Neues Wissen<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 6: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 1)<br />

100


17<br />

E<strong>in</strong>e Gegenüberstellung der Ergebnisse zeigt, dass die Beurteilungen <strong>in</strong> den Perspektiven I<br />

<strong>und</strong> II übere<strong>in</strong>stimmen. Die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren ist <strong>in</strong> diesem Fall – der<br />

als Beispiel für e<strong>in</strong>en realen determ<strong>in</strong>istischen Zusammenhang zwischen dem E<strong>in</strong>satz von<br />

Fördergeldern <strong>und</strong> dem Projekterfolg gelten kann – unproblematisch.<br />

Fall 2<br />

Dem zweiten hier dargestellten Fall liegt dieselbe Ausgangssituation wie Fall 1 zugr<strong>und</strong>e: Die<br />

Forscher A <strong>und</strong> B arbeiten unter vollständig gleichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> setzen die ihnen <strong>in</strong><br />

gleicher Höhe zur Verfügung stehenden Drittmittel für Forschungsprojekte e<strong>in</strong>.<br />

Perspektive I<br />

Abbildung 7 zeigt die <strong>in</strong> Perspektive I sichtbare Drittmittelhöhe. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage ergibt<br />

sich – analog zu Fall 1 – e<strong>in</strong>e identische Beurteilung der Leistungen von A <strong>und</strong> B.<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 7: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 2)<br />

Perspektive II<br />

Perspektive II offenbart jedoch – im Gegensatz zur Perspektive I – das unterschiedliche Ausmaß<br />

der Wissensproduktion der beiden Forscher. A produziert mit den gleichen Geldern höherwertigeres<br />

Wissen als B, das heißt, se<strong>in</strong>e Erkenntnisse weisen vergleichsweise e<strong>in</strong>e bessere<br />

Qualität <strong>und</strong>/oder größere Quantität auf bzw. s<strong>in</strong>d sie von höherer Relevanz (siehe Abbildung<br />

8). E<strong>in</strong>e auf dem Wert des neu produzierten Wissens basierende Leistungsbeurteilung<br />

verdeutlicht die entsprechend höhere Effektivität der Forschung von A. Da dieser für die Wissensproduktion<br />

den gleichen Input e<strong>in</strong>setzt wie B, kann weiterh<strong>in</strong> auf die effizientere Tätigkeit<br />

von A geschlossen werden.<br />

101


18<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Wert des<br />

Wissens<br />

Neues Wissen<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 8: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 2)<br />

Dieser Fall verdeutlicht, dass die alle<strong>in</strong>ige Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren zu Fehle<strong>in</strong>schätzungen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Leistung führen kann. Die Maßgrößen weisen nur sche<strong>in</strong>bar<br />

auf die gleiche Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forschung von A <strong>und</strong> B h<strong>in</strong>. Lediglich wenn <strong>in</strong><br />

Perspektive I, z.B. aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Herkunft der Drittmittel, für beide Forschungsvorhaben<br />

verschiedene determ<strong>in</strong>istische Zusammenhänge zwischen den Fördergeldern <strong>und</strong><br />

dem neu gewonnenen Wissen bekannt wären, könnte auf die unterschiedlichen Leistungen<br />

von A <strong>und</strong> B geschlossen werden.<br />

Fall 3<br />

Im dritten Fall erhält Forscher A mehr Drittmittel als B. Ansonsten gelten auch hier die gleichen<br />

Forschungsbed<strong>in</strong>gungen.<br />

Perspektive I<br />

Nach der ausschließlichen Betrachtung der Drittmittelhöhe bei Perspektive I wird A effektiver<br />

als B beurteilt. Zudem ergibt sich – sofern die Fördergelder neben den Gr<strong>und</strong>mitteln als Input<br />

berücksichtigt werden – auch e<strong>in</strong>e höhere Effizienz der Forschung von A (siehe Abbildung<br />

9). 30<br />

30 DMA /(GM + DM A ) > DM B /(GM + DM B ), da DM A , DM B <strong>und</strong> GM ≥ 0 <strong>und</strong> DM A > DM B<br />

(DM = Drittmittel, GM = Gr<strong>und</strong>mittel)<br />

102


19<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 9: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 3)<br />

Perspektive II<br />

In Perspektive II wird allerd<strong>in</strong>gs deutlich, dass beide Forscher den Zweck der Forschung gleichermaßen<br />

erfüllen, sie also als gleich effektiv e<strong>in</strong>zustufen s<strong>in</strong>d. Da außerdem B e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren<br />

Drittmittele<strong>in</strong>satz hat, ist er <strong>in</strong> Relation zu A als effizienter zu beurteilen (siehe<br />

Abbildung 10).<br />

€<br />

Drittmittel<br />

Wert des<br />

Wissens<br />

Neues Wissen<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Forscher A<br />

Forscher B<br />

Abbildung 10: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 3)<br />

Es kann festgehalten werden, dass im dritten Fall die Beurteilungen auf Basis der verschiedenen<br />

Perspektiven zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen. Während aus der Perspektive<br />

I A effektiver <strong>und</strong> effizienter forscht, besteht dagegen aus der Perspektive II h<strong>in</strong>sichtlich<br />

der Effektivität ke<strong>in</strong> Unterschied zwischen der Forschung von A <strong>und</strong> B, außerdem ist hier B<br />

der effizientere Forscher.<br />

Neben diesen Beurteilungsdifferenzen zwischen den beiden Perspektiven verdeutlicht dieses<br />

Beispiel vor allem auch die gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung von Effizienzanalysen bei Leistungsvergleichen,<br />

denn durch sie kann e<strong>in</strong>e systematische Benachteiligung von Forschern, die für<br />

103


20<br />

e<strong>in</strong>en bestimmten Output relativ wenig Input benötigen oder die mit e<strong>in</strong>em bestimmten Mittele<strong>in</strong>satz<br />

e<strong>in</strong>en relativ großen Output erzeugen, vermieden werden. 31<br />

Die Beurteilungsergebnisse der drei vorgestellten Fälle s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong>mal im Überblick der<br />

Tabelle 1 zu entnehmen.<br />

Beurteilungskriterium<br />

Perspektive I<br />

Perspektive II<br />

Fall 1<br />

Fall 2<br />

Fall 3<br />

Effektivität A = B A = B<br />

Effizienz A = B A = B<br />

Effektivität A = B A > B<br />

Effizienz A = B A > B<br />

Effektivität A > B A = B<br />

Effizienz A > B A < B<br />

Legende<br />

= gleich effektiv/effizient<br />

> effektiver/effizienter<br />

< weniger effektiv/effizient<br />

Tabelle 1: Effektivitäts- <strong>und</strong> Effizienzbeurteilung – Vergleich der Forscher A <strong>und</strong> B (Fälle 1 bis 3)<br />

Alle<strong>in</strong> diese kle<strong>in</strong>e Auswahl möglicher Leistungsvergleiche zeigt, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

nur bed<strong>in</strong>gt Forschungsleistungen reflektieren können. Sie zeigen zwar durchaus den Erfolg<br />

der Forscher bei der E<strong>in</strong>werbung von Mitteln aus dritter Hand auf, e<strong>in</strong>e (alle<strong>in</strong>ige) Betrachtung<br />

dieser Größen kann aber – da Drittmittelkennzahlen nicht unmittelbar den Zweck der<br />

Forschung abbilden – zu falschen Leistungsbeurteilungen, Maßnahmen <strong>und</strong> somit zu unerwünschten<br />

Konsequenzen führen. Idealerweise sollten diese daher auf der direkten Messung<br />

des neu produzierten Wissens basieren. Da aber <strong>in</strong> der Realität das geschaffene Wissen erst<br />

durch z.B. Veröffentlichungen oder praktische Anwendungen nach Abschluss der häufig sehr<br />

langen Forschungszeit sichtbar wird <strong>und</strong> außerdem nicht unmittelbar (quantitativ) erfasst<br />

werden kann, s<strong>in</strong>d Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren <strong>in</strong> der Praxis beurteilungsrelevante Größen, die auf<br />

die Forschungsleistung h<strong>in</strong>weisen sollen. Ihre Validität hängt allerd<strong>in</strong>gs maßgeblich von dem<br />

realen sowie unterstellten Zusammenhang zwischen erfolgreicher Drittmittele<strong>in</strong>werbung <strong>und</strong><br />

der Produktion neuen Wissens ab.<br />

Die Existenz gr<strong>und</strong>sätzlich erfolgreicher Drittmittelprojekte <strong>in</strong> der Realität ist durchaus <strong>in</strong><br />

Frage zu stellen, da Drittmittelvergaben – wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 erläutert – generell nur auf<br />

Prognosen über zukünftige Forschungsleistungen beruhen. So ist es durchaus möglich, dass<br />

31 Vgl. hierzu Kieser (1998), S. 216.<br />

104


21<br />

e<strong>in</strong> Forscher, der Ideen gut verkauft, diese nicht unbed<strong>in</strong>gt auch gut umsetzen kann. 32 Allerd<strong>in</strong>gs<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e den Drittmittelprojekten implizit unterstellte Wissensproduktion <strong>und</strong> damit<br />

auch die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren aus mehreren Gründen durchaus plausibel.<br />

So sprechen zunächst die bereits im Vorfeld e<strong>in</strong>er Antragsstellung durch die Forscher ausgeübte<br />

qualitative Selbstselektion wie auch die E<strong>in</strong>schätzung seitens der Fachexperten für e<strong>in</strong>e<br />

vergleichsweise höhere Erfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeit drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschung. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus verfügen die Initiatoren im Vergleich zu anderen Forschungse<strong>in</strong>heiten aufgr<strong>und</strong> der<br />

größeren f<strong>in</strong>anziellen <strong>und</strong> somit auch umfassenderen <strong>und</strong> eventuell höherwertigeren personellen<br />

bzw. materiellen Ausstattung über bessere Produktionsbed<strong>in</strong>gungen, die für den Erfolg der<br />

Wissensproduktion förderlich se<strong>in</strong> können. Schließlich werden nur detailliert planbare, projektförmige<br />

<strong>und</strong> damit zeitlich überschaubare Forschungsvorhaben f<strong>in</strong>anziert. Zwar s<strong>in</strong>d diese<br />

auch mit Unsicherheit behaftet, doch <strong>in</strong> weniger starkem Ausmaß als bei kaum durchdachten<br />

Tätigkeiten. 33 Selbst wenn der geplante Erfolg e<strong>in</strong>es Drittmittelprojektes nicht (vollständig)<br />

erreicht wird <strong>und</strong> z.B. ke<strong>in</strong>e Anwendung des neu gewonnenen Wissens möglich ist, kann für<br />

manche Forschungstätigkeiten die Verwendung e<strong>in</strong>es Drittmittel<strong>in</strong>dikators als Leistungsmaß<br />

durchaus rechtfertigt werden, so etwa bei nicht veröffentlichten Studien, die negative Aussagen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Wirksamkeit e<strong>in</strong>es Medikaments, Impfstoffs oder Therapieverfahrens<br />

erbr<strong>in</strong>gen. 34<br />

Zusammenfassend soll hervorgehoben werden, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren überhaupt nur<br />

dann für die endergebnisbezogene Forschungsbeurteilung bedeutsam se<strong>in</strong> können, wenn der<br />

Zweck der Forschung nicht sicht- bzw. erfassbar ist <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e hohe Korrelation zwischen der<br />

Drittmittelf<strong>in</strong>anizerung von Forschungsprojekten <strong>und</strong> deren Erfolgen unterstellt werden kann.<br />

Dagegen s<strong>in</strong>d Drittmittelmaßgrößen – ohne Beachtung möglicher Kreativitäts- <strong>und</strong> Selbstf<strong>in</strong>anzierungsaspekte<br />

– pr<strong>in</strong>zipiell irrelevant, wenn es möglich ist, die Erfüllung des Forschungszwecks<br />

direkt zu beurteilen.<br />

32 Vgl. Gillet (1989), S. 28.<br />

33 Vgl. die Überlegungen von Hornbostel (1997), S. 215.<br />

34 Dass hierüber mehr Transparenz geschaffen werden soll, zeigt beispielsweise das mediz<strong>in</strong>ische Fachjournal<br />

„Journal of Negative Results <strong>in</strong> Biomedic<strong>in</strong>e“.<br />

105


22<br />

3. Die Bedeutung der Periodenabgrenzung für die Relevanz von<br />

Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

Unter Berücksichtigung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse wird nun anhand konstruierter,<br />

idealtypischer, drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschungsprojekte aufgezeigt, wann Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

überhaupt unter zeitlichen Gesichtspunkten s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>gesetzt werden können. Dabei<br />

wird <strong>in</strong>sbesondere das Problem der Periodenabgrenzung thematisiert.<br />

3.1. Leistungsbeurteilungen e<strong>in</strong>zelner Forscher<br />

Die Überlegungen zu Beurteilungen e<strong>in</strong>zelner Forscher werden veranschaulicht an Beispielen<br />

der Leistungen e<strong>in</strong>es Forschers oder dem Vergleich der Leistungen zweier Forscher, wobei im<br />

Gegensatz zu Abschnitt 2.2 mehrere Perioden betrachtet werden. Folgende Annahmen werden<br />

getroffen:<br />

Die Forschung vollzieht sich <strong>in</strong> Standardprojekten, die sich nahtlos ane<strong>in</strong>ander reihen. E<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnes Projekt dauert <strong>in</strong>sgesamt vier Perioden, wovon <strong>in</strong> der jeweils ersten Vorleistungen<br />

zur Erlangung von Drittmitteln erbracht werden <strong>und</strong> <strong>in</strong> den drei darauf folgenden unter E<strong>in</strong>satz<br />

der erhaltenen Gelder geforscht wird. Pro geförderter Periode steht e<strong>in</strong> Standardbetrag an<br />

Drittmitteln im Wert von vier Drittmittele<strong>in</strong>heiten zur Verfügung. Es wird angenommen, dass<br />

auch die Vorleistungen direkt zur Zweckerreichung beitragen, entsprechend konstant <strong>in</strong> allen<br />

Perioden Wissen generiert wird. Dieses produzierte Wissen zeigt sich jeweils <strong>in</strong> dem ersten<br />

Zeitabschnitt nach Beendigung e<strong>in</strong>es Forschungsprojektes. Es kommt <strong>in</strong> Publikationen gleichen<br />

Umfangs, gleicher Qualität sowie gleicher Relevanz zum Ausdruck 35 <strong>und</strong> ist <strong>in</strong> dieser<br />

Form mess- <strong>und</strong> quantifizierbar. Pro Forschungsperiode ergibt sich e<strong>in</strong>e Publikationse<strong>in</strong>heit,<br />

das heißt <strong>in</strong>sgesamt entsteht durch jedes Projekt e<strong>in</strong>e Veröffentlichung mit e<strong>in</strong>em Wert von<br />

vier E<strong>in</strong>heiten.<br />

Abbildung 11 gibt die im vorliegenden Kontext betrachteten Aspekte e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschungsprojektes<br />

vere<strong>in</strong>facht wieder, wobei <strong>in</strong> der unteren Hälfte der Prozess der Forschung<br />

sowie das neu produzierte öffentliche Wissen <strong>und</strong> im oberen Teil die betrachteten Indikatoren<br />

dargestellt s<strong>in</strong>d.<br />

35 Nach der <strong>in</strong> Abschnitt 1.1 aufgeführten Def<strong>in</strong>ition könnte es sich etwa um Gr<strong>und</strong>lagenforschung handeln.<br />

106


23<br />

Drittmittel<br />

Publikation<br />

Forschungsprojekt<br />

Neues<br />

öffentliches<br />

Wissen<br />

Zeit<br />

Abbildung 11:<br />

Drittmittelf<strong>in</strong>anzierte Forschung <strong>und</strong> Forschungs<strong>in</strong>dikatoren<br />

Zur Leistungsbeurteilung wird zunächst die Zweckerreichung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschers (A<br />

oder B) periodengenau über die Anzahl der produzierten Publikationen, die das neu produzierte<br />

Wissen dokumentieren, ermittelt. Abbildung 12 zeigt die sich ergebenden Werte: die<br />

Ergebnisse des ersten Forschungsprojektes werden im fünften Zeitabschnitt veröffentlicht,<br />

weitere Publikationen folgen <strong>in</strong> der neunten <strong>und</strong> dreizehnten sowie nach je weiteren vier Perioden.<br />

Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />

pro<br />

Periode<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

DM-Projekt<br />

Vorleistungen<br />

Publikation <strong>und</strong><br />

Vorleistungen<br />

Abbildung 12:<br />

Forschungsbeurteilung mittels Publikations<strong>in</strong>dikator (periodengenau)<br />

Es ergibt sich, dass der Zweck der Forschung nur <strong>in</strong> jeder vierten Periode erfüllt <strong>und</strong> <strong>in</strong> den<br />

jeweils dazwischen liegenden drei Perioden nichts geleistet wird. Intuitiv sche<strong>in</strong>en diese<br />

Messergebnisse dem beurteilten Forscher nicht gerecht zu werden <strong>und</strong> die Realität nicht angemessen<br />

wiederzugeben. Vor allem die ermittelten Leistungsschwankungen s<strong>in</strong>d dabei kritisch<br />

zu betrachten. Diese beruhen darauf, dass der Forschungszweck streng genommen erst<br />

mit der Veröffentlichung von Ergebnissen erfüllt wird <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e liegende – oftmals<br />

107


24<br />

sehr lange – Forschungstätigkeit hier <strong>in</strong> jeweils andere Messperioden fällt. Die „eigentliche“<br />

Leistung wird demnach also genau dann erbracht, wenn ke<strong>in</strong>e Zweckerreichung sichtbar ist.<br />

Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen Forschungsbeurteilung ersche<strong>in</strong>t es s<strong>in</strong>nvoll, Forschungs<strong>in</strong>put<br />

<strong>und</strong> -output zusammen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Messzeitraums zu erfassen. Wird dieser allerd<strong>in</strong>gs zu<br />

groß gewählt, ist e<strong>in</strong>e zeitnahe Leistungsbeurteilung nicht mehr sicherzustellen. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> zur Vermeidung der bei kürzeren Zeitfenstern existierenden messbed<strong>in</strong>gten Leistungsschwankungen<br />

werden <strong>in</strong> der Praxis Durchschnittswerte über e<strong>in</strong>en mittleren Zeitraum<br />

von <strong>in</strong> der Regel drei Jahren erhoben (siehe Abbildung 13). 36<br />

Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />

der<br />

Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12 Periode<br />

DM-Projekt<br />

Vorleistungen<br />

Publikation <strong>und</strong><br />

Vorleistungen<br />

Abbildung 13:<br />

Forschungsbeurteilung mittels Publikations<strong>in</strong>dikator (gleitender Durchschnitt)<br />

Doch auch e<strong>in</strong> solcher (Drei-Perioden-)Durchschnitt ist <strong>in</strong> der hier betrachteten Situation nicht<br />

zufrieden stellend, denn wie zuvor werden trotz der unterstellten konstanten Forschungstätigkeit<br />

Zeitabschnitte ausgemacht, <strong>in</strong> denen sche<strong>in</strong>bar „nichts geleistet wird“, wie z.B. <strong>in</strong> der<br />

achten <strong>und</strong> zwölften Periode.<br />

Bei auf diesem Vorgehen beruhenden Leistungsvergleichen kann es daher zu unstimmigen<br />

Bewertungen kommen, wie der Vergleich zweier Forscher (A <strong>und</strong> B), die beide nach dem<br />

oben beschriebenen Muster das gleiche Wissen produzieren, <strong>in</strong> Abbildung 14 zeigt.<br />

36 Vgl. z.B. Berghoff et al. (2005), S. B-2.<br />

108


25<br />

Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />

der<br />

Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />

4<br />

Forscher A<br />

3<br />

2<br />

1<br />

Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />

der<br />

Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />

4<br />

4 8 12 16<br />

20<br />

Periode<br />

Forscher B<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12 16<br />

20<br />

Periode<br />

Abbildung 14:<br />

Vergleich der Forschungsleistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations<strong>in</strong>dikator<br />

(gleitender Durchschnitt)<br />

Auf Basis der Summe bzw. des Durchschnitts der hier betrachteten Perioden werden A <strong>und</strong> B<br />

– unter Vernachlässigung der Zeitverzögerung <strong>und</strong> des damit verb<strong>und</strong>enen „Neuheitsproblems“<br />

– als gleich leistungsstark beurteilt. Die Erhebung e<strong>in</strong>es Drei-Perioden-Durchschnitts<br />

ergibt jedoch nicht nur Perioden, wie etwa die siebte, <strong>in</strong> denen A <strong>und</strong> B als gleich gut gelten,<br />

sondern auch solche, <strong>in</strong> denen A schlechter (z.B. Periode 8) oder besser (z.B. Periode 10) als<br />

B beurteilt wird.<br />

Das Problem verschärft sich bei Reduzierung der Messfrequenz. 37 Würden im vorgestellten<br />

Fall die Publikationen etwa nur <strong>in</strong> jeder vierten Perioden erhoben, wäre unter Umständen<br />

(hier z.B. bei ausschließlicher Betrachtung des vierten, achten, zwölften <strong>und</strong> sechzehnten Erhebungszeitraums)<br />

für den e<strong>in</strong>en Forscher (A) nie, für den anderen (B) dagegen fast immer<br />

e<strong>in</strong>e Leistung sichtbar.<br />

Insgesamt verdeutlicht das Beispiel das gr<strong>und</strong>sätzliche Periodenabgrenzungsproblem bei der<br />

Leistungsmessung (der Hochschulforschung). E<strong>in</strong> zu kle<strong>in</strong>es Zeitfenster kann zu Fehlbeurteilungen<br />

<strong>und</strong> falschen Entscheidungen führen, damit auch zu nicht gewollten Anreizen (wie<br />

37 In der Praxis werden die Daten häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dreijährigen Turnus erhoben (vgl. z.B. Berghoff et al., 2005,<br />

S. B-4, <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit CHE 2005).<br />

109


26<br />

etwa bei der <strong>in</strong>dikatorgestützten Mittelverteilung). Wird dagegen e<strong>in</strong> zu großes Zeitfenster<br />

gewählt, ist e<strong>in</strong>e aktuelle Beurteilung nicht mehr sicherzustellen.<br />

Der zuvor beschriebene <strong>und</strong> hier vere<strong>in</strong>fachend unterstellte determ<strong>in</strong>istische Zusammenhang<br />

zwischen der Drittmittelförderung von Forschung <strong>und</strong> dem neu produzierten Wissen, das <strong>in</strong><br />

Publikationen zum Ausdruck kommt, ermöglicht bei kürzeren Erhebungszeiträumen e<strong>in</strong>e exaktere<br />

bzw. gerechtere Leistungsbeurteilung. Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren können dann nämlich die<br />

Publikationskennzahlen <strong>in</strong> idealer Weise ergänzen, wie das <strong>in</strong> Abbildung 15 fortgeführte Beispiel<br />

zeigt. Hier stehen pro geförderter Periode vier Drittmittele<strong>in</strong>heiten zur Verfügung, die –<br />

wie bereits bei der Vergabe der Fördergelder bekannt – zu <strong>in</strong>sgesamt vier Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />

führen.<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

pro Periode<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

Abbildung 15:<br />

Forschungsbeurteilung durch Komb<strong>in</strong>ation aus Publikations- <strong>und</strong> Drittmittel<strong>in</strong>dikator<br />

(periodengenau)<br />

Es wird deutlich, dass e<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Betrachtung der Drittmittel <strong>und</strong> Publikationen zu e<strong>in</strong>er<br />

durchweg konstanten Leistungsbeurteilung führt <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Höchst- bzw. Nullleistungen<br />

existieren. Somit kann bei e<strong>in</strong>em Vergleich der Leistungen der oben genannten Forscher A<br />

<strong>und</strong> B <strong>in</strong> jeder Periode auf deren <strong>in</strong>sgesamt übere<strong>in</strong>stimmendes Leistungsniveau geschlossen<br />

werden.<br />

E<strong>in</strong>e Durchschnittsbildung über mehrere Perioden ist <strong>in</strong> diesem idealisierten Fall mit konstanter<br />

Forschungstätigkeit bzw. -leistung nicht erforderlich, kann aber z.B. bei auf externen Faktoren<br />

beruhenden Leistungsschwankungen, wie e<strong>in</strong>er zeitweise sehr hohen bzw. ger<strong>in</strong>gen<br />

Lehrbelastung, durchaus s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, um sprunghafte Veränderungen der Messwerte <strong>und</strong><br />

eventuell darauf basierende unstetige Verteilungen von Gr<strong>und</strong>mitteln des Staates zu vermeiden.<br />

110


27<br />

Problematisch bei der Betrachtung kle<strong>in</strong>er Zeitfenster bleibt auch bei der komb<strong>in</strong>ierten Drittmittel-<br />

<strong>und</strong> Publikationsanalyse, dass immer nur Teilleistungen verglichen werden können.<br />

Das heißt, Leistungen, die nicht <strong>in</strong> jeder Periode, sondern nur kumuliert bzw. im Durchschnitt<br />

über längere Zeiträume von gleicher Quantität, Qualität <strong>und</strong> Relevanz s<strong>in</strong>d, werden nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

als solche erkannt. Dies ist wiederum nur bei sehr großen Zeitfenstern möglich. Als<br />

Beispiel kann auf zwei Forscher (A <strong>und</strong> B) h<strong>in</strong>gewiesen werden, die dasselbe Wissen produzieren<br />

<strong>und</strong> von denen der e<strong>in</strong>e konstant, der andere dagegen nur <strong>in</strong>nerhalb weniger, dafür aber<br />

sehr <strong>in</strong>tensiver <strong>und</strong> kreativer Phasen forscht (siehe Abbildung 16).<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

pro Periode<br />

8<br />

Forscher A<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12 16<br />

Periode<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

pro Periode<br />

8<br />

Forscher B<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12 16<br />

Periode<br />

Abbildung 16:<br />

Beurteilung der Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren (periodengenau)<br />

Das sich jeweils bei längerfristiger Betrachtung im (gleitenden 12-Perioden-)Durchschnitt für<br />

beide Forscher ergebende Leistungsbild ist <strong>in</strong> Abbildung 17 wiedergegeben.<br />

111


28<br />

Gleitender<br />

12-Periodendurchschnitt<br />

der Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12 16<br />

Periode<br />

Abbildung 17:<br />

Beurteilung der Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations- <strong>und</strong> Drittmittel<strong>in</strong>dikator<br />

bei großem Zeitfenster (gleitender Durchschnitt)<br />

Es ist zu erkennen, dass bei großen Zeitfenstern für beide Forscher stets dasselbe Leistungsniveau<br />

reflektiert wird. Darüber h<strong>in</strong>aus wird deutlich, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Betrachtung<br />

längerer Zeiträume h<strong>in</strong>sichtlich der Zweckerreichung red<strong>und</strong>ant s<strong>in</strong>d, weil sich die<br />

Forschungsleistung alle<strong>in</strong> über das Publikationsmaß, also über den unmittelbaren Zweck<strong>in</strong>dikator,<br />

feststellen lässt. Diese Irrelevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei großen Zeitfenstern<br />

ersche<strong>in</strong>t auch sofort bei Überlegungen zur Beurteilung der gesamten Forschungsleistung<br />

e<strong>in</strong>es Wissenschaftlers, plausibel. Was am Ende e<strong>in</strong>es Forscherdase<strong>in</strong>s als Leistung zählt, ist<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das neu produzierte Wissen, das beispielsweise <strong>in</strong> Publikationen <strong>und</strong> Patenten<br />

zum Ausdruck kommt. Drittmittel stellen dagegen nur f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen (Input) der<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Forschung dar. Sie können dann – wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 1.3 erläutert –<br />

allenfalls auf die Kreativität e<strong>in</strong>es Forschers <strong>und</strong> dessen Fähigkeit, se<strong>in</strong>e Forschungsvorhaben<br />

selber <strong>und</strong> nicht durch staatliche Mittel f<strong>in</strong>anziert zu haben, h<strong>in</strong>weisen.<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren unter der Voraussetzung<br />

e<strong>in</strong>er determ<strong>in</strong>istischen oder zum<strong>in</strong>dest hoch korrelierten Beziehung zwischen der drittmittelf<strong>in</strong>anzierten<br />

Forschung <strong>und</strong> deren Ergebnissen gr<strong>und</strong>sätzlich zur (mittelbaren) Messung der<br />

Zweckerreichung e<strong>in</strong>gesetzt werden können. Allerd<strong>in</strong>gs ist bei kurzen Messzeiträumen ihre<br />

Verwendung nur <strong>in</strong> Ergänzung zu anderen Maßen, <strong>in</strong>sbesondere Publikationskennzahlen<br />

s<strong>in</strong>nvoll. Bei längeren Zeiträumen s<strong>in</strong>d sie dagegen red<strong>und</strong>ant, wenn die Zweckerreichung<br />

direkt über die eben genannten Indikatoren erfasst werden kann – zum<strong>in</strong>dest unter der Annahme,<br />

dass letztere valide <strong>und</strong> reliabel s<strong>in</strong>d.<br />

Wie bereits erläutert, ersche<strong>in</strong>t bei Betrachtung kürzerer Zeiträume e<strong>in</strong>e Glättung der Messwerte<br />

s<strong>in</strong>nvoll, um größere messbed<strong>in</strong>gte Leistungsschwankungen zu umgehen. Neben der<br />

zur Irrelevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren führenden Vergrößerung des Zeitfensters <strong>und</strong> der<br />

Ermittlung e<strong>in</strong>facher Durchschnittswerte gibt es folgende Möglichkeiten dazu:<br />

112


29<br />

Erstens die Anwendung anderer Verfahren der Durchschnittsbildung, wie z.B. das Verfahren<br />

der Exponentiellen Glättung, bei der Vergangenheitswerte mit e<strong>in</strong>em Glättungsfaktor gewichtet<br />

werden, der exponentiell abnimmt, je weiter man <strong>in</strong> die Vergangenheit zurückgeht. Dadurch<br />

werden die jüngeren Vergangenheitswerte stärker bewertet als die vergangenen. Zweitens<br />

könnte es eventuell e<strong>in</strong>en „automatischen“ Ausgleich bei der Betrachtung der Leistungen<br />

mehrerer Forscher, z.B. derjenigen e<strong>in</strong>es Fachbereichs, geben. E<strong>in</strong> solcher wird im folgenden<br />

Abschnitt thematisiert.<br />

3.2. Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren zur Beurteilung der Forschungsleistung von Fachbereichen<br />

Nachdem bisher die Bedeutung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Beurteilung der Leistungen<br />

e<strong>in</strong>zelner Forscher untersucht wurde, wird nun deren Relevanz für kurze Zeiträume bei der<br />

Ermittlung der Forschungsleistung von Fachbereichen analysiert. Verdeutlicht werden die<br />

pr<strong>in</strong>zipiellen Überlegungen an zwei Beispielen von Fachbereichen, denen jeweils vier Forscher<br />

angehören. Diese produzieren neues Wissen <strong>in</strong> gleich langen drittmittelgeförderten Projekten,<br />

die sich jeweils direkt ane<strong>in</strong>anderreihen. Die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 getroffenen Annahmen<br />

s<strong>in</strong>d auch hier zugr<strong>und</strong>e zu legen.<br />

Fall 1<br />

Im ersten betrachteten Fall forschen alle vier Forscher e<strong>in</strong>es Fachbereichs parallel, das heißt<br />

zunächst leistet jeder erfolgreiche Vorarbeiten zur Erlangung von Drittmitteln, daraufh<strong>in</strong> wird<br />

drei Perioden lang unter E<strong>in</strong>satz der erhaltenen Fördergelder geforscht <strong>und</strong> anschließend wird<br />

das <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> diesen vier Perioden neu produzierte Wissen mittels Publikationen veröffentlicht.<br />

Die Ergebnisse e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen sowie e<strong>in</strong>er fachbereichsumfassenden Leistungsbeurteilung<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Abbildung 18 dargestellt.<br />

113


30<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

pro Forscher <strong>und</strong><br />

Periode<br />

1<br />

4 8 12 Periode<br />

1<br />

4 8 12 Periode<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

1<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

des Fachbereichs<br />

pro Periode<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

Abbildung 18: Forschungsleistung e<strong>in</strong>es Fachbereichs – <strong>in</strong>dividuell <strong>und</strong> aggregiert (Fall 1)<br />

Wie zuvor bei der Betrachtung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschers ergibt sich, dass Drittmittelkennzahlen<br />

bei der Beurteilung der Forschungsleistung <strong>in</strong>nerhalb kurzer Zeiträume neben den Publikationsmaßen<br />

als unterstützende Indikatoren s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>setzbar s<strong>in</strong>d.<br />

Fall 2<br />

Auch im zweiten Fall forschen die Vier unter den beschriebenen Gegebenheiten, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong><br />

zeitversetzten Forschungsprojekten, wie Abbildung 19 verdeutlicht.<br />

114


31<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

pro Forscher <strong>und</strong><br />

Periode<br />

1<br />

4 8 12 Periode<br />

1<br />

4 8 12 Periode<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

1<br />

Publikations- <strong>und</strong><br />

Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />

des Fachbereichs<br />

pro Periode<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

4 8 12<br />

Periode<br />

Abbildung 19: Forschungsleistung e<strong>in</strong>es Fachbereichs – <strong>in</strong>dividuell <strong>und</strong> aggregiert (Fall 2)<br />

Die Gesamtbetrachtung zeigt, dass dem Fachbereich – anders als im ersten Fall – <strong>in</strong>sgesamt<br />

stets e<strong>in</strong>e gleiche Höhe an Drittmitteln zur Verfügung steht <strong>und</strong> auch das produzierte Wissen<br />

<strong>in</strong> jeder Periode durch Publikationen sichtbar ist. Dies führt dazu, dass die Forschungsleistung<br />

sowohl bei re<strong>in</strong>er Betrachtung der Publikations- als auch der Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren konstant<br />

ersche<strong>in</strong>t. Daher erweisen sich Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren – sofern der Zweck unmittelbar erfasst<br />

werden kann – bei der aggregierten Beurteilung mehrerer Forscher <strong>in</strong> dieser speziellen Situation<br />

als irrelevant. Verallgeme<strong>in</strong>ernd ist festzuhalten, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei kurzen<br />

Beurteilungszeiträumen je nach Überlagerung der drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Forschungstätigkeit<br />

sowie des produzierten Wissens mehr oder weniger aussagekräftig s<strong>in</strong>d.<br />

4. Fazit<br />

Die Überlegungen zeigen <strong>in</strong>sgesamt, dass die <strong>in</strong> der Praxis hohe Bedeutung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />

bei der Leistungsbeurteilung der Hochschulforschung nur unter bestimmten Annahmen<br />

bzw. unter besonderen Bed<strong>in</strong>gungen gerechtfertigt ist. Insbesondere die Aussagekraft<br />

115


32<br />

outcomeorientierter Größen ist abhängig von der Länge des betrachteten Zeitraums, der Möglichkeit,<br />

die Zweckerreichung durch andere Indikatoren, wie Publikations- <strong>und</strong> Patentkennzahlen,<br />

erfassen zu können sowie dem Zusammenhang zwischen der Drittmittelförderung <strong>und</strong><br />

dem damit verb<strong>und</strong>enen Projekterfolg. Insbesondere letzterer sollte fachspezifisch überprüft<br />

werden. Zudem gibt es <strong>in</strong> diesem Bereich weiteren Forschungsbedarf. So sollte z.B. überlegt<br />

werden, wie e<strong>in</strong>e weitgehend akzeptierte Gewichtung der Drittmittel nach ihrer Herkunft aussehen<br />

könnte, um zwischen <strong>in</strong>dustrieller Auftragsforschung <strong>und</strong> re<strong>in</strong> wissenschaftlichen Projekten<br />

differenzieren zu können.<br />

116


33<br />

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RWTH Aachen (Hrsg.) (2004)<br />

Controll<strong>in</strong>gkonzept der RWTH Aachen, Aachen.<br />

Schnell, R./Hill, P.B./Esser, E. (2005)<br />

Methoden der empirischen Sozialforschung, 7. Aufl., München/Wien.<br />

Wissenschaftsrat (2004)<br />

Empfehlungen zu Rank<strong>in</strong>gs im Wissenschaftssystem, Hamburg, 12. November 2004,<br />

www.wissenschaftsrat.de/texte/6285-04.pdf (Abruf am 26. Juli 2005).<br />

118


Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />

wissenschaftlichen Fortschritts<br />

Bernd-Oliver He<strong>in</strong>e/Matthias Meyer/Oliver Strangfeld<br />

Abstract: Modelltheoretische Beiträge erfreuen sich <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Forschung<br />

e<strong>in</strong>er hohen Popularität, zugleich steht aber weiterh<strong>in</strong> der Vorwurf des Modellplatonismus<br />

im Raum. Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> stellt dieser Beitrag das Konzept der „Stylised<br />

Facts“ vor <strong>und</strong> diskutiert <strong>in</strong>wieweit es e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage bietet, wissenschaftlichen Fortschritt<br />

im Bereich modelltheoretischer Analysen zu messen <strong>und</strong> zu bewerten. Zunächst wird ausgehend<br />

von der ursprünglichen Verwendung des Konzepts durch Kaldor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen<br />

Diskussionkontext, allgeme<strong>in</strong> dessen Anwendungsmöglichkeiten erarbeitet. Dann<br />

wird die Anwendung des Konzepts vorgestellt, wobei sich zwei sukzessive Schritte unterscheiden<br />

lassen. Der erste Schritt umfasst die Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens,<br />

ausgehend von dem <strong>in</strong> wissenschaftlichen Publikationen dokumentierten, empirischen<br />

Erkenntnisstand. Auf dieser Basis kann dann, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt, e<strong>in</strong>e Messung<br />

<strong>und</strong> Bewertung des allgeme<strong>in</strong>en Forschungstands <strong>und</strong> des Erkenntnisbeitrags e<strong>in</strong>zelner<br />

Modelle erfolgen.<br />

Lehrstuhl für Controll<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Telekommunikation<br />

Deutsche Telekom AG Stiftungslehrstuhl<br />

Burgplatz 2<br />

56179 Vallendar<br />

Email: bohe<strong>in</strong>e@whu.edu; Matthias.Meyer@whu.edu; Oliver.Strangfeld@whu.edu<br />

1<br />

119


Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />

wissenschaftlichen Fortschritts<br />

1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Gegenwärtig ist <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Forschung e<strong>in</strong>e zunehmende Bedeutung<br />

modelltheoretischer Analysen zu beobachten. E<strong>in</strong>e gute Illustration hierfür bietet die<br />

deutschsprachige Controll<strong>in</strong>gforschung, für die gegenwärtig aktuelle Untersuchungen vorliegen.<br />

Bis Mitte der 90er Jahre lag der Anteil der formal-analytisch basierten Beiträge bei<br />

etwa 12%, seitdem ist e<strong>in</strong> Anstieg auf durchschnittlich 30% zu beobachten (vgl.<br />

B<strong>in</strong>der/Schäffer 2004:20). E<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt dabei die Pr<strong>in</strong>zipal-Agenten-Theorie,<br />

die fast 20% aller Publikationen ausmacht (vgl. B<strong>in</strong>der/Schäffer 2004:21). 1<br />

Trotz dieser Popularität modelltheoretischer Beiträge im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb,<br />

steht aus wissenschaftstheoretischer Perspektive aber weiterh<strong>in</strong> der Vorwurf des<br />

„Modellplatonismus“ im Raum. Diese Kritik wurde bereits <strong>in</strong> den 60er Jahren <strong>in</strong> prägnanter<br />

Weise von Albert vorgebracht. Se<strong>in</strong>er Auffassung nach hat die mit großem Aufwand betriebene<br />

Formalisierung <strong>in</strong> der Neoklassik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e theoretische Sackgasse geführt. Die neoklassische<br />

Ökonomik verfügt <strong>in</strong>folgedessen zwar über elegante Modelle, hat aber den Charakter<br />

e<strong>in</strong>er Erfahrungswissenschaft weitestgehend verloren (vgl. Albert 1963/1967). Entsprechend<br />

könnte man auch den Beitrag modelltheoretischer Analysen zur Erklärung betriebswirtschaftlicher<br />

Phänomene <strong>in</strong> Frage stellen.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wird <strong>in</strong> diesem Beitrag das Konzept der Stylised Facts vorgestellt,<br />

das e<strong>in</strong>e Möglichkeit bietet, wissenschaftlichen Fortschritt im Bereich modelltheoretischer<br />

Analysen zu messen <strong>und</strong> zu bewerten. Zweckmäßig angewendet kann es mehrere positive<br />

Wirkungen entfalten. Hiervon werden <strong>in</strong> diesem Beitrag drei mögliche Anwendungen näher<br />

untersucht: (1) Die Fokussierung beim Aufbau neuer Modelle auf relevante <strong>und</strong> überprüfbare<br />

Hypothesen über die Realität <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> Entgegenwirken der Gefahr des Modellplatonismus.<br />

(2) Die Visualisierung des Forschungsstandes auf der Basis der Stylised<br />

Facts e<strong>in</strong>es Phänomens, <strong>in</strong>dem aufgezeigt wird, welche Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens bereits<br />

adressiert wurden <strong>und</strong> wo noch Forschungsbedarf besteht. (3) E<strong>in</strong>e fokussierte Modellbewertung<br />

bei der die Stylised Facts e<strong>in</strong>e modellübergreifende Struktur vorgeben <strong>und</strong> als<br />

„Sche<strong>in</strong>werfer“ zur Durchleuchtung der jeweiligen Modellmechanik dienen.<br />

Die weiteren Ausführungen gliedern sich wie folgt: Im folgenden Abschnitt wird zunächst<br />

allgeme<strong>in</strong> das Konzept der Stylised Facts vorgestellt. Dann wird das Vorgehen bei der Bestimmung<br />

der Stylised Facts e<strong>in</strong>es empirischen Phänomens beschrieben. Schließlich wird<br />

illustriert, wie auf dieser Basis e<strong>in</strong>e <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>und</strong> -bewertung möglich ist. Die<br />

Ausführungen schließen mit e<strong>in</strong>em Fazit.<br />

1 Für ähnliche E<strong>in</strong>schätzungen vgl. auch Hess et al. (2005) oder Wagenhofer (2004).<br />

2<br />

120


2 Vorstellung des Stylised-Facts-Konzepts<br />

Das Konzept der Stylised Facts wurde erstmalig von Kaldor im Rahmen der Erarbeitung<br />

e<strong>in</strong>er Forschungsagenda für die makroökonomische Wachstumstheorie vorgestellt. 2 Dieses<br />

Konzept besitzt jedoch e<strong>in</strong>e methodologische Bedeutung über diese spezielle Anwendung<br />

<strong>in</strong> der Makroökonomik h<strong>in</strong>aus: Es bietet e<strong>in</strong>e Möglichkeit, die Zielsetzung positiver Forschung<br />

durch e<strong>in</strong>e Fokussierung auf die wesentlichen Merkmale des untersuchten Phänomens<br />

zu präzisieren.<br />

Positive Wissenschaft verfolgt das Ziel, empirische Beobachtungen zu erklären (vgl. Blaug<br />

1998). Allerd<strong>in</strong>gs wird es mit wachsender Komplexität des untersuchten Phänomens immer<br />

schwieriger, dieses jenseits e<strong>in</strong>er lebensweltlichen Betrachtung auch mit wissenschaftlichen<br />

Methoden zu erfassen. In Anlehnung an Kaldor s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere statistische Darstellungen<br />

empirischer Phänomene immer auch mit Unstimmigkeiten <strong>und</strong> E<strong>in</strong>schränkungen behaftet.<br />

3 Aufgr<strong>und</strong> dieser Eigenschaft empirischer Beobachtungen ist es oft schwierig, unmittelbar<br />

e<strong>in</strong>en geeigneten Abstraktionsgrad zur Beschreibung e<strong>in</strong>es Phänomens zu bestimmen.<br />

Der Wissenschaftler steht folglich vor der Herausforderung, e<strong>in</strong>en Abstraktionsgrad<br />

festzusetzen, der sowohl dem realen Phänomen als auch den Kriterien ökonomischer Theoriebildung<br />

gerecht wird. 4<br />

Um dieses Problems habhaft zu werden, schlägt Kaldor e<strong>in</strong>en Zwischenschritt vor: „[T]he<br />

theorist should be free to start off with a stylised view of the facts“ (Kaldor<br />

1961/1968:178), um zuerst den Gegenstand der Untersuchungen klar herauszuarbeiten. E<strong>in</strong><br />

solcher „stylised view“ konzentriert sich auf allgeme<strong>in</strong>e Tendenzen <strong>und</strong> ignoriert e<strong>in</strong>zelne<br />

Details, um geme<strong>in</strong>same Muster über unterschiedliche Beobachtungen h<strong>in</strong>weg zu identifizieren.<br />

Der Wissenschaftler kann anschließend fortfahren <strong>und</strong> Hypothesen generieren, die<br />

diese „stylised facts“ erklären, ohne dabei durch ger<strong>in</strong>gfügige, widersprüchliche Abweichungen<br />

<strong>in</strong> empirischen Untersuchungen <strong>und</strong> anderen Forschungsergebnissen abgelenkt zu<br />

werden.<br />

Um das Konzept zu veranschaulichen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige von Kaldors Stylised Facts für e<strong>in</strong>e<br />

makroökonomische Wachstumstheorie im folgenden Zitat aufgeführt: „As regards the process<br />

of economic change and development <strong>in</strong> capitalist societies, I suggest the follow<strong>in</strong>g<br />

'stylized facts' as start<strong>in</strong>g po<strong>in</strong>t for the construction of theoretical models: (1) The cont<strong>in</strong>ued<br />

growth <strong>in</strong> the aggregate volume of production and <strong>in</strong> the productivity of labour at a steady<br />

trend rate; no recorded tendency for a fall<strong>in</strong>g rate of growth of productivity. (2) A cont<strong>in</strong>-<br />

2 Für e<strong>in</strong>e jüngere, allerd<strong>in</strong>gs modifizierte Anwendung des Konzeptes vgl. Schwer<strong>in</strong> (2001).<br />

3 Im Orig<strong>in</strong>altext charakterisiert er statistische Untersuchungen als „always subject to numerous snags and qualifications“<br />

(Kaldor 1961/1968:178).<br />

4 Leistungsfähige Theorien <strong>und</strong> Modelle besitzen e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Kern, s<strong>in</strong>d jedoch bei Bedarf ausdifferenzierungsfähig,<br />

d. h. falls es für die Untersuchung e<strong>in</strong>er bestimmten Fragestellung erforderlich ist, kann dieser e<strong>in</strong>fach gehaltene<br />

abstrakte Ausgangspunkt zunehmend konkretisiert <strong>und</strong> erweitert werden (vgl. Suchanek 1994). E<strong>in</strong> derartiges Verfahren<br />

bietet die Methode der abnehmenden Abstraktion, die von L<strong>in</strong>denberg (1992) entwickelt wurde.<br />

3<br />

121


ued <strong>in</strong>crease <strong>in</strong> the amount of capital per worker, whatever statistical measure of 'capital' is<br />

chosen <strong>in</strong> this connection. (…)” (Kaldor 1961/1968:178).<br />

Das Konzept der Stylised Facts besitzt e<strong>in</strong>ige wichtige methodologische Implikationen.<br />

Erstens führt es e<strong>in</strong>e vom neoklassischen „as if“-Ansatz abweichende Fiktion e<strong>in</strong> (vgl.<br />

Boland 1987/1994). Der neoklassische „as if“-Ansatz verwendet grob vere<strong>in</strong>fachte Annahmen,<br />

als ob sie der Realität entsprächen (vgl. Friedman 1953/1989). Dies setzt voraus, dass<br />

die für e<strong>in</strong>en gewählten Abstraktionsgrad notwendigen Annahmen aus der Perspektive des<br />

gesamten Modells betrachtet werden sollten, <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich der durch das Modell<br />

generierten Prognosen. Ansatzpunkt der Modellkritik ist damit das gesamte Modell als<br />

E<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> nicht etwa e<strong>in</strong>zelne „unrealistische“ Annahmen (vgl. Friedman 1953/1989). 5<br />

Das Konzept der Stylised Facts unterscheidet sich von diesem Ansatz dadurch, dass es die<br />

Stylised Facts darstellt, als ob sie wirklich das untersuchte Phänomen repräsentieren. Damit<br />

unterstützt das Konzept die Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Abstraktionsgrades <strong>und</strong> bezieht sich<br />

auf e<strong>in</strong>en früheren Schritt im wissenschaftlichen Prozess als der neoklassische „as if“-<br />

Ansatz.<br />

Zweitens kann es sowohl den realistischen als auch den <strong>in</strong>strumentalistischen Standpunkt <strong>in</strong><br />

jeweils wichtigen Aspekten ergänzen: Für den Realisten ist das Stylised-Facts-Konzept im<br />

E<strong>in</strong>klang mit der Überzeugung, dass „facts about the world“ bekannt se<strong>in</strong> können (Mäki<br />

1998:407). Im Kontrast zum naiven Realismus begünstigen die Stylised Facts darüber h<strong>in</strong>aus<br />

e<strong>in</strong>e analytische Herangehensweise an die Modellbildung. Aus dieser Perspektive s<strong>in</strong>d<br />

Modelle auch gedankliche Instrumente <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Beschreibung der Realität. 6 Für Instrumentalisten<br />

s<strong>in</strong>d die Stylised Facts <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem neoklassischen „as if“-<br />

Ansatz, da sie nicht die Auswahl e<strong>in</strong>es bestimmten Abstraktionsgrades festlegen, sondern<br />

vielmehr den Gegenstand der Theoriebildung für die folgende Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten<br />

Abstraktionsgrades präzisieren. Darüber h<strong>in</strong>aus regt das Konzept der Stylised Facts an, dass<br />

die re<strong>in</strong>e Prognose durch Modelle alle<strong>in</strong> nicht ausreicht. Mit Hilfe der Modelle sollten auch<br />

die den Ergebnissen zu Gr<strong>und</strong>e liegenden „erzeugenden Mechanismen“ 7 dargestellt <strong>und</strong><br />

untersucht werden können („look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er the hood“, Hausman 1994/1995).<br />

Diese pr<strong>in</strong>zipiell positiven Eigenschaften br<strong>in</strong>gen aber auch e<strong>in</strong>e Gefahr mit sich. Der Forscher<br />

ist nun <strong>in</strong> der Lage, zwei wichtige Schritte des wissenschaftlichen Prozesses zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Er benennt die Stylised Facts, die er beschreiben möchte, konstruiert dann e<strong>in</strong> auf<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Abstraktionsgrad basierendes Modell <strong>und</strong> leitet daraus bestimmte Hypothesen<br />

ab, die potenziell mit den Stylised Facts übere<strong>in</strong>stimmen. Von e<strong>in</strong>em methodologi-<br />

5 Es ist jedoch darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass aus methodologischer Sicht dieses Argument nicht ganz unproblematisch ist.<br />

Vgl. hierzu etwa Hausman (1994/1995) oder Meyer (2003).<br />

6 Theorien <strong>und</strong> Modelle leisten e<strong>in</strong>e „pragmatische Reduktion“ von Komplexität. Die Stylised Facts geben somit aus<br />

e<strong>in</strong>er empirischen Perspektive H<strong>in</strong>weise, welche Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens bei der Konstruktion e<strong>in</strong>es Modells zu beachten<br />

s<strong>in</strong>d, die jeweilige Problemstellung bestimmt jedoch darüber, <strong>in</strong>wieweit diese dann relevant s<strong>in</strong>d. Gr<strong>und</strong>legend<br />

hierzu vgl. Suchanek (1994), vgl. darüber h<strong>in</strong>aus Meyer (2004:9-30) für weitergehende Verweise <strong>und</strong> Diskussion.<br />

7 Der Begriff wird <strong>in</strong> Anlehnung an Lawson (1989) („generative mechanism“) verwendet. Im Rahmen dieses Artikels<br />

verwenden wir den Begriff, um zwei Ebenen zu unterscheiden: E<strong>in</strong>e Ebene der Modellergebnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e zweite, die<br />

zu diesen Ergebnissen führt („erzeugender Mechanismus“).<br />

4<br />

122


schen Standpunkt aus erlaubt dieses Vorgehen die Generierung von Forschungsergebnissen<br />

auf m<strong>in</strong>destens zwei unproduktive Arten (vgl. Boland 1987/1994). Zum e<strong>in</strong>en kann er die<br />

Stylised Facts den Ergebnissen se<strong>in</strong>es Modells anpassen. Dieses Vorgehen kann man als<br />

„ad hoc“- Vorgehen im Rahmen der Ableitung der Stylised Facts bezeichnen. Zum anderen<br />

kann der Forscher behaupten, empirische Widerlegungen se<strong>in</strong>er Hypothesen seien bedeutungslos,<br />

da es sich um „Rauschen“ im Vergleich zu den von se<strong>in</strong>en Stylised Facts erfassten<br />

wesentlichen Tendenzen handele („Immunisierungsstrategie“). Auf die Gefahr e<strong>in</strong>es<br />

möglichen Missbrauchs wies schon Solow <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er direkten Antwort an Kaldor h<strong>in</strong>, als er<br />

se<strong>in</strong>e Stylised Facts des makroökonomischen Wachstums mit dem Kommentar „[t]here is<br />

no doubt that they are stylised, though it is possible to question whether they are facts.“<br />

(Solow 1969/1988) bedachte.<br />

Trotz der kritischen Gr<strong>und</strong>haltung zeigt das Zitat gleichzeitig e<strong>in</strong>en zentralen Aspekt der<br />

produktiven Verwendung von Stylised Facts auf. Die explizite Formulierung von Stylised<br />

Facts durch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Forscher sollte nicht das Ende, sondern den Anfang e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Diskussion der Experten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Forschungsfeld darstellen. Diese Diskussion<br />

expliziert <strong>und</strong> öffnet damit für Kritik, was anderenfalls nur implizit vom e<strong>in</strong>zelnen<br />

Forscher verwendet wird. Idealerweise erwächst am Ende e<strong>in</strong>es solchen Prozesses Konsens<br />

wenigstens bezüglich e<strong>in</strong>iger Stylised Facts. E<strong>in</strong>e derartige Diskussion muss auf Basis bestehender<br />

empirischer Arbeiten beg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> kann ggf. weitere empirische Untersuchungen<br />

bed<strong>in</strong>gen. In diesem Zusammenhang ist die Methode der „Triangulation“ von Bedeutung.<br />

Durch die Komb<strong>in</strong>ation unterschiedlicher empirischer Forschungsmethoden können<br />

verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden, wodurch e<strong>in</strong>er zu starken E<strong>in</strong>seitigkeit<br />

entgegengewirkt werden kann. 8 Deshalb sollte die Ableitung von Stylised Facts transparent<br />

auf Forschungsergebnissen möglichst verschiedener empirischer Methoden basieren <strong>und</strong><br />

aus der Diskussion von Experten der betroffenen Wissenschaftsbereiche hervorgehen.<br />

Bisher stand die generelle E<strong>in</strong>ordnung des Konzepts der Stylised Facts im Mittelpunkt.<br />

Hiervon ausgehend lassen sich jedoch zwei konkrete Anwendungsmöglichkeiten unterscheiden.<br />

Erstens kann das Konzept als Basis <strong>und</strong> Orientierungshilfe bei der Modellbildung<br />

dienen (ex ante), zweitens bieten die Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens e<strong>in</strong>e Struktur zur Bewertung<br />

<strong>und</strong> dem Vergleich bereits existierender Modelle (ex post). 9 Dabei gilt es zu be-<br />

8 Ziel ist dabei nicht e<strong>in</strong>e Validierung, sondern e<strong>in</strong> tieferes <strong>und</strong> umfassenderes Verständnis des untersuchten Phänomens<br />

(vgl. Olsen 2004). E<strong>in</strong>e detaillierte Diskussion dieser Forschungsform kann bei Creswell (2003) nachgeschlagen werden.<br />

Im Allgeme<strong>in</strong>en stellt die Integration unterschiedlicher Betrachtungsweisen <strong>und</strong> Forschungsh<strong>in</strong>tergründe e<strong>in</strong>e gute<br />

Möglichkeit dar, um mit dem Problem der Theorieimprägniertheit („theory-ladeness“) empirischer Beobachtungen<br />

umzugehen. Man muss sich der Tatsache bewusst se<strong>in</strong>, dass empirische Studien ke<strong>in</strong>e unverzerrten Fakten beschreiben,<br />

sondern schon „theorieimprägniert“ s<strong>in</strong>d, was niemals vermieden werden kann. Dieser Aspekt ist schon von Popper<br />

klar formuliert worden: „[O]bservations, and even more so observation statements and statements of experimental<br />

results, are always <strong>in</strong>terpretations of the facts observed; they are <strong>in</strong>terpretations <strong>in</strong> the light of theories.” (Popper<br />

1934/1959:107) „[W]e might say that these facts do not exist as facts before they are s<strong>in</strong>gled out from the cont<strong>in</strong>uum<br />

of events and p<strong>in</strong>ned down by statements - the theories which describe them.” (Popper 1946/1996:214). E<strong>in</strong>e gute allgeme<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Problematik f<strong>in</strong>det sich bei Hands (2001:91-93, 102-109), für die Bee<strong>in</strong>flussung der Wahrnehmung<br />

durch ökonomische Modelle vgl. Meyer (2004).<br />

9 Verwendet man die übliche epistemologische Unterscheidung zwischen dem „context of discovery“ <strong>und</strong> „context of<br />

justification“, dann wird die ex ante Verwendung des Stylised-Facts-Konzepts dem Ersteren zugerechnet. Nach tradi-<br />

5<br />

123


achten, dass die Verwendung von Stylised Facts ke<strong>in</strong> Ersatz für empirische Tests von abgeleiteten<br />

Theorien oder für andere Widerlegungsversuche ist, aber sie hilft, ex ante über die<br />

von der Forschung e<strong>in</strong>geschlagene Richtung zu entscheiden <strong>und</strong> macht die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft transparent.<br />

Im Rahmen der ersten Anwendungsmöglichkeit geben die Stylised Facts somit den Gegenstand<br />

der positiven Forschung explizit wieder, um die Forschung bereits ex ante darauf<br />

zu fokussieren, e<strong>in</strong>en Beitrag zum Verständnis beobachtbarer Phänomene zu leisten. Sie<br />

geben damit e<strong>in</strong>e Orientierungshilfe für die Formulierung produktiver Abstraktionen, die es<br />

erlauben, die beobachteten Eigenschaften e<strong>in</strong>es Phänomens zu erklären. Damit ist jedoch<br />

nicht gesagt, dass die Stylised Facts selbst schon e<strong>in</strong> Modell be<strong>in</strong>halten, welches der Wissenschaftler<br />

lediglich herausarbeiten muss. Die Konstruktion e<strong>in</strong>es Modells bleibt weiter<br />

e<strong>in</strong>e Kunst für sich. Jedoch bewahrt die Berücksichtigung von Stylised Facts den Forscher<br />

davor, Modelle zu konstruieren, die ke<strong>in</strong>e relevanten <strong>und</strong> überprüfbaren Hypothesen über<br />

die Realität liefern, womit der Gefahr des Modellplatonismus entgegengewirkt wird. All<br />

diese nützlichen Eigenschaften gelten solange e<strong>in</strong> Satz von Stylised Facts zum Aufbau e<strong>in</strong>es<br />

Modells verwendet wird. Allerd<strong>in</strong>gs sollte anschließend nicht der gleiche Satz zur Bewertung<br />

des Modells verwendet werden. In diesem Fall liefert e<strong>in</strong> nochmaliger Bezug auf<br />

die erfolgreiche Beschreibung der Stylised Facts ke<strong>in</strong>en zusätzlichen Wert, da <strong>in</strong> diesem<br />

Fall die Stylised Facts nicht länger e<strong>in</strong>en neutralen Bezugspunkt zum Zwecke der Modellbewertung<br />

darstellen.<br />

Aber auch im Rahmen der zweiten Anwendungsmöglichkeit, der Ex-post-Perspektive, kann<br />

das Konzept der Stylised Facts gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend als Basis zur Bewertung e<strong>in</strong>er Sammlung<br />

schon vorliegender Modelle angewandt werden: Mit Hilfe der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens<br />

können Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander durch e<strong>in</strong>e Fokussierung auf ihre gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>genden<br />

Implikationen untersucht werden, ohne dass die Untersuchung durch kle<strong>in</strong>ere Unstimmigkeiten<br />

der empirischen Beobachtungen, die ebenfalls von den Modellen abgedeckt werden,<br />

abgelenkt wird. „[A]s long as we can come to an agreement regard<strong>in</strong>g the stylized<br />

facts, the comparative appropriateness of compet<strong>in</strong>g explanatory abstractions can be<br />

brought <strong>in</strong>to clear and decisive focus” (Boland 1987/1994:535-536). Dies umgeht die oben<br />

formulierte Warnung, da die Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander verglichen werden.<br />

Konkret ist e<strong>in</strong>e vergleichende Untersuchung von Modellen auf der Basis der Stylised Facts<br />

geeignet, um (1) den wissenschaftlichen Beitrag <strong>und</strong> (2) die F<strong>und</strong>ierung der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Annahmen zu untersuchen. Der wissenschaftliche Beitrag kann durch e<strong>in</strong>en Vergleich<br />

des Erklärungsbeitrags der Modelle <strong>in</strong> Bezug auf die relevanten Stylised Facts beurtioneller<br />

Auffassung hat der Schwerpunkt der Kritik auf dem Letzteren zu liegen (vgl. Popper 1934/1959:27-34). In<br />

jüngerer Zeit wurde diese Auffassung kritisiert, da, sollten alle wissenschaftlichen Hypothesen, die überprüft werden<br />

sollen, e<strong>in</strong>e Verzerrung enthalten, diese Verzerrung auch nicht durch strenge Überprüfungen ausgeschlossen werden<br />

kann. Deshalb sollte auch der „context of discovery“ berücksichtigt werden (vgl. Okruhlik 1994/1998:200-205). Vor<br />

diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> bietet das Konzept der Stylised Facts e<strong>in</strong>en systematischen Ansatz zur Rationalisierung der Hypothesengenerierung<br />

im oft vernachlässigten „context of discovery“ (vgl. Lawson 1989:67).<br />

6<br />

124


teilt werden. 10 Aus der Perspektive der Stylised Facts ist der wissenschaftliche Beitrag unterschiedlicher<br />

Modelle ihre Fähigkeit, die Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens zu erklären. Zunächst<br />

gilt, dass e<strong>in</strong>em Modell, das e<strong>in</strong>en Beitrag zur Erklärung der Stylised Facts leistet,<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong> e<strong>in</strong> größerer wissenschaftlicher Beitrag zugeordnet werden kann, als e<strong>in</strong>em<br />

Modell, das auf die Erklärung e<strong>in</strong>es Nebenaspektes ausgerichtet ist (vgl. Boland<br />

1987/1994:536). Existieren mehrere Stylised Facts, dann erhöht sich der Beitrag e<strong>in</strong>es Modells<br />

mit se<strong>in</strong>er Fähigkeit, weitere Stylised Facts zu erklären, <strong>und</strong> der Abwesenheit von<br />

Widersprüchen bezüglich der übrigen Stylised Facts. Marcet/Nicol<strong>in</strong>i (2003:1477-1478)<br />

bieten e<strong>in</strong>e gute Illustration dieses Aspektes, <strong>in</strong>dem sie den Beitrag ihrer Arbeit h<strong>in</strong>sichtlich<br />

e<strong>in</strong>er Liste etablierter Stylised Facts von Hyper<strong>in</strong>flationen darlegen. Sie zeigen, dass die<br />

vorhandenen Modelle nicht alle Stylised Facts konsistent erklären <strong>und</strong> ihr Modell deshalb<br />

e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Beitrag durch die konsistente Beschreibung sämtlicher Stylised<br />

Facts leistet. 11<br />

Bei der Prüfung der F<strong>und</strong>ierung der Annahmen e<strong>in</strong>es Modells kann das Konzept der Stylised<br />

Facts verwendet werden, um die Untersuchung zu fokussieren. Es stellt e<strong>in</strong> Mittel bereit,<br />

die Komplexität der Analyse e<strong>in</strong>es Modells so weit zu reduzieren, dass e<strong>in</strong>deutige<br />

Aussagen über die im Rahmen der Modellbildung zu Gr<strong>und</strong>e gelegten Annahmen möglich<br />

werden. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Stylised Fact kann dazu verwendet werden, den zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Mechanismus zu isolieren (vgl. Lawson 1989:62,66). Damit ermöglicht das Konzept e<strong>in</strong>e<br />

Validierung, die genügend fokussiert ist, um aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. E<strong>in</strong>e<br />

derartige Untersuchung ermöglicht die Identifikation unproduktiver Arten, Stylised Facts<br />

zu generieren, wie z. B. die Verwendung nicht widerlegbarer Annahmen, <strong>und</strong> ergänzt <strong>und</strong><br />

vertieft damit die vergleichende Untersuchung des wissenschaftlichen Beitrags. 12<br />

Im H<strong>in</strong>blick auf die Identifikation <strong>und</strong> Unterscheidung produktiver von unproduktiver Verfahrensweisen,<br />

die Stylised Facts zu reproduzieren, muss untersucht werden, wie genau die<br />

Stylised Facts von dem untersuchten Modell reproduziert werden. Für diesen Zweck können<br />

Stylised Facts als Sche<strong>in</strong>werfer <strong>in</strong>terpretiert werden, d. h. mit Bezug auf e<strong>in</strong>e Menge<br />

von Stylised Facts ist es möglich, die Modellmechanik systematisch <strong>und</strong> präzise e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Prüfung zu unterziehen. Das Konzept bietet e<strong>in</strong>e klare Leitl<strong>in</strong>ie für das „look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er<br />

the hood“. Dabei ist zuerst für jeden Stylised Fact der Mechanismus zu identifizieren,<br />

der ihn produziert. Anschließend gilt es für jeden Mechanismus se<strong>in</strong>e Implementierung h<strong>in</strong>-<br />

10 Erklärung wird hierbei nicht auf die Ableitung von korrekten Prognosen durch das Modell reduziert, sondern schließt<br />

die Herausarbeitung des „Mechanismus“, der zu dem entsprechenden Ergebnis führt, mit e<strong>in</strong>. Modelle erklären, <strong>in</strong>dem<br />

sie <strong>in</strong> kompakter Form E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> komplexe Zusammenhänge ermöglichen <strong>und</strong> so darstellen, wie die Ergebnisse<br />

produziert werden. Für e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Diskussion dieses Aspektes siehe Meyer (2004:9-59).<br />

11 Trotzdem muss unsere Warnung von weiter oben beachtet werden: die gleichzeitige Verwendung von Stylised Facts<br />

zur Modellkonstruktion <strong>und</strong> Modellbewertung verm<strong>in</strong>dert den Wert dieses Anspruches erheblich. Allerd<strong>in</strong>gs ändert<br />

dies nichts an der Struktur des Arguments, so dass es immer noch e<strong>in</strong>e aufschlussreiche Veranschaulichung bietet.<br />

12 Genauer bedeutet dies, dass sich nach der erfolgreichen Erklärung der Stylised Facts die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Überprüfung<br />

auf die nächste Ebene verschiebt: die Mechanismen, die e<strong>in</strong> Modell zur Reproduktion von Stylised Facts<br />

verwenden, müssen nun ebenfalls überprüft werden. Anderenfalls leistet das Modell nur wenig mehr als e<strong>in</strong> Gedankenexperiment,<br />

„demonstrat<strong>in</strong>g only that a hypothesized process could be the source of some stylised fact“ (Cohen<br />

1999:375).<br />

7<br />

125


sichtlich (1) der Modellgestaltung <strong>und</strong> (2) der Kalibrierung zu überprüfen. Der erste Punkt<br />

bezieht sich auf qualitative (d. h. gr<strong>und</strong>legende Modellannahmen), der zweite auf quantitative<br />

(d. h. Parameterwerte) Entscheidungen im Rahmen der Modellkonstruktion. Im Kontext<br />

derartiger quantitativer Freiheitsgrade, die üblicherweise mit Hilfe e<strong>in</strong>er Sensitivitätsanalyse<br />

untersucht werden, verwenden wir den Begriff der Sensitivität.<br />

Das Konzept der Stylised Facts ist damit gut geeignet, e<strong>in</strong>e Basis zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />

wissenschaftlichen Fortschritts im Bereich modelltheoretischer Analysen zu leisten.<br />

Zum e<strong>in</strong>en kann bestimmt werden, welche Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens überhaupt<br />

schon von den bestehenden Modellen adressiert werden. Zum anderen erlaubt es, diese<br />

Kartografierung des Forschungsstands <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt zu vertiefen, <strong>in</strong>dem die<br />

Qualität der modelltheoretischen Ableitung der jeweiligen Stylised Facts auf der Ebene der<br />

Annahmen analysiert <strong>und</strong> bewertet werden kann. Die Stylised Facts bieten deshalb e<strong>in</strong>en<br />

zuverlässigen Referenzpunkt zur Bewertung von Modellen unter Berücksichtigung der empirischen<br />

Erkenntnisse zu e<strong>in</strong>em Phänomen.<br />

Nachdem das Konzept der Stylised Facts vorgestellt <strong>und</strong> die angekündigten drei Möglichkeiten<br />

se<strong>in</strong>er Anwendung aufgezeigt wurden, wird im nächsten Abschnitt e<strong>in</strong> Vorgehen zur<br />

Bestimmung von Stylised Facts zu e<strong>in</strong>em Phänomen beschrieben.<br />

3 Vorgehen bei der Bestimmung von Stylised Facts<br />

Im Rahmen der Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens gilt es, ausgehend von<br />

den bestehenden empirischen Beobachtungen allgeme<strong>in</strong>e Muster unter der Aussparung<br />

vernachlässigbarer Details zu identifizieren. 13 Die Identifikation derartiger allgeme<strong>in</strong>er<br />

Tendenzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Menge empirischer Arbeiten <strong>und</strong> das anschließende Herausfiltern von<br />

Stylised Facts ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>duktives Vorgehen, bei dem auch subjektive E<strong>in</strong>schätzungen erforderlich<br />

s<strong>in</strong>d. 14 Wie schon im methodologischen Teil erläutert, begegnet man dieser Herausforderung,<br />

<strong>in</strong>dem die Ableitung so transparent wie möglich gestaltet wird, um somit e<strong>in</strong>e<br />

Diskussion unter den Experten des entsprechenden Fachbereichs zu ermöglichen.<br />

Abbildung 1 beschreibt e<strong>in</strong>e von den Autoren erprobte Vorgehensweise bei der Bestimmung<br />

von Stylised Facts. 15<br />

13 Die vernachlässigbaren Details können dabei <strong>in</strong> zwei Kategorien unterteilt werden. Die erste enthält dabei Informationen,<br />

die zur Beschreibung der allgeme<strong>in</strong>en Muster unwesentlich s<strong>in</strong>d. Die zweite Kategorie enthält Details, die den<br />

allgeme<strong>in</strong>en Mustern widersprechen, allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr speziellen Kontext gelten, <strong>und</strong> daher vernachlässigt<br />

werden können.<br />

14 Zwei E<strong>in</strong>wände können gegen e<strong>in</strong>e solche Folgerung erhoben werden. Erstens handelt es sich um e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>duktiven<br />

Schluss, so dass Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit nicht gewährleistet werden kann. Zweitens basiert diese Folgerung auf den<br />

Überlegungen <strong>und</strong> dem Urteilsvermögen der Wissenschaftler, die die Bestimmung der Stylised Facts durchführen.<br />

15 Diese Vorgehensweise hat sich bislang <strong>in</strong> zwei Studien bewährt. Im Rahmen der ersten Studie wurde auf Basis der<br />

Stylised Facts der Stabilität von Kollusionen der Mehrwert von Computersimulationsmodellen untersucht. Derzeit bef<strong>in</strong>det<br />

sich e<strong>in</strong>e weitere Studie zu den Stylised Facts der partizitiven Budgetierung <strong>in</strong> Arbeit, bei der das beschriebene<br />

Vorgehen ebenfalls erfolgreich angewendet werden konnte.<br />

8<br />

126


Def<strong>in</strong>iton des<br />

untersuchten<br />

Phänomens<br />

Quellensuche<br />

<strong>in</strong> Literaturdatenbanken<br />

Identifikation<br />

von Aussagen<br />

zum Phänomen<br />

Gruppierung<br />

der Aussagen<br />

Ableitung<br />

der Stylised<br />

Facts<br />

Abbildung 1: Vorgehen bei der Ableitung von Stylised Facts<br />

Das <strong>in</strong> der Abbildung dargestellte Vorgehen erlaubt es zudem, den Prozess der Bestimmung<br />

von Stylised Facts möglichst transparent zu gestalten. Dabei erwies sich die Aufteilung<br />

<strong>in</strong> fünf Schritte als hilfreich. Jeder der fünf Schritte liefert e<strong>in</strong> Zwischenergebnis <strong>und</strong><br />

ermöglicht damit e<strong>in</strong> schrittweises Nachvollziehen des Prozesses <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e konstruktive<br />

Diskussion auf Ebene der Zwischenergebnisse. Damit wird versucht sicherzustellen, dass<br />

die subjektiven E<strong>in</strong>schätzungen der Autoren <strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Prozessschritt möglichst<br />

ger<strong>in</strong>g ausfallen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach nachvollzogen bzw. kritisiert werden können.<br />

Im Folgenden wird nun das Vorgehen <strong>in</strong>nerhalb der e<strong>in</strong>zelnen Prozessschritte detailliert<br />

beschrieben. Zur weiteren Illustration greift die Beschreibung auf Ausschnitte aus e<strong>in</strong>er von<br />

den Autoren durchgeführten Studie zur Bestimmung der Stylised Facts von Kollusion zurück.<br />

Als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Stylised Facts hat sich e<strong>in</strong>e präzise Def<strong>in</strong>ition<br />

des untersuchten Phänomens bewährt. Dieser bedarf es, bevor nach geeigneten empirischen<br />

Quellen gesucht wird. Bereits <strong>in</strong> diesem Schritt wird e<strong>in</strong>e erste grobe Festlegung des Abstraktionsniveaus<br />

getroffen. Dabei gilt es zu entscheiden, ob e<strong>in</strong> Phänomen ganz allgeme<strong>in</strong><br />

def<strong>in</strong>iert oder aber schon jetzt e<strong>in</strong> bestimmter Kontext festlegt werden soll. So kann das<br />

Phänomen der Kollusion aus e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Perspektive als die Kooperation von Individuen<br />

zur Maximierung ihres Nutzens auf Kosten e<strong>in</strong>es Dritten def<strong>in</strong>iert werden oder aber<br />

bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen Kontext, wie z. B. Anbieterkollusionen auf e<strong>in</strong>em Markt. Kollusion<br />

könnte man dort als die Kooperation zweier Firmen zur Maximierung ihres Gew<strong>in</strong>nes<br />

auf Kosten der Konsumenten def<strong>in</strong>ieren. E<strong>in</strong>e präzise Abgrenzung ist wichtig, um nicht<br />

durch e<strong>in</strong> unterschiedliches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes une<strong>in</strong>heitliche Assoziationen<br />

bei anderen Wissenschaftlern hervorzurufen <strong>und</strong> damit unproduktive Diskussionen<br />

auszulösen. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die Def<strong>in</strong>ition ke<strong>in</strong>e unnötigen E<strong>in</strong>schränkungen<br />

enthält, um nicht unnötigerweise Quellen auszuschließen. In Anlehnung an<br />

das obige Beispiel muss entschieden werden, ob man an möglicherweise spezifischen Ausprägungen<br />

von Kollusion <strong>in</strong> Märkten <strong>in</strong>teressiert ist oder ganz allgeme<strong>in</strong> das Phänomen der<br />

Kollusion untersuchen möchte. Soll nun das Phänomen der Kollusion an sich untersucht<br />

werden, so wäre e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung auf den Marktkontext e<strong>in</strong>e unnötige E<strong>in</strong>engung des<br />

Blickfeldes des Forschers, denn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Schritt kann davon ausgegangen werden,<br />

dass <strong>in</strong> unterschiedlichen Umgebungen die abstrakten Wirkmechanismen, die zur Entstehung<br />

von Kollusion führen, gleich s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> daher Studien aus unterschiedlichen Bereichen<br />

zur Bestimmung der Stylised Facts verwendet werden können.<br />

9<br />

127


Im Rahmen der Quellensuche s<strong>in</strong>d zwei Ziele zu beachten. Zum e<strong>in</strong>en gilt es möglichst umfassend<br />

<strong>und</strong> repräsentativ – idealerweise vollständig – existierende Arbeiten zu erfassen.<br />

Zum anderen sollten die verwendeten Arbeiten e<strong>in</strong> möglichst hohes Maß an Qualität aufweisen.<br />

16 Als Basis der Erarbeitung von Stylised Facts s<strong>in</strong>d daher wissenschaftliche Zeitschriften<br />

am besten geeignet. Sie enthalten aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse, die von<br />

den Experten des jeweiligen Themenbereiches diskutiert werden. Gleichzeitig stellt die<br />

Veröffentlichung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitschrift e<strong>in</strong>e Qualitätssicherung dar. Bezüglich der Qualitätssicherung<br />

können verschiedene Niveaus unterschieden werden. Die höchste Stufe seitens des<br />

Prozesses bilden hierbei sicher „double-bl<strong>in</strong>d refereed“-Publikationen. Aber selbst die Auswahl<br />

e<strong>in</strong>es Artikels durch den Herausgeber e<strong>in</strong>er Zeitschrift kann als e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum an<br />

Qualitätssicherung angesehen werden. 17 E<strong>in</strong>e möglichst unverzerrte <strong>und</strong> damit quantitativ<br />

repräsentative Recherche <strong>in</strong>nerhalb der Vielzahl von existierenden Zeitschriften ermöglichen<br />

hierbei Literaturdatenbanken. Diese enthalten die Ergebnisse von Fallstudien, statistischen<br />

Erhebungen <strong>und</strong> Experimenten gleichermaßen <strong>und</strong> ermöglichen gleichzeitig den<br />

E<strong>in</strong>bezug der Ergebnisse angrenzender Wissenschaftsbereiche wie z. B. der Verhaltenswissenschaften.<br />

Insbesondere der Social Science Citation Index (SSCI) bietet hier e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der<br />

Wissenschaft geläufige Quelle. 18 Diese kann bei Bedarf um weitere Datenbanken ergänzt<br />

werden. 19 E<strong>in</strong>e frühzeitige E<strong>in</strong>schränkung der Recherche auf „relevante“ Zeitschriften birgt<br />

gegenüber der Suche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Literaturdatenbank die Gefahr, nur e<strong>in</strong>en Ausschnitt der existierenden<br />

Studien zu erfassen, <strong>und</strong> damit das untersuchte Phänomen unvollständig oder<br />

verzerrt abzubilden.<br />

Liegen die entsprechenden empirischen Arbeiten vor, so gilt es die Aussagen zum untersuchten<br />

Phänomen zu identifizieren. Dabei sollten alle von der Studie beschriebenen <strong>und</strong><br />

empirisch belegten Eigenschaften des untersuchten Phänomens berücksichtigt werden. Dies<br />

s<strong>in</strong>d idealerweise beobachtete Zusammenhänge wie z. B. e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>uierlicher Anstieg des<br />

Kapitals pro Arbeiter (vgl. Kaldor 1961/1968:178). Insbesondere bei Fallstudien können<br />

aber auch schlüssig begründete Aussagen anhand e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelbeispiels aufgegriffen werden.<br />

Für die sprachliche Aufbereitung der Aussagen hat es sich als s<strong>in</strong>nvoll erwiesen, für<br />

jede untersuchte Eigenschaft des Phänomens eigenständige, möglichst kompakte Kurztexte<br />

zu formulieren. 20 Abbildung 2 zeigt e<strong>in</strong>e Veranschaulichung des Schrittes Identifikation<br />

16 Qualität wird hier als die E<strong>in</strong>haltung allgeme<strong>in</strong> akzeptierter methodischer Standards verstanden.<br />

17 Die ausschließliche Verwendung von wissenschaftlichen Zeitschriften besitzt allerd<strong>in</strong>gs den Nachteil, nicht die aktuellsten<br />

Ergebnisse z. B. aus Konferenzbänden oder Arbeitspapieren berücksichtigen zu können, da der Qualitätssicherungsprozess<br />

e<strong>in</strong>e Zeitverzögerung bed<strong>in</strong>gt. Hier muss entsprechend dem Stand der Forschung <strong>in</strong> dem jeweiligen<br />

Fachbereich e<strong>in</strong>e Abwägung zwischen der Notwendigkeit der Berücksichtigung aktueller Ergebnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er möglichst<br />

hohen Qualität der Beiträge getroffen werden. Ungeachtet der tatsächlich getroffenen Auswahl ist sicherzustellen,<br />

dass die angewendeten Auswahlkriterien klar <strong>und</strong> transparent dargestellt werden.<br />

18 Als Beispiel siehe Teichert/Talaulicar (2002) sowie Schwer<strong>in</strong> (2001).<br />

19 Zum Beispiel bieten sich hier die Literaturdatenbank Bus<strong>in</strong>ess Source Premier oder Econlite an („ebsco“).<br />

20 Diese Texte sollten zum e<strong>in</strong>en selbsterklärend se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong> von der detaillierten Kenntnis der Quellen unabhängiges<br />

Verständnis zu ermöglichen <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>e Diskussion entsprechender Experten möglichst zu fördern. Zum anderen<br />

sollten sie so nahe wie möglich am Orig<strong>in</strong>altext formuliert werden, wenn möglich den Orig<strong>in</strong>altext zitieren, um die<br />

Gefahr der Verzerrung der ursprünglichen Aussagen durch den Autor zu m<strong>in</strong>imieren.<br />

10<br />

128


von Aussagen, der auch e<strong>in</strong>ige Beispiele zur Formulierung der Texte zu Aussagen über das<br />

Phänomen der Kollusion entnommen werden können.<br />

No.<br />

Study<br />

Empirical method and<br />

context<br />

F<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs about collusion<br />

1<br />

Abb<strong>in</strong>k (2003): 24<br />

Experiment with students<br />

mostly <strong>und</strong>ergraduate<br />

concern<strong>in</strong>g the <strong>in</strong>fluence of<br />

the number of players on<br />

the market price<br />

"In duopolies, the cartel price is the most<br />

frequently observed outcome. With three and<br />

four firms, the frequency of collusive<br />

outcomes decreases." (p. 24)<br />

2<br />

Aig<strong>in</strong>ger (1993): Collusion,<br />

Concentration and Profits:<br />

an Empirical Confrontation<br />

of an Old Story and a<br />

Supergame Implication<br />

Statistical analysis of 97<br />

three digit <strong>in</strong>dustries and a<br />

set of 896 Austrian<br />

manufactur<strong>in</strong>g firms<br />

The 'relevant time discount rate', proxied by<br />

variables on the volatility and unpredictability<br />

<strong>in</strong> demand, expla<strong>in</strong>s cross section profit<br />

variance and therefore the chance for<br />

collusion (cf. p. 166).<br />

3<br />

Alexander (1994): The<br />

Impact of the National<br />

Industrial Recovery Act on<br />

Cartel Formation and<br />

Ma<strong>in</strong>tenance Cost<br />

Statistical analysis of<br />

<strong>in</strong>dustry concentration and<br />

price distribution before,<br />

dur<strong>in</strong>g and after the<br />

National Industrial<br />

Recovery Act<br />

"The results suggest that regulatory actions<br />

which reduce cartel formation costs, even<br />

temporarily, will <strong>in</strong>crease the ability of<br />

<strong>in</strong>dustries to act cooperatively for a longer<br />

period." (p. 254)<br />

4<br />

Apesteguia/Dufwenberg/Se<br />

lten (2003): Blow<strong>in</strong>g the<br />

Whistle<br />

Experiments on the effect<br />

of leniency clauses for<br />

firms that report cartels<br />

Communication fosters collusion (cf. p. 19).<br />

Leniency clauses destabilise collusion (cf. p.<br />

16).<br />

Bonus regulations for the firms report<strong>in</strong>g<br />

cartels do not destabilise collusion stronger<br />

than simple leniency clauses (cf. p. 17).<br />

Abbildung 2: Beispiel e<strong>in</strong>es Zwischenergebnisses für die Identifikation von Aussagen<br />

Um aus der Sammlung von Aussagen nun möglichst transparent <strong>und</strong> nachvollziehbar Stylised<br />

Facts abzuleiten, werden die e<strong>in</strong>zelnen Aussagen zunächst anhand ihrer Inhalte zu<br />

Clustern gruppiert. Die Struktur der Gruppierung kann sich dabei am untersuchten Phänomen<br />

orientieren, ohne dabei schon möglichen Stylised Facts vorzugreifen. Für das Beispiel<br />

Kollusion kann e<strong>in</strong>e Gruppierung z. B. entlang der drei Aspekte (1) Eigenschaften der Beteiligten,<br />

(2) Situation, <strong>in</strong> der die Kollusion stattf<strong>in</strong>det, <strong>und</strong> (3) Verlauf der Ereignisse, die<br />

zur Kollusion führen, erfolgen. E<strong>in</strong>e vierte Kategorie (4) sonstige Beobachtungen fasst alle<br />

nicht den Punkten 1-3 zuordenbaren Aussagen zusammen. Nach erfolgter Gruppierung<br />

wird zu jeder Aussage e<strong>in</strong>e entsprechende Folgerung formuliert. Bei der Formulierung dieser<br />

Folgerungen wird der vom Autor für relevant erachtete Teil der entsprechenden Aussage<br />

wiedergegeben. Dabei können unwesentliche Details der Aussage vernachlässigt werden.<br />

Die Frage, wann e<strong>in</strong>e Information als e<strong>in</strong> unwichtiges Detail e<strong>in</strong>zustufen ist, kann nur<br />

im jeweiligen Kontext entschieden werden. Die Formulierung der Folgerungen sollte daher<br />

erst erfolgen, sobald e<strong>in</strong>e ausreichend große Sammlung von Aussagen vorhanden ist. Erst<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er ausreichenden Anzahl an Aussagen ist e<strong>in</strong>e entsprechende Abwägung<br />

möglich. Die Entscheidung ist dann e<strong>in</strong> <strong>in</strong>duktiver Prozess, der aber durch die Dar-<br />

11<br />

129


stellung der ursprünglichen Aussage transparent dokumentiert wird <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e konstruktive<br />

Diskussion ermöglicht. 21 E<strong>in</strong>e Illustration der Prozessschritte Gruppierung <strong>und</strong> Ableitung<br />

sowie e<strong>in</strong>ige Beispiele zur Formulierung von Folgerungen können Abbildung 3 entnommen<br />

werden.<br />

Cluster<br />

F<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs about Collusion<br />

Implication<br />

Stylised Fact<br />

A small <strong>in</strong>crease <strong>in</strong> the size of the<br />

team destabilises collusion (cf. p.<br />

443).<br />

Increas<strong>in</strong>g group size<br />

destabilises collusion.<br />

The sett<strong>in</strong>g that stabilises collusion<br />

most strongly is a relatively small<br />

number of compet<strong>in</strong>g firms.<br />

Small group size<br />

stabilises collusion.<br />

"These results suggest that tacit<br />

collusion is possible and more likely<br />

to occur <strong>in</strong> an oligopoly market with a<br />

small number of firms."<br />

Small group size<br />

stabilises collusion.<br />

A lower number of buyers facilitates<br />

collusion aga<strong>in</strong>st the sellers.<br />

Small group size<br />

stabilises collusion.<br />

Individuals/<br />

Firms<br />

"In 79 per cent of the conspiracies<br />

ten or fewer firms were <strong>in</strong>volved."<br />

"Previous [experimental, the authors]<br />

studies <strong>in</strong>dicate that collusion<br />

sometimes occurs <strong>in</strong> duopolies, but<br />

is very rare <strong>in</strong> markets with more<br />

than two firms." The same tendency<br />

is observed <strong>in</strong> the current<br />

experiments.<br />

Small group size<br />

stabilises collusion.<br />

Small group size<br />

stabilises collusion.<br />

SF "Group<br />

Size"<br />

With two rivals collusion with high<br />

Small group size<br />

Abbildung 3: Beispiel für die Gruppierung der Aussagen <strong>und</strong> Ableitung der Stylised Facts<br />

S<strong>in</strong>d zu allen Aussagen die entsprechenden Folgerungen formuliert, lassen sich aus diesen<br />

die entsprechenden Stylised Facts ableiten. Hierbei gilt es zu entscheiden, <strong>in</strong>wieweit im Detail<br />

unterschiedliche Folgerungen noch zusammengefasst werden <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchen Fällen die<br />

Abweichungen zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Folgerungen groß genug s<strong>in</strong>d, um unterschiedliche,<br />

eigenständige Stylised Facts zu stützen. Dabei s<strong>in</strong>d zwei Aspekte zu berücksichtigen: zum<br />

e<strong>in</strong>en die Trennschärfe der e<strong>in</strong>zelnen Folgerungen zue<strong>in</strong>ander. Unterscheidet sich z. B. e<strong>in</strong>e<br />

Gruppe von Folgerungen nur durch kle<strong>in</strong>e Details im Untersuchungskontext <strong>und</strong> ist dieses<br />

Detail zur Beschreibung des untersuchten Phänomens nicht wesentlich, dann sollten die<br />

Folgerungen zu e<strong>in</strong>em Stylised Fact zusammengefasst werden. Zum anderen spielt auch die<br />

Häufigkeit <strong>und</strong> die Qualität der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Studien e<strong>in</strong>e Rolle. Deuten vere<strong>in</strong>zelte<br />

Aussagen basierend auf Fallstudien e<strong>in</strong>e neue Eigenschaft an, dann sollten diese eher e<strong>in</strong>em<br />

21 Siehe Fußnote 14.<br />

12<br />

130


esser gestützten Stylised Fact zugeordnet werden. Gibt es dagegen e<strong>in</strong>e Vielzahl von Studien,<br />

die mit allen drei empirischen Methoden e<strong>in</strong>e weitere Eigenschaft belegen, dann ist<br />

sicher die Formulierung e<strong>in</strong>es eigenständigen Stylised Fact angebracht.<br />

4 Anwendung des Konzepts zur <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>und</strong> -bewertung<br />

Nach der Beschreibung des Vorgehens zur Herausarbeitung von Stylised Facts werden nun<br />

zwei Ex-post-Anwendungsmöglichkeiten illustriert, die üblicherweise sequentiell erfolgen.<br />

Zunächst wird gezeigt, wie mit den Stylised Facts als Struktur e<strong>in</strong>e Forschungslandschaft<br />

erstellt <strong>und</strong> so der Beitrag schon vorliegender unterschiedlicher Modelle zur Beschreibung<br />

e<strong>in</strong>es Phänomens bestimmt werden kann. Neben dem Modellvergleich ermöglicht e<strong>in</strong>e derartige<br />

Forschungslandschaft auch e<strong>in</strong>e systematische <strong>und</strong> anschauliche Identifikation bisher<br />

unbearbeiteter Themen <strong>und</strong> eignet sich daher zur Erstellung e<strong>in</strong>er Forschungsagenda.<br />

Daneben ist oft jedoch e<strong>in</strong> zweiter Schritt notwendig, da der vorgenommene Vergleich<br />

noch ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die dem Modell zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Mechanismen <strong>und</strong> damit ke<strong>in</strong><br />

tiefer greifendes Verständnis der Modellmechanik liefert. 22 Erst e<strong>in</strong> durch die Stylised<br />

Facts angeleiteter tiefer greifender Modellvergleich ermöglicht e<strong>in</strong>e systematische Bewertung<br />

der untersuchten Modelle h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung der getroffenen Annahmen. Wie<br />

dies mit Hilfe der Stylised Facts geleistet werden kann, wird anhand e<strong>in</strong>es zweiten Beispiels<br />

gezeigt.<br />

Zu Erstellung e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft werden mehrere, idealerweise alle zur Beschreibung<br />

e<strong>in</strong>es Phänomens vorhandenen relevanten Modelle h<strong>in</strong>sichtlich der von ihnen reproduzierten<br />

Stylised Facts untersucht. Entsprechend dem Stylised-Facts-Konzept können nun<br />

die folgenden Kriterien bei der Bewertung der Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander angelegt werden:<br />

(1) E<strong>in</strong> Modell, das e<strong>in</strong>en Stylised Fact erklärt, leistet e<strong>in</strong>en größeren wissenschaftlichen<br />

Beitrag, als e<strong>in</strong> Modell, das auf die Erklärung e<strong>in</strong>es Nebenaspektes ausgerichtet ist. (2) E-<br />

xistieren mehrere Stylised Facts, dann erhöht sich der Beitrag e<strong>in</strong>es Modells mit der Fähigkeit,<br />

weitere Stylised Facts zu erklären, <strong>und</strong> (3) der Abwesenheit von Widersprüchen bei<br />

der Erklärung der anderen Stylised Facts. Auf diesen Kriterien basierend lassen sich bei der<br />

Bewertung vier Stufen der Qualität der Erklärung der Stylised Facts durch das Modell unterscheiden:<br />

(1) e<strong>in</strong> Stylised Fact wird nicht adressiert, (2) e<strong>in</strong> Stylised Fact wird mit e<strong>in</strong>em<br />

zu den empirischen Beobachtungen widersprüchlichen Ergebnis adressiert, (3) e<strong>in</strong> Stylised<br />

Fact wird mit teilweise mit den Beobachtungen übere<strong>in</strong>stimmenden Ergebnissen reproduziert<br />

oder (4) die Ergebnisse der Beschreibung stehen im E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen.<br />

Für jedes Modell wird analysiert, welche Charakterisierung der Beschreibung für jeden der<br />

Stylised Facts zutreffend ist. Das Ergebnis dieser Analyse lässt sich grafisch anschaulich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft darstellen. E<strong>in</strong> Beispiel hierfür ist <strong>in</strong> Abbildung 4 dargestellt.<br />

22 Es ist noch ke<strong>in</strong> „look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er the hood“ erfolgt, um mit Hausmans (1994/1995) Worten zu sprechen.<br />

13<br />

131


Untersuchungen<br />

Stylised Facts<br />

Modell A<br />

Modell B<br />

Modell C<br />

Modell D<br />

SF 1<br />

<br />

---<br />

<br />

<br />

SF 2<br />

---<br />

<br />

<br />

---<br />

SF 3<br />

---<br />

---<br />

<br />

---<br />

SF 4<br />

---<br />

<br />

---<br />

---<br />

--- SF nicht adressiert<br />

SF adressiert, aber mit widersprüchlichen<br />

Ergebnissen<br />

Ergebnisse reproduzieren SF<br />

zum Teil<br />

Ergebnisse <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit SF<br />

Abbildung 4: Modellvergleich mit Hilfe e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft<br />

Der wissenschaftliche Beitrag verschiedener Modelle zur Beschreibung der Stylised Facts<br />

kann auf Basis e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft visualisiert werden. Die Anzahl der adressierten<br />

Stylised Facts lässt sich direkt ablesen. In unserem Beispiel adressiert Modell C drei, Modell<br />

B zwei <strong>und</strong> Modell A <strong>und</strong> D jeweils e<strong>in</strong>en Stylised Fact. Auch e<strong>in</strong>e erste qualitative<br />

Bewertung ist bei e<strong>in</strong>er entsprechenden grafischen Darstellung unmittelbar aus der Forschungslandschaft<br />

heraus möglich. Modell B <strong>und</strong> C beschreiben jeweils e<strong>in</strong>en Stylised Fact<br />

<strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den empirischen Beobachtungen <strong>und</strong> können die restlichen von den Modellen<br />

angesprochenen Stylised Facts nur teilweise reproduzieren. Während Modell D e<strong>in</strong>en<br />

Stylised Fact zum Teil reproduziert, stehen die Aussagen von Modell A im Widerspruch zu<br />

den Beobachtungen bzgl. des adressierten Stylised Fact. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Messung leistet<br />

Modell C den größten wissenschaftlichen Beitrag zur Beschreibung des untersuchten Phänomens,<br />

gefolgt von Modell B, D <strong>und</strong> C. 23<br />

Forschungsdefizite ergeben sich primär aus Stylised Facts, die von ke<strong>in</strong>em Modell angesprochen<br />

werden. Danach ist die Qualität der Beschreibung <strong>und</strong> zuletzt die Kompaktheit<br />

der Modellierung, d. h. <strong>in</strong>wieweit e<strong>in</strong> Modell verschiedene Stylised Facts adäquat adressiert,<br />

von Bedeutung. In unserem Beispiel wird jeder Stylised Fact von zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em<br />

23 E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Rangfolge wird <strong>in</strong> der Praxis selten möglich se<strong>in</strong>, da sich qualitative <strong>und</strong> quantitative Aspekte selten<br />

e<strong>in</strong>deutig komb<strong>in</strong>ieren lassen. Z. B. ist bei zwei Modellen, von denen das e<strong>in</strong>e drei Stylised Facts teilweise reproduziert<br />

<strong>und</strong> das andere zwei Stylised Facts <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen wiedergibt, ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>gültige Aussage<br />

bzgl. der Frage, welches Modell den größeren Beitrag leistet, möglich. Zusätzlich müssen auch nicht immer alle<br />

Stylised Facts für die Beschreibung e<strong>in</strong>es Phänomens gleichbedeutend se<strong>in</strong>, so dass auch hier die E<strong>in</strong>schätzung des<br />

Wissenschaftlers notwendig ist. Allerd<strong>in</strong>gs stellt e<strong>in</strong>e wie beschrieben erstellte Forschungslandschaft den gegenwärtigen<br />

Forschungsstand transparent dar <strong>und</strong> unterstützt so e<strong>in</strong>e fokussierte Diskussion.<br />

14<br />

132


Modell adressiert. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Beschreibungen von SF2 <strong>und</strong> SF3 nur zum Teil <strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen. Hier besteht demzufolge noch Forschungsbedarf. Ebenfalls<br />

noch offen ist die Erstellung e<strong>in</strong>es Modells, das alle vier Stylised Facts gleichzeitig<br />

adressiert. 24 E<strong>in</strong> solch <strong>in</strong>tegratives Modell besitzt gegenüber e<strong>in</strong>er Sammlung von e<strong>in</strong>zelnen<br />

Modellen, die jeweils e<strong>in</strong>en Teil der Stylised Facts beschreiben, den Vorteil, dass es zusätzlich<br />

Aussagen über die Zusammenhänge <strong>und</strong> Wechselwirkungen bezüglich der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Stylised Facts liefern kann. 25<br />

Während die vorgestellte Forschungslandschaft e<strong>in</strong>en systematischen <strong>und</strong> übersichtlichen<br />

Vergleich vorhandener Modelle anhand ihrer Beschreibung des Phänomens ermöglicht, untersucht<br />

e<strong>in</strong>e zweite Anwendungsmöglichkeit des Stylised-Facts-Konzept e<strong>in</strong>e tiefer liegende<br />

Ebene, die den Modellen zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Mechanismen. Ziel der Untersuchung<br />

der Modellmechanik ist die Bewertung der F<strong>und</strong>ierung der Annahmen <strong>und</strong> damit der Belastbarkeit<br />

der von dem Modell gelieferten Aussagen. Bei der Durchführung e<strong>in</strong>er derartigen<br />

Untersuchung werden die Stylised Facts als e<strong>in</strong>e Art Sche<strong>in</strong>werfer verwendet, um die<br />

Mechanik der Modelle systematisch zu durchleuchten. Dabei dient e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Stylised<br />

Fact dazu, genau den für se<strong>in</strong>e Generierung verantwortlichen Mechanismus aus e<strong>in</strong>er ggf.<br />

sehr komplexen Modellmechanik zu isolieren <strong>und</strong> ermöglicht somit e<strong>in</strong>e aussagekräftige<br />

Bewertung. Damit unterstützt das Stylised-Facts-Konzept e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Tiefe gehende Diskussion<br />

des Grades der Willkürlichkeit bei den Modellannahmen <strong>und</strong> der Sensitivität des<br />

Modells h<strong>in</strong>sichtlich der Wahl ggf. zu setzender Parameterwerte.<br />

Im Rahmen e<strong>in</strong>er tiefer greifenden Bewertung können die Modelle auf drei Ebenen untersucht<br />

werden. 26 Am Anfang steht e<strong>in</strong> Stylised Fact, mit dem das Modell <strong>in</strong> Bezug gebracht<br />

werden kann. Aus dieser Perspektive wird der entsprechende, den Stylised Fact generierende<br />

Mechanismus identifiziert. Anschließend wird der Modellaufbau überprüft, <strong>in</strong>dem untersucht<br />

wird, ob die Annahmen, die dem Mechanismus im Modell zu Gr<strong>und</strong>e liegen, gut begründet<br />

<strong>und</strong> etabliert s<strong>in</strong>d oder eher willkürlich gewählt wurden. Zum Abschluss wird, falls<br />

vorhanden, die Wahl von Parameterwerten überprüft. 27 Dazu wird zum e<strong>in</strong>en nach e<strong>in</strong>em<br />

nachvollziehbaren Bezug der Parameterwerte zur Realität gesucht <strong>und</strong> zum anderen die<br />

Sensitivität der Modellergebnisse auf die Wahl der Werte auf Basis der von den Modellautoren<br />

gelieferten Informationen geprüft. 28<br />

24 Erwähnt sei an dieser Stelle nochmals der Beitrag von Marcet/Nicol<strong>in</strong>i (2003:1477-1478), der e<strong>in</strong> gutes Beispiel hierfür<br />

ist: Für das Problem wiederkehrender Hyper<strong>in</strong>flationen zeigen sie, dass die vorhandenen Modelle nicht mit allen<br />

Stylised Facts konsistent s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ihr Modell aufgr<strong>und</strong> der stimmigen Beschreibung aller Stylised Facts e<strong>in</strong>en Fortschritt<br />

darstellt.<br />

25 In unserem Beispiel kann anhand der vorhandenen Modelle nicht untersucht werden, welchen E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Ausprägung des SF1 auf die Ausprägung von SF4 besitzt. Dies wäre aber mit e<strong>in</strong>em Modell, das SF1 <strong>und</strong> SF4 gleichzeitig<br />

beschreibt, möglich.<br />

26 Vergleiche auch Werker/Brenner (2004:8).<br />

27 Vergleiche auch Werker/Brenner (2004:9).<br />

28 Werden ke<strong>in</strong>e Informationen zur Sensitivität der Modellergebnisse bzgl. der Parameterwertewahl geliefert, so ist dies<br />

negativ h<strong>in</strong>sichtlich der Modellqualität zu bewerten. Unter diesen Umständen lässt sich nur schwer e<strong>in</strong> Bild von der<br />

Stabilität der Ergebnisse machen.<br />

15<br />

133


Zur Illustration verwenden wir die Analyse zweier Modelle, die die Stabilität von Kollusionen<br />

<strong>in</strong> der Struktur e<strong>in</strong>es wiederholten Gefangenendilemmas untersuchen. Modell I verwendet<br />

dabei die klassische Spieltheorie, während Modell II auf der Methode der Computersimulation<br />

basiert. Der Stylised Fact „Durchsetzungsprozesse kooperativen Verhaltens“<br />

wird dabei unterschiedlich modelliert. Modell I zeigt unter den etablierten Annahmen der<br />

Spieltheorie, dass es unter der Annahme der Existenz e<strong>in</strong>es beliebig kle<strong>in</strong>en Anteils an kooperativen<br />

Mitspielern 29 rational ist, zum<strong>in</strong>dest zeitweise kooperativ zu spielen. Damit s<strong>in</strong>d<br />

die Annahmen von Modell I sehr gut f<strong>und</strong>iert. Die Beschreibung des Stylised Fact ist aber<br />

nur sehr grob, da weder Aussagen über die Dynamik der möglichen Entstehung kooperativen<br />

Verhaltens getroffen noch die Erfolgsaussichten spezifischer Verhaltensweisen abgeschätzt<br />

werden können. Modell II beschreibt das Verhalten der Teilnehmer, <strong>in</strong>dem es sechs<br />

Verhaltenseigenschaften der Teilnehmer modelliert. 30 Die Eigenschaften der modellierten<br />

Spieler s<strong>in</strong>d dabei nicht statisch, sondern werden durch e<strong>in</strong>en Lernprozess mit dem Ziel der<br />

Gew<strong>in</strong>nmaximierung angepasst. 31 Diese Vorgehensweise verspricht e<strong>in</strong>e deutlich detailliertere<br />

Beschreibung des entsprechenden Stylised Fact als die Methodik von Modell I, da sowohl<br />

die Dynamik des Prozesses als auch der E<strong>in</strong>fluss spezifischer Verhaltensweisen auf<br />

die Erfolgsaussichten der Durchsetzung von Kollusion beschrieben werden können. Diese<br />

Modellierung des Verhaltens stützt sich auf verschiedene neuere Quellen, die Integration<br />

dieser unterschiedlichen Ansätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtkonzept wird jedoch nicht begründet. Auch<br />

wird e<strong>in</strong>e F<strong>und</strong>ierung des neuen Konzeptes <strong>in</strong>sgesamt bzw. e<strong>in</strong>e empirische Stützung nicht<br />

gegeben.<br />

Vergleicht man die Ergebnisse der Analyse der Modellmechanik <strong>und</strong> der F<strong>und</strong>ierung der zu<br />

Gr<strong>und</strong>e liegenden Annahmen, dann bietet Modell II die detailliertere Beschreibung des untersuchten<br />

Stylised Fact. E<strong>in</strong>e Untersuchung der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Modellmechanik<br />

zeigt aber, dass die Ergebnisse auf wenig f<strong>und</strong>ierten Annahmen beruhen <strong>und</strong> daher Anlass<br />

zur Kritik geben.<br />

Blickt man e<strong>in</strong>e Ebene tiefer auf die Wahl von Werten für ggf. vorhandene Parameter, so<br />

setzt sich dieses Bild fort: Modell I benötigt lediglich e<strong>in</strong>en Hilfsparameter, der den Anteil<br />

der kooperativen Mitspieler darstellt. Dieser Parameter kann zwischen null <strong>und</strong> e<strong>in</strong>s liegen,<br />

für die Untersuchung ist aber nur wesentlich, dass er größer null ist. Damit bee<strong>in</strong>flusst die<br />

Wahl des Wertes für diese Größe die Modellergebnisse nicht. Zur Modellierung der verschiedenen<br />

Eigenschaften <strong>in</strong> Modell II wird e<strong>in</strong>e Vielzahl von Parametern, wie z. B. die<br />

Dauer der Bestrafung von unkooperativen Mitspielern, e<strong>in</strong>geführt. Bei der Wahl dieser Parameter<br />

wird häufig auf Pretests verwiesen, ohne deren Ergebnisse detailliert wiederzugeben.<br />

Sensitivitätsanalysen werden nicht durchgeführt, ebenso wenig werden empirische<br />

29 Es wird die Existenz von Mitspielern angenommen, die sich entsprechend der „Tit for Tat“-Strategie (vgl. Axelrod<br />

1984) verhalten.<br />

30 Modelliert werden die Ungeduld der Mitspieler, ihre Bereitschaft, unkooperatives Verhalten zu bestrafen, zu vergeben,<br />

eigenes Fehlverhalten zu bereuen, zur Versöhnung sowie den Mitspielern zu vertrauen.<br />

31 In der Arbeit werden zwei unterschiedliche Lernformen mite<strong>in</strong>ander verglichen: Beim Verstärkungslernen werden nur<br />

die eigenen Erfahrungen der Spielers bei der Suche nach e<strong>in</strong>er besseren Anpassung verwendet, beim Beobachtungslernen<br />

werden auch die Erfahrungen der Mitspieler <strong>in</strong> den Lernprozess mit e<strong>in</strong>bezogen.<br />

16<br />

134


F<strong>und</strong>ierungen für die Parameterwahl gegeben. Damit ist die Aussage des Modells I so gut<br />

wie gar nicht von der Wahl der Werte für die Parameter abhängig, h<strong>in</strong>gegen kann dies bei<br />

Modell II nicht ausgeschlossen werden. Dies stellt e<strong>in</strong>en weiteren negativen Aspekt bei der<br />

Bewertung des Modells II dar.<br />

Damit wurde illustriert, wie mit Hilfe der Stylised Facts e<strong>in</strong> strukturierter Modellvergleich<br />

erfolgen kann. Dieser wird <strong>in</strong> zwei Schritten <strong>und</strong> auf zwei Ebenen durchgeführt: Zunächst<br />

stellten die Stylised Facts e<strong>in</strong>e Struktur für e<strong>in</strong>e Messung <strong>und</strong> Visualisierung des potentiellen<br />

Erkenntnisbeitrags der verschiedenen Modelle dar, im zweiten Schritt ermöglichen sie<br />

auf e<strong>in</strong>er tieferen Ebene e<strong>in</strong>e fokussierte Bewertung der jeweiligen Modellierungen.<br />

5 Fazit<br />

In diesem Beitrag wurde mit dem Konzept der Stylised Facts e<strong>in</strong> Weg aufgezeigt, wie sich<br />

für den Bereich modelltheoretischer Analysen wissenschaftlicher Fortschritt messen <strong>und</strong><br />

bewerten lässt. Daneben erlaubt das Konzept e<strong>in</strong>e systematische Reduktion der Gefahr des<br />

Modelplatonismus bei e<strong>in</strong>er Anwendung <strong>in</strong> der Phase der Modellentwicklung, <strong>in</strong>dem das<br />

Augenmerk des Forschers auf empirisch relevante <strong>und</strong> etablierte Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens<br />

gelenkt wird. E<strong>in</strong> weiterer Beitrag liegt <strong>in</strong> der expliziten Ausweisung der Sichtweise e<strong>in</strong>es<br />

Phänomens als Ausgangspunkt der Modellbildung, die sonst nur implizit der Modellkonstruktion<br />

zu Gr<strong>und</strong>e liegt. Damit werden die Annahmen e<strong>in</strong>zelner Forscher expliziert <strong>und</strong><br />

dadurch der wissenschaftlichen Diskussion <strong>und</strong> Kritik zugänglich gemacht.<br />

Der vorgestellte Prozess zur Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es ausgewählten Phänomens<br />

versucht aus diesem Gr<strong>und</strong> auch die unvermeidbar subjektiven E<strong>in</strong>schätzungen der<br />

Forscher transparent <strong>und</strong> nachvollziehbar auszuweisen. Das präsentierte Beispiel e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft<br />

illustriert, wie mit den Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens als Struktur e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>tersubjektiv nachvollziehbare Messung des Forschungsstandes existierender Modelle<br />

durchgeführt <strong>und</strong> anschaulich dargestellt werden kann. Der beispielhaft durchgeführte tiefer<br />

greifende Modellvergleich zeigt zudem, wie die e<strong>in</strong>zelnen Stylised Facts verwendet werden<br />

können, die Komplexität e<strong>in</strong>es Modells durch die systematische Isolation des entsprechenden<br />

Mechanismus zu reduzieren. Dies ermöglicht e<strong>in</strong>e systematische Durchleuchtung der<br />

Modellmechanik <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>deutige Aussagen h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung der Modellannahmen<br />

<strong>und</strong> der Sensitivität ggf. vorhandener Parameterwerte.<br />

Es soll nicht versäumt werden, darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass die Gew<strong>in</strong>nung von Stylised Facts<br />

e<strong>in</strong> anspruchsvolles Verfahren darstellt. Die Verfügbarkeit empirischer Untersuchungen<br />

könnte stark variieren <strong>und</strong> deren Ergebnisse können durch den jeweiligen methodologischen<br />

<strong>und</strong> theoretischen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> des Forschungsgebietes geprägt se<strong>in</strong>. Die Ableitung<br />

von Stylised Facts ist zudem idealerweise das Ergebnis e<strong>in</strong>es Diskussionsprozesses unter<br />

Experten. Auch wenn das Konzept der Stylised Facts von se<strong>in</strong>er Gr<strong>und</strong>idee sehr e<strong>in</strong>fach ist,<br />

bietet es ke<strong>in</strong>en Automatismus für die Forschung. Vielmehr zeigt auch dieses Konzept die<br />

Bedeutung rationalitätsfördernder Verfahrensweisen <strong>in</strong> der Wissenschaft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

der Urteilskraft der jeweiligen Forscher.<br />

17<br />

135


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20<br />

138


Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre<br />

– E<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung von Muster-Hypothesen –<br />

Univ.-Prof. Dr. Ute Schmiel<br />

Technische Universität Ilmenau<br />

Lehrstuhl für ABWL, <strong>in</strong>sbesondere Steuerlehre/Prüfungswesen<br />

Helmholtzstr. 3<br />

98693 Ilmenau<br />

Tel.-Nr. 03677/694498 (Sekretariat) 694497 (Durchwahl)<br />

Fax-Nr. 03677/694499<br />

ute.schmiel@tu-ilmenau.de<br />

Zusammenfassung<br />

In diesem Beitrag wird e<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher<br />

Aussagen <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre vorgelegt. In kritisch-rationalistischer<br />

Perspektive hat e<strong>in</strong>e solche Methodologie die Funktion e<strong>in</strong>er<br />

Technologie zur Erreichung von Erkenntnisfortschritt. Gleichzeitig wird mit e<strong>in</strong>er<br />

solchen Methodologie Erkenntnisfortschritt gemessen. Erfahrungswissenschaftliche<br />

Aussagen bilden <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Beratung des (Steuer-)Gesetzgebers. Die Neukonzeption e<strong>in</strong>er Methodologie zur<br />

Herleitung solcher Aussagen wird damit begründet, dass vorhandene Konzepte<br />

kritischen E<strong>in</strong>wendungen nicht standhalten. Das hier vorgelegt Konzept geht von der<br />

begründeten Annahme aus, dass <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre nur erfahrungswissenschaftliche<br />

Aussagen über abstrakte Muster (Muster-Hypothesen) möglich<br />

s<strong>in</strong>d. Die These des Beitrags lautet, dass diese Methodologie zur Herleitung von<br />

Muster-Hypothesen e<strong>in</strong> geeignetes Fortschrittskonzept darstellt.<br />

139


1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Sobald e<strong>in</strong> Wissenschaftler e<strong>in</strong>e kritisch-rationalistische Haltung e<strong>in</strong>nimmt, bildet die<br />

Messung wissenschaftlichen Fortschritts e<strong>in</strong>e eigenständige wissenschaftliche Problematik.<br />

Denn <strong>in</strong> kritisch-rationalistischer Perspektive ist absolut sichere Erkenntnis unrealisierbar.<br />

„Unsere Wissenschaft ist ke<strong>in</strong> System von gesicherten Sätzen“, so formuliert<br />

Karl R. Popper, „auch ke<strong>in</strong> System, das <strong>in</strong> stetem Fortschritt e<strong>in</strong>em Zustand der<br />

Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist ke<strong>in</strong> Wissen ... weder Wahrheit noch<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit kann sie erreichen.“ Aber obwohl „Wahrheit <strong>und</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

für sie unerreichbar ist, so ist doch das <strong>in</strong>tellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb,<br />

wohl der stärkste Antrieb der Forschung.“ 1 Übernimmt man diese Position Poppers,<br />

resultiert hieraus die Konsequenz, dass Erkenntnisfortschritt nicht objektiv bestimmt<br />

werden kann. Insbesondere lässt sich Erkenntnisfortschritt nicht dadurch überprüfen, ob<br />

– <strong>und</strong> wenn ja <strong>in</strong>wieweit – man sich an e<strong>in</strong>e endgültige Wahrheit angenähert hat. Die<br />

Feststellung von Erkenntnisfortschritt erfordert vielmehr, dass e<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Geme<strong>in</strong>schaft Erkenntnisfortschritt def<strong>in</strong>iert. Dies geschieht mithilfe e<strong>in</strong>er Methodologie,<br />

die e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Geme<strong>in</strong>schaft explizit oder implizit, reflektiert oder unreflektiert<br />

anwendet: „Alle<strong>in</strong> die Methodologie selbst kann Explikata des Begriffs ‚Erkenntnisfortschritt‘,<br />

adäquate Erklärungen usf., vorschlagen; nur sie kann angeben, wor<strong>in</strong><br />

Erkenntnisfortschritt bestehen soll, was wir zweckmäßig unter ‚Erkenntnisfortschritt‘<br />

verstehen sollen <strong>und</strong> woran man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konkreten Fall Erkenntnisfortschritt<br />

erkennen kann.“ 2<br />

E<strong>in</strong>e Methodologie hat den Charakter e<strong>in</strong>er Technologie, mit deren Hilfe Erkenntnisfortschritt<br />

erlangt werden soll. 3 Zum<strong>in</strong>dest implizit liegt jeder Methodologie die Aussage<br />

zugr<strong>und</strong>e, dass Erkenntnisfortschritt besser oder sogar nur dann zu gew<strong>in</strong>nen ist,<br />

wenn sie befolgt wird. 4 Schwierigkeiten bereitet allerd<strong>in</strong>gs die Beurteilung e<strong>in</strong>er<br />

Methodologie <strong>und</strong> damit des Fortschrittskonzepts selbst. Denn wenn e<strong>in</strong>e Methodologie<br />

determ<strong>in</strong>iert, was als Erkenntnisfortschritt anzusehen ist, kann nicht gleichzeitig<br />

mithilfe des so def<strong>in</strong>ierten Erkenntnisfortschritts die Eignung der Methodologie zur<br />

Erreichung des Erkenntnisfortschritts überprüft werden. E<strong>in</strong>e solche Bestimmung wäre<br />

offensichtlich zirkulär: Ob e<strong>in</strong> Forschungsergebnis als Erkenntnisfortschritt zu<br />

qualifizieren wäre, würde durch die Methodologie bestimmt, wobei die Brauchbarkeit<br />

der Methodologie davon abhängen würde, ob der durch die Methodologie def<strong>in</strong>ierte Erkenntnisfortschritt<br />

erzielt wurde. Die Qualität e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts kann demzufolge<br />

nicht an dem gewonnenen Erkenntnisfortschritt gemessen werden. Vielmehr<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Popper (1994), S. 223 [alle Zitate].<br />

Radnitzky (1992), S. 469 f.<br />

Siehe zu diesem Methodologieverständnis Albert (1987), S. 84-93, Albert (1991), S. 44-50.<br />

So Gadenne (2002), S. 76 f.<br />

1<br />

140


können nur Gründe angeführt werden, die für oder gegen e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept<br />

sprechen, ohne dass es sich hierbei um e<strong>in</strong>e abschließende Begründung handelt. 5<br />

In diesem Beitrag wird e<strong>in</strong>e Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher<br />

Aussagen <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre unterbreitet <strong>und</strong> <strong>in</strong>soweit e<strong>in</strong> modifiziertes<br />

Fortschrittskonzept für die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre vorgelegt. Die<br />

Bedeutung e<strong>in</strong>er Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen<br />

ist offensichtlich: Erfahrungswissenschaftliche Aussagen bilden <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerlehre <strong>in</strong>sbesondere die Gr<strong>und</strong>lage für die betriebswirtschaftliche Beratung<br />

des Steuergesetzgebers zur Ausgestaltung des Steuerrechts. 6 In der Betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerlehre werden zurzeit im Wesentlichen zwei methodologische Konzeptionen<br />

zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen vertreten. Nach der<br />

implizit von Franz W. Wagner vorgetragenen Konzeption liegt e<strong>in</strong>e erfahrungswissenschaftliche<br />

Aussage vor, wenn mithilfe statistischer Methoden nachgewiesen werden<br />

kann, dass Steuerpflichtige ihre ökonomischen Entscheidungen treffen, <strong>in</strong>dem sie steuerrechtliche<br />

Regelungen <strong>in</strong> Entscheidungskalküle, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> das Kapitalwertmodell,<br />

implementieren. Hiergegen ist vorzutragen, dass die Prämissen des Kapitalwertmodells,<br />

<strong>in</strong>sbesondere die unterstellten (Un-)Sicherheitsannahmen, Erfahrungstatbeständen<br />

widersprechen. Überdies werden durch die Verknüpfung von Elementen e<strong>in</strong>er<br />

neoklassischen Idealwelt <strong>und</strong> Elementen e<strong>in</strong>er realen Welt widersprüchliche „Hybrid-<br />

Modelle“ konstruiert. Außerdem ist das implizit vertretene Verständnis empirischer<br />

Wahrheit zum<strong>in</strong>dest vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses<br />

kritisch zu sehen: Denn Wagner überprüft nicht, <strong>in</strong>wieweit die Prämissen<br />

e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkts mit Erfahrungstatbeständen übere<strong>in</strong>stimmen.<br />

Vielmehr def<strong>in</strong>iert Wagner implizit empirische Wahrheit als Anerkennung<br />

der <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre erarbeiteten Modelle durch Steuerpflichtige.<br />

Die Modellergebnisse s<strong>in</strong>d nicht empirisch wahr, weil ihre Prämissen e<strong>in</strong>em korrespondenztheoretischen<br />

Wahrheitsverständnis entsprechend e<strong>in</strong> Abbild der Wirklichkeit<br />

darstellen. Die Modellergebnisse s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em annähernd konsenstheoretischen<br />

S<strong>in</strong>ne wahr, weil Steuerpflichtige sie als s<strong>in</strong>nvoll, als nützlich anerkennen, um<br />

damit ihre betriebswirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Schließlich richtet sich<br />

e<strong>in</strong>e erfahrungswissenschaftliche Aussage im S<strong>in</strong>ne Wagners auf die Herleitung von<br />

Zusammenhängen über konkretes Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

5<br />

6<br />

Siehe Radnitzky (1992), S. 470, Gadenne (2002), S. 76 f.<br />

In diesem Beitrag wird nicht thematisiert, ob auch Gestaltungsempfehlungen gegenüber e<strong>in</strong>zelnen<br />

Wirtschaftssubjekten erfahrungswissenschaftliche Aussagen zugr<strong>und</strong>e liegen können <strong>und</strong> sollen.<br />

Siehe zu e<strong>in</strong>er ablehnenden Position Bretzke (1980), S. 227-232.<br />

2<br />

141


Situationen. 7 Darüber können aber nach der hier vertretenen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Kapitel 2 explizierten<br />

Auffassung ke<strong>in</strong>e Regelmäßigkeiten aufgestellt werden.<br />

E<strong>in</strong>e zweite Konzeption zur Herleitung e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage ist<br />

die explizit formulierte Methodologie von Dieter Schneider. 8 Auch diese ist darauf ausgerichtet,<br />

Regelmäßigkeiten über konkretes Handeln von Steuerpflichtigen <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Situationen zu erarbeiten. Weil sich nach der hier vertretenen Auffassung diese Situationen<br />

der Herleitung von Regelmäßigkeiten entziehen <strong>und</strong> überdies – wie <strong>in</strong> Kapitel<br />

2 <strong>und</strong> 3 deutlich werden wird – Detaile<strong>in</strong>wände gegen die Position Schneiders vorzubr<strong>in</strong>gen<br />

s<strong>in</strong>d, wird <strong>in</strong> diesem Beitrag die Methodologie Schneiders modifiziert. Erst<br />

diese modifizierte Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen<br />

– so lautet die These dieses Beitrags – ist e<strong>in</strong> geeignetes Fortschrittskonzept für die Betriebswirtschaftliche<br />

Steuerlehre. 9 Diese These wird im Folgenden begründet, <strong>in</strong>dem <strong>in</strong><br />

Kapitel 2 zunächst der Begriff der erfahrungswissenschaftlichen Aussage konturiert<br />

wird. In Kapitel 3 wird die Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er solchen erfahrungswissenschaftlichen<br />

Aussage erarbeitet. Kapitel 4 schließt mit e<strong>in</strong>em Vorschlag dazu,<br />

wie das hier vorgelegte Fortschrittskonzept selbst kritisch überprüft werden kann.<br />

Obwohl dieses methodologische Konzept zunächst nur die betriebswirtschaftliche<br />

Beratung des Steuergesetzgebers <strong>in</strong> Blick nimmt, ist es nicht hierauf beschränkt. Es<br />

kann vielmehr immer dann Berücksichtigung f<strong>in</strong>den, wenn es um betriebswirtschaftliche<br />

Gesetzesberatung schlechth<strong>in</strong> geht. Er erstreckt sich beispielsweise auch<br />

auf die Analyse des Gesellschafts-, Bilanz- <strong>und</strong> Insolvenzrechts <strong>und</strong> damit auf Rechtsgebiete,<br />

die typischerweise im Betriebswirtschaftlichen Rechnungswesen oder im Betriebswirtschaftlichen<br />

Prüfungswesen analysiert werden.<br />

2 Konturierung des Begriffs „erfahrungswissenschaftliche Aussage“<br />

Das hier vorgelegte Verständnis e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage wird<br />

durch e<strong>in</strong> kritisch-realistisches Wirklichkeitsverständnis determ<strong>in</strong>iert. Demzufolge wird<br />

von der Existenz e<strong>in</strong>er vom beobachtenden Subjekt unabhängigen Wirklichkeit ausgegangen,<br />

die gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>in</strong> erfahrungswissenschaftlichen Aussagen erfasst werden<br />

kann. Gleichzeitig wird die Auffassung vertreten, dass betriebswirtschaftliche Erkenntnis,<br />

soweit erfahrungswissenschaftliche Aussagen beabsichtigt s<strong>in</strong>d, die empirische<br />

Überprüfung <strong>in</strong>kludiert. Diese empirische Überprüfung von Aussagen erweist sich<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Siehe Wagner (1999), S. 20-33, Wagner (2002), S. 1889-1892, Wagner/Schwenk (2003), S. 376-<br />

395, Wagner (2004), S. 239-245.<br />

Siehe Schneider (2001), S. 13-25, 490-508, 1019-1036.<br />

Dass sowohl Wagner als auch Schneider mit ihrem Konzept auch die Def<strong>in</strong>ition von<br />

Erkenntnisfortschritt verb<strong>in</strong>den, zeigt sich bei Wagner <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik „wertungsbasierter“<br />

Steuerforschung, siehe Wagner (2004), S. 245-248, <strong>und</strong> bei Schneider explizit bei der von<br />

ihm vorgetragenen Messung wissenschaftlichen Fortschritts, siehe Schneider (2001), S. 1019-1036.<br />

3<br />

142


jedoch als problematisch, wenn auch nicht als unmöglich, weil es ke<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“<br />

Beobachtung gibt, auf die e<strong>in</strong>e Theorie zurückgeführt werden kann. Vielmehr ist jede<br />

Beobachtung im wissenschaftlichen Kontext theoriebeladen. Die Qualifizierung e<strong>in</strong>er<br />

Beobachtung als Bestätigung oder Widerlegung e<strong>in</strong>er Aussage setzt bereits die<br />

Akzeptanz e<strong>in</strong>er oder mehrerer anderer Theorien als vorläufig bestätigt voraus. Die<br />

vorläufige Bestätigung oder Widerlegung von Aussagen ist demzufolge nicht objektiv<br />

durch „re<strong>in</strong>e“ Beobachtung möglich, sondern an <strong>in</strong>tersubjektiv gültige Vere<strong>in</strong>barungen<br />

e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft geb<strong>und</strong>en. 10<br />

In dieser Perspektive des kritischen Realismus handelt es sich um e<strong>in</strong>e an der Wirklichkeit<br />

begründete Festsetzung, wenn im Folgenden davon ausgegangen wird, dass die <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkt unterstellten (Un-)Sicherheitsannahmen<br />

Beobachtungstatbeständen widersprechen. Das Kapitalwertmodell basiert entweder<br />

auf der Annahme sicherer Erwartungen oder ihm liegt e<strong>in</strong> Unsicherheitsverständnis<br />

zugr<strong>und</strong>e, nach dem Wirtschaftssubjekte alle denkbaren Zukunftslagen <strong>in</strong> ihren Plan<br />

aufnehmen. „Unsicherheit“ besteht dann nur dar<strong>in</strong>, nicht zu wissen, welche dieser im<br />

Voraus festgelegten Zukunftslagen e<strong>in</strong>treten wird. „Echte“ Unsicherheit, expliziert als<br />

das mögliche E<strong>in</strong>treten von nicht <strong>in</strong>s Entscheidungskalkül e<strong>in</strong>bezogenen Zuständen –<br />

Schneider bezeichnet diese als Ex-post-Überraschungen – ist ausgeschaltet. Des Weiteren<br />

wird e<strong>in</strong>e Gleichverteilung des Wissens unterstellt <strong>und</strong> damit ignoriert, dass das unvollständige<br />

Wissen e<strong>in</strong>er menschlichen Gesellschaft bei dem E<strong>in</strong>zelnen nur zum Teil<br />

<strong>und</strong> regelmäßig <strong>in</strong> anderer Form vorhanden ist als bei e<strong>in</strong>em anderen. Diese Elim<strong>in</strong>ierung<br />

„echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens ist <strong>in</strong>soweit problematisch,<br />

als dass zahlreiche weitere Beobachtungstatbestände, beispielsweise das<br />

Entstehen von Unternehmen, das Vorhandense<strong>in</strong> von Liquiditätsproblemen bis h<strong>in</strong> zur<br />

Illiquidität sowie die entsprechenden Institutionen zu ihrer Bekämpfung, erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens erklärbar s<strong>in</strong>d.<br />

Deshalb wird im Folgenden die Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung<br />

des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt. 11<br />

Verb<strong>und</strong>en mit der Theoriebeladenheit der Beobachtung ist e<strong>in</strong>e Theoriebeladenheit der<br />

Sprache. Denn sowohl e<strong>in</strong>e Theorie als auch (theoriebeladene) Beobachtungen werden<br />

10<br />

11<br />

Siehe Popper (1994), S. 31, 71-76, siehe auch Albert (1987), S. 6, 43-62, 107, 111-116, Albert<br />

(1996), S. 121. Siehe h<strong>in</strong>gegen zum Wirklichkeitsverständnis des radikalen Konstruktivismus von<br />

Glasersfeld (1994), zu deren Rezeption <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre Pfriem (1994), S. 116-118,<br />

<strong>und</strong> zur kritischen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus Dettmann (1999),<br />

<strong>in</strong>sbesondere S. 222-248.<br />

Siehe zu dieser hier von Schneider übernommenen Sichtweise Schneider (1995), S. 1-30, Schneider<br />

(1997), S. 42-46, Schneider (2001), S. 370-378, 469, 490, 1030 <strong>und</strong> bereits Schneider (1987), S. 1-<br />

6, 467-474, 496-517. Siehe zur Unsicherheitsproblematik auch Tietzel (1985), <strong>in</strong>sbesondere S. 172-<br />

177. Die Unsicherheitsproblematik stellt – wenn auch mit anderen Konsequenzen – auch Schreyögg<br />

heraus, siehe Schreyögg (1991), S. 266-268.<br />

4<br />

143


<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sprache zum Ausdruck gebracht. Deshalb spiegelt sich <strong>in</strong> der Sprache das Problem<br />

der Theoriebeladenheit der Beobachtung wider: Ebenso wenig wie e<strong>in</strong>e Theorie<br />

durch „re<strong>in</strong>e“ Beobachtung bestätigt oder widerlegt werden kann, ist es möglich, e<strong>in</strong>e<br />

theoretische Sprache objektiv auf e<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“ Beobachtungssprache zurückzuführen.<br />

Im wissenschaftlichen Kontext existiert ke<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“, also nicht theoriebeladene Beobachtungssprache.<br />

Damit entfällt die Differenz zwischen e<strong>in</strong>er theoretischen Sprache, die<br />

Begriffe für nicht ohne e<strong>in</strong>e Theorie beobachtbare Sachverhalte verwendet, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Beobachtungssprache, die sich aus Begriffen für Sachverhalte zusammensetzt, die ohne<br />

e<strong>in</strong>e Theorie beobachtbar wären. Und vor allem ist das dah<strong>in</strong>ter stehende Ziel, durch<br />

Übersetzung den empirischen Gehalt theoretischer Aussagen zu sichern, mith<strong>in</strong> theoretische<br />

Aussagen objektiv an der Erfahrungswelt zu überprüfen, nicht zu erreichen. 12<br />

Gleichwohl s<strong>in</strong>d unterschiedliche theoretische Sprachen möglich. So existieren Sprachen<br />

mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad, formale Sprachen e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> natürliche<br />

Sprachen anderseits. Außerdem s<strong>in</strong>d Sprachen mit unterschiedlichem Genauigkeitsgrad<br />

denkbar. Letztere lassen sich <strong>in</strong> Sprachen unterteilen, die die Wirklichkeit verbal<br />

erfassen, <strong>und</strong> solche, die diese <strong>in</strong> Zahlen abbilden, d. h. messen. Zwischen diesen Sprachen<br />

s<strong>in</strong>d Übersetzungsvorgänge notwendig. E<strong>in</strong>e formale Sprache verlangt die Zuordnung<br />

zwischen den verwandten Symbolen <strong>und</strong> der natürlichen Sprache. Ebenso ist es<br />

notwendig, die im Rahmen e<strong>in</strong>er Theorie verwandten Begriffe e<strong>in</strong>er natürlichen Sprache<br />

zu def<strong>in</strong>ieren. Damit verb<strong>und</strong>en ist regelmäßig die Zuordnung abstrakter Begriffe zu<br />

konkreteren Begriffen. Die Begriffsexplikation ist <strong>in</strong>sbesondere vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

erforderlich, dass Begriffe <strong>in</strong> verschiedenen Theorien mit unterschiedlichem Begriffs<strong>in</strong>halt<br />

verwandt werden <strong>und</strong> Begriffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorie häufig anders gebraucht werden als<br />

<strong>in</strong> der Umgangssprache. 13<br />

Die hier vorgelegte Methodologie e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage versteht<br />

des Weiteren ökonomische Sachverhalte nicht als „historisch bed<strong>in</strong>gte s<strong>in</strong>guläre Entwicklungen“,<br />

„die sich pr<strong>in</strong>zipiell e<strong>in</strong>er systematisch-theoretischen Erklärung entziehen“.<br />

Vielmehr wird angenommen, dass ökonomische Sachverhalte zum<strong>in</strong>dest durch<br />

„Regelmäßigkeiten <strong>und</strong> Struktureigenschaften“ charakterisiert s<strong>in</strong>d. 14 Die Herleitung<br />

e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage richtet sich im Folgenden darauf, solche<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Siehe zur Entwicklung verschiedener Positionen zur Zurückführbarkeit e<strong>in</strong>er theoretischen Aussage<br />

auf e<strong>in</strong>e Beobachtungsaussage Stegmüller (1989), S. 380-411. Siehe zur Abgrenzung e<strong>in</strong>er<br />

realistischen Bedeutung der Sprache von e<strong>in</strong>em antirealistischen Verständnis, nach dem die Sprache<br />

die Erkenntnis konstituiert, Albert (1996), S. 133-135.<br />

Schneider stellt solche Übersetzungsvorgänge heraus. Es ist aber nicht abschließend ersichtlich, ob<br />

die hier vorgetragene Deutung se<strong>in</strong>er Position entspricht oder ob Schneider nicht vielmehr die<br />

Trennbarkeit von Theorie- <strong>und</strong> Beobachtungssprache für möglich hält. Siehe zu den <strong>in</strong>soweit nicht<br />

e<strong>in</strong>deutigen Ausführungen Schneider (2001), S. 19-25, 492-508.<br />

Siehe zu e<strong>in</strong>er solchen Auffassung Lehmann-Waffenschmidt als Vertreter evolutorischer Ökonomik<br />

(2002), S. 280 f. [dort auch die wörtlichen Zitate].<br />

5<br />

144


Regelmäßigkeiten aufzuzeigen. Regelmäßigkeiten werden hier als e<strong>in</strong>e im Vergleich zu<br />

determ<strong>in</strong>istischen Gesetzen schwächere Kausalbeziehung verstanden. 15 Ökonomische<br />

Regelmäßigkeit impliziert, dass im Unterschied zu determ<strong>in</strong>istischen Gesetzen Ausnahmen<br />

zugelassen s<strong>in</strong>d. Selbst wenn man naiv-realistisch die Auffassung vertreten<br />

würde, e<strong>in</strong> Gesetz könnte durch e<strong>in</strong>zelne Gegenbeispiele widerlegt werden – hiergegen<br />

steht die Theoriebeladenheit der Beobachtung –, träfe e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit diese Konsequenz<br />

nicht. Indem Schneider herausstellt, dass e<strong>in</strong>e Wissenschaft, die Aspekte<br />

menschlichen Handelns untersucht, ke<strong>in</strong>e deduktiv-nomologischen Erklärungen abgeben<br />

kann, sondern nur „schlußfolgerungsfähiges Wissen über glaubwürdige Regelmäßigkeiten“,<br />

16 orientiert sich auch Schneider an der Erforschung von Regelmäßigkeiten.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist die von Schneider vorgelegte Konzeption nicht widerspruchsfrei an dieser<br />

Zielsetzung ausgerichtet. Denn Schneiders Ausführungen zur Widerlegung erfahrungswissenschaftlicher<br />

Aussagen deuten darauf h<strong>in</strong>, dass Schneider <strong>in</strong> diesem Kontext die<br />

Widerlegung von Gesetzen <strong>und</strong> nicht die von Regelmäßigkeiten vor Augen hat. 17<br />

Wenn man e<strong>in</strong>e Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage<br />

an der Erarbeitung von Regelmäßigkeiten orientiert, stellt sich die Frage, welche<br />

ökonomischen Regelmäßigkeiten überhaupt erforscht werden können. Hier wird <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an Friedrich A. von Hayek bezweifelt, dass sich Regelmäßigkeiten <strong>in</strong> Bezug<br />

auf konkretes Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen Situationen feststellen<br />

lassen. 18 Wirtschaftliches Handeln vollzieht sich <strong>in</strong> sozialen <strong>und</strong> damit komplexen<br />

Systemen <strong>und</strong> hängt demzufolge von zahlreichen unterschiedlichen, nicht vone<strong>in</strong>ander<br />

zu isolierenden E<strong>in</strong>flüssen ab. Jede Aussage, die zwischen e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fluss oder<br />

mehreren ausgewählten, aber notwendigerweise begrenzten Faktoren <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />

bestimmten Handeln e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit behauptet, lässt andere Faktoren unberücksichtigt.<br />

In komplexen Situationen können aber gerade diese außer Acht gelassenen<br />

Faktoren das Ergebnis herbeigeführt haben.<br />

Demzufolge wird man – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den konkreten E<strong>in</strong>fluss<br />

der Besteuerung auf das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten nicht als Regelmäßigkeit<br />

erfassen können. Damit ist aber überaus fraglich, ob die Zielsetzung der Betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerlehre, Zusammenhänge zwischen der Besteuerung <strong>und</strong> ihrem<br />

E<strong>in</strong>fluss auf die E<strong>in</strong>kommenserzielung von Steuerpflichtigen – so genannte Steuerwirkungen<br />

– aufzuzeigen, überhaupt erreicht werden kann. Dabei wird nicht bereits die<br />

an e<strong>in</strong>en wirtschaftlichen Sachverhalt anknüpfende Steuerzahlung als Steuerwirkung<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

Da nicht vorausgesetzt (aber auch nicht generell ausgeschlossen) wird, dass Regelmäßigkeiten auf<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsaussagen beruhen, stellen hier betrachtete Regelmäßigkeiten auch im Vergleich<br />

zu statistischen Gesetzen e<strong>in</strong>e schwächere Kausalbeziehung dar.<br />

Schneider (2001), S. 490.<br />

Siehe Schneider (2001), S. 1023, <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 501-503.<br />

Siehe von Hayek (1972), <strong>in</strong>sbesondere S. 15-29.<br />

6<br />

145


qualifiziert. E<strong>in</strong>e Steuerwirkung liegt erst vor, wenn die Besteuerung die ökonomische<br />

Entscheidung e<strong>in</strong>es Steuerpflichtigen verändert, der Steuerpflichtige e<strong>in</strong>e andere Entscheidung<br />

trifft, als er dies ohne Besteuerung oder unter e<strong>in</strong>er anderen Form der Besteuerung<br />

tun würde. 19<br />

So würde die Aussage: „Wenn die Besteuerung OHG- <strong>und</strong> GmbH-Gesellschaftern steuerliche<br />

Verluste <strong>in</strong> gleicher Weise, d. h. ohne deren unterschiedliche Haftung zu beachten,<br />

zurechnet, wählen rational handelnde Wirtschaftssubjekte die GmbH, während sie<br />

bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Haftung <strong>in</strong> der steuerlichen Verlustzurechnung<br />

die OHG wählen würden“, zahlreiche solcher E<strong>in</strong>flussfaktoren vernachlässigen.<br />

Zu diesen gehört beispielsweise, dass rational handelnde Wirtschaftssubjekte neben unterschiedlichen<br />

Formen der Haftung unter Umständen auch andere Rechtsformunterschiede<br />

<strong>in</strong>s Kalkül ziehen: so etwa die mit der Haftung eng verb<strong>und</strong>ene Verpflichtung<br />

zur Kapitalaufbr<strong>in</strong>gung, Möglichkeiten zur Fremdorganschaft, Publizitätspflichten, die<br />

Besteuerung von Gew<strong>in</strong>nen sowie aperiodische Besteuerungssachverhalte, deren Ausprägungen<br />

wiederum von zahlreichen Umweltfaktoren abhängen. Wenn also e<strong>in</strong>e Besteuerungsregelung<br />

wie die <strong>in</strong> der „Wenn-Komponente“ beschriebene existent wäre <strong>und</strong><br />

auch die Konsequenz, mith<strong>in</strong> die „dann-Komponente“, beobachtbar wäre, bestätigt<br />

diese zwar vordergründig die vorläufige Wahrheit der Hypothese. Die Wahl der GmbH<br />

könnte jedoch ebenso durch e<strong>in</strong>en oder mehrere andere E<strong>in</strong>flussfaktoren sowie durch<br />

deren Zusammenwirken verursacht se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>er Überprüfung des konkreten E<strong>in</strong>flusses<br />

e<strong>in</strong>er Besteuerungsregel auf das konkrete Handeln steht jedoch entgegen, dass sich die<br />

Vielzahl der e<strong>in</strong>zelnen möglichen E<strong>in</strong>flüsse nicht vone<strong>in</strong>ander isoliert beobachten lässt:<br />

Insbesondere ist es nicht möglich, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Besteuerungsregel zu variieren <strong>und</strong><br />

sämtliche anderen denkmöglichen E<strong>in</strong>flussfaktoren konstant zu halten. 20<br />

Den konkreten E<strong>in</strong>fluss der Besteuerung auf das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten<br />

wird man, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen, nicht <strong>in</strong> gleicher Weise erfassen<br />

können, wie den Kausalzusammenhang zwischen e<strong>in</strong>em Gewicht <strong>und</strong> dem<br />

Zerreißen e<strong>in</strong>es Fadens. Dieses Zerreißen lässt sich aus dem allgeme<strong>in</strong>en Satz: „Jedesmal,<br />

wenn e<strong>in</strong> Faden mit e<strong>in</strong>er Last von e<strong>in</strong>er gewissen M<strong>in</strong>destgröße belastet wird, zerreißt<br />

er“ <strong>und</strong> den besonderen Sätzen: „Für diesen Faden hier beträgt diese Größe 1 kg“<br />

sowie: „Das an diesem Faden angehängte Gewicht ist e<strong>in</strong> 2-kg-Gewicht“, deduzieren. 21<br />

19<br />

20<br />

21<br />

Siehe zu diesem Verständnis von Steuerwirkungen Schneider (2002), S. 19-24, König/Wosnitza<br />

(2004), S. 1-6, Wagner (2004), S. 239-245, Schreiber (2005), S. 493 f.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Schwierigkeit resultiert daraus, dass unter der Annahme „echter“ Unsicherheit nicht<br />

„objektiv“ bestimmt werden kann, welches Verhalten rational wäre. Siehe zu dieser Rationalitätsproblematik<br />

Kirchner (1997), S. 13-18, Schneider (2001), S. 397-402. Siehe zur Komplexitätsproblematik<br />

ausführlich, e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er kritischen Betrachtung der hier nicht thematisierten<br />

Ceteris-paribus-Annahme, Bretzke (1980), S. 159-186.<br />

Siehe Popper (1994), S. 31 f. [dort auch die wörtlichen Zitate, im Orig<strong>in</strong>al teilweise<br />

hervorgehoben]. Allerd<strong>in</strong>gs hat Popper das auch nicht für die Sozialwissenschaften behauptet, wie<br />

7<br />

146


Im Unterschied zu diesem Zusammenhang, der <strong>in</strong> der Diktion von Hayeks e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches<br />

Phänomen beschreibt, gehört der konkrete E<strong>in</strong>fluss der Besteuerung auf ökonomisches<br />

Handeln <strong>in</strong> konkreten Situationen zu dem Bereich komplexer Phänomene. 22<br />

„E<strong>in</strong>es der wichtigsten der bisher durch theoretische Arbeit auf diesem Gebiet [geme<strong>in</strong>t<br />

ist die Erklärung geistiger <strong>und</strong> gesellschaftlicher Phänomene, Anmerkung der Verfasser<strong>in</strong>]<br />

erreichten Ergebnisse“, so konstatiert von Hayek, „sche<strong>in</strong>t mir der Nachweis zu<br />

se<strong>in</strong>, daß hier die konkreten Umstände, von denen die <strong>in</strong>dividuellen Ereignisse abhängen,<br />

<strong>in</strong> der Regel so zahlreich s<strong>in</strong>d, daß wir sie praktisch nie alle ermitteln können <strong>und</strong><br />

daß folglich nicht nur das Ideal ‚Voraussage <strong>und</strong> Kontrolle‘ weitgehend unerreichbar<br />

ist, sondern auch die Hoffnung, wir könnten durch Beobachtungen regelmäßige Beziehungen<br />

zwischen den <strong>in</strong>dividuellen Ereignissen entdecken, illusorisch bleibt.“ „Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e ist die ökonomische Theorie auf die Beschreibung der Arten von Mustern<br />

beschränkt, die auftreten, wenn gewisse allgeme<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt s<strong>in</strong>d, aber<br />

aus diesem Wissen kann sie kaum, wenn überhaupt, irgendwelche Voraussagen über <strong>in</strong>dividuelle<br />

Phänomene ableiten.“ „E<strong>in</strong>e Theorie def<strong>in</strong>iert immer nur e<strong>in</strong>e Art (oder<br />

Klasse) von Mustern, <strong>und</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Ersche<strong>in</strong>ungsform des zu erwartenden<br />

Musters hängt von den <strong>in</strong>dividuellen Umständen ab“ 23 .<br />

22<br />

23<br />

Trotz dieser e<strong>in</strong>leuchtenden Ausführungen bereitet es Schwierigkeiten, den von von<br />

Hayek verwandten Begriff des Musters auf betriebswirtschaftliche Sachverhalte zu<br />

applizieren. Denn von Hayeks Erläuterungen zu Muster-Hypothesen <strong>in</strong> der ökonomischen<br />

Theorie bleiben außerordentlich vage. Von Hayek versteht die allgeme<strong>in</strong>e Gleichgewichtstheorie,<br />

so wie sie von Léon Walras aufgestellt wurde, als e<strong>in</strong> solches Muster,<br />

um „die allgeme<strong>in</strong>en Beziehungen zwischen den Preisen <strong>und</strong> den Mengen aller gekauften<br />

<strong>und</strong> verkauften Güter darzustellen“. Von Hayek betont weiter, dass die simultanen<br />

Gleichungssyteme so gefasst s<strong>in</strong>d, dass „wir die Preise <strong>und</strong> Mengen aller Güter ausrechnen<br />

könnten, ... wenn wir alle Parameter dieser Gleichungen kennen würden“, allerd<strong>in</strong>gs<br />

handele es sich hierbei um e<strong>in</strong>e völlig abwegige Annahme. „Die Voraussage, daß sich<br />

e<strong>in</strong> Muster dieser allgeme<strong>in</strong>en Art herausbildet, beruht auf gewissen sehr allgeme<strong>in</strong>en<br />

Annahmen über Tatsachen (beispielsweise, daß die meisten Leute sich beruflich betätigen,<br />

um e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen zu erlangen; daß sie e<strong>in</strong> größeres E<strong>in</strong>kommen e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>eren<br />

E<strong>in</strong>kommen vorziehen; daß sie an e<strong>in</strong>em freien Zugang zu den Märkten nicht geh<strong>in</strong>dert<br />

werden ...); sie ist jedoch nicht von der Kenntnis der spezielleren Umstände abhängig,<br />

die uns bekannt se<strong>in</strong> müßten, um Preise <strong>und</strong> Mengen bestimmter Güter vorauszusa<strong>in</strong>sbesondere<br />

se<strong>in</strong>e Ausführungen zur Situationslogik belegen, siehe Popper (1962), S. 120 f.,<br />

Popper (1967), <strong>in</strong>sbesondere S. 354, 356, die Popper jedoch im Zeitablauf erheblich verändert hat,<br />

siehe hierzu Böhm (2002).<br />

Siehe von Hayek (1972), S. 12-15.<br />

Von Hayek (1972), S. 25 [erstes Zitat], S. 27 [zweites Zitat], S. 10 [drittes Zitat].<br />

8<br />

147


gen.“ 24 Von Hayek sche<strong>in</strong>t damit zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen zu wollen, dass diese allgeme<strong>in</strong>en<br />

Tatsachen das Muster e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Preismechanismus kennzeichnen. 25<br />

Wenn im Folgenden die Idee des Musters aufgegriffen wird, kann nicht mit Sicherheit<br />

gesagt werden, dass diese Verwendung mit der von Hayeks übere<strong>in</strong>stimmt. 26<br />

Die Aussage: „Wenn die Besteuerung OHG- <strong>und</strong> GmbH-Gesellschaftern steuerliche<br />

Verluste <strong>in</strong> gleicher Weise, d. h. ohne deren unterschiedliche Haftung zu beachten, zurechnet,<br />

wählen rational handelnde Wirtschaftssubjekte die GmbH, während sie bei Berücksichtigung<br />

der unterschiedlichen Haftung <strong>in</strong> der steuerlichen Verlustzurechnung die<br />

OHG wählen würden“, kann man <strong>in</strong> das folgende abstrakte Muster e<strong>in</strong>ordnen: Wenn <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit Haftungsrisiken vorliegen, bee<strong>in</strong>flussen diese<br />

nicht nur die Renditeforderung von Wirtschaftssubjekten – <strong>in</strong> diesem Fall gäbe es<br />

ke<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> für e<strong>in</strong>e differenzierte Verlustbesteuerung. Wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt mit<br />

„echter“ Unsicherheit Haftungsrisiken vorliegen, haben Haftungsrisiken <strong>in</strong>nerhalb ökonomischer<br />

Entscheidungen e<strong>in</strong>e darüber h<strong>in</strong>ausgehende „eigenständige“ Bedeutung. Implizit<br />

vertritt Schneider e<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese, wenn er ausführt, das den<br />

„Problemkreis ‚Besteuerung <strong>und</strong> F<strong>in</strong>anzierung Kennzeichnende‘ s<strong>in</strong>d nicht ... die Rentabilitätswirkungen,<br />

sondern die Liquiditäts- <strong>und</strong> Risikowirkungen der Besteuerung“ 27 .<br />

Denn das setzt voraus, dass Liquidität <strong>und</strong> Risiko eigenständige Entscheidungskomponenten<br />

darstellen.<br />

E<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese umfasst verschiedene „Wenn-Komponenten“, beispielsweise<br />

unterschiedliche Formen zivilrechtlicher Haftungsrisiken. Ebenso impliziert sie<br />

auch unterschiedliche „dann-Komponenten“, <strong>in</strong>sbesondere unterschiedliche Situationen,<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

Von Hayek (1972), S. 27 [alle Zitate, Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al]. Siehe auch bereits von Hayek<br />

(1962), S. 10-14.<br />

Dah<strong>in</strong>ter steht vermutlich die von von Hayek vorgetragene, aber umstrittene Position, dass zwar e<strong>in</strong><br />

Gleichgewicht im S<strong>in</strong>ne der allgeme<strong>in</strong>en Gleichgewichtstheorie nicht erreichbar sei, gleichwohl<br />

e<strong>in</strong>e Tendenz zum Gleichgewicht bestehe. Siehe hierzu von Hayek (1967a), S. 166-170, <strong>und</strong> kritisch<br />

Schneider (2001), S. 452-467, Tietzel (1985), S. 132-137.<br />

Sie stimmt aber mit den allgeme<strong>in</strong>en Ausführungen von Hayeks zum Muster übere<strong>in</strong>, siehe von<br />

Hayek (1972), S. 10 f., <strong>und</strong> kommt darüber h<strong>in</strong>aus der Deutung von Muster-Hypothesen nahe, die<br />

Bretzke – ebenfalls <strong>in</strong> Anlehnung an von Hayek – vorlegt, siehe Bretzke (1980), S. 178-186.<br />

Schneider (2002), S. 175 [im Orig<strong>in</strong>al teilweise hervorgehoben]. Von der Frage, welche<br />

Regelmäßigkeiten erforscht werden könnten, ist die Frage danach abzugrenzen, warum solche Regelmäßigkeiten<br />

auftreten. Hier wird vermutet, dass Wirtschaftssubjekte vergleichbaren Problemen<br />

mit vergleichbaren Verhaltensweisen zu begegnen versuchen, wobei dies den Wirtschaftssubjekten<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt bewusst se<strong>in</strong> muss. Siehe zur dah<strong>in</strong>ter stehenden Problematik von Unsichtbare-<br />

Hand-Erklärungen sowie der Gegenüberstellung der Herausbildung e<strong>in</strong>er spontanen Ordnung im<br />

Gegensatz zu Ergebnissen menschlichen Entwurfs von Hayek (1967b), <strong>in</strong>sbesondere S. 100-102,<br />

<strong>und</strong> Schneider (2001), S. 464. In ke<strong>in</strong>em Fall sollen die Überlegungen zur Regelmäßigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

essentialistischen S<strong>in</strong>ne so verstanden werden, dass bestimmten Abläufen oder Gegenständen e<strong>in</strong><br />

Wesen <strong>in</strong>newohnt, das es zu entdecken gilt.<br />

9<br />

148


die als Ausdruck des E<strong>in</strong>bezugs eigenständiger Risikowirkungen <strong>in</strong> ökonomische Entscheidungen<br />

verstanden werden können. Hierzu zählen auch entsprechende Steuerausweichhandlungen.<br />

Die Hypothese über e<strong>in</strong> solches Muster lässt im Gegensatz zur Hypothese<br />

über konkrete Sachverhalte zahlreiche unterschiedliche konkrete Sachverhalte<br />

als Ausprägungen dieses Musters zu. Dies hat jedoch unweigerlich zur Konsequenz,<br />

dass die Muster-Hypothese im H<strong>in</strong>blick auf ihren Behauptungsgehalt <strong>und</strong> – wie sich <strong>in</strong><br />

Kapitel 3 zeigen wird – ebenso im H<strong>in</strong>blick auf ihren Geltungsbereich vage ist. 28<br />

3 Entwurf e<strong>in</strong>er Methodologie zur Herleitung von Muster-Hypothesen<br />

Den Ausgangspunkt für die im Folgenden vorgetragene Methodologie zur Herleitung<br />

von Muster-Hypothesen bildet die Konzeption e<strong>in</strong>er „erklärenden“ Theorie im S<strong>in</strong>ne<br />

Schneiders. 29 Das methodologische Konzept Schneiders wurde von dem von Joseph<br />

D. Sneed <strong>und</strong> Wolfgang Stegmüller begründeten Strukturalismus bee<strong>in</strong>flusst. Da<br />

Schneider aber selbst hervorhebt, es handele sich bei se<strong>in</strong>em Konzept um e<strong>in</strong>en „vere<strong>in</strong>fachten<br />

Eigenbau[-s]“ 30 besteht des Weiteren weder die Intention, die Unterschiede<br />

zum Strukturalismus herauszustellen, noch die Absicht, dessen Vorteilhaftigkeit zu diskutieren.<br />

31 Zur Vermeidung von Missverständnissen wird jedoch, um die Abgrenzung<br />

zum Strukturalismus zu unterstreichen, auf e<strong>in</strong>e „strukturalistische Term<strong>in</strong>ologie“,<br />

konkret auf die Begriffe „Struktur e<strong>in</strong>er Theorie“ <strong>und</strong> „Strukturkern“ verzichtet.<br />

Die hier vorgelegte Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage<br />

übernimmt gr<strong>und</strong>legend den von Schneider vorgetragenen Aufbau, der sich sehr vere<strong>in</strong>facht<br />

folgendermaßen beschreiben lässt: 32 Auf e<strong>in</strong>e Frage, die sich beim Nachdenken<br />

über die Wirklichkeit ergibt <strong>und</strong> die zusammen mit e<strong>in</strong>er Lösungsidee die Problemstellung<br />

(das erste Theorieelement) bildet, wird e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Antwort gegeben, d. h. e<strong>in</strong>e<br />

Hypothese (das vierte Theorieelement) formuliert. 33 Schneider veranschaulicht se<strong>in</strong>e<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

Siehe von Hayek (1972), S. 17 f., 27 f., Bretzke (1980), S. 184-186.<br />

Die von Schneider vorgenommene darüber h<strong>in</strong>aus gehende Differenzierung zwischen erklärenden,<br />

gestaltenden <strong>und</strong> metrisierenden Theorien – siehe Schneider (1995), S. 117-119 – wird nicht<br />

thematisiert. Siehe ablehnend zu dieser Differenzierung Küttner (1987), S. 256, Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />

O‘Reilly (1991), S. 146.<br />

Schneider (2001), S. 405.<br />

Siehe hierzu Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-O‘Reilly (1991), <strong>in</strong>sbesondere S. 274-286.<br />

Siehe zu dieser Konzeption Schneider (2001), S. 13-25, 490-508, 1019-1036<br />

Die <strong>in</strong>haltlich formulierte Hypothese bildet (neben anderem) e<strong>in</strong>en wesentlichen Unterschied zum<br />

Strukturalismus. Demzufolge verzichtet Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-O‘Reilly (1991), S. 139, 142-145, der die Konzeption<br />

Schneiders <strong>in</strong> strukturalistischer Perspektive deutet, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Interpretation auf e<strong>in</strong>e solche<br />

Hypothese <strong>und</strong> beschränkt sich auf e<strong>in</strong>e Anwendungsbehauptung. Die Anwendungsbehauptung besagt,<br />

dass weitere Anwendungsfälle des Strukturkerns, der im Folgenden expliziert wird, existieren.<br />

10<br />

149


Konzeption anhand der Frage: „Wie läßt sich erklären, daß e<strong>in</strong> Unternehmer, der nur<br />

e<strong>in</strong>e Produktart erzeugt, se<strong>in</strong>en Absatzpreis so <strong>und</strong> nicht anders festsetzt?“<br />

Nach Schneider wird die Antwort auf die empirische Frage mit Hilfe e<strong>in</strong>es Modells, das<br />

im Wesentlichen dem Strukturkern (dem zweiten Theorieelement) entspricht, erarbeitet.<br />

Das Modellergebnis lautet bei Schneider: „Der Gew<strong>in</strong>n ist bei jenem Absatzpreis maximal,<br />

bei dem der mit alternativ wachsender Absatzmenge stetig fallende zusätzliche<br />

Umsatz je Absatze<strong>in</strong>heit (Grenzerlös) den nicht fallenden (also gleichbleibenden oder<br />

steigenden) zusätzlichen Kosten je Absatz- = Produktionse<strong>in</strong>heit (Grenzkosten) entspricht“<br />

34 . Dieses Modellergebnis hat jedoch nur den Charakter e<strong>in</strong>er vorläufigen Antwort<br />

auf die Fragestellung. Sie steht unter dem Vorbehalt, dass sich das Modellergebnis<br />

<strong>in</strong> Erfahrungssachverhalten, den Musterbeispielen (drittes Theorieelement), wiederf<strong>in</strong>den<br />

lässt. Diese Musterbeispiele s<strong>in</strong>d im Verhältnis zum Modell konkreter: Während<br />

sich das Modell auf typisierte Unternehmer bezieht, erstrecken sich Musterbeispiele auf<br />

e<strong>in</strong>zelne Unternehmer der Erfahrungswelt. 35 Es bedarf also der Bestätigung durch e<strong>in</strong>zelne<br />

Erfahrungssachverhalte, dass das Modell Erfahrungssachverhalte zwar vere<strong>in</strong>facht<br />

abbildet, es sich aber gleichwohl um e<strong>in</strong>e Abbildung der Wirklichkeit handelt. Untermauern<br />

diese konkreteren Erfahrungssachverhalte das Modellergebnis, bilden sie als<br />

modellgestützte Musterbeispiele die Gr<strong>und</strong>lage für die Verallgeme<strong>in</strong>erung zur Hypothese.<br />

Die Problematik dieser Vorgehensweise liegt <strong>in</strong> dem Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen.<br />

Nach der Konzeption Schneiders müsste es sich bei der Beobachtung von Erfahrungssachverhalten<br />

geradezu aufdrängen, dass diese Anwendungsfälle des Modellergebnisses<br />

s<strong>in</strong>d. Das wird aber, wenn überhaupt, nur <strong>in</strong> sehr konkreten, isolierten Situationen der<br />

Fall se<strong>in</strong>. Für solche Situationen wird jedoch nach der hier vertretenen Auffassung bezweifelt,<br />

dass sich für sie ökonomische Regelmäßigkeiten erarbeiten lassen. Gestützt<br />

wird diese Auffassung im Übrigen auch durch die weiteren Ausführungen Schneiders.<br />

Denn diese zeigen, dass es sich <strong>in</strong> dem Beispielsfall, der der Veranschaulichung der<br />

Schneiderschen Konzeption zugr<strong>und</strong>e liegt, nicht um e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit handelt. 36<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus bereitet selbst für konkrete Situationen das Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen<br />

Schwierigkeiten. So wählt denn auch Schneider für die Explikation se<strong>in</strong>er Theorie<br />

e<strong>in</strong> konstruiertes Beispiel. 37<br />

Gleichwohl ist die hier im Folgenden vorgenommene Modifikation des Theorieaufbaus<br />

von Schneider weniger dar<strong>in</strong> begründet, dass das Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen die<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

Schneider (1995), S. 176 f. [beide Zitate].<br />

Siehe zu dieser Interpretation auch Küttner (1984), S. 146.<br />

Siehe Schneider (1995), S. 179, Schneider (2001), S. 500-503.<br />

Siehe dazu kritisch Küttner (1984), S. 147. Siehe h<strong>in</strong>gegen zur Zulässigkeit konstruierter Musterbeispiele<br />

Schneider (1995), S. 179.<br />

11<br />

150


„Achillesferse“ se<strong>in</strong>er Konzeption bildet. Anlass für die Modifizierung ist vielmehr die<br />

Schwierigkeit, diese Konzeption auf das Erarbeiten von abstrakten, d. h. von nicht auf<br />

das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> konkreten Situationen bezogenen,<br />

Regelmäßigkeiten <strong>in</strong> der Form von Muster-Hypothesen zu übertragen. Wendet man die<br />

von Schneider vertretene Methodologie auf das Erforschen solcher Regelmäßigkeiten<br />

an, müsste für e<strong>in</strong>e komplexe Problemstellung, die entsprechend der Problemstellung<br />

Schneiders aus e<strong>in</strong>er Frage <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Lösungsidee besteht (erstes Theorieelement), e<strong>in</strong><br />

Modell formuliert werden. Legt man beispielsweise die Frage: „Welcher Zweck lässt<br />

sich Institutionen zuordnen?“ zugr<strong>und</strong>e, erfordert das Erarbeiten e<strong>in</strong>er Muster-Hypothese<br />

die Betrachtung e<strong>in</strong>zelner Erfahrungssachverhalte, die unter den – zuvor zu explizierenden<br />

– Begriff der Institution zu subsumieren s<strong>in</strong>d. Hier wird der Begriffsexplikation<br />

Schneiders gefolgt, der unter Institutionen Regel- <strong>und</strong> Handlungssysteme versteht.<br />

38<br />

Für diese e<strong>in</strong>zelnen Erfahrungssachverhalte ist die <strong>in</strong> der Problemstellung aufgeworfene<br />

Frage zu beantworten. Aufgr<strong>und</strong> deren Komplexität ist die Erarbeitung e<strong>in</strong>es Modells<br />

für alle Institutionen, für das konkrete Erfahrungssachverhalte, konkrete Institutionen,<br />

als Musterbeispiele anzuführen wären, gr<strong>und</strong>sätzlich nicht möglich. Vielmehr ist es notwendig,<br />

für jeden dieser im Verhältnis zur Frage konkreteren Erfahrungssachverhalte<br />

e<strong>in</strong> Modell zu formulieren. Die Frage: „Welcher Zweck lässt sich Institutionen zuordnen?“<br />

wäre für e<strong>in</strong>zelne Institutionen zu beantworten. Lassen die mit Hilfe von Modellen<br />

erarbeiteten Antworten für e<strong>in</strong>zelne Erfahrungssachverhalte (Modellergebnisse) e<strong>in</strong>e<br />

Regelmäßigkeit vermuten, bilden diese Erfahrungssachverhalte die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Muster-Hypothese <strong>und</strong> damit für die Beantwortung der Frage. Aus jeweils auf die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Erfahrungssachverhalte (die e<strong>in</strong>zelnen Institutionen) bezogenen Antworten, den<br />

Modellergebnissen, wird die allgeme<strong>in</strong>ere Antwort auf die Fragestellung, die Muster-<br />

Hypothese, <strong>in</strong>duktiv hergeleitet. 39 Die Erfahrungssachverhalte s<strong>in</strong>d Musterbeispiele<br />

(drittes Theorieelement) <strong>und</strong> damit richtungsweisend für e<strong>in</strong>e abstrakte Muster-Hypothese<br />

(viertes Theorieelement).<br />

Es sei angenommen, das Modellergebnis <strong>und</strong> damit die Antwort auf die Frage: „Welcher<br />

Zweck lässt sich Institutionen zuordnen?“ hieße <strong>in</strong> Bezug auf die Institution „Insolvenztatbestand<br />

Überschuldung“: „Überschuldung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten,<br />

die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Gläubiger-Schuldner-Beziehung aus<br />

e<strong>in</strong>er vermögenslosen Zahlungsunfähigkeit resultieren“. 40 Weiter sei unterstellt, auch<br />

für andere Institutionen ergäbe die Modellbildung, ihr Zweck bestünde <strong>in</strong> der Verr<strong>in</strong>ge-<br />

38<br />

39<br />

40<br />

Siehe Schneider (1995), S. 23, siehe kritisch zu diesem Institutionenverständnis Haase (2000),<br />

S. 148-154.<br />

Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>en paradigmatischen Schluss, bei dem von e<strong>in</strong>em Beispiel auf ähnliche<br />

neue E<strong>in</strong>zelfälle geschlossen wird, siehe hierzu Gethmann (1995), S. 33.<br />

Siehe hierzu Zisowski (2001), S. 46-48.<br />

12<br />

151


ung spezifischer E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten. Beispielsweise besteht nach Schneider<br />

der Zweck der Institution „Haftungsbegrenzung“ dar<strong>in</strong>, die Bereitschaft zur Übernahme<br />

der Unternehmensleitung zu fördern. Damit verb<strong>und</strong>en wäre die Übernahme der mit<br />

dem Ausüben der Geschäftsführung <strong>und</strong> Vertretung e<strong>in</strong>hergehenden E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten.<br />

Mit der Übertragung der Unternehmensleitung entstehen neue E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten,<br />

die wiederum das Vorhandense<strong>in</strong> anderer Institutionen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

solcher zur Rechnungslegung, erklären. Die Erfahrungssachverhalte wären Musterbeispiele<br />

für e<strong>in</strong> Muster, das <strong>in</strong> der Muster-Hypothese: „Institutionen dienen der Verr<strong>in</strong>gerung<br />

von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten“ zum Ausdruck kommt. 41<br />

Anders als bei Schneider besteht die Problemlösung (zweites Element, nach Schneider<br />

der Strukturkern) nicht aus e<strong>in</strong>em Modell bezogen auf die Fragestellung. Sie ist vielmehr<br />

e<strong>in</strong>e offene Menge von Modellen, deren Ergebnisse erstens die Frage der Problemstellung<br />

für e<strong>in</strong>zelne Erfahrungssachverhalte, auf die sich die Problemstellung bezieht,<br />

beantworten <strong>und</strong> deren Ergebnisse zweitens e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit vermuten lassen.<br />

Wie viele solcher Modellergebnisse vorliegen müssen, damit von e<strong>in</strong>er Regelmäßigkeit<br />

gesprochen werden kann, kann nicht generell beantwortet werden. Vielmehr ist <strong>in</strong> Relation<br />

zu der jeweiligen Problemstellung zu begründen, warum nach der Auffassung des<br />

betreffenden Wissenschaftlers e<strong>in</strong>e bestimmte Anzahl von Modellergebnissen als ausreichend<br />

angesehen wird.<br />

Als Zwischenfazit kann somit festgehalten werden, dass e<strong>in</strong>e Muster-Hypothese die <strong>in</strong>haltlich<br />

formulierte Antwort auf e<strong>in</strong>e Problemstellung darstellt. Die Problemstellung<br />

besteht aus e<strong>in</strong>er Frage nach e<strong>in</strong>er ökonomischen Regelmäßigkeit sowie e<strong>in</strong>er Lösungsidee.<br />

Die Problemlösung setzt sich aus den Modellen von Erfahrungssachverhalten zusammen,<br />

soweit diese <strong>in</strong> den Anwendungsbereich der Problemstellung fallen <strong>und</strong> soweit<br />

deren Modellergebnisse auf e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit h<strong>in</strong>weisen. Die Muster-Hypothese<br />

verallgeme<strong>in</strong>ert diese Regelmäßigkeit. Denn die Muster-Hypothese basiert auf der Behauptung,<br />

dass die Regelmäßigkeit nicht nur für diese Erfahrungssachverhalte (Musterbeispiele),<br />

sondern darüber h<strong>in</strong>aus für zahlreiche Anwendungsfälle der Problemstellung<br />

gilt.<br />

In der Perspektive des von Schneider vertretenen Modellverständnisses drängt sich jedoch<br />

die Frage auf, <strong>in</strong>wieweit Modellergebnisse als Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Hypothese –<br />

41<br />

Es besteht nicht die Intention, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Theorie zu formulieren, sondern den abstrakten Aufbau<br />

anhand e<strong>in</strong>es betriebswirtschaftlichen Beispiels zu explizieren. Dieses Beispiel wurde gewählt,<br />

weil Schneider implizit e<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese aufstellt. Denn nach Schneider (1997), S. 47,<br />

bezwecken Institutionen „e<strong>in</strong>e bessere Vorhersehbarkeit, also e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung von Unsicherheitsursachen<br />

bei ungleich verteiltem unvollständigen Wissen“. Siehe zur Institution „Haftungsbegrenzung“<br />

Schneider (1997), S. 523-528, sowie zur Institution „Rechnungslegung“ Schneider (1995),<br />

S. 23 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 54. Auch wenn es nicht um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Überprüfung geht, sei darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, dass mit dieser Muster-Hypothese nicht behauptet wird, dass Institutionen genau zu<br />

diesem Zweck auch tatsächlich gegründet wurden, siehe noch e<strong>in</strong>mal Fußnote 27.<br />

13<br />

152


<strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Aussage über die Wirklichkeit – geeignet s<strong>in</strong>d. Denn Schneider stellt<br />

heraus, Modellergebnisse seien logisch aus den Prämissen erzwungen (logisch wahr)<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e solche Aussage „unterrichtet unter ihren Voraussetzungen nicht über die<br />

Wirklichkeit, weil das Gegenteil e<strong>in</strong> Widerspruch wäre“ 42 . H<strong>in</strong>sichtlich des Modellbegriffs<br />

wird gr<strong>und</strong>sätzlich dem von Schneider vertretenen erfahrungswissenschaftlichen<br />

Modellverständnis gefolgt. Modelle stellen e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild der Wirklichkeit<br />

dar. 43 Der von Schneider verwandte <strong>und</strong> hier übernommene Modellbegriff ist heterogen.<br />

Er umfasst sowohl formale Modelle – <strong>und</strong> <strong>in</strong>soweit auch vollständig axiomatisierte<br />

Modelle als deren Teilmenge – als auch verbale Modelle. 44 Fraglich ist jedoch, welche<br />

Modellergebnisse logisch aus den Prämissen erzwungen werden <strong>und</strong> warum e<strong>in</strong>e solche<br />

Aussage nicht über die Wirklichkeit unterrichtet. Schneiders Ausführungen s<strong>in</strong>d sowohl<br />

im H<strong>in</strong>blick auf das Attribut „logisch wahr“ als auch auf den Modellbegriff, der mit<br />

diesem Attribut beschrieben wird, nicht e<strong>in</strong>heitlich: Wenn Schneider <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Ausführungen zur logischen Wahrheit auf e<strong>in</strong>e Tautologie im S<strong>in</strong>ne Wittgenste<strong>in</strong>s<br />

rekurriert, 45 ist zu vermuten, dass er sich auf vollständig axiomatisierte Modelle<br />

beschränkt. Hierfür spricht auch, dass Schneider an anderer Stelle hervorhebt, <strong>in</strong> der<br />

Betriebswirtschaftslehre existierten nur wenige vollständige Axiomatisierungen, die e<strong>in</strong><br />

Modellergebnis logisch erzw<strong>in</strong>gen würden. 46 In diesem S<strong>in</strong>ne logisch wahr s<strong>in</strong>d nach<br />

Schneider nur die allgeme<strong>in</strong>e Gleichgewichtstheorie <strong>und</strong> bestimmte Fassungen des<br />

Bernoulli-Pr<strong>in</strong>zips. 47 Demzufolge hätten nach Schneider <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerlehre nahezu ausschließlich solche Modelle Bedeutung, die nicht streng axiomatisiert<br />

s<strong>in</strong>d. Dies gilt vor allem dann, wenn e<strong>in</strong>e Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung<br />

des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt wird. Wenn <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerlehre aber (nahezu) ausschließlich Modelle verwandt werden, die (im S<strong>in</strong>ne<br />

42<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46<br />

47<br />

Schneider (2001), S. 19, siehe auch S. 507.<br />

Siehe zu e<strong>in</strong>er Präzisierung des erfahrungswissenschaftlichen Modellbegriffs Küttner (1981), S. 77-<br />

96. Siehe h<strong>in</strong>gegen ablehnend zum erfahrungswissenschaftlichen Modellbegriff Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />

O‘Reilly (1991), S. 240-255.<br />

Dagegen erfasst Küttner (1981), S. 93, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Modelldef<strong>in</strong>ition nur formale Modelle. Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />

O‘Reilly beschränkt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Interpretationsvorschlag für den Strukturkern Schneiders nicht<br />

auf formale Präzisierungen, sondern bezieht auch verbale Ausführungen mit e<strong>in</strong>. Aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es<br />

Modellverständnisses, siehe Fußnote 43, spricht er jedoch nicht von Modellen, sondern von der „auf<br />

die empirischen Fragestellungen bezogene[-n] Explikation der Lösungsidee“, siehe Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />

O‘Reilly (1991), S. 141 [dort auch das wörtliche Zitat].<br />

Siehe Schneider (2001), S. 498 f.<br />

Siehe Schneider (1995), S. 180.<br />

Siehe Schneider (2001), S. 18.<br />

14<br />

153


Schneiders) die Anforderung logischer Wahrheit nicht erfüllen, hat der E<strong>in</strong>wand<br />

Schneiders, Modelle würden nicht über die Wirklichkeit unterrichten, ke<strong>in</strong>e Relevanz. 48<br />

Im Zusammenhang mit se<strong>in</strong>en gr<strong>und</strong>legenden Ausführungen zu den Elementen e<strong>in</strong>er<br />

Theorie identifiziert Schneider „logisch“ mit „widerspruchsfrei“ <strong>und</strong> bezieht sich sowohl<br />

auf sämtliche (mith<strong>in</strong> nicht nur vollständig axiomatisierte) formalen Modelle als<br />

auch auf verbale Modelle. Denn Schneider stellt hier heraus: „Verbale <strong>und</strong> formale Modelle<br />

im ökonomischen S<strong>in</strong>ne sollen „widerspruchsfreie, also ‚logische‘ Schlußfolgerungen<br />

auszusprechen erlauben“ 49 . Nach dieser Interpretation von „logisch“ hat aber<br />

Schneiders E<strong>in</strong>wand, logisch wahre Aussagen (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie) würden nicht<br />

über die Wirklichkeit <strong>in</strong>formieren, bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Diktion ke<strong>in</strong>e Relevanz. 50<br />

Obwohl Schneider im Weiteren dann auch „nur widerspruchsfreie“ verbale <strong>und</strong> formale<br />

Modelle im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie (ke<strong>in</strong>e Information über die Wirklichkeit) charakterisiert,<br />

sche<strong>in</strong>t es vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er fehlenden gegenteiligen Begründung gerechtfertigt,<br />

diesen formalen <strong>und</strong> verbalen Modellen nicht generell die Eignung zur Information<br />

über die Wirklichkeit abzusprechen.<br />

Fraglich ist allerd<strong>in</strong>gs, wie überprüft werden kann, ob das, was Modelle über die Wirklichkeit<br />

sagen, der Wirklichkeit oder – genauer formuliert – e<strong>in</strong>em Wirklichkeitsausschnitt<br />

entspricht. Wenn Modelle e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts<br />

darstellen, stehen sie <strong>in</strong>soweit der Wirklichkeit entgegen, als dass sie die Komplexität<br />

der Wirklichkeit reduzieren müssen. 51 Beispielsweise blendet e<strong>in</strong>e Modellbildung<br />

der Institution Überschuldung, die die Person des Gläubigers auf „re<strong>in</strong>e“ Fremdkapitalgeber<br />

reduziert, hybride F<strong>in</strong>anzierungsformen aus. Komplexitätsreduktion ist unvermeidbar,<br />

weil ansonsten nichts über die Wirklichkeit <strong>in</strong> Erfahrung zu br<strong>in</strong>gen wäre.<br />

Deshalb wird von Modellen nicht verlangt, dass sie e<strong>in</strong>en Wirklichkeitsausschnitt <strong>in</strong><br />

48<br />

49<br />

50<br />

51<br />

Deshalb wird im Folgenden nicht thematisiert, ob „vollständige Axiomatisierung“ mit „logisch<br />

wahr“ im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie zu identifizieren ist. Siehe zur möglichen Interpretation e<strong>in</strong>es<br />

Axiomensystems als System empirischer Hypothesen Popper (1994), S. 43 f. Ebenso kann<br />

unberücksichtigt bleiben, ob e<strong>in</strong>e Trennung <strong>in</strong> analytische (logische) <strong>und</strong> synthetische (empirische)<br />

Aussagen überhaupt möglich ist. Siehe kritisch Qu<strong>in</strong>e (1979), S. 27-42, <strong>und</strong> hierzu Stegmüller<br />

(1987), S. 225-247.<br />

Schneider (2001), S. 19. Wenn Schneider h<strong>in</strong>gegen auf S. 491 hervorhebt, dass der „Schluß von den<br />

Voraussetzungen e<strong>in</strong>es Gedankenmodells auf e<strong>in</strong>e Aussage über die Wirklichkeit ... e<strong>in</strong>er logischen<br />

Überprüfung zugänglich se<strong>in</strong>“ muss, sche<strong>in</strong>t Schneider logische Überprüfung oder logische Erklärung<br />

mit theoretisch f<strong>und</strong>ierter Überprüfung zu identifizieren.<br />

Wenn Modellergebnisse etwas über die Wirklichkeit sagen, ist allerd<strong>in</strong>gs nicht ersichtlich, warum<br />

Schneider e<strong>in</strong>e umfassende Abgrenzung von Modellergebnis <strong>und</strong> Hypothese vornimmt, siehe hierzu<br />

Schneider (2001), S. 18-25, 498-508.<br />

So ist wohl auch Schneider (2001), S. 19, zu verstehen, wenn er ausführt, dass „Beobachtungssachverhalte<br />

‚augensche<strong>in</strong>lich‘ kaum jemals e<strong>in</strong>em Modellergebnis [entsprechen], weil <strong>in</strong> der Wirklichkeit<br />

immer weit mehr Abhängigkeiten bestehen als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vere<strong>in</strong>fachten gedanklichen Abbild berücksichtigt<br />

werden können“.<br />

15<br />

154


vollem Umfang abbilden, sondern dass es sich um e<strong>in</strong>e „strukturgleiche Abbildung der<br />

Welt der Tatsachen“ 52 handelt.<br />

Lehnt man e<strong>in</strong>en naiven Realismus ab, ist die Struktur der Wirklichkeit bzw. e<strong>in</strong>es Ausschnitts<br />

der Wirklichkeit jedoch nicht unmittelbar zu beobachten. Vielmehr ist das, was<br />

man unter der Struktur der Wirklichkeit versteht, wiederum durch die Lösungsidee der<br />

aufzustellenden Theorie oder e<strong>in</strong>e andere Theorie vorbelastet. Es handelt sich bei e<strong>in</strong>em<br />

Modell mith<strong>in</strong> nicht um e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts, sondern<br />

vielmehr um e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Weise gesehenen<br />

Wirklichkeitsausschnitt[-e-]s“. 53 Ob das, was das Modell zu erklären behauptet, auch<br />

tatsächlich die Wirklichkeit erfasst, hängt von der Akzeptanz der Theorie ab, <strong>in</strong> deren<br />

Licht die Wirklichkeit betrachtet wird. E<strong>in</strong> Modell als Abbild der Wirklichkeit zu qualifizieren,<br />

bedarf somit immer e<strong>in</strong>er solchen Akzeptanz <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>er Entscheidung. 54<br />

In der Perspektive der Theoriebeladenheit der Beobachtung kann die Forderung nach<br />

Strukturgleichheit deshalb nur heißen, dass das Modell nicht zu der Struktur <strong>in</strong> Widerspruch<br />

treten darf, die die Wirklichkeit der Theorie nach hat, <strong>in</strong> deren Perspektive die<br />

Wirklichkeit betrachtet wird. 55 Damit stellt das Kriterium e<strong>in</strong>er strukturgleichen Abbildung<br />

zwar ke<strong>in</strong>en objektiven Maßstab zur Bewertung e<strong>in</strong>es Modells dar, es<br />

konkretisiert aber die Anforderung, Modelle haben widerspruchsfrei zu se<strong>in</strong>. Widerspruchsfreiheit<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er strukturgleichen Abbildung heißt, dass sich Modelle konsistent<br />

<strong>in</strong> die Struktur der aufzustellenden Theorie sowie <strong>in</strong> die Struktur „verwandter“<br />

Theorien e<strong>in</strong>fügen.<br />

Wenn beispielsweise die Wirklichkeit im Lichte e<strong>in</strong>er Theorie betrachtet wird, die von<br />

der Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens<br />

ausgeht, wäre es widersprüchlich, e<strong>in</strong> neoklassisches Modell, das „echte“ Unsicherheit<br />

ausschließt, zu formulieren. 56 Typische Anwendungsfälle für e<strong>in</strong>en solchen Verstoß gegen<br />

e<strong>in</strong>e strukturgleiche Abbildung bilden Hybrid-Modelle. Hybrid-Modelle zeichnen<br />

sich durch nicht mite<strong>in</strong>ander zu vere<strong>in</strong>barende Annahmen, also Annahmen unterschiedlicher<br />

Strukturen, oder dadurch aus, dass die Annahmen <strong>und</strong> das Modellergebnis nicht<br />

kompatibel s<strong>in</strong>d. Widersprechende Annahmen liegen vor, wenn sich ausschließende<br />

52<br />

53<br />

54<br />

55<br />

56<br />

Schneider (2001), S. 499, siehe zu diesem Postulat für die Betriebswirtschaftslehre auch<br />

Schmidt/Schor (1987), S. 31. Siehe zur Strukturgleichheit allgeme<strong>in</strong> Andersson (1992), S. 370 f.<br />

Siehe zur (verfälschenden) Vere<strong>in</strong>fachung sowie zum <strong>in</strong>direkten Realitätsbezug erfahrungswissenschaftlicher<br />

Modelle Küttner (1981), S. 79 f., 84 [das wörtliche Zitat auf S. 80, Hervorhebung durch<br />

die Verfasser<strong>in</strong>], Küttner (1983), S. 352 f. Siehe sehr kritisch zum Abbildverständnis von Modellen<br />

Bretzke (1980), S. 213-221.<br />

Siehe hierzu Küttner (1983), S. 355-360.<br />

Siehe auch Jansen (2000), S. 72 f.<br />

Siehe zu dieser Position auch Jansen (2000), <strong>in</strong>sbesondere S. 239-241, 281 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

S. 93-107.<br />

16<br />

155


Elemente der neoklassischen Modellwelt mit Elementen der „realen“ Welt verknüpft<br />

werden. E<strong>in</strong> Hybrid-Modell wäre beispielsweise gegeben, wenn e<strong>in</strong> vollkommener <strong>und</strong><br />

vollständiger Kapitalmarkt zur Ermittlung e<strong>in</strong>er allokationseffizienten Überschuldung<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt wird 57 oder mithilfe e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarktes<br />

Besteuerungsregelungen für Sachverhalte gef<strong>und</strong>en werden, die aus Institutionen<br />

zur Vermeidung von Liquiditätsproblemen entstehen. Fehlende Kompatibilität zwischen<br />

Annahmen <strong>und</strong> Modellergebnis s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der modelltheoretischen Steuerwirkungsanalyse<br />

Wagners möglich. 58 Im Rahmen der modelltheoretischen Steuerwirkungsanalyse<br />

implementiert Wagner Gew<strong>in</strong>nermittlungsregeln des geltenden Steuerrechts <strong>in</strong> das<br />

Kapitalwertmodell. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, dass das Kapitalwertmodell an die Prämisse<br />

e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkts geb<strong>und</strong>en ist, 59 stellt sich die<br />

folgende Frage: Wenn e<strong>in</strong> vollkommener <strong>und</strong> vollständiger Kapitalmarkt, mith<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

pareto-effizientes Marktgleichgewicht, gegeben ist, wie kann dann im Fall der Implementierung<br />

von Steuerrechtsnormen des geltenden Rechts gleichzeitig e<strong>in</strong>e Besteuerung<br />

gegeben se<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>erseits das Zustandekommen e<strong>in</strong>es pareto-effizienten Marktgleichgewichts<br />

verh<strong>in</strong>dert, die Effizienz des unterstellten vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen<br />

Kapitalmarkts jedoch nicht bee<strong>in</strong>flusst? E<strong>in</strong> Modellergebnis mit dem Inhalt, dass, wenn<br />

e<strong>in</strong> pareto-effizienter Kapitalmarkt vorliegt <strong>und</strong> die steuerliche Gew<strong>in</strong>nermittlung dem<br />

geltenden Steuerrecht entspricht, es zu Steuerwirkungen kommt, die Pareto-Effizienz<br />

bee<strong>in</strong>trächtigen, ist widersprüchlich.<br />

Die strukturgleiche Abbildung im Rahmen e<strong>in</strong>er Theorie, die von „echter“ Unsicherheit<br />

<strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens ausgeht, erfordert zwar die Vermeidung von Hybrid-Modellen.<br />

Damit verb<strong>und</strong>en ist jedoch nicht der Verzicht auf die Betrachtung e<strong>in</strong>er<br />

neoklassischen Modellwelt. Vielmehr ist es häufig unerlässlich, die neoklassische Modellwelt<br />

als e<strong>in</strong>e Welt zugr<strong>und</strong>e zu legen, <strong>in</strong> der bestimmte Probleme ke<strong>in</strong>e Bedeutung<br />

haben, aus deren Betrachtung sich jedoch H<strong>in</strong>weise ergeben, warum <strong>in</strong> der realen Welt<br />

bestimmte ökonomische Sachverhalte relevant s<strong>in</strong>d. Die neoklassische Modellwelt hat<br />

dann den Charakter e<strong>in</strong>es „Nullpunkts“, beispielsweise def<strong>in</strong>ieren Marktgleichgewichtsmodelle<br />

„e<strong>in</strong>en Nullpunkt von Wettbewerb“ 60 . Dieser neoklassischen Modellwelt wird<br />

e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong><br />

Ungleichverteilung des Wissens gegenübergestellt. In e<strong>in</strong>em solchen – regelmäßig <strong>in</strong> ei-<br />

57<br />

58<br />

59<br />

60<br />

Siehe Zisowski (2001), S. 56-59, <strong>und</strong> zur Ablehnung von Hybrid-Modellen generell Richter/<br />

Furubotn (2003), S. 438, 446-449, 547-552.<br />

Siehe Wagner (1999), S. 20-24, Wagner/Schwenk (2003), S. 377-385, Wagner (2004), S. 239-243.<br />

Siehe Schmidt/Terberger (1997), S. 90-97, <strong>und</strong> zu den Merkmalen vollständiger Konkurrenzmärkte<br />

generell Schumann/Meyer/Ströbele (1999), S. 22-24, 207-209.<br />

Schneider (2001), S. 387 [im Orig<strong>in</strong>al hervorgehoben]. Siehe zu e<strong>in</strong>er solchen Deutung neoklassischer<br />

Modelle als „Extremfälle“ auch Albert (1998), S. 74.<br />

17<br />

156


ner natürlichen Sprache verfassten 61 – Modell können aus den Modellannahmen ke<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>deutigen Modellergebnisse abgeleitet werden. Beispielsweise sagt das Modellergebnis<br />

„Überschuldung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten, die <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er bestimmten Gläubiger-Schuldner-Beziehung aus e<strong>in</strong>er vermögenslosen Zahlungsunfähigkeit<br />

resultieren“, nicht, dass sich rational handelnde Wirtschaftssubjekte für die<br />

Institution Überschuldung entscheiden würden oder dass rational handelnde Wirtschaftssubjekte<br />

Überschuldung anderen Formen des Gläubigerschutzes vorziehen<br />

würden. E<strong>in</strong>e solche Aussage, mit der implizit wiederum versucht würde, konkrete Situationen<br />

zu erklären, scheitert unter „echter“ Unsicherheit bereits an der<br />

Unbestimmtheit rationalen Verhaltens. 62<br />

Modellergebnisse s<strong>in</strong>d damit zwar als Gr<strong>und</strong>lage für die Formulierung e<strong>in</strong>er Hypothese<br />

geeignet, weil sie über die Wirklichkeit unterrichten. Gleichwohl s<strong>in</strong>d aber diese E<strong>in</strong>schränkungen<br />

im H<strong>in</strong>blick auf die pragmatischen Elemente der Modellbildung <strong>und</strong> ihre<br />

fehlende Str<strong>in</strong>genz zu beachten. Letzteres gilt zum<strong>in</strong>dest immer dann, wenn e<strong>in</strong>e Welt<br />

mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt wird.<br />

Entsprechend ist auch die Muster-Hypothese im H<strong>in</strong>blick auf ihren empirischen Wahrheitsgehalt,<br />

ihre Übere<strong>in</strong>stimmung mit der Wirklichkeit, zahlreichen E<strong>in</strong>schränkungen<br />

unterworfen.<br />

E<strong>in</strong>e Muster-Hypothese, so lässt sich resümieren, ist die <strong>in</strong>haltlich formulierte Antwort<br />

auf e<strong>in</strong>e Problemstellung bestehend aus e<strong>in</strong>er Frage nach e<strong>in</strong>er ökonomischen Regelmäßigkeit<br />

sowie e<strong>in</strong>er Lösungsidee. Die Problemlösung umfasst die Modelle von Erfahrungssachverhalten,<br />

soweit diese <strong>in</strong> den Anwendungsbereich der Problemstellung fallen<br />

<strong>und</strong> soweit deren Modellergebnisse auf e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit h<strong>in</strong>weisen. Die Muster-<br />

Hypothese beruht auf e<strong>in</strong>er Verallgeme<strong>in</strong>erung dieser Regelmäßigkeit dah<strong>in</strong>gehend,<br />

dass sie nicht nur für diese Erfahrungssachverhalte (Musterbeispiele), sondern darüber<br />

h<strong>in</strong>aus für zahlreiche Anwendungsfälle der Problemstellung gilt.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich kann aus der Muster-Hypothese <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>em Erfahrungssachverhalt<br />

e<strong>in</strong>e – gemessen an den Idealkriterien e<strong>in</strong>er deduktiv-nomologischen Erklärung<br />

– unvollkommene Erklärung für diesen Sachverhalt abgeleitet werden. 63 Aus der<br />

Muster-Hypothese: „Institutionen dienen der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicher-<br />

61<br />

62<br />

63<br />

Unabhängig davon, ob formale oder verbale Modelle verwandt werden, s<strong>in</strong>d Übersetzungsvorgänge<br />

<strong>in</strong> dem <strong>in</strong> Kapitel 2 skizzierten S<strong>in</strong>ne notwendig.<br />

Siehe Fußnote 20.<br />

Siehe von Hayek (1972), S. 36 f. Siehe zu den Adäquatheitsbed<strong>in</strong>gungen für deduktiv-nomologische<br />

Erklärungen Stegmüller (1983), S. 124-128, <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er Übersicht über unvollkommene Erklärungen<br />

S. 143-154. Siehe zu „Erklärungen im Pr<strong>in</strong>zip“, mit der die hier aufgezeichnete Vorgehensweise<br />

Parallelen aufweist, Albert (1998), S. 163-165, 256-258 317-319. Allerd<strong>in</strong>gs besteht e<strong>in</strong><br />

wesentlicher Unterschied dar<strong>in</strong>, dass nach Albert ökonomische Modelle <strong>in</strong> soziologische Theorien<br />

e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />

18<br />

157


heiten“ <strong>und</strong> der s<strong>in</strong>gulären Aussage: „Die für bestimmte Rechtsformen vorgesehene<br />

handelsrechtliche Pflichtprüfung ist e<strong>in</strong>e Institution“, lässt sich deduzieren: „Die handelsrechtliche<br />

Pflichtprüfung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten.“<br />

Die Überprüfung der Muster-Hypothese erfordert, den Erfahrungssachverhalt „handelsrechtliche<br />

Pflichtprüfung“ im Modell abzubilden. Entspricht das Modellergebnis der<br />

Muster-Hypothese, so besagt dieses Ergebnis zunächst nur, dass die Muster-Hypothese<br />

für diesen Erfahrungssachverhalt modellangemessen ist. E<strong>in</strong>e darüber h<strong>in</strong>ausgehende<br />

Aussage über die Angemessenheit der Hypothese für den vom Modell abgebildeten Erfahrungssachverhalt<br />

unterliegt den durch die Theoriebeladenheit der Beobachtung entstehenden<br />

E<strong>in</strong>schränkungen. Deshalb ist umgekehrt e<strong>in</strong> widersprechendes Modellergebnis<br />

nicht geeignet, die Muster-Hypothese an der Erfahrung zu widerlegen. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

ließe e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit widersprechende Modellergebnisse gr<strong>und</strong>sätzlich zu. Die<br />

Muster-Hypothese – <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en die Theorie – ist erst dann e<strong>in</strong>zuschränken<br />

oder aufzugeben, wenn ihr zahlreiche widerspruchsfrei formulierte Modellergebnisse<br />

entgegenstehen. 64 Die nach dem hier vertretenen Wissenschaftsverständnis postulierte<br />

Überprüfung von Muster-Hypothesen an der Wirklichkeit be<strong>in</strong>haltet vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

der Theoriebeladenheit der Beobachtung sowie komplexer ökonomischer Sachverhalte<br />

nur, die Erfahrung nicht völlig auszublenden. Der Anspruch empirischer Überprüfung<br />

ist zu relativieren, bleibt aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>geschränkter Form als Anforderung an e<strong>in</strong>e<br />

Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage bestehen: „Es ist z. B.<br />

nicht zugelassen“, so konstatiert Volker Gadenne <strong>in</strong> kritisch-rationalistischer Perspektive,<br />

„die Empirie gar nicht mehr zu Rate zu ziehen <strong>und</strong> Theorien nur noch a priori zu<br />

beurteilen <strong>und</strong> es ist auch nicht zugelassen, aufgetretene Widersprüche zu ignorieren“. 65<br />

Trotz dieser Mängel hat e<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne „schwaches“ korrespondenztheoretisches<br />

Wahrheitsverständnis gegenüber e<strong>in</strong>em konsenstheoretischen Wahrheitsverständnis den<br />

Vorzug, die Wahrheit e<strong>in</strong>er Aussage nicht nur an den Konsens von Wissenschaftlern,<br />

sondern zum<strong>in</strong>dest an den Konsens von Wissenschaftlern im H<strong>in</strong>blick auf die Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

der Aussage mit der Wirklichkeit zu b<strong>in</strong>den. 66 E<strong>in</strong>e gesicherte Widerlegung<br />

von Hypothesen durch die Erfahrung ist jedoch nicht möglich. Ebenso scheitert e<strong>in</strong><br />

64<br />

65<br />

66<br />

Siehe zum unklaren Geltungsbereich von Muster-Hypothesen von Hayek (1972), S. 17 f., Bretzke<br />

(1980), S. 184 f.<br />

Siehe Gadenne (2002), S. 58-69 [das wörtliche Zitat auf S. 68], siehe auch Albert (1998), S. 61.<br />

E<strong>in</strong> pragmatisches Wahrheitsverständnis, das die Wahrheit von Aussagen an den Erfolg von Handlungen<br />

knüpft, ruft ebenfalls Schwierigkeiten hervor. Denn dieses führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Regress dah<strong>in</strong>gehend,<br />

dass festgelegt werden müsste, wann e<strong>in</strong> solcher Erfolg e<strong>in</strong>getreten ist. Siehe zu e<strong>in</strong>em<br />

Überblick über unterschiedliche Wahrheitsauffassungen Skirbekk (1977), S. 8-34, Andersson (1992)<br />

<strong>und</strong> kritisch zum konsenstheoretischen <strong>und</strong> pragmatischen Wahrheitsverständnis Tugendhat/Wolf<br />

(1983), S. 236-238, Keuth (1989), S. 129-140.<br />

19<br />

158


strenger Theorienvergleich im H<strong>in</strong>blick auf den Gehalt e<strong>in</strong>er Muster-Hypothese. 67 E<strong>in</strong><br />

Theorienvergleich beschränkt sich darauf, Gründe anzuführen, warum die Wirklichkeit<br />

durch e<strong>in</strong>e Muster-Hypothese besser abgebildet wird als durch e<strong>in</strong>e widersprechende<br />

Muster-Hypothese. E<strong>in</strong> weiteres Vergleichskriterium ist die Konsistenz der Problemlösung<br />

<strong>und</strong> ihre Vere<strong>in</strong>barkeit mit verwandten Theorien. In diesem S<strong>in</strong>ne konstatiert<br />

Hans Albert für das Erarbeiten von Theorien <strong>und</strong> ihren Vergleich: „Die Idee e<strong>in</strong>es Bewährungskalküls,<br />

also e<strong>in</strong>es Algorithmus, der es erlauben würde, e<strong>in</strong>e solche Beurteilung<br />

<strong>in</strong> jedem Fall auf e<strong>in</strong>e strenge Kalkulation mit e<strong>in</strong>deutigen Ergebnissen zu stützen,<br />

wird heute nur noch selten vertreten. Ebensowenig wie die Theorienbildung ist die Bewertung<br />

von Theorien e<strong>in</strong>e Tätigkeit, für die mechanisch anzuwendende Verfahren zur<br />

Verfügung stehen.“ 68<br />

4 Ausblick<br />

Nach Albert ist die Auffassung Poppers, theoretische Aussagen ihrer Falsifikation auszusetzen,<br />

um so „<strong>in</strong> möglichst strengem Wettbewerb das relativ haltbarste“ 69 theoretische<br />

System auszuwählen, „auf Problemlösungen aller Art“ 70 zu applizieren. Folgt man<br />

diesem methodologischen Revisionismus Alberts, ist das hier vorgelegte Fortschrittskonzept<br />

selbst e<strong>in</strong>er kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerd<strong>in</strong>gs wurde bereits <strong>in</strong> der<br />

E<strong>in</strong>leitung herausgestellt, dass die Qualität e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts nicht an dem gewonnenen<br />

Erkenntnisfortschritt gemessen werden kann, sondern nur Gründe angeführt<br />

werden können, die für oder gegen dieses Konzept sprechen. Es ist offensichtlich, dass<br />

es sich hierbei nicht um e<strong>in</strong>e abschließende Begründung handelt. 71 Was spräche gegen<br />

das <strong>in</strong> diesem Beitrag vorgelegte Fortschrittskonzept? Begründete kritische E<strong>in</strong>wendungen<br />

wären erstens überzeugende Argumente gegen die <strong>in</strong> Kapitel 2 getroffenen gr<strong>und</strong>legenden<br />

Annahmen. Hierzu gehören das kritisch-realistische Wirklichkeitsverständnis<br />

sowie die hiermit e<strong>in</strong>hergehende Entscheidung, e<strong>in</strong>er schwachen korrespondenztheoretischen<br />

Wahrheitsauffassung zu folgen, die Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit<br />

<strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens <strong>und</strong> schließlich die Annahme, dass ökonomische<br />

Sachverhalte <strong>in</strong> abstrakten Muster-Hypothesen erfasst werden können. Zu e<strong>in</strong>er<br />

zweiten Kategorie begründeter E<strong>in</strong>wendungen gehören Argumente, die Widersprüche<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Schneider sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen zum Gehalt e<strong>in</strong>er Hypothese, siehe Schneider (2001),<br />

S. 500-504, implizit an die Allgeme<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> Bestimmtheit von Hypothesen im S<strong>in</strong>ne Poppers anzuknüpfen,<br />

siehe Popper (1994), S. 83-89.<br />

Albert (1998), S. 66 f. Siehe zur Problematik des Theorienvergleichs im Zusammenhang mit komplexen<br />

Phänomenen von Hayek (1967c), S. 19 f.<br />

Popper (1994), S. 16.<br />

Albert (1987), S. 92 [im Orig<strong>in</strong>al hervorgehoben]. Siehe zur Hervorhebung der Falsifikation<br />

Poppers als „wichtigste“ Regel des kritischen Rationalismus Gadenne (2002), S. 69.<br />

Siehe noch e<strong>in</strong>mal Radnitzky (1992), S. 470, Gadenne (2002), S. 76 f.<br />

20<br />

159


<strong>in</strong>nerhalb der Methodologie oder Widersprüche im H<strong>in</strong>blick auf zugr<strong>und</strong>e gelegte wissenschaftstheoretische<br />

Erkenntnisse aufzeigen. E<strong>in</strong>e dritte Form kritischer E<strong>in</strong>wendungen<br />

bestünde dar<strong>in</strong>, die Umsetzbarkeit des vorgelegten Konzepts <strong>in</strong> Frage zu stellen.<br />

Der Vorwurf e<strong>in</strong>er fehlenden Anwendbarkeit könnte erhoben werden, wenn Muster-<br />

Hypothesen nicht zu erarbeiten wären, mith<strong>in</strong> die Methodologie e<strong>in</strong>en nicht e<strong>in</strong>zulösenden<br />

Anspruch stellen würde.<br />

In Analogie zur Methodik Poppers beim Vergleich von Theorien würden solche E<strong>in</strong>wände<br />

nur dann zur Ablehnung dieser Methodologie führen, wenn gleichzeitig e<strong>in</strong>e andere,<br />

plausiblere vorgeschlagen würde. Diese müsste zu den Fragen Stellung nehmen,<br />

auf die sich das kritisierte Konzept bezieht <strong>und</strong> darüber h<strong>in</strong>aus den vorgetragenen E<strong>in</strong>wendungen<br />

besser als jenes gerecht werden. E<strong>in</strong>wände gegen die gr<strong>und</strong>legenden Annahmen<br />

würden die hier vorgelegte Methodologie <strong>in</strong>sgesamt oder <strong>in</strong> Teilbereichen <strong>in</strong><br />

Frage stellen, wenn sie mit dem Entwurf e<strong>in</strong>es konsistenten <strong>und</strong> praxistauglichen Konzepts<br />

e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>gen. Besteht die Kritik bei gleichen gr<strong>und</strong>legenden Annahmen dar<strong>in</strong>,<br />

Widersprüche aufzuzeigen, ist e<strong>in</strong>e andere Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er Muster-<br />

Hypothese im Vergleich zu der hier vorgelegten Konzeption vorzuziehen, wenn sie bei<br />

gleicher Praxistauglichkeit weniger Widersprüche aufwiese. Wird h<strong>in</strong>gegen die Umsetzbarkeit<br />

beanstandet, müsste das andere Konzept bei m<strong>in</strong>destens gleicher Konsistenz<br />

besser umsetzbar se<strong>in</strong>.<br />

Es ist jedoch offensichtlich, dass sich auch diese Leistungsmerkmale e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts<br />

nicht abschließend begründen lassen können. Sich am eigenen Schopf aus dem<br />

Sumpf ziehen zu können, ist das Privileg Münchhausens. Der Wissenschaftler, der <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er kritisch-rationalistischen Perspektive die Messung wissenschaftlichen Fortschritts<br />

als e<strong>in</strong>e eigenständige wissenschaftliche Problematik versteht, hat nur die Möglichkeit,<br />

diese Kriterien zur Bewertung e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts selbst wiederum e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Prüfung auszusetzen. 72<br />

72<br />

Siehe zum Münchhausen-Trilemma Albert (1991), S. 13-18.<br />

21<br />

160


Literaturverzeichnis<br />

Bei Schriften, die mehrfach unverändert publiziert wurden, gibt das Literaturverzeichnis<br />

neben dem Jahr der Erstveröffentlichung die Ausgabe an, nach der zitiert wurde.<br />

Die Kurzzitierweise im Text nennt lediglich das Jahr der Erstveröffentlichung.<br />

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25<br />

164


FUNKTIONEN UND ZIELE<br />

WISSENSCHAFTLICHEN FORTSCHRITTS AUS<br />

STRUKTURATIONSTHEORETISCHER PERSPEKTIVE<br />

von Dipl.-Kfm. Stephan Cappallo<br />

Essen, den 15. September 2005<br />

165<br />

I


INHALTSVERZEICHNIS<br />

INHALTSVERZEICHNIS ..................................................................................II<br />

1 EINLEITUNG............................................................................................1<br />

2 DIE STRUKTURATIONSTHEORIE ALS<br />

WISSENSCHAFTSPROGRAMM...........................................................3<br />

2.1 Die ontologische Position der Strukturationstheorie..............................4<br />

2.2 Das zugr<strong>und</strong>e gelegte Menschenbild ........................................................9<br />

2.3 Die methodologische Position der Strukturationstheorie ....................11<br />

2.4 Epistemologische Schlussfolgerungen für strukturationstheoretische<br />

Forschungsarbeit .....................................................................................16<br />

3 INTENTIONALITÄT AUS STRUKTURATIONSTHEORTISCHER<br />

PERSPEKTIVE .......................................................................................18<br />

3.1 Intentionalität als Denkfigur der Strukturationstheorie .....................18<br />

3.2 Intentionalität <strong>in</strong> der wissenschaftlichen <strong>und</strong> nichtwissenschaftlichen<br />

Praxis.........................................................................................................20<br />

4 FUNKTIONEN UND ZIELE STRUKTURATIONSTHEORETISCH<br />

FUNDIERTEN ERKENNTNISFORTSCHRITTS ..............................24<br />

4.1 Funktionen strukturationstheoretischer Forschungsarbeiten.............24<br />

4.2 Zielsetzungen strukturationstheoretisch f<strong>und</strong>ierter Branchenanalysen<br />

...................................................................................................................27<br />

LITERATURVERZEICHNIS ...........................................................................32<br />

166<br />

II


1 EINLEITUNG<br />

Die von dem britischen Soziologen Anthony Giddens entwickelte Strukturationstheorie<br />

ist e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende Theorie des Sozialen, die mittlerweile von e<strong>in</strong>er<br />

ganzen Reihe von Autoren der Organisations- <strong>und</strong> Managementforschung dazu<br />

verwendet wird, soziale Phänomene auf unterschiedlichen Aggregationsebenen zu<br />

analysieren. 1<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich kann die Strukturationstheorie auf zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen<br />

Ebenen zum Erkenntnisfortschritt beitragen: E<strong>in</strong>mal kann dies auf e<strong>in</strong>er konzeptionellen<br />

Ebene erfolgen, <strong>in</strong>dem die abstrakten Analysekategorien der Strukturationstheorie<br />

<strong>in</strong> Beziehung zu Theorien mit e<strong>in</strong>em bestimmten Gegenstandsbezug<br />

gesetzt werden (etwa zu Branchentheorien). Zum anderen kann die Strukturationstheorie<br />

empirische Forschungsvorhaben f<strong>und</strong>ieren. Die Strukturationstheorie<br />

bildet dann die Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Untersuchung e<strong>in</strong>es bestimmten Untersuchungsgegenstandes,<br />

wie etwa e<strong>in</strong>er konkreten Branche.<br />

Die Strukturationstheorie ist aber nicht nur als e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Sozialtheorie anzusehen.<br />

Sie argumentiert <strong>in</strong> wesentlichen Teilen auf e<strong>in</strong>er metatheoretischen<br />

Ebene <strong>und</strong> trägt deshalb starke Züge e<strong>in</strong>es Wissenschaftsprogramms. Dabei ist sie<br />

speziell auf die Entwicklung e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrativen, die „klassischen“ Paradigmendiskussionen<br />

überw<strong>in</strong>denden anthroposophischen <strong>und</strong> methodologischen Sichtweise<br />

ausgerichtet. Daher ist es die Strukturationstheorie selbst, die den metatheoretischen<br />

Kontext für die Bestimmung von Erkenntniszielen bildet. Diese sollten ihre<br />

Anwendung bei der Untersuchung theoretischer <strong>und</strong>/oder empirischer betriebswirtschaftlicher<br />

Fragestellungen leiten <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Messung des <strong>in</strong><br />

diesen Untersuchungen erzielten Erkenntnisfortschrittes darstellen.<br />

Ziel des vorliegenden Beitrages ist es aufzuzeigen, welche Funktionen <strong>und</strong> Ziele<br />

Wissenschaft aus der Perspektive der Strukturationstheorie hat. Damit sollen Bezugsgrößen<br />

erarbeitet werden, an denen wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt<br />

festgemacht werden kann. Dies gilt zum e<strong>in</strong>en für Analysen, die die Strukturationstheorie<br />

selbst auf konzeptueller oder auf empirischer Ebene nutzbar machen<br />

wollen. Beurteilbar s<strong>in</strong>d aber auch die Beiträge, die ähnliche metatheoretische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen haben, aber die Begriffskategorien der Strukturationstheorie nicht<br />

explizit zugr<strong>und</strong>e legen. Ferner können die strukturationstheoretischen Funktionen<br />

1 Vgl. beispielsweise die bei Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 90f. zusammengetragene Literatur.<br />

167<br />

1


<strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Arbeitens e<strong>in</strong>e Anregungsfunktion für die Messung<br />

des Erkenntnisfortschrittes von Arbeiten anderer Wissenschaftskulturen erfüllen.<br />

Dazu werden im folgenden Kapitel zentrale Argumentationsfiguren der Strukturationstheorie<br />

vorgestellt, <strong>in</strong>dem sie als Wissenschaftsprogramm rekonstruiert wird.<br />

Als Orientierungshilfe dazu dient die viel beachtete 2 Klassifikation von Organisationstheorien<br />

von Burrell <strong>und</strong> Morgan, 3 weil sie Parameter e<strong>in</strong>es Wissenschaftsprogramms<br />

nennt, die zur Strukturgebung der wissenschaftstheoretischen Aussagen<br />

der Strukturationstheorie dienen können. Anschließend wird die strukturationstheoretische<br />

Denkfigur der Intentionalität näher betrachtet <strong>und</strong> erweitert, weil<br />

sie die deutlichsten H<strong>in</strong>weise für die Bildung von Wissenschaftsfunktionen <strong>und</strong><br />

-zielen, speziell auch solcher für unterschiedliche Anwendungskontexte wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis liefert. Das abschließende Kapitel (4) zeigt auf diesen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen Funktionen <strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Fortschritts auf, wie sie aus<br />

der Strukturationstheorie hervorgehen <strong>und</strong> <strong>in</strong> verschiedenen Kontexten ihre spezifische<br />

Ausprägung erfahren. Als Beispiel wurde dazu die Analyse von Branchen<br />

gewählt. 4<br />

2 Siehe etwa He<strong>in</strong>dl, M. (1996), S. 115 <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Hassard, J. (1993), S. 65 <strong>und</strong> die dort<br />

angegebene Literatur. Auch im deutschsprachigen Raum wurde diese Klassifikation breit rezipiert.<br />

So etwa auch <strong>in</strong> Knyphausen, D. z. (1988), S. 67 ff. oder Kirsch, W. (1997), S. 95 f.<br />

3 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />

4 Verschiedene Teile dieses Beitrages stammen, mit mehr oder weniger starken <strong>in</strong>haltlichen <strong>und</strong><br />

formalen Änderungen, aus Cappallo, S. (2005).<br />

168<br />

2


2 DIE STRUKTURATIONSTHEORIE ALS WISSENSCHAFTSPRO-<br />

GRAMM<br />

Die Strukturationstheorie ist e<strong>in</strong> Wissenschaftsprogramm, weil sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em, mit<br />

we<strong>in</strong>igen Ausnahmen, kohärenten Aussagensystem den Zweck wissenschaftlichen<br />

Arbeitens, das Wesen des Forschungsgegenstandes <strong>und</strong> adäquate Vorgehensweisen<br />

se<strong>in</strong>er Untersuchung begründet. 5 Um der Aufarbeitung dieser wissenschaftstheoretischen<br />

Aussagen der Strukturationstheorie e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Struktur zu geben,<br />

werden im Folgenden die von Burrell/Morgan verwendeten Unterscheidungskriterien<br />

objektivistischer <strong>und</strong> subjektivistischer Sozialtheorien zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt: 6 ontologische, epistemologische, anthropologische <strong>und</strong> methodologische<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen.<br />

Ferner soll die Strukturationstheorie durch die Bezugnahme auf andere Wissenschaftsprogramme<br />

zusätzlich (jeweils kurz) profiliert werden. Stark vere<strong>in</strong>fachend<br />

sollen dazu zum e<strong>in</strong>en Konzeptionen, die auf dem „kritischen Rationalismus“<br />

oder ähnlichen Sichtweisen aufbauen 7 , <strong>und</strong> zum anderen solche, die sog. „konstruktivistische“<br />

Positionen e<strong>in</strong>nehmen, verwendet werden. 8 Bei der Darstellung<br />

der aktuellen, wissenschaftstheoretischen Diskussion <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften<br />

(<strong>und</strong> auch darüber h<strong>in</strong>aus) werden diese beiden oft idealisierend als zwei „konkurrierende“<br />

Wissenschaftsprogramme e<strong>in</strong>ander gegenübergestellt. 9<br />

Die Strukturationstheorie lässt sich nun zwischen den sich widersprechenden<br />

(Extrem-)Positionen beider Wissenschaftsprogramme e<strong>in</strong>ordnen – nicht zuletzt<br />

deshalb, weil Giddens 10 die Strukturationstheorie direkt auf die Lösung verschiedener<br />

Inkommensurabilitätsprobleme <strong>in</strong> dieser Paradigmendiskussion ausrichtet. 11<br />

5 Vgl. Scherer, A. (1999), S. 5 <strong>in</strong> Anlehnung an Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />

6 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979). Vgl. Hassard, J. (1993), S. 67 ff. zu e<strong>in</strong>er kritischen Analyse<br />

der Klassifikation von Burrell/Morgan.<br />

7 Diese gelten, trotz vielfältiger Vorbehalte (vgl. Scherer, A. (1999), S. 11 ff. <strong>und</strong> die dort angegebene<br />

Literatur), als die <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre<br />

dom<strong>in</strong>ante wissenschaftstheoretische Konzeption. Vgl. Dachler, P. (1992),<br />

S. 169 f.; Ste<strong>in</strong>mann, H.; Braun, W. (1979), S. 191; Morgan, G.; Smircich, L. (1980), S. 492.<br />

8 Aus Gründen der sprachlichen Vere<strong>in</strong>fachung werden im Folgenden die Vertreter der jeweiligen<br />

Lager auch als „Objektivisten“ oder „Positivisten“ bzw. Vertreter des Objektivismus oder des<br />

Positivismus <strong>und</strong> „Konstruktivisten“ bzw. Vertreter des Konstruktivismus bezeichnet.<br />

9 Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt wenig mehr als e<strong>in</strong>e grobe Skizze der verschiedenen Sichtweisen.<br />

Deshalb sei an den entsprechenden Stellen zur Vertiefung auf die relevante Literatur<br />

verwiesen.<br />

10 Sofern nicht anders gekennzeichnet, beruht die Rekonstruktion der Strukturationstheorie auf<br />

Giddens Monografien von 1976, 1979 <strong>und</strong> 1984.<br />

11 Vgl. Weaver, G.; Gioia, D. (1994); Osterloh, M.; Grand, S. (1997), S. 355.<br />

169<br />

3


Dabei ist die Strukturationstheorie nicht lediglich als e<strong>in</strong>e Kompromissformel im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es „sowohl als auch“ anzusehen. Vielmehr wird e<strong>in</strong> eigenständiges Programm<br />

entwickelt, dessen Kerngedanken die Dualismen der Paradigmendiskussion<br />

überw<strong>in</strong>den <strong>und</strong> nicht nur gegenläufige Argumentationen abwägen, ohne sie<br />

jedoch <strong>in</strong> ihrer Gültigkeit anzutasten. 12 Die folgende Abbildung bildet diese Eigenständigkeit<br />

der Strukturationstheorie unter Bezugnahme auf die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Dimensionen von Wissenschaftsprogrammen nach Burrell/Morgan graphisch zum<br />

Ausdruck.<br />

ontologische<br />

Position<br />

metaphysischer<br />

Realismus<br />

Wissens-, Handlungs-<br />

<strong>und</strong><br />

Systemkonzeption<br />

konstruktivistischer<br />

Relativismus<br />

epistemologische<br />

Position<br />

Positivismus<br />

Alternieren<br />

Anti –<br />

Positivismus<br />

anthropologische<br />

Position<br />

Determ<strong>in</strong>ismus<br />

Dualität von<br />

Strukturen<br />

Voluntarismus<br />

methodologische<br />

Position<br />

makro /<br />

nomothetisch<br />

E<strong>in</strong>klammern/<br />

Methodenpluralismus<br />

mikro /<br />

ideographisch<br />

Abbildung 1: Die Rekonstruktion der Strukturationstheorie entlang der Merkmalsdimensionen von<br />

Wissenschaftsprogrammen 13<br />

2.1 Die ontologische Position der Strukturationstheorie<br />

Ontologische Gr<strong>und</strong>annahmen von Wissenschaftsprogrammen beschreiben f<strong>und</strong>amentale<br />

Sichtweisen <strong>in</strong> Bezug auf das Wesen des Erkenntnisgegenstandes. 14 Sie<br />

spezifizieren, was unter „Wirklichkeit“ verstanden wird, <strong>und</strong> damit das, was überhaupt<br />

Gegenstand wissenschaftlichen Erkenntnis<strong>in</strong>teresses se<strong>in</strong> kann. Ontologische<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen spannen so e<strong>in</strong>en Phänomenbereich auf, auf den die wissenschaftliche<br />

Aktivität ausgerichtet werden kann, den diese aber nicht transzendieren<br />

kann. Insofern def<strong>in</strong>ieren sie auch, was im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen<br />

erreicht werden kann.<br />

12 Vgl. Ortmann, G.; Sydow, J. (2001), S. 425 ff.<br />

13 Quelle: Selbst erstellt nach Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />

14 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979), S. 1. Zum Begriff der “Ontologie” im Allgeme<strong>in</strong>en siehe<br />

Schütte, R.; Zelewski, S. (2002), S. 162 f.<br />

170<br />

4


Die ontologischen Gr<strong>und</strong>annahmen, auf denen Wissenschaftsprogramme beruhen,<br />

betreffen im Kern zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>ene Gr<strong>und</strong>fragestellungen:<br />

• Zum e<strong>in</strong>en ist danach zu fragen, ob die zu untersuchenden Phänomene<br />

der Realität von Individuen (e<strong>in</strong>schließlich des Forschers selbst)<br />

erdacht werden oder ob es sich um objektiv gegebene, außerhalb <strong>in</strong>dividueller<br />

Wahrnehmung liegende Tatsachen handelt.<br />

• E<strong>in</strong>e zweite, hiermit verb<strong>und</strong>ene, ontologische Fragestellung lautet, ob<br />

soziales Geschehen bestimmten Regeln oder gar Gesetzen folgt oder<br />

ob es sich völlig ungesteuert entfaltet.<br />

(1) Im H<strong>in</strong>blick auf den ontologischen Status der Wirklichkeit lassen sich idealisiert<br />

zwei extreme, sich diametral widersprechende Sichtweisen gegenüberstellen:<br />

Vertreter des Objektivismus verfolgen e<strong>in</strong>en sog. metaphysischen Realismus 15 :<br />

„(...) e<strong>in</strong>e objektive Realität existiert (…) <strong>und</strong> deren zutreffende sprachliche Darstellung<br />

e<strong>in</strong> Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis se<strong>in</strong> muß“ 16 . Der Forscher erhält<br />

als erkennendes Subjekt über se<strong>in</strong>en Wahrnehmungsapparat e<strong>in</strong>en direkten Zugang<br />

zur „Realität“ bzw. dem Objekt se<strong>in</strong>es Forschungs<strong>in</strong>teresses. 17 In dieser<br />

Sichtweise ist e<strong>in</strong>e klare Trennung zwischen dem Objekt <strong>und</strong> dem Subjekt der<br />

Forschungsanstrengungen (nämlich dem Untersuchungsgegenstand <strong>und</strong> dem Forscher)<br />

nicht nur möglich, sondern auch Gr<strong>und</strong>lage jeden Erkenntnisfortschrittes. 18<br />

Der Phänomenbereich, den der Forscher erschließen kann, ist pr<strong>in</strong>zipiell unendlich<br />

<strong>und</strong> wird nur durch die Möglichkeiten se<strong>in</strong>es Forschungs<strong>in</strong>strumentariums<br />

begrenzt.<br />

Dieser Dualismus von Objekt <strong>und</strong> Subjekt wird von dem Lager der Konstruktivisten<br />

aufgehoben. Basis ihrer Argumentation ist dabei die Sichtweise, dass Individuen<br />

die sie umgebende Welt <strong>in</strong> ihrem Bewusstse<strong>in</strong> konstruieren <strong>und</strong> anhand von<br />

Namen, Konzepten, vordef<strong>in</strong>ierten Kategorien usw. strukturieren. 19 Diese Position<br />

wird von den Vertretern des Konstruktivismus durch jeweils verschiedene Argumentationsl<strong>in</strong>ien<br />

zu belegen versucht. Dazu zählen etwa die auf Berger <strong>und</strong><br />

Luckmann (1980) zurückgehende sozial-konstruktivistische Sichtweise sowie der<br />

15 Vgl. Glasersfeld, E. v. (1981), S. 24 f.<br />

16 Raffée, H.; Abel, B. (1979), S. 5 (Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al weggelassen).<br />

17 Vgl. Scherer, A. (1999), S. 5 ff.; Dachler, P. (1992), S. 170.<br />

18 Vgl. Dachler, P. (1992), S. 170; Hosk<strong>in</strong>g, D. (2000), S. 147 ff.<br />

19 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979), S. 4.<br />

171<br />

5


neurophysiologisch/philosophisch geprägte kognitionstheoretische Konstruktivismus.<br />

20<br />

In der Literatur s<strong>in</strong>d verschiedene „Vermittlungsversuche“ zwischen dem metaphysischen<br />

Rationalismus <strong>und</strong> dem konstruktivistischen Relativismus zu f<strong>in</strong>den. 21<br />

E<strong>in</strong>e Gruppe von Autoren unterbreitet dabei Vorschläge zur Erarbeitung geteilter<br />

ontologischer Gr<strong>und</strong>annahmen. 22 Andere wiederum entwickeln eigenständige<br />

ontologische Positionen. 23<br />

Obwohl die Strukturationstheorie nur vage Bezug auf die Relativismus-<br />

Realismus-Debatte nimmt, lassen sich ihre Argumentationsfiguren auf diese Fragestellung<br />

beziehen. 24 Ausgangspunkt ist dabei die E<strong>in</strong>sicht, dass die soziale<br />

Wirklichkeit zwar unabhängig von dem Forschungssubjekt existieren mag, aber<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur durch dessen kognitive Systeme erfahrbar ist. Auch für Giddens<br />

existiert die soziale Wirklichkeit nicht außerhalb <strong>in</strong>dividueller Wissensstrukturen<br />

<strong>und</strong> der mit ihnen verknüpften Handlungen. 25 Diese Sichtweise arbeitet er <strong>in</strong> zentralen<br />

Bestandteilen se<strong>in</strong>er Strukturationstheorie aus: So entwickelt er e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende<br />

Wissenskonzeption, auf der e<strong>in</strong>e Handlungskonzeption <strong>und</strong> dann e<strong>in</strong>e<br />

Konzeption sozialer Systeme aufbauen. Der grobe Zusammenhang zwischen den<br />

Kernkonzepten dieser (Meta-)Theorie sozialer Systeme wird im folgenden Abschnitt<br />

erläutert. 26<br />

20 Vgl. als Überblick <strong>und</strong> für andere konstruktivistische Argumentationen Knorr-Cet<strong>in</strong>a, K. (1989),<br />

Prawat, R. (1996), Mir, R.; Watson, A. (2000) oder Rüegg-Stürm, J. (2001).<br />

21 Neben diesen „Vermittlungsversuchen“ <strong>in</strong> der wissenschaftstheoretischen Inkommensurabilitätsdebatte,<br />

die <strong>in</strong> unterschiedlicher Form die Etablierung eigenständiger wissenschaftstheoretischer<br />

Positionen anstreben, werden noch andere Vorschläge zum Umgang mit dem Inkommensurabilitätsproblem<br />

unterbreitet. Hierzu gehört beispielsweise die enge Anlehnung an e<strong>in</strong> Wissenschaftsprogramm<br />

oder die Multiparadigma-Forschung. Vgl. zu diesen Alternativen Scherer,<br />

A. (1999), S. 20 ff., Hassard, J. (1993), S. 85 ff., Gioia, D.; Pitre, E. (1990) oder Van de Ven,<br />

A.; Poole, M. (1988).<br />

22 Als Beispiele für solche Vorschläge seien der sog. methodische Konstruktivismus (vgl. hierzu<br />

Lueken, G. (1992), S. 174 ff. sowie Scherer, A.; Ste<strong>in</strong>mann, H. (1999), S. 524 ff.) sowie Hunts<br />

„Realist Theory of Empirical Test<strong>in</strong>g“ (vgl. Hunt, S. (1994)) genannt.<br />

23 Siehe z. B. Morgan, G.; Smircich, L. (1980), S. 492 ff., für die der radikalkonstruktivistische<br />

Relativismus <strong>und</strong> der positivistische Realismus jeweils Extreme e<strong>in</strong>es Kont<strong>in</strong>uums darstellen,<br />

zwischen denen sie e<strong>in</strong>e Reihe <strong>in</strong>termediärer Sichtweisen def<strong>in</strong>ieren.<br />

24 Auf die ontologische Natur weiter Teile der Strukturationstheorie weisen Giddens selbst, aber<br />

auch andere Autoren h<strong>in</strong>. Hierzu zählt z. B. Cohen, I. (1989), der von dem „ontologischen Potenzial“<br />

der Strukturationstheorie spricht. Auch Ortmann, G.; Sydow, J.; W<strong>in</strong>deler, A. (2000)<br />

akzentuieren den eher wissenschaftstheoretischen Charakter der Strukturationstheorie, <strong>in</strong>dem<br />

sie sie als e<strong>in</strong>e „Metatheorie“ ansehen.<br />

25 Vgl. Giddens, A. (1981), S. 171.<br />

26 Hierbei sollte angemerkt werden, dass Giddens zentrale Ideen se<strong>in</strong>er Theorie mehrdeutig formuliert.<br />

Vgl. Walgenbach, P. (1995), S. 773 ff.; Duschek, S. (2001), S. 61 <strong>und</strong> die dort angegebene<br />

Literatur. Dies zw<strong>in</strong>gt den Forscher, der die Strukturationstheorie verwenden möchte, zu ei-<br />

172<br />

6


Das Aussagensystem der Strukturationstheorie kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Wissens-, Handlungs<strong>und</strong><br />

Systemkonzeption untergliedert werden. Kern der Wissenskonzeption ist<br />

Giddens Gr<strong>und</strong>modell der menschlichen Psyche. Diese sieht er als e<strong>in</strong>en Vorrat,<br />

bestehend aus vergangenen Erfahrungen, den sog. Er<strong>in</strong>nerungsspuren (memory<br />

traces), der als Moderator <strong>und</strong> Speicher von <strong>in</strong>dividuellen Wahrnehmungen fungiert.<br />

Teile dieses Wissensvorrates werden über implizite oder explizite Mechanismen<br />

der Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong> konkreten Handlungssituationen abgerufen <strong>und</strong> reproduziert.<br />

Dieser extern <strong>in</strong>duzierte Abruf von Wissen geschieht permanent <strong>und</strong><br />

begründet die Fähigkeit von Menschen zur Aufnahme <strong>und</strong> Verarbeitung von sensorischen<br />

Reizen aus der Umwelt. Giddens bezeichnet diese Fähigkeit als „Bewusstse<strong>in</strong>“.<br />

Weniger als Fähigkeit, sondern als Zustand betrachtet kann man hierfür<br />

auch die Bezeichnung „aktualisierte menschliche Psyche“ wählen. Unter Verwendung<br />

bestimmter Mechanismen steuert die aktualisierte menschliche Psyche<br />

die Handlungen von Individuen. Handlungen s<strong>in</strong>d dabei räumlich <strong>und</strong> zeitlich<br />

situierte E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlich ablaufenden Strom kausal verknüpfter<br />

(anderer) Handlungen oder Interaktionen, falls weitere Personen anwesend s<strong>in</strong>d.<br />

Wenn diese Handlungen (man könnte allgeme<strong>in</strong>er auch von Verhaltensweisen<br />

reden) zu unterschiedlichen Zeiten <strong>und</strong> an unterschiedlichen Orten mit e<strong>in</strong>er gewissen<br />

Ähnlichkeit (re-)produziert werden, dann stellen sie für Giddens e<strong>in</strong>e Praktik<br />

dar. Diese kann als soziale Praktik gelten, wenn das raumzeitlich stabile Verhalten<br />

(bzw. Handeln) mehrerer Aktoren wechselseitig aufe<strong>in</strong>ander Bezug nimmt<br />

(<strong>in</strong>terdependent ist) <strong>und</strong> auf diese Weise soziale Beziehungen begründet. Interdependente<br />

soziale Praktiken konstituieren soziale Systeme. Erreichen diese sozialen<br />

Systeme e<strong>in</strong>e sehr große raumzeitliche Ausdehnung, werden sie zu Institutionen.<br />

Der Zusammenhang zwischen der menschlichen Psyche, der aktualisierten<br />

menschlichen Psyche, dem Handeln <strong>und</strong> den sozialen Praktiken ist dabei nicht<br />

e<strong>in</strong>seitig (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er unidirektionalen Wirkungskette), sondern wechselseitig:<br />

Soziale Praktiken bee<strong>in</strong>flussen über ihre Eigenschaften <strong>in</strong>dividuelles Handeln;<br />

<strong>in</strong>dividuelles Handeln formt das Bewusstse<strong>in</strong>; Bewusstse<strong>in</strong>szustände werden <strong>in</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerungsspuren abgespeichert. Abbildung 2 gibt diese Zusammenhänge graphisch<br />

wieder.<br />

ner <strong>in</strong>tensiven Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den genannten Arbeiten von Giddens <strong>und</strong> zum Schließen<br />

der von Giddens offen gelassenen Interpretationsspielräume. Daher ist die im Folgenden<br />

zu f<strong>in</strong>dende Darstellung der Strukturationstheorie weniger als Zusammenfassung, sondern eher<br />

als Rekonstruktion anzusehen. Dabei bemüht sich die Rekonstruktion um e<strong>in</strong>e Auslegung der<br />

Ideen von Giddens, die e<strong>in</strong>e Kohärenz des Theoriegebäudes herstellt <strong>und</strong> gleichzeitig häufig<br />

geäußerte Kritikpunkte an der Theorie berücksichtigt.<br />

173<br />

7


Gr<strong>und</strong>modell<br />

der menschlichen<br />

Psyche<br />

Er<strong>in</strong>nerungsmechanismen<br />

aktualisierte<br />

menschliche<br />

Psyche<br />

Mechanismen<br />

der Handlungssteuerung<br />

Handlungen<br />

Mechanismen<br />

der Systemreproduktion<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

Abbildung 2: Zentrale Denkfiguren der Strukturationstheorie <strong>und</strong> ihr Zusammenhang (1/3) 27<br />

(2) Auch <strong>in</strong> Bezug auf die zweite zentrale ontologische Annahme von Wissenschaftsprogrammen,<br />

ob nämlich die soziale Realität gemäß Regeln oder Gesetzmäßigkeiten<br />

zustande kommt oder nicht, 28 lassen sich zwei Positionen idealisiert<br />

gegenüberstellen.<br />

Vertreter des Kritischen Rationalismus gehen implizit oder explizit von der Existenz<br />

von Logiken aus, die die Entwicklung von Phänomenen der (sozialen) Realität<br />

bestimmen. (Diese Gr<strong>und</strong>annahme bildet e<strong>in</strong>e Prämisse des deduktiv nomologischen<br />

Erklärungsmodells, das e<strong>in</strong>en zentralen Bestandteil der Epistemologie des<br />

kritischen Rationalismus bildet. 29 ) Die dort zugr<strong>und</strong>e gelegte Annahme von konstanten<br />

Zusammenhängen zwischen Variablen der (sozialen) Realität wird von<br />

Vertretern des radikalen Konstruktivismus stark relativiert. Aus dem Blickw<strong>in</strong>kel<br />

konstruktivistischer Positionen ist die Existenz struktureller Invarianzen des Sozialen<br />

zwar gr<strong>und</strong>sätzlich nicht ausschließbar. Wie aber alle anderen Phänomene<br />

der Realität s<strong>in</strong>d auch die Gesetze des Sozialen (wenn es sie denn tatsächlich gibt)<br />

nur über Wahrnehmungsprozesse zugänglich <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich e<strong>in</strong> Produkt<br />

menschlicher Vorstellungskraft.<br />

Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis kommt Giddens (vgl. Giddens, A. (1984), S. 343 ff.<br />

<strong>und</strong> (1979), S. 242 f.). Für ihn ersche<strong>in</strong>t der empirische Nachweis <strong>in</strong>varianter<br />

Gesetzmäßigkeiten sozialen Verhaltens sehr unwahrsche<strong>in</strong>lich. 30 Zwei Gründe<br />

führt er hierfür an: Erstens bedürfen Gesetze, um zu wirken, e<strong>in</strong>es Mediums. Dieses<br />

Medium ist im Falle sozialer Gesetze das menschliche Handeln. Der Versuch,<br />

dieses Handeln auf bestimmte Gründe zurückzuführen, wie dies die Formulierung<br />

von Gesetzen <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften versucht, hat die moderierende Wirkung<br />

von situationsspezifischen, historisch gewachsenen Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halten<br />

27 Quelle: Selbst erstellt unter Bezug auf Giddens, A. (1976/1979/1984).<br />

28 Vgl. Bunge, M. (1967), S. 376.<br />

29 Wie Weick, K. (1989), S. 517 zeigt, schlägt sich dieses Erklärungsmodell <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Varianten der Theoriebildung nach dem Kritischen Rationalismus nieder.<br />

30<br />

Die Denkfiguren der Strukturationstheorie selbst können dies allerd<strong>in</strong>gs kaum begründen: Zwar<br />

bezieht Giddens an verschiedenen Stellen se<strong>in</strong>es Werkes zu diesem ontologischen Sachverhalt<br />

e<strong>in</strong>e klare Stellung. Diese lässt sich, trotz ihrer Anschlussfähigkeit, aber nur <strong>in</strong> Teilen aus der<br />

Strukturationstheorie herleiten.<br />

174<br />

8


des Handelnden zu kontrollieren. Handelnde erzeugen durch verschiedene kognitive<br />

Prozesse e<strong>in</strong>e Instabilität sozialwissenschaftlicher Kausalzusammenhänge, da<br />

die Individuen, auf die sich die Gesetzesaussage bezieht, um Standardverhaltensmuster<br />

zu erzeugen, auch e<strong>in</strong>e Art „Standardbewusstse<strong>in</strong>“ aufweisen müssten.<br />

Zweitens weist er darauf h<strong>in</strong>, dass sowohl sozialwissenschaftliche Theorien als<br />

auch die Fakten, die zur Falsifizierung oder (auch nur vorläufigen) Verifizierung<br />

der Theorien herangezogen werden, stets <strong>in</strong>terpretationsbedürftig s<strong>in</strong>d. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Umstände schlägt Giddens vor, anstatt des naturwissenschaftlich belegten<br />

Begriffs „Gesetz“ <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften den unschärferen Term<strong>in</strong>us „Verallgeme<strong>in</strong>erungen“<br />

zu verwenden.<br />

Verallgeme<strong>in</strong>erungen weisen im Gegensatz zu Gesetzen mit „naturwissenschaftlicher<br />

Güte“ e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geschränkten Geltungsanspruch auf: Während „Gesetze“ aus<br />

positivistischer Sicht bis zu ihrer Widerlegung kontextungeb<strong>und</strong>en 31 gelten, verstehen<br />

sich sozialwissenschaftliche Verallgeme<strong>in</strong>erungen im von Giddens verwendeten<br />

S<strong>in</strong>ne stärker kontextgeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> eher kurzfristig geltend. Neben dem<br />

oben genannten Gründen spricht dafür, dass soziale Phänomene eng mit ihrem<br />

Kontext verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d: E<strong>in</strong>zelne Handlungen ergeben sich aus e<strong>in</strong>er Historie<br />

unzähliger anderer Handlungen <strong>und</strong> bilden ihrerseits die Antezedenzen nachfolgender<br />

Handlungen. Auf diese Weise entsteht das Bild e<strong>in</strong>es Stroms kausal verknüpfter<br />

Handlungen, wie es sich <strong>in</strong> der strukturationstheoretischen Denkfigur der<br />

„Durée“ bei Giddens 32 wieder f<strong>in</strong>det.<br />

2.2 Das zugr<strong>und</strong>e gelegte Menschenbild<br />

Sozialwissenschaftliche Theoriebildung be<strong>in</strong>haltet immer die Analyse menschlichen<br />

Verhaltens <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e explizite oder implizite Stellungnahme zu dem Verhältnis<br />

zwischen dem Individuum e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er (sozialen) Umwelt andererseits.<br />

Typischerweise werden <strong>in</strong> Bezug hierauf (wie so oft) zwei Extrempositionen<br />

e<strong>in</strong>ander gegenüber gestellt: der Voluntarismus <strong>und</strong> der Determ<strong>in</strong>ismus. 33 E<strong>in</strong>e<br />

extrem determ<strong>in</strong>istische Position betrachtet den Menschen <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Handeln als<br />

31 Vgl. Giddens, A. (1979), S. 246. „Kontextungeb<strong>und</strong>en“ bezieht sich auf die Annahme, dass bei<br />

Vorliegen gleicher Antezedenzbed<strong>in</strong>gungen die im Gesetz beschriebenen Zustände (Dann-<br />

Komponente) e<strong>in</strong>treten. Alles andere würde als Widerlegung des Gesetzes betrachtet.<br />

32 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 3.<br />

33 So etwa <strong>in</strong> Burell, G.; Morgan, G. (1979), S. 6, Astley, G.; Van de Ven, A. (1983), S. 246 ff.,<br />

Perich, R. (1992), S. 184 ff. <strong>und</strong> Stetter, T. (1994), S. 262 ff. Vgl. diese Beiträge auch für e<strong>in</strong>e<br />

ausführlichere Darstellung der beiden Extrempositionen.<br />

175<br />

9


vollständig durch die Situation <strong>und</strong> die Umwelt bestimmt. 34 Aus der Warte des<br />

extremen Voluntarismus h<strong>in</strong>gegen handelt der Mensch vollkommen autonom <strong>und</strong><br />

nach freien Stücken. 35 Zwischen diesen beiden Gegenpolen existiert e<strong>in</strong> breiter<br />

<strong>in</strong>termediärer Bereich an Sichtweisen, <strong>in</strong> denen sowohl determ<strong>in</strong>istische als auch<br />

voluntaristische Faktoren zur Erklärung menschlichen Handelns herangezogen<br />

werden. 36 Die meisten Theorien, die <strong>in</strong> diesem Bereich anzusiedeln wären, äußern<br />

sich kaum explizit zu dem ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Menschenbild <strong>und</strong> den damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Problemen. Dabei werden <strong>in</strong> der Literatur verschiedene Möglichkeiten<br />

diskutiert, e<strong>in</strong>e solche Position auch wissenschaftstheoretisch zu untermauern.<br />

E<strong>in</strong>e Möglichkeit ist das Entwickeln von oder das Anknüpfen an e<strong>in</strong>er die beiden<br />

Gegenpole mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>denden Konzeption. 37 E<strong>in</strong>e solche Konzeption ist<br />

die Strukturationstheorie. Mit ihrer zentralen Argumentationsfigur, der sog. „Dualität<br />

von Strukturen“, versucht sie den Dualismus zwischen Voluntarismus <strong>und</strong><br />

Determ<strong>in</strong>ismus aufzulösen.<br />

In der Strukturationstheorie s<strong>in</strong>d es soziale Strukturen, die die Handlungsautonomie<br />

des Aktors begrenzen <strong>und</strong> gleichzeitig erzeugen. Sie s<strong>in</strong>d (auch) enthalten <strong>in</strong><br />

den Wissensstrukturen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage der Aktor se<strong>in</strong> Handeln koord<strong>in</strong>iert<br />

<strong>und</strong> die ihm so auch die Grenzen se<strong>in</strong>es Handelns aufzeigen. Da soziale Strukturen<br />

zwar kognitiv, aber unabhängig vom e<strong>in</strong>zelnen Individuum existieren, s<strong>in</strong>d sie<br />

im S<strong>in</strong>ne über<strong>in</strong>dividueller, geteilter Wissensstrukturen anzusehen: Als sog. „mutual<br />

knowledge“ liegen die über Raum <strong>und</strong> Zeit h<strong>in</strong>weg stabilisierten Strukturmomente<br />

sozialer Systeme bei ihren Mitgliedern geme<strong>in</strong>sam vor. 38<br />

Bereits damit wird deutlich, dass Handelnde <strong>und</strong> soziale Strukturen nicht vone<strong>in</strong>ander<br />

getrennte Phänomene (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Dualismus) s<strong>in</strong>d. Nach Giddens setzen<br />

sie e<strong>in</strong>ander als zwei Seiten derselben Medaille voraus. Die Medaille, oder<br />

besser das Scharnier, welches die Vorstellung von Strukturen sozialer Systeme<br />

(sog. struktureller Momente) auf der e<strong>in</strong>en <strong>und</strong> die Bedeutung des Bewusstse<strong>in</strong>s,<br />

der Handlungen <strong>und</strong> der Interaktionen von Aktoren auf der anderen Seite mite<strong>in</strong>ander<br />

verb<strong>in</strong>den soll, ist das Konzept der Praktik. Daher bilden Praktiken den<br />

zentralen Bezugspunkt strukturationstheoretischer Analysen. Praktiken (<strong>und</strong> die <strong>in</strong><br />

34 Perich nennt als Beispiele für solche Ansätze die Populationsökologie <strong>und</strong> Lebenszyklustheorien.<br />

Vgl. Perich, R. (1992), S. 191 f.<br />

35 Beispiele für stark voluntaristisch geprägte Ansätze s<strong>in</strong>d laut Perich Persönlichkeitstheorien der<br />

Führung oder Theorien des geplanten Wandels. Vgl. Perich, R. (1992), S. 189 f.<br />

36 Morgan/Smircich (1980) formulieren e<strong>in</strong>e Reihe von <strong>in</strong>termediären Sichtweisen <strong>und</strong> Perich R.<br />

(1992), S. 184 ff. ordnet verschiedene Theorien entlang dieses Kont<strong>in</strong>uums auf.<br />

37 Vgl. zu Ansätzen im deutschsprachigen Raum M<strong>in</strong>der, K. (1994) <strong>und</strong> die Ausführungen bei<br />

Evers, M. (1998), S. 172 ff.<br />

38 Vgl. Giddens, A. (1984), S. XXXI, S. 4, S. 375.<br />

176<br />

10


ihnen enthaltenen Strukturen) s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits über<strong>in</strong>dividuell, da sie <strong>in</strong> begrenztem<br />

Maße das Substituieren von Aktoren zulassen. So ermöglichen sie e<strong>in</strong>e Konzeptualisierung<br />

subjektloser, sozialer Strukturen. Andererseits verdeutlichen sie, dass<br />

Strukturen von Aktoren auch praktiziert werden müssen, um zu existieren. Ferner<br />

geben soziale Strukturen über das Medium der Praktiken dem <strong>in</strong>dividuellen Handeln<br />

e<strong>in</strong>e Form <strong>und</strong> begrenzen es dadurch gewissermaßen. Gleichzeitig ermöglichen<br />

sie dieses Handeln aber auch, <strong>in</strong>dem sie eben diese Form def<strong>in</strong>ieren. Sie<br />

stellen den Rahmen des Handelns dar, der e<strong>in</strong>e Menge „zulässiger“ Handlungen<br />

spezifiziert. Dieser Rahmen kann aber durch die Auslegung von Regeln verändert<br />

(z. B. erweitert oder verkle<strong>in</strong>ert) werden. „Zulässig“ me<strong>in</strong>t hier Regeln, die sich<br />

als Bestandteil von Praktiken im Alltagshandeln bewährt haben <strong>und</strong> die über das<br />

E<strong>in</strong>setzen von Ressourcen zur Anwendung gebracht werden. 39<br />

Mit diesen Gr<strong>und</strong>aussagen, die Giddens als „Dualität von Strukturen“ bezeichnet,<br />

soll die Strukturationstheorie im Kontext der Gegenpole des Voluntarismus <strong>und</strong><br />

des Determ<strong>in</strong>ismus etabliert werden. Oft werden die eben grob erläuterten Kernideen<br />

auf die Sentenz zugespitzt, dass „Strukturen das Handeln zugleich ermöglichen<br />

<strong>und</strong> begrenzen“. Dieser relativ e<strong>in</strong>fache Gedanke der Dualität von Strukturen,<br />

der das Menschenbild der Strukturationstheorie <strong>und</strong> ihre Position <strong>in</strong> der Voluntarismus-Determ<strong>in</strong>ismus-Debatte<br />

konstituiert, baut jedoch auf e<strong>in</strong>em relativ<br />

komplexen Gedankengebäude auf.<br />

2.3 Die methodologische Position der Strukturationstheorie<br />

Auf den ontologischen <strong>und</strong> anthropologischen Aussagen aufbauend enthält die<br />

Strukturationstheorie auch methodologische Komponenten, die H<strong>in</strong>weise auf<br />

Ansatzpunkte, Strategien <strong>und</strong> Methoden für Forschungsaktivitäten liefern.<br />

39 Damit schießt Giddens die Möglichkeit e<strong>in</strong>es mit Regeln nicht konform gehenden Handelns<br />

nicht aus. Das Konzept der sich überlappenden sozialen Systeme verweist allerd<strong>in</strong>gs darauf,<br />

dass e<strong>in</strong> Verstoß gegen situationsangemessene Praktiken aus der Warte anderer sozialer Systeme<br />

durchaus „zulässig“ se<strong>in</strong> kann. Die „Situationsangemessenheit“ e<strong>in</strong>er Handlung ist damit<br />

als e<strong>in</strong> relatives Konzept anzusehen <strong>und</strong> muss jeweils mit Blick auf die durch das Handeln des<br />

Aktors potenziell reproduzierbaren Systeme beurteilt werden.<br />

Reproduktion (so wie Giddens den Begriff verwendet) darf <strong>in</strong> strukturationstheoretischer Perspektive<br />

nicht gleich mit der identischen Wiederherstellung von Strukturen gesetzt werden. Mit<br />

jedem Handeln wird immer wieder neu die Gestalt der Struktur def<strong>in</strong>iert. Dabei bleibt offen, ob<br />

<strong>in</strong> dem neuen Handeln die Struktur so wiederhergestellt wird, wie sie zuvor hergestellt wurde.<br />

Dass Strukturen, um zu existieren, reproduziert werden müssen, präjudiziert nicht die Konstanz<br />

dieser Struktur. Aus Sicht der Strukturationstheorie ist der raumzeitliche Fortbestand von<br />

Strukturen genauso e<strong>in</strong> erklärungsbedürftiges Phänomen wie ihre Veränderung. Vgl. Giddens,<br />

A. (1979), S. 216.<br />

177<br />

11


Bei der Frage nach den adäquaten Ansatzpunkten für sozialwissenschaftliche<br />

Forschungsunterfangen gilt es zu klären, ob die Entscheidungen, Aktionen <strong>und</strong><br />

Interaktionen von Individuen im Mittelpunkt der Analyse stehen oder man auf<br />

e<strong>in</strong>er übergeordneten Ebene ansetzt <strong>und</strong> soziale Systeme betrachtet, wie sie sich <strong>in</strong><br />

aggregierten, über<strong>in</strong>dividuellen Größen darstellen. Ersteres propagiert der methodologische<br />

Individualismus, letzteres entspricht e<strong>in</strong>em methodologischen Kollektivismus.<br />

Baut man, der Strukturationstheorie folgend, e<strong>in</strong>e empirische Arbeit auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der oben beschriebenen Dualität von Strukturen auf, erweisen sich der<br />

methodologische Kollektivismus <strong>und</strong> der methodologische Individualismus nicht<br />

mehr als sich gegenseitig ausschließende Alternativen: Die Gesamtheit der Dualität<br />

von Strukturen <strong>und</strong> die von ihr thematisierten Betrachtungsebenen sollen nach<br />

Ansicht Giddens der Ansatzpunkt für die sozialwissenschaftliche Analyse darstellen<br />

<strong>und</strong> nicht entweder (nur) das Handeln e<strong>in</strong>zelner Aktoren oder (lediglich) die<br />

Charakteristika sozialer Aggregate.<br />

Bedeutsam hierbei ist, dass die Dualität von Strukturen um Giddens Konzept der<br />

Praktiken kreist. Auf der e<strong>in</strong>en Seite dieses Konzeptes stehen subjektlose Strukturen<br />

sozialer Systeme. Diese Strukturen bestehen aus Regelgefügen, die <strong>in</strong> verschiedenen,<br />

durch sie mehr oder m<strong>in</strong>der lose spezifizierten Kontexten anwendbar<br />

s<strong>in</strong>d. Auf der anderen Seite steht die Ebene des Handelns, die eng mit dem Kontext<br />

verwoben ist, da Handlungen zeitlich, räumlich <strong>und</strong> personell situiert s<strong>in</strong>d. 40<br />

Der empirische Zugang zu Praktiken <strong>und</strong> den <strong>in</strong> ihnen enthaltenen strukturellen<br />

Momenten erfolgt durch das alternierende E<strong>in</strong>nehmen e<strong>in</strong>er kollektivistischen <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistischen Perspektive 41 :<br />

1. In der sog. Analyse des Strategischen Handelns stehen die situierten<br />

E<strong>in</strong>zelhandlungen <strong>und</strong> Interaktionen der Aktoren im Vordergr<strong>und</strong> der<br />

Betrachtung. Im Rahmen des Studiums sozialer Interaktionen soll die<br />

Art <strong>und</strong> Weise untersucht werden, wie die Aktoren bei ihrem Handeln<br />

Regeln <strong>und</strong> Ressourcen e<strong>in</strong>setzen <strong>und</strong> dabei ihr Wissen mobilisieren.<br />

Weil Forscher bei dieser Analyse Vorstellungen dessen haben müssen,<br />

was sie erforschen, werden die Strukturmomente sozialer Praktiken zunächst<br />

als gegeben angesehen.<br />

2. In der sog. Institutionellen Analyse setzt man auf e<strong>in</strong>er strukturellen<br />

Ebene an <strong>und</strong> zielt auf die Untersuchung sozialer Gesamtheiten ab. Im<br />

40 Vgl. Duschek, S. (2001), S. 80.<br />

41 Schon früh <strong>in</strong> der Soziologie wurde e<strong>in</strong> solcher Wechsel zwischen mikroskopisch <strong>in</strong>dividualistischen<br />

<strong>und</strong> makroskopisch kollektivistischen Perspektiven verwendet. Vgl. hierzu Mayhew, B.<br />

(1980), S. 360 <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />

178<br />

12


Mittelpunkt stehen <strong>in</strong> dieser über<strong>in</strong>dividuellen Betrachtung aggregierte<br />

Größen. Diese sollen unter der Annahme analysiert werden, dass sie e<strong>in</strong>e<br />

tatsächliche Relevanz für das Verhalten von Aktoren <strong>in</strong> dem sozialen<br />

System, das sie strukturieren (sollen), besitzen. Auf diesem Wege erarbeitet<br />

sich der Forscher auch e<strong>in</strong> „Vor-“Verständnis, das er für die Analyse<br />

des Strategischen Handelns benötigt.<br />

Beide Analyseschritte stehen <strong>in</strong> enger wechselseitiger Abhängigkeit zue<strong>in</strong>ander,<br />

da sie jeweils die Voraussetzungen füre<strong>in</strong>ander schaffen. Im praktischen Forschungsvollzug<br />

ist jedoch die zeitgleiche Betrachtung des gesamten Strukturationsprozesses,<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er simultanen Zweiebenenbetrachtung, kaum möglich.<br />

Daher empfiehlt Giddens e<strong>in</strong>e (zeitweise) Konstantsetzung der Ergebnisse der<br />

Institutionellen Analyse, während man das Verhalten von Aktoren untersucht, <strong>und</strong><br />

vice versa. Er bezeichnet dies als „E<strong>in</strong>klammern“.<br />

Wenn unter Strategien globale Beschreibungen von Aktivitätsstrukturen zur Erreichung<br />

von Zielen verstanden werden, dann kann die grobe Strukturierung der<br />

Aktivitäten der Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung als Formulierung e<strong>in</strong>er Forschungsstrategie<br />

gelten. Hierzu werden <strong>in</strong> der Literatur zur empirischen Sozialforschung verschiedene<br />

Vorschläge diskutiert. E<strong>in</strong>e Gruppe an Forschungsstrategien ist dabei im<br />

Kritischen Rationalismus verwurzelt <strong>und</strong> nimmt daher <strong>in</strong> starkem Maße auf das<br />

deduktiv-nomologische Erklärungsmodell Bezug: Aktivitäten der empirischen<br />

Forschung dienen dazu, Hypothesen über Zusammenhänge zwischen sozialen<br />

Phänomenen aufzustellen <strong>und</strong> diese durch die Konfrontation mit den gewonnenen<br />

Daten zu verifizieren bzw. zu verwerfen. Verschiedene Anforderungen an die<br />

zentralen Aktivitäten „Hypothesenformulierung“ <strong>und</strong> „empirische Realisierungsversuche“<br />

(d. h. empirische Überprüfung der Gültigkeit von Hypothesen) bilden<br />

den Kern dieser Methodologie. Andere Forschungsstrategien lassen sich als<br />

explorative Strategien empirischer Forschung kennzeichnen, die konstruktivistisches<br />

Gedankengut umsetzen. Hier stehen Überlegungen im Mittelpunkt, wie e<strong>in</strong><br />

Forscher se<strong>in</strong>e Problem- oder Objektbereiche def<strong>in</strong>iert <strong>und</strong> wie er zu jenen Begriffssystemen<br />

<strong>und</strong> Theoriegebäuden gelangt, die er für die Entwicklung von<br />

Hypothesen oder für die Beschreibung se<strong>in</strong>es Forschungsgegenstandes benötigt.<br />

Diese Fragestellungen werden von Vertretern des Kritischen Rationalismus typischerweise<br />

dem sog. „Entdeckungszusammenhang“ zugeordnet. 42 Nicht zuletzt<br />

weil dieser Bereich als e<strong>in</strong>e Domäne der Subjektivität angesehen wird, gilt er dort<br />

als dem eigentlichen Wissenschaftsprozess vorgeschaltet. 43 Dennoch gibt es e<strong>in</strong>e<br />

42 Vgl. etwa Friedrichs, J. (1973), S. 50 ff.<br />

43 Vgl. Reichertz, J. (2000), S. 277.<br />

179<br />

13


ganze Reihe an Vorschlägen, wie diese Aktivitäten <strong>und</strong> Problemfelder des Forschungsprozesses<br />

„rationalisiert“ <strong>und</strong> methodisch unterstützt werden können. 44 Im<br />

Kontext der <strong>in</strong>terpretativen Sozialforschung spielt dabei beispielsweise die von<br />

Glaser/Strauss entwickelte „Gro<strong>und</strong>ed Theory“ e<strong>in</strong>e hervorgehobene Rolle. Sie<br />

wurde schon zu e<strong>in</strong>em relativ frühen Zeitpunkt <strong>in</strong> die Diskussion e<strong>in</strong>gebracht <strong>und</strong><br />

zählt heute zu den meist zitierten Methodenbeiträgen im Bereich der qualitativen<br />

Sozialforschung. 45 E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Alternative/Ergänzung zur Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />

schlägt Kubicek 46 vor. Er sieht den exploratorischen Forschungsprozess als e<strong>in</strong>en<br />

von e<strong>in</strong>em theoretischen Erkenntnisziel geleiteten Lernprozess an. Dieser Lernprozess<br />

vollzieht sich zunächst beim Forscher. Er macht ihn zu e<strong>in</strong>em „Experten“<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Expertise, vermittelt etwa über Forschungsberichte, kann anderen Personen<br />

– Studenten, Praktikern oder Wissenschaftlern – e<strong>in</strong>e Orientierungsleistung<br />

bieten. Medium des Lernprozesses (auf Seiten des Forschers) s<strong>in</strong>d dabei zunächst<br />

theoretisch geleitete Fragen an die Realität. Diese br<strong>in</strong>gen das Vorverständnis des<br />

Forschers e<strong>in</strong>. Durch die Verarbeitung des im Zuge der Forschungsarbeiten erworbenen<br />

Wissens wird dann die Entwicklung immer neuer Fragen angestrebt,<br />

die dieses Vorverständnis iterativ ausformen.<br />

Das Forschungsdesign beschreibt <strong>und</strong> begründet das konkrete, methodengestützte<br />

Vorgehen bei der Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten im Forschungsprozess <strong>und</strong><br />

stellt die Umsetzung der Forschungsstrategie dar. 47 Speziell wegen der unterschiedlichen<br />

Ansatzpunkte strukturationstheoretischer Analysen ist der E<strong>in</strong>satz<br />

e<strong>in</strong>er ganzen Bandbreite von Forschungsmethoden nicht nur möglich, sondern<br />

auch erforderlich.<br />

Wie oben beschrieben, nähert sich der Forscher dem Konstrukt „soziale Praktiken“<br />

bei strukturationstheoretischen Analysen von zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen<br />

Seiten, <strong>und</strong> zwar der Analyse des Strategischen Handelns von Aktoren <strong>und</strong> der<br />

Institutionellen Analyse. Erstere stellt das Handeln <strong>und</strong> das Wissen von Individuen<br />

<strong>in</strong> den Mittelpunkt der Analyse. Letztere sucht nach aggregierten Größen zur<br />

Erfassung über<strong>in</strong>dividueller Merkmale der durch die sozialen Praktiken konstituierten<br />

sozialen Systeme. Dementsprechend s<strong>in</strong>d die unterstützenden Methoden zur<br />

Datenerhebung <strong>und</strong> -auswertung auch auf die Anforderungen beider Analyseperspektiven<br />

h<strong>in</strong> auszurichten. Allerd<strong>in</strong>gs ergeben sich, auch mit Blick auf das ontologische<br />

F<strong>und</strong>ament der Strukturationstheorie, e<strong>in</strong>e Reihe weiterer methodologi-<br />

44 Vgl. hierzu ausführlich Kelle, U. (1994).<br />

45 Vgl. Denz<strong>in</strong>, N.; L<strong>in</strong>coln, Y. (1994), S. 204; Locke, K. (1996).<br />

46 Vgl. hierzu Kubicek, H. (1977), S. 12 ff., aber auch Wollnik, M. (1977), S. 42 ff., deren Argumentationen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vergleichbare Richtung gehen.<br />

47 Vgl. Flick, U. (2000), S. 252 oder Rag<strong>in</strong>, C. (1994), S. 191.<br />

180<br />

14


scher Konsequenzen, die es ebenfalls bei der Entwicklung des Forschungsdesigns<br />

zu beachten gilt:<br />

• Gr<strong>und</strong>sätzlich ist das verwendete Forschungs<strong>in</strong>strumentarium so auszuwählen,<br />

dass das Relevanzsystem (d. h. die Wissensstrukturen) der „Erforschten“<br />

sich so ungestört wie möglich entfalten kann. Damit soll vermieden<br />

werden, dass der Forscher Bedeutungen <strong>in</strong> die empirische Evidenz<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>projiziert, die die „Schaffer“ dieser Evidenz nicht so zuordnen<br />

würden. 48 Diesem Vorgehen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs mehr oder m<strong>in</strong>der enge<br />

Grenzen gesteckt, die aus allgeme<strong>in</strong>en Überlegungen folgen: Zum e<strong>in</strong>en<br />

ist der Forschungsprozess als e<strong>in</strong> Prozess der (direkten oder <strong>in</strong>direkten)<br />

Interaktion zwischen Erforschtem <strong>und</strong> Forscher zu sehen, wobei der Forscher<br />

se<strong>in</strong>em Anteil der Interaktion gr<strong>und</strong>sätzlich se<strong>in</strong> eigenes Wissen <strong>in</strong><br />

vielfältiger Weise zugr<strong>und</strong>e legt. Zum anderen geht es im Rahmen der<br />

Forschung um e<strong>in</strong>e Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Wissensbestandes. Diese Rekonstruktion<br />

ist zwangsläufig mit der Interpretation der empirischen Evidenz<br />

verknüpft.<br />

• Der Forschungsprozess, wie auch alles andere Handeln, läuft sowohl auf<br />

expliziter als auch auf impliziter Ebene ab. 49 Dementsprechend kann <strong>in</strong><br />

empirischen Untersuchungen auch nur e<strong>in</strong> gewisses Maß an Kontrolle,<br />

z. B. über Interviewsituationen oder auch den Kontext der Analyse des<br />

Datenmaterials, ausgeübt werden.<br />

• Unter den Bed<strong>in</strong>gungen beschränkter Ressourcen gestattet der E<strong>in</strong>satz<br />

e<strong>in</strong>es kontextsensitiven Instrumentariums oftmals nur die Betrachtung relativ<br />

ger<strong>in</strong>ger Fallzahlen – zum<strong>in</strong>dest im Rahmen der Analyse des strategischen<br />

Handelns.<br />

Diese Restriktionen machen deutlich, dass e<strong>in</strong> Forschungsdesign für strukturationstheoretische<br />

(Branchen-) Analysen nicht auf der Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>iger weniger<br />

Verfahren zur Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten über den Untersuchungsbereich<br />

aufbauen kann. Vielmehr ist e<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichend fe<strong>in</strong>gliedriges Vorgehen zu wählen,<br />

das der Differenziertheit des strukturationstheoretischen Analyserahmens Rechung<br />

trägt. Dies ist nur mit e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation unterschiedlicher Vorgehensweisen<br />

bei der Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten zu erreichen. Dabei schließt die<br />

Strukturationstheorie gr<strong>und</strong>sätzlich ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelnen Datenerhebungs- <strong>und</strong> Verarbeitungsmethoden<br />

als ungeeignet aus. Sie müssen nur durch e<strong>in</strong>e Reihe anderer<br />

48 Vgl. Bohnsack, R. (2000), S. 21 f.<br />

49 Vgl. hierzu auch Polanyi, M. (1967), S. 20 f.<br />

181<br />

15


Methoden ergänzt werden, damit den oben beschriebenen Anforderungen an e<strong>in</strong><br />

Forschungsdesign Genüge getan wird.<br />

2.4 Epistemologische Schlussfolgerungen für strukturationstheoretische<br />

Forschungsarbeit<br />

Kriterien oder Regeln, an denen sich die Güte der Antwort (als Ergebnis wissenschaftlichen<br />

Arbeitens) sowie des Antwortens (als Prozess wissenschaftlichen<br />

Arbeitens) auf vorab gestellte Forschungsfragen messen lassen muss, s<strong>in</strong>d Gegenstand<br />

von epistemologischen Aussagen. Leider entwirft Giddens ke<strong>in</strong>en solchen<br />

Kriterienkatalog <strong>und</strong> stellt ke<strong>in</strong>e entsprechenden Regeln auf. Zwar kritisiert<br />

er speziell positivistisch geprägte Epistemologien. Er versäumt es aber, selbst e<strong>in</strong><br />

der Strukturationstheorie entsprechendes Regelsystem zur Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung<br />

zu entwickeln. Daher müssen passende epistemologische Festlegungen, als e<strong>in</strong><br />

Kernstück von Wissenschaftsprogrammen, vom Anwender der Strukturationstheorie<br />

selbst getroffen werden. Die ontologischen, methodologischen <strong>und</strong> anthropologischen<br />

Aussagen der Strukturationstheorie geben hierfür verschiedene (teilweise<br />

versteckte) H<strong>in</strong>weise.<br />

Analog zu ontologischen Positionsbestimmungen werden auch <strong>in</strong> Bezug auf Epistemologien<br />

<strong>in</strong> der wissenschaftstheoretischen Literatur häufig wieder konstruktivistische<br />

<strong>und</strong> positivistische Positionen e<strong>in</strong>ander gegenüber gestellt. 50 Dabei wird<br />

teilweise dem e<strong>in</strong>en Lager e<strong>in</strong> „erklärendes“ <strong>und</strong> dem andern e<strong>in</strong> „verstehendes“<br />

Herantreten an den Untersuchungsgegenstand attestiert <strong>und</strong> der diesbezügliche<br />

Widerstreit als „Erklären-Verstehen-Debatte“ 51 bezeichnet. 52<br />

Die positivistische Epistemologie ist darauf ausgerichtet, Kausalbeziehungen<br />

zwischen den Komponenten e<strong>in</strong>er subjektunabhängigen Realität herauszuarbeiten<br />

<strong>und</strong>, hierauf aufbauend, Gesetze ihres Zusammenwirkens zu formulieren. Dementsprechend<br />

orientiert sich ihre Epistemologie an dem deduktiv-nomologischen<br />

Modell des „Erklärens“ 53 . Während im Rahmen der Institutionellen Analyse die<br />

„erklärende“ Epistemologie s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>setzbar ersche<strong>in</strong>t, ist sie für Analysen des<br />

50 Vgl. etwa Burrell, G.; Morgan, G. (1976), Morgan, G.; Smircich, L. (1980) oder Mir, R.; Watson,<br />

A. (2000).<br />

51 Vgl. zu e<strong>in</strong>er ausführlichen Rekonstruktion dieser Debatte etwa Kelle, U. (1994), S. 57 ff.<br />

52 Dies erweist sich, was von verschiedenen Autoren auch betont wird, als teilweise verkürzt:<br />

Kritische Rationalisten greifen häufig <strong>in</strong> ihren Untersuchungen auf „verstehende“ Vorgehensweisen<br />

zurück <strong>und</strong> Konstruktivisten können Erkenntnisse e<strong>in</strong>es „erklärenden“ Zugangs s<strong>in</strong>nvoll<br />

verwenden. Vgl. Kieser, A. (1995), S. 21 f. Beide Epistemologien werden hier lediglich<br />

aus Gründen der vere<strong>in</strong>fachten Darstellung idealisierend gegenüber gestellt.<br />

53 Vgl. hierzu umfassend Stegmüller, W. (1969), S. 86.<br />

182<br />

16


strategischen Handelns aus e<strong>in</strong>er Reihe von Gründen mit Problemen behaftet. 54<br />

Daher greift die Epistemologie des kritischen Rationalismus für die strukturationstheoretische<br />

Analysen zu kurz. Speziell für Belange der Analyse des strategischen<br />

Handelns ist es ihr Pendant, der „verstehende“ Zugang, der zu bevorzugen<br />

ist. „Verstehen“ bedeutet dabei <strong>in</strong> der Literatur typischerweise die (durch den<br />

Forscher vollzogene) Rekonstruktion der Prozesse der Wahrnehmung <strong>und</strong> der<br />

Zuschreibung von S<strong>in</strong>n durch die betrachtete Person (das Forschungs-Subjekt). 55<br />

Nach konstruktivistischem Duktus existiert e<strong>in</strong>e Reihe von Maximen, nach denen<br />

der Forscher so se<strong>in</strong>en Erkenntnisgegenstand verstehen lernen soll <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>e<br />

Bestimmung <strong>und</strong> ggf. Steigerung der „Güte“ dieses Verständnisses ermöglichen.<br />

Dazu zählen die Explizierung des Forschungsprozesses 56 , das Zurückstellen der<br />

theoretischen (Vor-)Strukturierung des Forschungsgegenstandes 57 , e<strong>in</strong> thematisch<br />

breites (holistisches) Herantreten an den Untersuchungsgegenstand <strong>und</strong> die Angemessenheit<br />

der Kommunikation mit dem Forschungsobjekt.“ 58<br />

Diese Sichtweise <strong>in</strong> Bezug auf das Zusammenspiel erklärender <strong>und</strong> verstehender<br />

Zugänge zu sozialen Phänomenen führt zu verschiedenen Implikationen für den<br />

Erkenntnisgew<strong>in</strong>nungsprozess <strong>in</strong> strukturationstheoretischen Analysen. Das Vorgehen<br />

ist als e<strong>in</strong> iterativer Prozess zu gestalten, bei dem mit jeder Iteration der<br />

Zugang zum Phänomenbereich wechselt. Im Zuge dieses Prozesses schafft jede<br />

Iteration die Voraussetzungen für den nachfolgenden Schritt: Individuen geben<br />

Auskunft darüber, welche strukturellen Momente zu analysieren s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> die<br />

Analyse dieser Strukturen liefert die Vokabeln oder gibt H<strong>in</strong>weise auf die relevante<br />

Sachverhalte für die Betrachtung <strong>in</strong>dividuellen Handelns. Den Anfangspunkt <strong>in</strong><br />

diesem Prozess sollte die Entwicklung oder Präzisierung <strong>und</strong> Ausformulierung<br />

e<strong>in</strong>es Vorverständnisses markieren. Dies ersche<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>nvoll, da der Forscher<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich mit Vorwissen an se<strong>in</strong>en Untersuchungsgegenstand (die soziale<br />

Praktik) herantritt, sich also zunächst auf e<strong>in</strong>er über<strong>in</strong>dividuellen Ebene bewegt.<br />

Im Zuge des Forschungsprozesses erfolgt dann die iterative, aber kont<strong>in</strong>uierlich<br />

abfolgende Erschließung der fokalen Wissensstrukturen durch den Forscher, wobei<br />

erklärende <strong>und</strong> verstehende Zugänge im Wechsel erfolgen. E<strong>in</strong>en (vorläufigen)<br />

Abschluss des Forschungsprozesses bildet die vorgenommene Rekonstruktion<br />

des neu gewonnenen Verständnisses des Forschers von se<strong>in</strong>em Untersuchungsgegenstand.<br />

54 Vgl. dazu Cappallo, S. (2005), S. 69 ff.<br />

55 Vgl. Habermas, J. (1981a), S. 159ff.; Kieser, A. (1995), S. 15.<br />

56 Vgl. Rusch, G. (1987), S. 262 f.<br />

57 Vgl. Hoffmann-Riem, C. (1980), S. 343.<br />

58 Vgl. Kelle, U. (1994), S. 217.<br />

183<br />

17


3 INTENTIONALITÄT AUS STRUKTURATIONSTHEORTISCHER<br />

PERSPEKTIVE<br />

E<strong>in</strong>e weitere Denkfigur der Strukturationstheorie stellt die „Intentionalität“ des<br />

Handelns <strong>und</strong> des Handelnden da. Obwohl sie auch als Teil der anthropologischen<br />

Position der Strukturationstheorie gelten kann, wird sie hier gesondert betrachtet.<br />

So lässt sie, wie im Abschlusskapitel zu sehen se<strong>in</strong> wird, die Funktionen <strong>und</strong> Ziele<br />

strukturationstheoretisch geleiteten Erkenntnisfortschritts besonders deutlich hervortreten.<br />

Ferner lässt sich hier gut zeigen, dass die Strukturationstheorie sowohl<br />

auf den Untersuchungsgegenstand der Sozialforschung als auch reflexiv auf die<br />

Forschung selbst angewandt werden kann. Für beide Anwendungsfelder lassen<br />

sich aus den allgeme<strong>in</strong>en Funktionen strukturationstheoretischen Erkenntnisfortschritts<br />

59 jeweils spezifische Ziele bilden.<br />

3.1 Intentionalität als Denkfigur der Strukturationstheorie<br />

Das strukturationstheoretische Schichtenmodell der menschlichen Psyche besagt,<br />

dass im Pr<strong>in</strong>zip alles Wissen über die Welt <strong>in</strong> den Ebenen des Bewusstse<strong>in</strong>s <strong>und</strong><br />

des Unterbewusstse<strong>in</strong>s der sie bevölkernden Menschen als Er<strong>in</strong>nerungsspuren<br />

gespeichert ist. Bezogen auf die Perspektive des Handelnden geht Giddens entsprechend<br />

davon aus, dass e<strong>in</strong> Aktor sehr viel über die Umstände se<strong>in</strong>es Handelns<br />

<strong>und</strong> der Handlungen anderer weiß. 60 Das <strong>in</strong> der Sek<strong>und</strong>ärliteratur zur Strukturationstheorie<br />

häufig aufzuf<strong>in</strong>dende Zitat hierzu lautet:<br />

„All competent members of society are vastly skilled <strong>in</strong> the practical<br />

accomplishments of social activities and are expert >>sociologists


d<strong>in</strong>gs nur für e<strong>in</strong>en vergleichsweise kle<strong>in</strong>en Teil der kont<strong>in</strong>uierlich erfolgenden<br />

Handlungen des Aktors. Giddens vermutet, dass der größere Teil des Wissens auf<br />

impliziter Ebene <strong>in</strong> das Handeln e<strong>in</strong>fließt <strong>und</strong> die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong><br />

Zurechtf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den tagtäglichen sozialen Interaktionen bildet.<br />

In Bezug auf beide Ebenen des Handelns können Aktoren <strong>in</strong>tentional handeln.<br />

Dabei def<strong>in</strong>iert Giddens „<strong>in</strong>tentional“ als „characteriz<strong>in</strong>g an act which its perpetrator<br />

knows, or believes, will have a particular quality or outcome and where<br />

such knowledge is utilized by the author of the act to achieve this quality or outcome.”<br />

62<br />

1. Auf e<strong>in</strong>er expliziten Ebene vermag e<strong>in</strong> Aktor die Gründe für se<strong>in</strong> Tun<br />

darzulegen. 63 Hierzu muss er aus dem Strom sich kont<strong>in</strong>uierlich vollziehender<br />

Handlungen e<strong>in</strong>en bestimmten S<strong>in</strong>n „herausziehen“, wodurch er<br />

zwangsläufig von der Komplexität alltäglicher Interaktionen abstrahiert.<br />

Dieses „Herausziehen“ besteht aus der Identifikation von m<strong>in</strong>destens<br />

zwei (<strong>in</strong>tentionalen) Handlungen <strong>und</strong> der begründeten Herstellung e<strong>in</strong>er<br />

logischen Beziehung zwischen beiden. Dabei wird die Beziehung zwischen<br />

zwei Handlungen nicht durch „Gesetze des Sozialen“, wie sie <strong>in</strong><br />

determ<strong>in</strong>istischen Ansätzen der Sozialwissenschaften angenommen<br />

werden, sondern durch den Aktor selbst begründet. Dieser kann freilich,<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „wissenschaftlich abgesicherten“ Begründung, dabei auf<br />

determ<strong>in</strong>istische Sichtweisen zurückgreifen, ohne dass sie aber <strong>in</strong> den<br />

Augen von Giddens gelten würden. 64<br />

2. Da Giddens Intentionalität als e<strong>in</strong> alltägliches, kont<strong>in</strong>uierlich reproduziertes<br />

Merkmal menschlicher Interaktion def<strong>in</strong>iert, das gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ohne das Vorhandense<strong>in</strong> präzise formulierter (oder formulierbarer) Ziele<br />

auskommt, gibt es Intentionalität auch auf e<strong>in</strong>er impliziten Ebene. 65<br />

Die auf dieser Ebene reproduzierten Theorien <strong>und</strong> Wissensstrukturen<br />

zielen auf e<strong>in</strong> „Zurechtkommen“ im Alltagsleben ab, welches zu e<strong>in</strong>em<br />

großen Teil auf den nicht erkannten Bed<strong>in</strong>gungen des Handelns beruht.<br />

Dies trägt der Sichtweise Rechnung, dass sich der Alltag oft nicht an<br />

klar def<strong>in</strong>ierten Zielen orientiert. 66 Dabei darf man hier nicht den E<strong>in</strong>druck<br />

erlangen, Giddens folge e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong> voluntaristischen Menschenbild.<br />

Handlungen können auch nicht <strong>in</strong>tendierte Folgen nach sich ziehen.<br />

Je weiter Handlungsfolgen <strong>in</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit vom unmittelbaren<br />

62 Giddens, A. (1984), S. 10.<br />

63 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 376.<br />

64 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 90 ff.<br />

65 Giddens, A. (1979), S. 56.<br />

66 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 89.<br />

185<br />

19


Handlungskontext entfernt s<strong>in</strong>d, desto größer ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

dass diese Folgen nicht <strong>in</strong>tentional s<strong>in</strong>d. Dabei kommt es allerd<strong>in</strong>gs<br />

immer auf die <strong>in</strong>dividuelle „Knowledgeability“ <strong>und</strong> Machtausstattung<br />

an. 67 Ferner setzt Handeln als E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Strom an Handlungen<br />

immer auch das Handeln anderer Aktoren voraus. Damit werden die<br />

Resultate des eigenen Handelns stets auch von den Handlungen anderer<br />

bestimmt.<br />

Ergänzend dazu stellt Giddens fest, dass, wenn es e<strong>in</strong>e kausal vernetzte Intervention<br />

e<strong>in</strong>es Aktors <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortwährenden Strom von Handlungen geben kann,<br />

dies se<strong>in</strong>er Ansicht nach gr<strong>und</strong>sätzlich auch impliziert, dass diese Intervention<br />

ausbleiben kann <strong>und</strong> kont<strong>in</strong>gent ist. 68<br />

3.2 Intentionalität <strong>in</strong> der wissenschaftlichen <strong>und</strong> nichtwissenschaftlichen<br />

Praxis<br />

Das Konzept der Intentionalität kann, wie auch die anderen Denkfiguren der<br />

Strukturationstheorie, gr<strong>und</strong>sätzlich auf alle Ausschnitte der sozialen Realität<br />

angewandt werden. Solche Ausschnitte können z. B. die wissenschaftliche <strong>und</strong> die<br />

nichtwissenschaftliche soziale Praxis se<strong>in</strong>.<br />

Die nichtwissenschaftliche soziale Praxis ist typischerweise Haupt-<br />

Gegenstandsbereich sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Hier s<strong>in</strong>d es die<br />

Wissensstrukturen, Handlungen <strong>und</strong> sozialen Systeme (oder kurz: die sozialen<br />

Praktiken) mit ihren jeweiligen strukturellen Momenten, die im Mittelpunkt strukturationstheoretischer<br />

Betrachtungen stehen. Wissensstrukturen, die <strong>in</strong>tentional im<br />

Rahmen sozialer Praktiken mobilisiert werden, dürften dabei zwei Merkmale<br />

aufweisen: sie werden als „objektiv“ wahrgenommen <strong>und</strong> sie s<strong>in</strong>d bei der Bewältigung<br />

alltagsweltlicher Problemstellungen erfolgreich. Mit diesen Feststellungen<br />

lässt sich die Konzeptualisierung anschlussfähig präzisieren bzw. ausführen.<br />

Aus e<strong>in</strong>er positivistischen Perspektive ist etwas „objektiv“ gegeben, wenn es von<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er weiteren Person identisch kognitiv reproduziert werden kann. 69<br />

Die Herstellung dieser Objektivität steht im Zentrum der wissenschaftlichen Me-<br />

67 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 11.<br />

68 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 81, (1984), S. 9 ff. Den Gedanken der stets vorhandenen Wahlmöglichkeit<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Handeln <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Nicht-Handeln entwickelt Giddens <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Konzept der Dialektik der Kontrolle weiter. Vgl. dazu Giddens, A. (1984), S. 16.<br />

69 Vgl. Albach, H. (1993), S. 9.<br />

186<br />

20


thode des Positivismus 70 <strong>und</strong> wird dort als e<strong>in</strong> zentrales Ziel wissenschaftlicher<br />

Aktivitäten gesehen. 71 Aus Sicht der Strukturationstheorie ist „Objektivität“ jedoch<br />

kont<strong>in</strong>gent <strong>und</strong> teilsystemspezifisch. Auch ergibt sich bereits aus der eben<br />

erfolgten Def<strong>in</strong>ition von „Objektivität“, dass es sich um e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tersubjektives, e<strong>in</strong><br />

soziales Phänomen handelt:<br />

1. Zum e<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>det objektives Wissen se<strong>in</strong>en Ausdruck <strong>in</strong> Sprache bzw.<br />

Symbolen. 72 Dies ist zwangsläufig, da objektives Wissen ex def<strong>in</strong>itione<br />

nur <strong>in</strong>tersubjektiv vorliegen kann <strong>und</strong> diese Intersubjektivität über den<br />

Gebrauch von Symbolen hergestellt werden muss. Dabei beruht Sprache<br />

auf Konventionen im H<strong>in</strong>blick auf den Gebrauch von Lauten oder<br />

Schriftzeichen. Daher handelt es sich bei objektivem Wissen um e<strong>in</strong> soziales<br />

Phänomen. 73<br />

2. Objektives Wissen kommt zustande über Prozesse der Kontrolle, die typischerweise<br />

auch Prozesse der geme<strong>in</strong>schaftlichen Reflexion, Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Konsensbildung s<strong>in</strong>d.<br />

3. Wie gleich noch zu erörtern se<strong>in</strong> wird, zeichnet sich objektives Wissen<br />

durch se<strong>in</strong>e Leistungsfähigkeit aus. Se<strong>in</strong>e praktische Bewährung, an der<br />

die Leistungsfähigkeit festgemacht wird, erfährt das Wissen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

sozialen Kontext.<br />

Damit wird klar, dass der soziale Kontext, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong> Individuum bewegt,<br />

das bestimmt, was als „objektives Wissen“ betrachtet wird. Daher kann angenommen<br />

werden, dass <strong>in</strong> den Teilsystemen der Gesellschaft <strong>und</strong> <strong>in</strong> den durch sie<br />

geprägten Organisationen mit ihren spezifischen Sprachen jeweils eigene objektive<br />

Realitäten vorzuf<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Das, was objektives Wissen <strong>und</strong> damit „Realität“<br />

ist, variiert dann im Allgeme<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Abhängigkeit von dem sozialen Kontext, z. B.<br />

von Organisation zu Organisation.<br />

70 Vgl. Anderson, P. (1983), S. 18; Hunt, S. (1994), S. 133 ff.<br />

71 Dies f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Ausdruck beispielsweise <strong>in</strong> Sentenzen wie “Science strives for objectivity<br />

(...).“ (Bacharach, S. (1989), S. 501) oder <strong>in</strong> der Bezeichnung „Objektivismus“, die für das gesamte<br />

Wissenschaftsprogramm steht. Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979); Morgan, G.; Smircich,<br />

L. (1980).<br />

72 Dabei ist Sprache als e<strong>in</strong>e Art Rohmaterial zu verstehen. Sie bildet die Basis für Modelle <strong>und</strong><br />

Theorien, die ebenfalls „Objektivität“ abbilden sollen. Auch sie beruhen damit auf (sozialen)<br />

Konventionen. Vgl. Astley, G. (1985). Vgl. auch Weik, E. (1996), S. 381 f.<br />

73 Vgl. Balzer, W. (1997), S. 31.<br />

187<br />

21


Ob Wissen <strong>in</strong>tentional e<strong>in</strong>gesetzt wird, hängt von se<strong>in</strong>er praktischen Bewährung<br />

ab. 74 Der Nutzen von Wissen steht <strong>und</strong> fällt mit dessen Fähigkeit, se<strong>in</strong>em Anwender<br />

Orientierungsleistungen im Alltag zu geben. Dabei werden jene Teile des<br />

Wissens als besonders leistungsfähig angesehen, die Individuen als „objektiv“<br />

betrachten. Teilweise basierend auf den Arbeiten von Piaget beschreibt Glasersfeld<br />

(<strong>und</strong> dieser Argumentation soll hier gefolgt werden) den Zusammenhang<br />

zwischen Leistungsfähigkeit <strong>und</strong> „Objektivität“ 75 von Wissen.<br />

Objektivität ist, nach der auch hier zugr<strong>und</strong>e gelegten Sichtweise Glasersfelds, e<strong>in</strong><br />

Ergebnis mehrstufiger kognitiver Prozesse: Zunächst nimmt e<strong>in</strong> Aktor (eigene<br />

oder fremde) Handlungsmuster wahr. Bewähren sich diese <strong>in</strong> alltagsweltlichen<br />

Situationen, werden sie <strong>in</strong> abstrakter, vom orig<strong>in</strong>ären Handlungskontext losgelöster<br />

Form mental gespeichert. Dabei bleibt allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e Verknüpfung zu bestimmten<br />

Objekten bewahrt. Diese fungieren als Anker für die Reproduktion des<br />

Handlungsmusters <strong>in</strong> ähnlichen Kontexten, wodurch e<strong>in</strong>e Projektion des Handlungsmusters<br />

auf e<strong>in</strong> Objekt stattf<strong>in</strong>det. Der fortgesetzte Erfolg dieser Projektion<br />

veranlasst schließlich e<strong>in</strong>en Aktor zu glauben, dass diese unabhängig von se<strong>in</strong>en<br />

eigenen Erfahrungen Bestand hat <strong>und</strong> erhält so den Status e<strong>in</strong>er „objektiven<br />

Wahrheit“.<br />

Als „objektiv“ angesehenes Wissen ist normalerweise nicht Gegenstand e<strong>in</strong>er<br />

andauernden Reflexion durch se<strong>in</strong>en Anwender. 76 Dieses Wissen dient der alltäglichen<br />

Verständigung <strong>und</strong> Problembewältigung. Es wird mehr oder weniger unbewusst<br />

mobilisiert 77 <strong>und</strong> ersche<strong>in</strong>t dem Menschen als „objektiv“ 78 . Dieses Wissen<br />

umfasst pr<strong>in</strong>zipiell alles, was Gegenstand von Wissensstrukturen se<strong>in</strong> kann:<br />

hierzu zählen S<strong>in</strong>nzuweisungen aller Art, wie sie sich <strong>in</strong> faktischen, theoretischen,<br />

technologischen oder etwa valuativen Wissensbeständen wieder f<strong>in</strong>den. 79<br />

Die Kont<strong>in</strong>genz von Objektivität gilt nicht nur für die sozialen Systeme, die Gegenstand<br />

sozialwissenschaftlicher Analysen s<strong>in</strong>d, sondern auch für die Wissenschaftspraxis.<br />

Auch Wissenschaftler handeln <strong>in</strong>tentional (im S<strong>in</strong>ne der Struktura-<br />

74 Vgl. Knyphausen, D. v. (1995), S. 384 ff.<br />

75 Vgl. hierzu Glasersfeld, E. v. (1982), S. 630 ff.; Glasersfeld, E. v. (1996), S. 194 ff.<br />

76 Diese Idee fußt auf der Vorstellung der Existenz e<strong>in</strong>er „vortheoretischen Praxis“, wie sie Lueken<br />

(1992) als e<strong>in</strong> Vertreter des methodischen Konstruktivismus entwickelt. Die vortheoretische<br />

Praxis bezieht sich auf (sprachliche wie nicht-sprachliche) Handlungszusammenhänge, die<br />

nicht durch theoretische E<strong>in</strong>sichten geleitet s<strong>in</strong>d.<br />

77 Vgl. Lueken, G. (1992), S. 176.<br />

78 Vgl. Berger, P.; Luckmann, T. (1971), S. 23 f.<br />

79 Es be<strong>in</strong>haltet auf e<strong>in</strong>er f<strong>und</strong>amentaleren Ebene <strong>in</strong>sbesondere die Zuordnung von S<strong>in</strong>ngehalten zu<br />

Sprachsymbolen <strong>und</strong> damit die Schaffung sprachlicher Kategorien.<br />

188<br />

22


tionstheorie) <strong>und</strong> verwenden zum Zurechtkommen <strong>in</strong> ihrem Wissenschafts(teil)system<br />

als objektiv angesehenes, Erfolg versprechendes Wissen.<br />

Astley (1985) verdeutlicht dies sehr anschaulich an der Forschungsgeme<strong>in</strong>de<br />

„Adm<strong>in</strong>istrative Science“. 80 Diese Forschungsgeme<strong>in</strong>de verwendet theoretisch<br />

f<strong>und</strong>ierte Modelle (hierzu zählen auch Messtheorien 81 ), die als Referenzpunkt für<br />

ihre Arbeit dienen. Diese Modelle strukturieren den Untersuchungsgegenstand der<br />

Forschung vor, <strong>in</strong>dem sie etwa relevante Merkmalsdimensionen bestimmen <strong>und</strong><br />

den Ausprägungen dieser Merkmale bestimmte Bedeutungen zuordnen. Damit<br />

geben sie vor, was erhoben wird <strong>und</strong> (ab wann etwas) als Faktum gelten kann.<br />

Insofern verleiht die durch Theorien geprägte Wissensstruktur „Adm<strong>in</strong>istrative<br />

Science“ bestimmten Phänomenen bestimmte Bedeutungen. 82 Diese Bedeutungen<br />

bzw. die Regeln ihrer Zuweisung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Produkt sozialer Prozesse <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft. In diesen Prozessen erlangen e<strong>in</strong>ige Theorien e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Prom<strong>in</strong>enz <strong>und</strong> prägen die Aktivitäten e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> besonderem Maße,<br />

während andere <strong>in</strong>s Abseits geraten. Dabei werden nicht jene Theorien verworfen<br />

oder vergessen, die den ger<strong>in</strong>gsten Bezug zur „objektiven Realität des Untersuchungsgegenstandes“<br />

aufweisen. Nach Astley s<strong>in</strong>d es vielmehr un<strong>in</strong>teressante<br />

Arbeiten, die lediglich Bekanntes bestätigen <strong>und</strong> es versäumen, gr<strong>und</strong>legende<br />

Selbstverständlichkeiten zu h<strong>in</strong>terfragen, die langweilig <strong>und</strong> unpopulär werden. 83<br />

Diese Prozesse werden durch allgeme<strong>in</strong>e Gepflogenheiten <strong>und</strong> strukturelle Gegebenheiten<br />

der Diszipl<strong>in</strong> angestoßen <strong>und</strong> vorangetrieben. Hierzu zählen etwa Auswahlverfahren<br />

von Manuskripten durch die Herausgeber wichtiger Magaz<strong>in</strong>e,<br />

Zitationsstrategien von Autoren, Zugehörigkeiten zu Strömungen <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Diszipl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> hierarchisches Reputationssystem usw. 84 Sprache ist dabei das zentrale<br />

Medium, das <strong>in</strong> diesen sozialen Prozessen zum E<strong>in</strong>satz kommt. Wegen ihrer<br />

f<strong>und</strong>amentalen Bedeutung kann die „Adm<strong>in</strong>istrative Science“ (oder auch die Wissenschaft<br />

<strong>in</strong>sgesamt) daher auch als e<strong>in</strong> System von Begriffen bzw. sprachlichen<br />

Kategorien gesehen werden, das im Extremfall nicht mit der „Realität“ (auf die es<br />

Bezug zu nehmen vorgibt) korrespondiert. Richtet der Wissenschaftler se<strong>in</strong> Ver-<br />

80 Siehe auch Araujo, L.; Easton, G. (1996), 63 f. oder, für e<strong>in</strong>e empirische Analyse e<strong>in</strong>iger dieser<br />

Zusammenhänge, Mizruchi, M.; Fe<strong>in</strong>, L. (1999). Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis – wenn auch<br />

auf allgeme<strong>in</strong>erer Betrachtungsebene – kommt auch der sog. Wissenschaftshistorische Ansatz<br />

der Wissenschaftstheorie mit se<strong>in</strong>en Vertretern Kuhn, Laudan <strong>und</strong> Lakatos. Vgl. Kelle, U.<br />

(1994), S. 214 f.<br />

81 Vgl. Kieser, A. (1995), S. 10 f.<br />

82 Morgan diskutiert <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von Metaphern aus dom<strong>in</strong>anten<br />

Wissenschaftsprogrammen für die organisationstheoretische Forschung. Vgl. Morgan, G.<br />

(1980).<br />

83 Vgl. hierzu auch Weick, K. (1989).<br />

84 Vgl. Araujo, L.; Easton, G. (1996), S. 63 f. <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />

189<br />

23


halten „<strong>in</strong>tentional“ auf e<strong>in</strong> Zurechtkommen <strong>in</strong> dieser Diszipl<strong>in</strong> aus, so verwendet<br />

er Begriffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Art <strong>und</strong> Weise, legt se<strong>in</strong>en Arbeiten für <strong>in</strong>teressant<br />

gehaltene Theorien zugr<strong>und</strong>e, gestaltet se<strong>in</strong>e Publikationen entsprechend der<br />

Vorgaben wichtiger Journals usw.<br />

Wenn nun e<strong>in</strong> bestimmtes Wissenselement im wissenschaftlichen Kontext als<br />

objektiv <strong>und</strong> nützlich gilt, so muss dies noch lange nicht für andere Kontexte<br />

gelten. Die Anwendung e<strong>in</strong>er Theorie etwa mag für Forscher sehr <strong>in</strong>teressant<br />

(z. B. im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Publikationswürdigkeit) se<strong>in</strong>, während dies aus anderer Perspektive<br />

als akademischer Selbstzweck e<strong>in</strong>gestuft wird. Die Ziele, <strong>und</strong> damit die<br />

Beurteilungsgr<strong>und</strong>lagen des Erkenntnisfortschrittes, der Anwendung von Theorien<br />

können <strong>in</strong> Abhängigkeit vom fokalen Sozialen System variieren. Dies wird<br />

im folgenden Kapitel deutlich werden.<br />

4 FUNKTIONEN UND ZIELE STRUKTURATIONSTHEORETISCH<br />

FUNDIERTEN ERKENNTNISFORTSCHRITTS<br />

Auf der Basis der <strong>in</strong> den vorangegangenen Abschnitten vorgestellten Denkfiguren<br />

der Strukturationstheorie soll im Folgenden aufgezeigt werden, welche Funktionen,<br />

im S<strong>in</strong>ne nicht-gegenstandsbezogener Zwecksetzungen, Forschungsarbeiten<br />

im Allgeme<strong>in</strong>en erfüllen sollen, wenn sie sich auf den eben erarbeiteten, durch die<br />

Strukturationstheorie geprägten, metatheoretischen Gr<strong>und</strong>annahmen aufbauen. In<br />

e<strong>in</strong>em zweiten Schritt werden diese (allgeme<strong>in</strong>en) Funktionen auf e<strong>in</strong>e betriebswirtschaftliche<br />

Problemstellung, die Analyse e<strong>in</strong>er Branche, bezogen.<br />

4.1 Funktionen strukturationstheoretischer Forschungsarbeiten<br />

Funktionen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage der eben entwickelten metatheoretischen Position<br />

Forschungsarbeiten im Allgeme<strong>in</strong>en zugewiesen werden können, ergeben<br />

sich (unter anderem) aus drei verschiedenen „Quellen“:<br />

• den wissenschaftstheoretischen Aussagen der Strukturationstheorie,<br />

wie sie oben entwickelt wurden,<br />

• den generellen Funktionen von Wissensstrukturen (Denn aus der<br />

Strukturationstheorie geht hervor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

ebenfalls Wissensstrukturen darstellen.) sowie<br />

• allgeme<strong>in</strong>en Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens.<br />

Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt für die Festlegung der Funktionen strukturationstheoretischer<br />

Forschungsarbeiten ist die E<strong>in</strong>sicht, dass Wissen den Ausgangspunkt, das<br />

190<br />

24


Medium <strong>und</strong> das Endprodukt wissenschaftlichen Arbeitens darstellt. Entsprechend<br />

besteht <strong>in</strong> der hier verfolgten Sichtweise der Gegenstandsbereich sozialwissenschaftlicher<br />

Forschungsarbeiten aus (mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen) Referenzsystemen.<br />

Diese s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tersubjektiv geteilte Wissensstrukturen <strong>und</strong> für soziale Handlungssysteme<br />

typisch. Sie konstituieren eigene Lebens- <strong>und</strong> Sprachformen <strong>und</strong><br />

def<strong>in</strong>ieren „objektive“ Realitäten.<br />

Hieraus ergibt sich die zentrale Funktion strukturationstheoretisch geprägter Arbeiten,<br />

den Leser mit e<strong>in</strong>em bestimmten Referenzsystem, dem Gegenstandsbereich<br />

der jeweiligen Arbeiten, vertraut zu machen. Dabei ersche<strong>in</strong>en die Aufnahme,<br />

die Verarbeitung <strong>und</strong> die Weitergabe allen Wissens aus e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Handlungssystem nicht besonders s<strong>in</strong>nvoll oder gar realisierbar. Für sozialwissenschaftliche<br />

Forschungsarbeiten nach der Strukturationstheorie sche<strong>in</strong>t vielmehr<br />

e<strong>in</strong> bestimmter Teil des kontextspezifischen Referenzsystems besonders <strong>in</strong>teressant<br />

zu se<strong>in</strong>: Die handlungssystemspezifische „Objektivität“. Dabei ist, wie oben<br />

dargelegt, dieses objektive Wissen <strong>in</strong> der alltäglichen sozialen Interaktion e<strong>in</strong>es<br />

spezifischen Kontextes „bewährt“ bzw. „erfolgreich“. Insofern ersche<strong>in</strong>t das Kennenlernen<br />

bewährter Wissensbestände besonders erstrebenswert – <strong>in</strong>sbesondere<br />

wenn sich die Adressaten der sozialwissenschaftlichen Forschung selber <strong>in</strong> dem<br />

jeweiligen Kontext zurechtf<strong>in</strong>den möchten. Damit steht hier die Orientierungsleistung,<br />

die die Wissenschaft für menschliches Handeln erbr<strong>in</strong>gt, im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Wissenschaftliche Erkenntnisse haben e<strong>in</strong>e heuristische Funktion bei der Bewältigung<br />

alltagsweltlicher Probleme, da sie für diese Probleme Lösungen aufzeigen<br />

können, ohne aber e<strong>in</strong>e Garantie für e<strong>in</strong> „optimales“ Zurechtf<strong>in</strong>den im jeweiligen<br />

Handlungskontext versprechen zu können. 85<br />

Entsprechend der oben entwickelten ontologischen Konzeption wird dieses Kennenlernen<br />

von objektivem, handlungssystemspezifischem Wissen dadurch ermöglicht,<br />

dass der Forscher sich mit den betreffenden Kontexten bzw. Referenzsystemen<br />

vertraut macht, sie erschließt, rekonstruiert <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Rekonstruktion, z. B. <strong>in</strong><br />

Form strukturationstheoretischer Branchenanalysen, anderen Personen weitergibt<br />

bzw. anbietet.<br />

Mit der Vermittlung von Referenzsystemen, an denen sich Mitglieder des untersuchten<br />

sozialen Systems orientieren, leistet der Forscher im Kern e<strong>in</strong>e Übersetzungsarbeit.<br />

Die Produktion genu<strong>in</strong> neuen Wissens f<strong>in</strong>det so (zunächst) nicht<br />

statt. 86 Dementsprechend ist zu vermuten, dass die Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Referenzsystems<br />

<strong>in</strong>sbesondere für die Mitglieder des untersuchten Systems nicht be-<br />

85 Vgl. hierzu auch Dachler, P. (1992), S. 172.<br />

86 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 285.<br />

191<br />

25


sonders <strong>in</strong>teressant ist. Hieraus ergibt sich die Frage, wie der Forscher neues Wissen<br />

über e<strong>in</strong> gesellschaftliches Handlungssystem hervorbr<strong>in</strong>gen kann, das für die<br />

Aktoren selbst, die durch ihre Handlungen dieses System erzeugen, e<strong>in</strong>en Neuigkeitswert<br />

hat. Ferner ist zu klären, wie (sozial-) wissenschaftliches Arbeiten e<strong>in</strong>e<br />

kritische Position gegenüber dem von ihm erforschten Handlungssystem beziehen<br />

kann, wenn andere Referenzsysteme, aus deren Warte e<strong>in</strong>e kritische Analyse<br />

möglich wäre, sich vor allem durch ihre praktische Bewährung (im fokalen Handlungssystem<br />

selbst) als überlegen erweisen können.<br />

In für ihre Tragweite relativ knappen Ausführungen nennt Giddens hierzu verschiedene<br />

Ansatzpunkte: 87<br />

- Zunächst ergibt sich e<strong>in</strong>e Horizonterweiterung für die Mitglieder der untersuchten<br />

sozialen Systeme dadurch, dass Selbstverständliches von<br />

„Externen“ unter Verwendung anderer, möglicherweise sozialwissenschaftlicher<br />

Term<strong>in</strong>i (als Ausdruck e<strong>in</strong>es „fremden“ Referenzsystems)<br />

rekonstruiert wird. Die Verwendung anderer Begriffe impliziert dabei<br />

(auch) e<strong>in</strong>e andere, <strong>in</strong> der Regel distanziertere Haltung. Das hier<strong>in</strong> enthaltene<br />

kritische Moment kann wiederum bei den Teilnehmern des beschriebenen<br />

sozialen Handlungssystems Reflektionsprozesse auslösen,<br />

<strong>in</strong>dem Selbstverständliches <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen, unvertrautem Lichte dargestellt<br />

wird.<br />

- Zweitens kann die Kritik der Sozialwissenschaft an den Gründen oder<br />

den Begründungen der Aktoren für ihre Handlungen ansetzen. Sie kann<br />

zum e<strong>in</strong>en zeigen, dass diese Gründe e<strong>in</strong>er Basis entbehren. Zum anderen<br />

kann die Sozialwissenschaft aufzeigen, dass es alternative Rekonstruktionen<br />

der Begründungen für das Handeln der Aktoren gibt.<br />

(2) Die reflexive Anwendung e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen Wissensperspektive<br />

besagt, dass auch das Ergebnis wissenschaftlichen Arbeitens zu e<strong>in</strong>er<br />

Wissensstruktur wird. Daher gelten die allgeme<strong>in</strong>en Funktionen von Wissensstrukturen,<br />

wie sie im Rahmen der kognitiven Perspektive des strategischen Managements<br />

diskutiert werden, auch für wissenschaftliche Erkenntnisse. 88 E<strong>in</strong>ige<br />

von ihnen fasst das folgende Zitat zusammen:<br />

„Wissensstrukturen bee<strong>in</strong>flussen das Verhalten von Menschen speziell<br />

dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung <strong>und</strong> damit<br />

auch das Erkennen von Problemen <strong>und</strong> die Suche nach Informationen<br />

87 Vgl. hierzu Giddens, A. (1984), S. 281 ff.<br />

88 Vgl. hierzu ausführlich Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 66 ff. <strong>und</strong> S. 364 ff.<br />

192<br />

26


lenken, Informationen/Fakten S<strong>in</strong>n bzw. Bedeutung geben <strong>und</strong> so als<br />

<strong>in</strong>terpretative Schemata wirken. Sie bilden den „Rohstoff“ für die Def<strong>in</strong>ition<br />

von Problemen <strong>und</strong> die Entwicklung von Problemlösungen<br />

[…].“ 89<br />

Diese Funktionen gelten für jegliche Arten von Wissensstrukturen <strong>und</strong> damit auch<br />

für solche, die mit sozialwissenschaftlichem Wirken (mit oder ohne die Strukturationstheorie)<br />

<strong>in</strong> Zusammenhang gebracht werden.<br />

(3) Schließlich bleiben (zusätzlich zu den oben angesprochenen) allgeme<strong>in</strong>ere<br />

Funktionen der Wissenschaft. Diese gelten nicht nur für strukturationstheoretisch<br />

orientierte Wissenschaft, sondern gr<strong>und</strong>sätzlich auch für Forschung, die auf anderen<br />

Wissenschaftsprogrammen aufbaut. Zu diesen Funktionen zählen:<br />

• generell die Demonstration der Kont<strong>in</strong>genz des (Alt-)Bekannten auch<br />

dadurch, dass neue Handlungsmöglichkeiten für vertraute Problemstellungen<br />

aufgezeigt werden; 90<br />

• die Anregung zur Entwicklung kreativer Problemlösungen;<br />

• die Legitimation von Entscheidungen <strong>und</strong> Haltungen; 91<br />

• im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es l<strong>in</strong>guistischen Instruments, die Hilfestellung bei der Formulierung<br />

abstrakter Ideen (wie sie etwa <strong>in</strong> Visionen enthalten s<strong>in</strong>d) <strong>und</strong><br />

die Unterstützung im Rahmen verständigungsorientierter 92 Kommunikationsprozesse.<br />

93<br />

4.2 Zielsetzungen strukturationstheoretisch f<strong>und</strong>ierter Branchenanalysen<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dieser Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens können<br />

konkretere Zielsetzungen für bestimmte Forschungskontexte formuliert werden.<br />

E<strong>in</strong> solcher Forschungskontext s<strong>in</strong>d Analysen von Branchen, <strong>in</strong> denen das Analyseraster<br />

der Strukturationstheorie im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Sozialtheorie auf Branchenphänomene<br />

angewendet wird <strong>und</strong> so e<strong>in</strong>en Gegenstandsbezug erhält. 94<br />

89 Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 365<br />

90 Vgl. Knorr-Cet<strong>in</strong>a, K. (1989), S. 94 f. mit Bezug auf das empirische Programm des Konstruktivismus.<br />

91 Vgl. Kieser, A. (1995a), S. 350 f.<br />

92 Vgl. Habermas, J. (1981/1981a).<br />

93 Vgl. zu diesen Funktionen beispielsweise Cooperrider, D.; Barrett, F.; Srivastva, S. (1995),<br />

S. 168 ff. oder Rüegg-Stürm, J. (2001), S. 62 ff. <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />

94 Vgl. als Beispiel dazu Cappallo, S. (2005), S. 197 ff.<br />

193<br />

27


Strukturationstheoretische Analysen von Branchen können zum e<strong>in</strong>en auf theoretischer<br />

Ebene (d. h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung mit verschiedenen Theorien der<br />

Branche ohne e<strong>in</strong>en unmittelbaren empirischen Bezug) <strong>und</strong> zum anderen im<br />

Rahmen von (darauf aufbauenden) empirischen Studien vollzogen werden. Dabei<br />

erfüllen beide Analysen gr<strong>und</strong>sätzlich dieselben, allgeme<strong>in</strong>en Funktionen wissenschaftlichen<br />

Arbeitens. Allerd<strong>in</strong>gs lassen sich für jede Ebene der Analyse aus<br />

diesen gleichen wissenschaftstheoretischen Funktionen jeweils unterschiedliche<br />

Zielsetzungen ableiten. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Erkenntnisse der<br />

Analysen gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten verwenden lassen: Die<br />

Erarbeitung e<strong>in</strong>es strukturationstheoretischen Zuganges zu Branchen auf e<strong>in</strong>er<br />

theoretischen Ebene dürfte <strong>in</strong>sbesondere Sozialwissenschaftler <strong>in</strong>teressieren, die<br />

sich konzeptuell mit Branchenphänomenen ause<strong>in</strong>ander setzen wollen. Diese<br />

könnten beispielsweise den strukturationstheoretischen Bezugsrahmen dazu verwenden,<br />

sehr unterschiedliche Zugänge zu Branchen aufe<strong>in</strong>ander zu beziehen <strong>und</strong><br />

mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen. Strukturationstheoretisch angeleitete empirische Untersuchungen<br />

h<strong>in</strong>gegen dürften ebenfalls für Aktoren von Interesse se<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> den<br />

jeweiligen Branchen tätig s<strong>in</strong>d oder es gerne wären. Diese streben den E<strong>in</strong>satz der<br />

wissenschaftlichen Erkenntnisse <strong>in</strong> Handlungen im Rahmen e<strong>in</strong>er Tätigkeit <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er konkreten Branche an. 95<br />

Je nach Standpunkt ergeben sich, abgeleitet aus der gleichen Funktion wissenschaftlichen<br />

Arbeitens, unterschiedliche Zielsetzungen strukturationstheoretischer<br />

Branchenanalysen. 96 Die Tabelle 1 zeigt dies für Wissenschaftsfunktionen, die<br />

sich aus den wissenschaftstheoretischen Aussagen der Strukturationstheorie ergeben.<br />

95 Dabei ist an dieser Stelle darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelperson gr<strong>und</strong>sätzlich zwischen<br />

diesen Perspektiven wechseln kann. So kann e<strong>in</strong> Wissenschaftler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Branche<br />

tätig werden – genauso wie auch e<strong>in</strong> Branchenmitglied theoretische Überlegungen vollziehen<br />

kann. Ferner kann auch der Wissenschaftsbereich als e<strong>in</strong>e Branche def<strong>in</strong>iert werden <strong>und</strong> im<br />

Rahmen von Institutionen e<strong>in</strong>er Branche können wissenschaftliche oder wissenschaftsähnliche<br />

Aktivitäten stattf<strong>in</strong>den.<br />

96 Es lassen sich gr<strong>und</strong>sätzlich noch weitere solcher Standpunkte def<strong>in</strong>ieren. Ferner s<strong>in</strong>d die oben<br />

skizzierten Standpunkte so global beschrieben, dass <strong>in</strong>nerhalb dieser Standpunkte e<strong>in</strong>e ganze<br />

Reihe von E<strong>in</strong>zelpositionen denkbar s<strong>in</strong>d – etwa im Falle von Wissenschaftlern durch unterschiedliche<br />

diszipl<strong>in</strong>äre oder wissenschaftstheoretische Ausrichtungen. Für die Zwecke der<br />

vorliegenden Argumentation genügt jedoch die vere<strong>in</strong>fachende Bezugnahme auf diese beiden<br />

Standpunkte.<br />

194<br />

28


Begründung<br />

der<br />

Funktion<br />

durch …<br />

Funktionen wissenschaftlichen<br />

Arbeitens<br />

<strong>in</strong> der hier verfolgten<br />

Perspektive<br />

Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />

strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse auf<br />

theoretischer Ebene<br />

Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />

strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse auf<br />

empirischer Ebene<br />

(Beispiel Strombranche)<br />

Rekonstruktion des Referenzsystems<br />

„Strombranche“<br />

…wissenschaftstheoretische Aussagen der<br />

Strukturationstheorie<br />

Vertrautmachen der Adressaten<br />

mit e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Referenzsystem<br />

Aufarbeitung von handlungssystemspezifischobjektivem<br />

<strong>und</strong> bewährtem<br />

Wissen<br />

Rekonstruktion des Referenzsystems<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er den<br />

Systemmitgliedern nicht<br />

geläufigen Perspektive<br />

Kritisches H<strong>in</strong>terfragen der<br />

Begründungen für Handlungen<br />

Rekonstruktion des Referenzsystems<br />

„Branche“ <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />

Aufarbeitung von Wissen, das<br />

sich im Handlungssystem „Wissenschaft“<br />

<strong>in</strong> Bezug auf Branchen<br />

bewährt hat <strong>und</strong> dort als<br />

objektiv gilt<br />

Übersetzung der Kategorien des<br />

Referenzsystems „Branche“ aus<br />

unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen<br />

<strong>in</strong> den strukturationstheoretischen<br />

Rahmen<br />

Erarbeiten e<strong>in</strong>er Basis zum H<strong>in</strong>terfragen<br />

der Argumentation von<br />

Forschern <strong>in</strong> ihren branchenbezogenen<br />

Arbeiten<br />

Aufarbeitung von Wissen, das<br />

sich im Handlungssystem<br />

„Strombranche“ bewährt hat <strong>und</strong><br />

dort als objektiv gilt<br />

Übersetzung der Kategorien des<br />

Referenzsystems „Strombranche“<br />

<strong>in</strong> den strukturationstheoretischen<br />

Rahmen<br />

H<strong>in</strong>terfragen der Begründungen,<br />

mit denen Mitglieder der Strombranche<br />

ihre Handlungen legitimieren<br />

Tabelle 1: Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens <strong>und</strong> korrespondierende Ziele e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse 97<br />

Die sich ergebenden Zielsetzungen strukturationstheoretischer Branchenanalysen<br />

auf empirischer <strong>und</strong> theoretischer Ebene können wie folgt beschrieben werden:<br />

Das Vertrautmachen von Personen mit Referenzsystemen mündet im vorliegenden<br />

Forschungskontext <strong>in</strong> die Rekonstruktion von zwei Referenzsystemen: die des<br />

Referenzsystems „Branche“, wie es im Wissenschaftsbereich verwendet wird <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>en Ausdruck <strong>in</strong> Branchentheorien f<strong>in</strong>det. Ferner sollte auf empirischer Ebene<br />

e<strong>in</strong>e Rekonstruktion des Referenzsystems e<strong>in</strong>er „realen“ Branche erfolgen. Die<br />

Qualität der Rekonstruktion des empirischen Referenzsystems „Branche“ kann<br />

dabei daran gemessen werden, <strong>in</strong>wieweit sie den Leser mit e<strong>in</strong>er Handlungskompetenz<br />

ausstattet, die ihm e<strong>in</strong> erfolgreiches Zurechtkommen im Handlungssystem<br />

„Branche“ ermöglicht. Hierzu ersche<strong>in</strong>t es erforderlich, das Wissen aufzuarbeiten,<br />

das sich zur Handlungskoord<strong>in</strong>ation <strong>in</strong> der Branche bewährt hat <strong>und</strong> dort als objektiv<br />

gilt. Im Kontext e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen Branchenanalyse auf<br />

theoretischer Ebene ist h<strong>in</strong>gegen die Aufarbeitung etablierter (d. h. im relevanten<br />

Wissenschaftssystem erfolgreicher) Branchentheorien anzustreben. Die Rekonstruktion<br />

sollte dabei für beide Analyseebenen e<strong>in</strong>en gewissen Innovationsgrad<br />

aufweisen <strong>und</strong> altbekannte Kategorien der jeweiligen Referenzsysteme <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

neues Licht stellen. Dies sollte auch so weit gehen, dass Begründungen für Handlungen<br />

der betroffenen Personen h<strong>in</strong>terfragbar werden. Im Kontext der branchenbezogenen<br />

Wissenschaft betrifft dies beispielsweise das H<strong>in</strong>terfragen etablierter<br />

97 Quelle: Erstellt auf der Gr<strong>und</strong>lage von Cappallo, S. (2005), S. 377 ff.<br />

195<br />

29


Argumentationsketten. Bei den Branchenteilnehmern betrifft dies die Argumente,<br />

mit denen eigene Handlungen <strong>in</strong> der Branche legitimiert werden.<br />

Die Menge allgeme<strong>in</strong>er Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens, die auf konstruktivistisch<br />

geprägten Sichtweisen basieren oder durch allgeme<strong>in</strong>e Funktionen<br />

von Wissensstrukturen aus kognitiver Perspektive begründet werden, ist vergleichsweise<br />

groß. Die Tabelle 2 listet diese Funktionen auf <strong>und</strong> ordnet ihnen,<br />

analog zum eben erfolgten Vorgehen, Ziele von strukturationstheoretischen Branchenanalysen<br />

auf theoretischer <strong>und</strong> auf empirischer Ebene zu. Weil diese Ziele,<br />

zum<strong>in</strong>dest was ihren Inhalt betrifft, für sich sprechen, wird hier auf e<strong>in</strong>e Erläuterung<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Punkte <strong>in</strong> der Tabelle 2 verzichtet.<br />

196<br />

30


Begründung<br />

der<br />

Funktion<br />

durch …<br />

Funktionen<br />

wissenschaftlichen Arbeitens<br />

<strong>in</strong> der hier verfolgten<br />

Perspektive<br />

Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />

strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse auf<br />

theoretischer Ebene<br />

Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />

strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse auf<br />

empirischer Ebene<br />

(Beispiel Strombranche)<br />

… allgeme<strong>in</strong>e Überlegungen zu Funktionen von Wissenschaft <strong>und</strong> Wissensstrukturen<br />

Aufzeigen der Kont<strong>in</strong>genz<br />

des (Alt-) Bekannten<br />

Aufzeigen neuer Handlungsmöglichkeiten<br />

für<br />

vertraute Probleme<br />

Anregung zur Entwicklung<br />

kreativer Problemlösungen<br />

Legitimation von Entscheidungen<br />

Hilfestellung bei der Formulierung<br />

abstrakter Ideen<br />

Unterstützung im Rahmen<br />

verständigungsorientierter<br />

Kommunikationsprozesse<br />

Lenken der Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> der Wahrnehmung<br />

Hilfe zur Problemerkennung<br />

Hilfe bei der Suche nach<br />

Informationen<br />

Zuweisung von Bedeutungen<br />

zu Informationen /<br />

Fakten<br />

Def<strong>in</strong>ition von Problemen<br />

Rekonstruktion von Branchentheorien<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Bezugsrahmen<br />

Aufzeigen alternativer theoretischer<br />

Zugänge zu branchenrelevanten<br />

Phänomenen<br />

Anregung zur Verwendung unterschiedlicher<br />

theoretischer<br />

Zugänge <strong>und</strong> Ansätze<br />

Legitimation von Forschungsvorhaben<br />

als „wissenschaftlich,<br />

<strong>in</strong>novativ, <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är usw.“<br />

Formulierungshilfe bei der Konzipierung<br />

von Branchenanalysen<br />

Unterstützung im <strong>in</strong>ner- <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Austausch <strong>in</strong><br />

Bezug auf branchenbezogene<br />

Forschung<br />

Lenkung der Aufmerksamkeit<br />

des Forschers auf <strong>in</strong>teressante<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Ansätze für<br />

branchenbezogene Forschung<br />

Hilfe bei der Erkennung von<br />

Problemen mit branchenbezogener<br />

Forschung auf theoretischer<br />

Ebene<br />

Aufzeigen relevanter Wissensgebiete<br />

für branchenbezogene<br />

Forschung<br />

Hilfe bei der Interpretation von<br />

Theorien <strong>und</strong> theoretischen Erkenntnissen<br />

Hilfe bei der Identifikation <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>grenzung branchenbezogener<br />

Forschungsprobleme<br />

Betrachtung von Merkmalen der<br />

Strombranche von e<strong>in</strong>em neuen<br />

Standpunkt aus<br />

Aufzeigen alternativer Problemlösungswege<br />

bei strombranchenbezogenen<br />

Problemen<br />

Erarbeitung von Anregungs<strong>in</strong>formationen<br />

<strong>und</strong> Denkanstößen<br />

<strong>in</strong> Bezug auf strombranchenrelevante<br />

Belange<br />

„wissenschaftliche Erkenntnisse“<br />

als Legitimationshilfe für<br />

Aktoren der Strombranche<br />

Formulierungshilfe bei strombranchenrelevanten<br />

Themen<br />

Unterstützung bei der Kommunikation<br />

zwischen Branchenteilnehmern<br />

Lenkung der Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

Aufmerksamkeit auf handlungsrelevante<br />

Sachverhalte <strong>in</strong> der<br />

Strombranche<br />

Hilfe bei der Erkennung von<br />

Problemen <strong>in</strong> Handlungskontexten<br />

der Strombranche<br />

Lieferung von Informationen für<br />

Problemlösungen <strong>in</strong> Handlungskontexten<br />

der Strombranche<br />

Hilfe bei der Interpretation von<br />

strombranchenbezogenen Informationen/Fakten<br />

Hilfe bei der Identifikation <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>grenzung von Problemen für<br />

Aktoren <strong>in</strong> der Strombranche<br />

Tabelle 2: Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens <strong>und</strong> korrespondierende Ziele e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse 98<br />

Der Blick auf die soeben genannten Inhalte der mit e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />

Branchenanalyse zu erreichenden Ziele wirft schnell die Frage nach der<br />

Operationalisierung dieser Ziele auf: Wie kann der Grad der Erfüllung der jeweiligen<br />

Ziele bei e<strong>in</strong>er konkreten strukturationstheoretischen Branchenanalyse, <strong>und</strong><br />

damit deren Güte, festgestellt werden? E<strong>in</strong>e Antwort hierauf könnte lauten, dass<br />

es sich dabei um e<strong>in</strong> empirisches Problem handelt, dessen Lösung sich an den hier<br />

entwickelten wissenschaftstheoretischen Ideen zu orientieren hat. E<strong>in</strong>e zentrale<br />

98 Quelle: Erstellt auf der Gr<strong>und</strong>lage von Cappallo, S. (2005), S. 377 ff.<br />

197<br />

31


E<strong>in</strong>sicht dabei ist, dass die Beurteilung der Zielerreichung stets kontextabhängig<br />

erfolgen muss: jeweils mit Blick auf e<strong>in</strong>en Forscher oder e<strong>in</strong> Forscherkollektiv<br />

bzw. mit Blick auf e<strong>in</strong> Branchenmitglied oder e<strong>in</strong>e Gruppe von Branchenmitgliedern.<br />

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36


Theoretischer Fortschritt<br />

– e<strong>in</strong>e Analyse aus der Perspektive des strukturalistischen Theorienkonzepts –<br />

Univ.-Prof. Dr. St. Zelewski<br />

Universität Duisburg-Essen, Campus Essen<br />

Abstract:<br />

Im Spannungsfeld zwischen Fortschritt als Legitimationsbasis für die Dignität wissenschaftlicher<br />

Arbeit e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> als schillerndem Begriff ohne <strong>in</strong>haltliche Verb<strong>in</strong>dlichkeit andererseits wird e<strong>in</strong><br />

Konzept zur präzisen <strong>in</strong>haltlichen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs vorgestellt. Dieses Fortschrittskonzept<br />

beruht auf dem strukturalistischen Theorienkonzept des „non statement view. Zur<br />

Operationalisierung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts werden formalsprachliche Kriterien<br />

entwickelt, die es gestatten, die Fortschrittlichkeit von jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />

zu beurteilen. Diese Kriterien „relativer“ Fortschrittlichkeit erfordern lediglich Überprüfungen,<br />

ob zwischen ausgezeichneten Komponenten von strukturalistisch (re-) konstruierten Theorien mengentheoretische<br />

Inklusionsbeziehungen bestehen. Mittels der Inklusionsbeziehungen werden Fortschrittsrelationen<br />

spezifiziert, die e<strong>in</strong>e konkrete Messung des theoretischen Fortschritts auf e<strong>in</strong>er<br />

Ord<strong>in</strong>alskala erlauben.<br />

Es wird aufgezeigt, dass sich das strukturalistische Fortschrittskonzept im H<strong>in</strong>blick auf den empirischen<br />

Gehalt (Theoriepräzision <strong>und</strong> -Anwendungsbreite) <strong>und</strong> die empirische Bewährung von Theorien<br />

als anschlussfähig gegenüber konventionellen Fortschrittsverständnissen erweist. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

lässt sich e<strong>in</strong> Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts nachweisen, der es<br />

erlaubt, e<strong>in</strong>e größere Vielfalt von Ursachen <strong>und</strong> Arten theoretischen Fortschritts zu identifizieren,<br />

als es im konventionellen Theorienkonzept des „statement view“ möglich ist. Schließlich wird die<br />

konkrete Anwendung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts anhand der Rekonstruktion e<strong>in</strong>er<br />

aktivitätsanalytischen Theorieentwicklung skizziert, mit der <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre auf ökologische<br />

Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung reagiert wurde.<br />

203


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 2<br />

1 Wissenschaftliche Problemstellung<br />

E<strong>in</strong>erseits stellt Fortschritt <strong>in</strong> den Wissenschaften e<strong>in</strong>en der zentralen normativen Begriffe dar. Er<br />

besitzt normativen Charakter, weil er „gute“, „weiter zu verfolgende“ Forschung gegenüber anderer,<br />

als rückschrittlich stigmatisierter Forschung auszeichnet. Zugleich handelt es sich um e<strong>in</strong>en<br />

Begriff von zentraler Qualität, weil angestrebter oder realisierter Fortschritt die Legitimationsbasis<br />

für die Dignität wissenschaftlicher Arbeit bildet – angefangen vom Selbstverständnis e<strong>in</strong>es Wissenschaftlers<br />

über die Reputation <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Scientific Community bis h<strong>in</strong> zur Vergabe von Forschungsmitteln<br />

(„Drittmitteln“) als Zeichen gesellschaftlicher Akzeptanz.<br />

Andererseits handelt es sich bei Fortschritt um e<strong>in</strong>en der „schillerndsten“ Begriffe des real existierenden<br />

Wissenschaftsbetriebs. Trotz – oder vielleicht sogar wegen – se<strong>in</strong>er zentralen legitimatorischen<br />

Bedeutung existiert ke<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dliche Vorstellung darüber, welche <strong>in</strong>haltlichen Merkmale<br />

den Fortschrittsbegriff determ<strong>in</strong>ieren. Entweder wird er überhaupt nicht klar def<strong>in</strong>iert, sondern lediglich<br />

als „leicht handhabbares“, da <strong>in</strong>haltlich unbestimmtes Etikett für solche Forschungsarbeiten<br />

verwendet, die – aus welchem Gr<strong>und</strong> auch immer – positiv ausgezeichnet werden sollen. Oder es<br />

liegen zwar präzise Vorstellungen über den Inhalt des Fortschrittsbegriffs vor. Jedoch besitzen sie<br />

partikulären Charakter, weil sie nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er speziellen Forschergeme<strong>in</strong>schaft, d.h. unter den<br />

Anhängern e<strong>in</strong>er „Forschungs-Schule“ oder e<strong>in</strong>es „Forschungs-Paradigmas“, anerkannt werden.<br />

Letztes lässt sich aus wissenschaftssoziologischer Perspektive leicht nachvollziehen, hilft es doch,<br />

Forschungsarbeiten, die im Rahmen desselben Paradigmas erfolgen, e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Standard<br />

zu „unterwerfen“ <strong>und</strong> so ihre <strong>in</strong>terne Kohärenz zu fördern. Zugleich lassen sich Forschungsarbeiten<br />

gegenüber externer Kritik aus den Perspektiven anderer Paradigmen immunisieren. Es braucht lediglich<br />

darauf h<strong>in</strong>gewiesen zu werden, dass die externen Beurteilungsmaßstäbe für Fortschrittlichkeit<br />

auf die „<strong>in</strong>terne“ Forschungsrationalität des „angegriffenen“ Paradigmas nicht anzuwenden seien.<br />

Auf diese Weise lassen sich partikuläre, paradigmenspezifische Fortschrittsvorstellungen – je<br />

nach Sichtweise – entweder ge- oder auch missbrauchen, um e<strong>in</strong>en pluralistischen bzw. an Beliebigkeit<br />

grenzenden Wissenschaftsbetrieb zu rechtfertigen.<br />

In diesem Spannungsfeld zwischen Fortschritt als Legitimationsbasis für die Dignität wissenschaftlicher<br />

Arbeit e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> als schillerndem Begriff ohne <strong>in</strong>haltliche Verb<strong>in</strong>dlichkeit andererseits<br />

ist der vorliegende Beitrag positioniert. Er stellt sich e<strong>in</strong>em zweifachen wissenschaftlichen Problem.<br />

Erstens wird e<strong>in</strong> Konzept zur präzisen <strong>in</strong>haltlichen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs entfaltet,<br />

das auf dem strukturalistischen Theorienkonzept beruht. Zweitens wird e<strong>in</strong>e Operationalisierung<br />

dieses Fortschrittskonzepts vorgestellt, die es gestattet, die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten, auf andere Theorien bezogenen Weise zu messen. Es werden also sowohl e<strong>in</strong> „strukturalistisch<br />

<strong>in</strong>spiriertes“ Fortschrittskonzept als auch e<strong>in</strong> darauf bezogener Ansatz zur „relationalen“<br />

oder „relativen“ <strong>Fortschrittsmessung</strong> zur Diskussion gestellt.<br />

2 Rahmenlegung<br />

In der hier gebotenen Kürze ist es nicht möglich, den State-of-the-art zum Erkenntnisgegenstand<br />

„theoretischer Fortschritt“ aufzuarbeiten. Weder die vielfältigen Beiträge zur Explikation von wissenschaftlichem<br />

Fortschritt noch die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was unter e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Theorie zu verstehen sei, werden näher beleuchtet. Stattdessen wird von e<strong>in</strong>igen<br />

„mutigen“ Prämissen ausgegangen, die dem hier präsentierten Fortschrittskonzept <strong>und</strong> der darauf<br />

aufbauenden <strong>Fortschrittsmessung</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen. Über die Berechtigung dieser Prämissen lässt<br />

sich trefflich streiten. Dies wird vom Verfasser ausdrücklich anerkannt. E<strong>in</strong>e „prämissenfreie“ Argumentation<br />

ersche<strong>in</strong>t ihm aber denkunmöglich. Daher möchte er „ermuntern“, sich auf die nach-<br />

204


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 3<br />

stehend angeführten Prämissen versuchsweise e<strong>in</strong>zulassen, den daraus abgeleiteten E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong><br />

die Forschrittsthematik „provisorisch“ zu folgen <strong>und</strong> über die Ergebnisse schließlich kritisch zu urteilen.<br />

Wen es dazu drängt, der mag e<strong>in</strong> alternatives Prämissenensemble aufstellen <strong>und</strong> daraus zu<br />

anderen Vorschlägen für <strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong>en gelangen. E<strong>in</strong>e Debatte<br />

über derart unterschiedliche Fortschrittsvorstellungen kann die wissenschaftliche Diskussion nur<br />

bereichern.<br />

Erstens wird von vier Anforderungen ausgegangen, die von e<strong>in</strong>em Fortschrittskonzept erfüllt werden<br />

sollen. Sie erfüllen den Zweck, die Anschlussfähigkeit zu „weit verbreiteten“, oftmals nur <strong>in</strong>tuitiv<br />

ausgearbeiteten Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis- <strong>und</strong> wissenschaftstheoretischen<br />

Fachliteratur zu wahren (Anschlussfähigkeitspostulat). Im E<strong>in</strong>zelnen soll e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept <strong>in</strong><br />

der Lage se<strong>in</strong>, für jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien festzustellen, ob e<strong>in</strong>e von ihnen:<br />

e<strong>in</strong>en größeren empirischen Gehalt, der sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er größeren Anwendungsbreite (oder Allgeme<strong>in</strong>heit) oder<br />

e<strong>in</strong>er größere Präzision (oder Bestimmtheit oder Erklärungskraft) manifestiert, oder<br />

e<strong>in</strong>e größere empirische Bewährung (oder Evidenz)<br />

als die jeweils andere Theorie (Referenztheorie) besitzt.<br />

Zweitens soll das Fortschrittskonzept e<strong>in</strong>en Überschussgehalt besitzen: Es soll gestatten, die Fortschrittlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Theorie im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie differenzierter zu beurteilen, als<br />

es mittels der oben angeführten, weith<strong>in</strong> etablierten Fortschrittsvorstellungen möglich ist (Differenzierungspostulat).<br />

Drittens soll sich das Fortschrittskonzept von lediglich <strong>in</strong>tuitiv ausgearbeiteten Fortschrittsvorstellungen<br />

dadurch abheben, dass es e<strong>in</strong>e präzise Messung der Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug<br />

auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie zulässt (Messbarkeitspostulat). Hierbei wird der Messbegriff e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em möglichst weit gefassten Verständnis verwendet, um ke<strong>in</strong>e unnötigen Vorabfestlegungen<br />

zu treffen, andererseits jedoch so weit e<strong>in</strong>geengt, dass er noch präzise Messergebnisse zulässt. Die<br />

beiden voranstehenden Charakterisierungen eröffnen e<strong>in</strong>en Gestaltungsspielraum, weil ke<strong>in</strong>eswegs<br />

„objektiv“ festliegt, welche Vorabfestlegungen „unnötig“ s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche Messergebnisse als „präzise“<br />

anerkannt werden. Zur Verdeutlichung des Gestaltungsspielraums sei darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

dass die konventionelle Vorstellung, bei e<strong>in</strong>er Messung handele es sich um e<strong>in</strong>e Abbildung des zu<br />

messenden Sachverhalts auf die Menge der reellen Zahlen, zwar zweifellos e<strong>in</strong> präzises Messverständnis<br />

darstellt. Aber die E<strong>in</strong>schränkung auf reelle Zahlen fällt unnötig eng aus. Denn vergleichende<br />

<strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong> präzise Messungen lassen sich beispielsweise auch auf mengentheoretischer<br />

Basis anhand von Inklusionsbeziehungen durchführen: E<strong>in</strong> Maßstab für die relative Mächtigkeit<br />

von Mengen ist aus dieser Perspektive der Sachverhalt, ob e<strong>in</strong>e Menge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Menge als<br />

deren – echte oder unechte – Teilmenge enthalten ist. Dieser Sachverhalt des Enthaltense<strong>in</strong>s von<br />

Mengen lässt sich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Ja“- oder „Ne<strong>in</strong>“-Entscheidung präzise prüfen („messen“), ohne<br />

sich von vornhere<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e Messung als Abbildung e<strong>in</strong>es Sachverhalts auf – z.B. reelle – Zahlen<br />

festzulegen.<br />

Schließlich – <strong>und</strong> viertens – wird davon ausgegangen, dass sich alle Theorien, die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />

Fortschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander verglichen werden sollen, aus der Perspektive strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts rekonstruieren lassen. Prima facie stellt diese strukturalistische Rekonstruktionsprämisse<br />

e<strong>in</strong>e gravierende E<strong>in</strong>schränkung dar. Denn zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den Wirtschaftswissenschaften –<br />

<strong>und</strong> hier vor allem <strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik – fristet das strukturalistische<br />

Theorienkonzept e<strong>in</strong> „Schattendase<strong>in</strong>“. Dies wird oftmals auf die angeblich naturwissenschaftliche<br />

„Schlagseite“ dieses Theorienkonzepts <strong>und</strong> auf se<strong>in</strong>e „abstoßend“ rigide Formalisierung zurückgeführt.<br />

Deswegen könnte der E<strong>in</strong>wand erhoben werden, auf dieser Basis lasse sich nur e<strong>in</strong><br />

„exotisches“ Fortschrittskonzept errichten, das sich zwar durch se<strong>in</strong>e „<strong>in</strong>nere“ Str<strong>in</strong>genz auszeichne,<br />

aber ke<strong>in</strong>e „äußere“, praktische Relevanz für die real existierenden Wirtschaftswissenschaften be-<br />

205


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 4<br />

säße. Bei genauerem H<strong>in</strong>sehen zeigt sich jedoch, dass e<strong>in</strong> solcher E<strong>in</strong>wand dem strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts aus m<strong>in</strong>destens drei Gründen nicht gerecht wird.<br />

Erstens stellt das strukturalistische Theorienkonzept ke<strong>in</strong> spezielles, auf e<strong>in</strong>e bestimmte Domäne<br />

zugeschnittenes Theorieverständnis dar. Insbesondere führt die Vorhaltung, es handele sich um e<strong>in</strong><br />

speziell naturwissenschaftliches, „szientistisches“ <strong>und</strong> „somit“ für die Wirtschaftswissenschaften<br />

ungeeignetes Theorienkonzept, <strong>in</strong> die Irre. Stattdessen handelt es sich um e<strong>in</strong> meta-theoretisches<br />

Rahmenkonzept, das sich gr<strong>und</strong>sätzlich auf alle realwissenschaftlichen Theorien anwenden lässt.<br />

Zweitens gibt das strukturalistische Theorienkonzept nur e<strong>in</strong>e wohldef<strong>in</strong>ierte Struktur für die Formulierung<br />

von Theorien vor, ohne e<strong>in</strong>e bestimmte Art der Formalisierung vorzuschreiben. Vielmehr<br />

lässt dieses Theorienkonzept e<strong>in</strong> weites Spektrum von Formalisierungen zu. Es reicht von e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>formellen Mengentheorie, die vom „engeren Kreis“ der Vertreter strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

wie BALZER, MOULINES, SNEED <strong>und</strong> STEGMÜLLER sogar bevorzugt wird, über die konventionelle<br />

Prädikatenlogik bis h<strong>in</strong> zu aufwändigeren Formen der sortierten oder algebraisch f<strong>und</strong>ierten<br />

Prädikatenlogik. Ausgeschlossen bleiben lediglich solche – z.B. wirtschaftswissenschaftliche<br />

– Theorien, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich jeder Formalisierung entziehen. Der Verfasser vertritt an dieser<br />

Stelle die abermals „mutige“, aber durch vielfältige Formalisierungsansätze gestützte These,<br />

dass sich alle empirisch gehaltvollen Theorien der Wirtschaftswissenschaften zum<strong>in</strong>dest so weit<br />

formalisieren lassen, wie es e<strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller mengentheoretischer Ansatz erfordert. Wer dies bestreitet,<br />

mag den Unmöglichkeitsbeweis der Formalisierung für e<strong>in</strong>e solche Theorie konkret erbr<strong>in</strong>gen.<br />

Drittens sagt das faktische Ausmaß, <strong>in</strong> dem wirtschaftswissenschaftliche Theorien mithilfe strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts ausformuliert wurden, nichts über deren strukturelle Rekonstruierbarkeit<br />

aus. Mangelnde Vertrautheit mit dem strukturalistischen Theorienkonzept, gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Abneigung gegenüber irgende<strong>in</strong>er Art von Formalisierung, das Festhalten an „e<strong>in</strong>gespielten“ Theorietraditionen<br />

<strong>und</strong> viele Gründe mehr mögen davon abhalten, wirtschaftswissenschaftliche Theorie<br />

im Rahmen strukturalistischen Theorienkonzepts zu rekonstruieren. Dies bleibt jedoch unerheblich<br />

dafür, ob sich e<strong>in</strong>e solche Theorie im Pr<strong>in</strong>zip auf strukturalistische Weise rekonstruieren lässt. Gegen<br />

diese pr<strong>in</strong>zipielle Rekonstruierbarkeit wurden bis heute noch ke<strong>in</strong>e stichhaltigen E<strong>in</strong>wände erhoben.<br />

Und diese pr<strong>in</strong>zipielle Rekonstruierbarkeit reicht aus, um e<strong>in</strong>en Vergleich der Fortschrittlichkeit<br />

wirtschaftswissenschaftlicher Theorien im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

leisten zu können.<br />

Um die Berechtigung der voranstehenden drei Argumentationsstränge zugunsten strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts zu belegen, wird abschließend e<strong>in</strong> knapper Überblick über exemplarische Anwendungen<br />

dieses Theorienkonzepts gewährt. Er zeigt, dass sich e<strong>in</strong>e breite Palette realwissenschaftlicher<br />

Theorien auf strukturalistische Weise rekonstruieren lässt. 1)<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept fand zwar zunächst vorwiegend <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />

Verbreitung: z.B. für die klassische Partikelmechanik, die Thermodynamik, die Quantenelektrodynamik<br />

<strong>und</strong> die Genetik. Dies hat außerhalb der Naturwissenschaften mitunter zu dem oben bereits<br />

angesprochenen Vorurteil beigetragen, das strukturalistische Theorienkonzept eigne sich allenfalls<br />

für „szientistisch“ geprägte Theorieverständnisse, besitze jedoch <strong>in</strong> den „andersartigen“ <strong>und</strong> „eigengesetztlichen“<br />

Kulturwissenschaften ke<strong>in</strong>e Relevanz. Dieses lang gehegte lässt sich jedoch nicht<br />

mehr ernsthaft aufrecht erhalten. Denn das strukturalistische Theorienkonzept hat <strong>in</strong> jüngerer Zeit<br />

auch verstärkte Aufmerksamkeit <strong>in</strong> den Kulturwissenschaften auf sich gezogen. Dazu gehören vor<br />

allem die Beiträge zur Psychologie von WESTERMANN <strong>und</strong> WESTMEYER 2) , zur Sozialpsychologie<br />

1) Vgl. zu e<strong>in</strong>er ausführlicheren Übersicht über Anwendungen des strukturalistischen Theorienkonzepts im Bereich<br />

der Realwissenschaften BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 236 f. u. 256 ff.<br />

2) Vgl. WESTERMANN (1987), S. 14 ff., 39 ff. u. 101 ff.; WESTMEYER (1992), S. 4 u. 8 ff.<br />

206


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 5<br />

von MANHART 1) , zur Politikwissenschaft von DREIER 2) sowie zur soziologisch <strong>in</strong>spirierten Systemtheorie<br />

von PATIG 3) .<br />

Speziell im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich 4) wurden bislang vor allem auf der Seite der<br />

Volkswirtschaftslehre mehrere mikro- <strong>und</strong> makroökonomische Theorien 5) aus der Perspektive des<br />

strukturalistischen Theorienkonzepts rekonstruiert. Auf betriebswirtschaftlicher Seite hat <strong>in</strong>sbesondere<br />

SCHNEIDER 6) das strukturalistische Theorienkonzept aus dem Blickw<strong>in</strong>kel der Allgeme<strong>in</strong>en Betriebswirtschaftslehre<br />

7) rezipiert. Daneben stammen aus den Speziellen Betriebswirtschaftslehren<br />

nur vere<strong>in</strong>zelte Beiträge zum strukturalistischen Theorienkonzept, wie etwa aus dem betrieblichen<br />

Rechnungswesen 8) <strong>und</strong> – noch am stärksten vertreten – auf dem Gebiet der betriebswirtschaftlichen<br />

Produktionstheorie 9) . Im Bereich der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat vor allem PATIG 10) e<strong>in</strong>en beachtenswerten<br />

Beitrag zur Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Theoriennetzes der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik präsentiert.<br />

Die <strong>in</strong>haltliche Verschiedenartigkeit der voranstehend aufgelisteten Theorien belegt die Fruchtbarkeit<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts als e<strong>in</strong> meta-theoretisches Rahmenkonzept. Dem Verfasser<br />

ist ke<strong>in</strong> alternatives Rahmenkonzept für die (Re-) Konstruktion realwissenschaftlicher Theorien<br />

bekannt, das e<strong>in</strong>e ähnliche Anwendungsbreite aufweist <strong>und</strong> zugleich ähnlich präzise metatheoretische<br />

Erkenntnisse – wie im hier vorliegenden Beitrag über die relative Fortschrittlichkeit<br />

von Theorien – gestattet. Daher sieht der Verfasser plausible Gründe auf se<strong>in</strong>er Seite, die es gerechtfertigt<br />

ersche<strong>in</strong>en lassen, die anschließende Diskussion e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

darauf aufbauenden <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong> das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>zubetten.<br />

1) Vgl. MANHART (1994), S. 113 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 119 ff.; MANHART (1995), S. 102 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 111 ff., 122<br />

ff., 148 f., 190 ff. u. 269 ff.; MANHART (1998), S. 302 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 307 ff. u. 314 ff.<br />

2) Vgl. DREIER (1993), S. 279 ff.; DREIER (2000), S. 195 ff.<br />

3) Vgl. PATIG (1999), S. 58 ff. PATIG (2001), S. 45 ff. (jeweils Rekonstruktionen der allgeme<strong>in</strong>en Systemtheorie von<br />

LUHMANN). Dadurch begegnet PATIG konstruktiv der – früheren – Kritik <strong>in</strong> MANHART (1995), S. 112 f., es sei erstaunlich,<br />

dass das strukturalistische Theorienkonzept zwar <strong>in</strong> der Psychologie auf fruchtbaren Boden gefallen sei,<br />

seitens der Soziologie jedoch die „Strukturalistische Wende“ nicht zur Kenntnis genommen worden sei.<br />

4) Vgl. dazu auch den Überblick über Anwendungen des strukturalistischen Theorienkonzepts auf wirtschaftswissenschaftliche<br />

Theorien bei BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 256 ff.<br />

5) Vgl. DIEDERICH (1981), S. 124 ff.; KÖTTER (1982), S. 108 ff.; WEBER (1983), S. 617 ff.; HASLINGER (1983), S. 115<br />

ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 376 ff. u. 432 ff.; HAMMINGA/BALZER (1986), S. 31 ff.; JANSSEN (1989), S. 165 ff.;<br />

BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 260 ff.<br />

6) Vgl. SCHNEIDER (1994), S. 54 ff. u. 188.<br />

7) Vgl. zu weiteren, seltenen Ausnahmen, die das strukturalistische Theorienkonzept aus dem Blickw<strong>in</strong>kel der Allgeme<strong>in</strong>en<br />

Betriebswirtschaftslehre wahrgenommen, aber bislang ke<strong>in</strong>e nennenswerten „Nachwirkungen“ gezeigt<br />

haben, MATTESSICH (1979), S. 258 ff.; KÜTTNER (1983), S. 348 ff.; KÖTTER (1983), S. 324 ff.; KIRSCH (1984), S.<br />

1072 ff.; BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 90 ff. (<strong>in</strong> Bezug auf SCHNEIDER).<br />

8) Vgl. BALZER/MATTESSICH (2000), S. 103 ff.<br />

9) Vgl. KÖTTER (1983), S. 333 ff.; WEBER (1983), S. 617 ff.; BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 260; ZELEWSKI<br />

(1993), <strong>in</strong>sbesondere S. 225 ff.; STEVEN/BEHRENS (1998), S. 474 ff. (kritisch); ZELEWSKI (2004), S. 16 ff.<br />

10) Vgl. PATIG (2001), S. 53 ff.<br />

207


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 6<br />

3 Theoretischer Fortschritt<br />

im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

3.1 E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das strukturalistische Theorienkonzept<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept – oder synonym: der „non statement view“ – geht auf Arbeiten<br />

von SNEED zur Struktur physikalischer Theorien zurück. 1) Es wurde vor allem von<br />

STEGMÜLLER, BALZER <strong>und</strong> MOULINES <strong>in</strong>haltlich fortentwickelt, 2) die daher auch zum „engeren<br />

Kreis“ der Vertreter des strukturalistischen Theorienkonzepts gerechnet werden.<br />

In der hier gebotenen Kürze kann die <strong>in</strong>haltliche Fülle des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal ansatzweise entfaltet werden. Stattdessen beschränken sich die anschließenden<br />

Erläuterungen auf e<strong>in</strong>e grobe Skizze der typischen Struktur e<strong>in</strong>er Theorie, welche die Gestaltungsvorgaben<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts befolgt. Auf Eigentümlichkeiten dieses Theorienkonzepts<br />

wird nur <strong>in</strong> dem Ausmaß e<strong>in</strong>gegangen, wie es zur späteren Entfaltung e<strong>in</strong>es „strukturalistisch<br />

<strong>in</strong>spirierten“ Fortschrittskonzepts zweckdienlich ersche<strong>in</strong>t. Außerdem wird im Interesse der<br />

Anschlussfähigkeit an frühere Publikationen des Verfassers <strong>und</strong> Veröffentlichungen Dritter auf e<strong>in</strong>e<br />

relativ e<strong>in</strong>fache „Standardvariante“ des strukturalistischen Theorienkonzepts zurückgegriffen, die<br />

allen nachfolgenden Erörterungen zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Die Besonderheiten des strukturalistischen Theorienkonzepts lassen sich am e<strong>in</strong>fachsten durch e<strong>in</strong>en<br />

„kontrastierenden“ Argumentationsansatz herausarbeiten. Als Kontrastspender dient das konventionelle<br />

Theorienkonzept. Es wird oftmals auch als wissenschaftlicher „statement view“ oder<br />

„received view“ bezeichnet. Se<strong>in</strong>e Konzeptualisierung von Theorien trifft auf den größten Teil der<br />

wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu. Das gilt sowohl für die Betriebs- <strong>und</strong> die Volkswirtschaftslehre<br />

als auch für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik. Aus der Perspektive des konventionellen Theorienkonzepts<br />

werden realwissenschaftliche Theorien als deduktiv abgeschlossene Formelsysteme<br />

mit m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er nicht-trivialen nomischen Hypothese (gesetzesartigen Aussage) verstanden.<br />

Der „statement view“ behandelt das Formelsystem e<strong>in</strong>er Theorie als schlichte Ansammlung von<br />

Formeln („Aussagen“, „statements“), die nur äußerst schwach strukturiert ist. Die e<strong>in</strong>zige strukturelle<br />

Eigenschaft, die diese Formelansammlung unmittelbar aufweist, besteht dar<strong>in</strong>, dass alle Formeln<br />

so behandelt werden, als wären sie mittels e<strong>in</strong>es logischen „<strong>und</strong>“ mite<strong>in</strong>ander verknüpft.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus können zwei weitere Aspekte zur Struktur e<strong>in</strong>er konventionell formulierten Theorie<br />

gerechnet werden. Erstens handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Theorieexplikat <strong>und</strong><br />

Theorieimplikat. Das Theorieexplikat umfasst alle Formeln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorieformulierung explizit<br />

enthalten s<strong>in</strong>d. Das Theorieimplikat besteht h<strong>in</strong>gegen aus allen Formeln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorieformulierung<br />

nicht explizit enthalten s<strong>in</strong>d, die aber aus den explizit angeführten Formeln mittels<br />

Deduktions- oder Inferenzregeln abgeleitet werden können. Zweitens lässt sich zur Theoriestruktur<br />

auch die Gesamtheit aller Inferenzregeln rechnen, die für die Ableitung von Formeln als zulässig<br />

erachtet werden. Diese „Inferenzkomponente“ wird im konventionellen Theorienkonzept zwar zumeist<br />

nicht als Bestandteil e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Theorie explizit angegeben, sondern für e<strong>in</strong>e große Anzahl<br />

von Theorien als e<strong>in</strong>heitlicher „deduktiver Theorieh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>“ stillschweigend vorausgesetzt.<br />

Se<strong>in</strong>e Relevanz für die Theorieformulierung wird erst dann offensichtlich, wenn die Zulässigkeit<br />

1) Die Basisarbeit SNEED (1979) erschien <strong>in</strong> ihrer ersten Auflage im Jahr 1971. Sie bildet das historisch prägende<br />

F<strong>und</strong>ament des strukturalistischen Theorienkonzepts. Die wesentlichen Theorieformulierungen f<strong>in</strong>den sich dort auf<br />

S. 165 ff. u. 259 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 171 u. 183 f. Vgl. auch SNEED (1983), S. 345 u. 350 ff.<br />

2) Vgl. STEGMÜLLER (1973), S. 12 ff. u. 120 ff.; STEGMÜLLER (1979), S. 3 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 25 ff. u. 90 ff.; STEG-<br />

MÜLLER (1980), <strong>in</strong>sbesondere S. 32 ff., 56 ff. u. 137 ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 2 ff., 46 ff. u. 98 ff.; BALZER/<br />

MOULINES/SNEED (1987), S. XX ff. (<strong>in</strong>formaler Überblick) u. 15 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 36 ff. u. 79 ff.; BALZER/MOU-<br />

LINES (1996) ; BALZER/SNEED/MOULINES (2000); MOULINES (2002), S. 2 ff.; BALZER (2002), S. 53 ff.<br />

208


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 7<br />

e<strong>in</strong>zelner Inferenzregeln – wie etwa das „tertium non datur“-Pr<strong>in</strong>zip <strong>und</strong> darauf aufbauende <strong>in</strong>direkte<br />

Schlussweisen seitens der <strong>in</strong>tuitionistischen Mathematik – <strong>in</strong> Zweifel gezogen wird. Da <strong>in</strong> diesem<br />

Beitrag alternative Vorstellungen über die Zulässigkeit von Inferenzregeln ke<strong>in</strong>e Rolle spielen, wird<br />

auf die Inferenzkomponente e<strong>in</strong>er Theorie nicht weiter e<strong>in</strong>gegangen.<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept hebt sich vom konventionellen Theorienkonzept dadurch ab,<br />

dass es e<strong>in</strong>e weitaus reichhaltigere Strukturierung für „wohlgeformte“ Theorien vorschreibt. Daher<br />

rührt die Bezeichnung strukturalistisches Theorienkonzept. Darüber h<strong>in</strong>aus betrachtet das strukturalistische<br />

Theorienkonzept e<strong>in</strong>e Theorie gr<strong>und</strong>sätzlich nicht als System aus Formeln als kle<strong>in</strong>sten<br />

wahrheitsfähigen <strong>und</strong> somit überprüf- <strong>und</strong> kritisierbaren Theoriekonstituenten. Diese Abgrenzung<br />

vom konventionellen, auf Formelsysteme bezogenen Theorienkonzept hat dazu veranlasst, das<br />

strukturalistische Theorienkonzept auch als „non statement view“ zu bezeichnen. Stattdessen steht<br />

im Vordergr<strong>und</strong> der strukturalistischen Theorieformulierung e<strong>in</strong>e formale Struktur, die den <strong>in</strong>neren<br />

Theoriezusammenhang prägen. Je nachdem, welche Formalisierungspräferenzen gehegt werden,<br />

kann diese Struktur z.B. primär mit Ausdrucksmitteln der <strong>in</strong>formellen Mengentheorie oder aber vorrangig<br />

mit Ausdrucksmitteln der formalen Logik, <strong>in</strong>sbesondere Prädikatenlogik ausgefüllt werden.<br />

Die allgeme<strong>in</strong>e Struktur für wohlgeformte Theorien gilt aber unabhängig von diesen Formalisierungspräferenzen<br />

auf der Ebene der formalsprachlichen Ausdrucksweise. Diese allgeme<strong>in</strong>e Theoriestruktur<br />

wird im Folgenden skizziert.<br />

Zunächst wird im strukturalistischen Theorienkonzept die M<strong>in</strong>imalstruktur des konventionellen<br />

Theorienkonzepts nicht zur Disposition gestellt. Die konjunktive Formelverknüpfung, die Disjunktion<br />

zwischen Theorieexplikat <strong>und</strong> Theorieimplikat sowie die Dreiteilung zwischen Axiomen, Theoremen<br />

<strong>und</strong> Inferenzregeln f<strong>in</strong>den sich im strukturalistischen Theorienkonzept unverändert wieder.<br />

Daher führt das strukturalistische Theorienkonzept h<strong>in</strong>sichtlich der Theoreme <strong>und</strong> Inferenzregeln<br />

e<strong>in</strong>er Theorie zu ke<strong>in</strong>en neuartigen E<strong>in</strong>sichten. Folglich lässt sich der „non statement view“ auch so<br />

auffassen, dass er „nur“ für die Axiome e<strong>in</strong>er konventionell formulierten Theorie e<strong>in</strong>e neuartige <strong>und</strong><br />

tiefgründige Strukturierung anbietet. Von dieser „axiomatischen“ Variante des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts wird im Folgenden ausgegangen.<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept schreibt für e<strong>in</strong>e wohlgeformte Theorie T e<strong>in</strong>e konzeptspezifische<br />

Theoriestruktur vor, die über die zuvor erwähnte M<strong>in</strong>imalstruktur weit h<strong>in</strong>ausreicht. Diese<br />

Struktur besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mehrfachen, sowohl horizontalen als auch vertikalen Ausdifferenzierung<br />

der Theoriestruktur <strong>in</strong> charakteristische Theoriekomponenten.<br />

Zunächst wird die Theorie T auf der obersten Ebene durch das Tupel T = <strong>in</strong> ihren Theoriekern<br />

K T <strong>und</strong> ihren <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T horizontal gegliedert. Auf der zweiten Ebene,<br />

die der ersten Ebene hierarchisch untergeordnet ist, wird der Theoriekern K T <strong>in</strong> das Tupel<br />

K T = mit vier charakteristischen Mengen ausdifferenziert: 1)<br />

• die Menge M p(T) der potenziellen Modelle der Theorie T,<br />

• die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle der Theorie T,<br />

1) Um Missverständnissen vorzubeugen, ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass der nachfolgend verwendete, für das strukturalistische<br />

Theorienkonzept typische Modellbegriff nichts mit dem wirtschaftswissenschaftlich vertrauten Modellbegriff<br />

geme<strong>in</strong>sam hat. Der Modellbegriff, der <strong>in</strong> den Wirtschaftswissenschaften vorherrscht, bezieht sich auf die<br />

Repräsentation e<strong>in</strong>es Realitätsausschnitts, verweist also auf e<strong>in</strong>e außersprachliche Realität. Stattdessen nimmt das<br />

strukturalistische Theorienkonzept auf den semantischen Modellbegriff der formalen Logik Bezug. Dabei um e<strong>in</strong><br />

re<strong>in</strong> sprachlich def<strong>in</strong>iertes, „<strong>in</strong>nersprachliches“ Konstrukt aus dem Bereich der formalen Semantik. E<strong>in</strong> Modell <strong>in</strong><br />

diesem speziellen S<strong>in</strong>ne der formalen Semantik ist e<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt (z.B. e<strong>in</strong>e algebraische Struktur)<br />

A, das e<strong>in</strong>er formalsprachlichen Formel F durch e<strong>in</strong>e jeweils gegebene Interpretation I zugeordnet wird <strong>und</strong><br />

dazu führt, dass die Formel F nach Anwendung der Termauswertungs- <strong>und</strong> Interpretationsfunktionen, die im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er formalen Semantik spezifiziert s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e gültige Formel darstellt.<br />

209


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 8<br />

• die Menge M S(T) der Modelle der Theorie T <strong>und</strong><br />

• die Menge C S(T) der Restriktionen der Theorie T.<br />

Mit M p(T) wird die Menge aller potenziellen Modelle m p(T) der Theorie T bezeichnet. E<strong>in</strong> potenzielles<br />

Theoriemodell ist e<strong>in</strong> Term<strong>in</strong>us technicus der formalen Semantik, der <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Verwandtschaft<br />

mit dem betriebswirtschaftlichen Modellbegriff steht. Vielmehr wird unter dem potenziellen Modell<br />

m p(T) e<strong>in</strong>er Theorie T e<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt verstanden, das mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparats dieser Theorie formuliert worden ist. Die Menge M p(T) der potenziellen Modelle<br />

umfasst alle Formelsysteme, die ausschließlich mittels der formalen Sprache der Theorie T formuliert<br />

werden können <strong>und</strong> als „s<strong>in</strong>nvolle“ formalsprachliche Konstrukte gelten. Dies gilt unabhängig<br />

davon, ob die Formelsysteme jeweils die gesetzesartigen Aussagen (nomischen Hypothesen) der<br />

Theorie T erfüllen oder nicht.<br />

In e<strong>in</strong>er groben Annäherung lässt sich die potenzielle Modellmenge M p(T) als e<strong>in</strong>e formalsprachliche<br />

Spezifikation des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T – oder kurz als term<strong>in</strong>ologische Basis<br />

dieser Theorie – auffassen. Denn die Spezifikation der potenziellen Modellmenge M p(T) umfasst<br />

zum<strong>in</strong>dest die Festlegung aller Ausdrücke (wie etwa Terme, Funktionen <strong>und</strong> Prädikate), aus denen<br />

zulässige Formeln gebildet werden können. H<strong>in</strong>zu kommen die syntaktischen Regeln zur Generierung<br />

zulässiger Formeln. Diese Syntaxregeln werden jedoch zumeist nicht <strong>in</strong> der potenziellen Modellmenge<br />

M p(T) explizit festgelegt, sondern aus e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en formalsprachlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>kalkül<br />

– wie etwa der Mengentheorie oder der Prädikatenlogik – übernommen <strong>und</strong> implizit als<br />

bekannt unterstellt. Darüber h<strong>in</strong>aus kann die Spezifikation auch noch zusätzliche Festlegungen umfassen,<br />

mittels derer sich die komb<strong>in</strong>atorisch möglichen Formeln auf sprachlich „s<strong>in</strong>nvolle“ Formeln<br />

e<strong>in</strong>schränken lassen. Im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts werden solche E<strong>in</strong>schränkungen<br />

der potenziellen Modellmenge M p(T) als Rahmenbed<strong>in</strong>gungen („framework conditions“)<br />

thematisiert. Sie ähneln den Integritätsregeln, die <strong>in</strong> anderen Wissenschaftsbereichen – wie<br />

etwa bei der Konstruktion von „Ontologien“ – aufgestellt werden, um Formelsysteme auf sprachlich<br />

„s<strong>in</strong>nvolle“ Formeln zu begrenzen <strong>und</strong> hierdurch die „Integrität“ der Formelsysteme zu wahren.<br />

Die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle m pp(T) der Theorie T geht aus der Menge ihrer<br />

potenziellen Modelle durch die Anwendung der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung hervor. Mittels dieser Elim<strong>in</strong>ierungsoperation<br />

werden formalsprachliche Konstrukte e<strong>in</strong>er besonderen Art – die so genannten<br />

T-theoretischen Konstrukte – aus den Formulierungen der Formelsysteme der potenziellen Modelle<br />

vollständig entfernt, weil sie zu erheblichen Komplikationen bei der Überprüfung des empirischen<br />

Geltungsanspruchs e<strong>in</strong>er realwissenschaftlichen Theorie führen können. Auf die Besonderheiten T-<br />

theoretischer Konstrukte wird später zurückgekommen. Sie werden jedoch zunächst zurückgestellt,<br />

um im Folgenden mit der Erläuterung der Komponenten e<strong>in</strong>er wohlgeformten strukturalistischen<br />

Theorie fortfahren zu können.<br />

Die Menge M S(T) ist die Menge aller Modelle m S(T) der Theorie T. E<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt,<br />

d.h. hier e<strong>in</strong> Formelsystem, wird als e<strong>in</strong> Modell der Theorie T bezeichnet, wenn es dieselbe formale<br />

Struktur S(T) wie diese Theorie besitzt. E<strong>in</strong> Modell der Theorie T läst sich daher als e<strong>in</strong>e „Instanziierung“<br />

dieser Theorie auffassen, die exakt die formale Struktur S(T) dieser Theorie aufweist. Die<br />

formale Struktur S(T) e<strong>in</strong>er Theorie T wird ihrerseits durch zwei Komponenten def<strong>in</strong>iert: e<strong>in</strong>erseits<br />

ihren term<strong>in</strong>ologischen Apparat <strong>und</strong> andererseits ihre nomischen Hypothesen. Folglich liegt e<strong>in</strong><br />

Modell der Theorie T genau dann vor, wenn es ausschließlich den term<strong>in</strong>ologischen Apparat dieser<br />

Theorie benutzt <strong>und</strong> zugleich alle ihre gesetzesartigen Aussagen erfüllt. E<strong>in</strong> Modell der Theorie T<br />

geht daher aus e<strong>in</strong>em ihrer potenziellen Modelle durch Erfüllung aller ihrer nomischen Hypothesen<br />

hervor. Folglich muss die Menge M S(T) aller Modelle der Theorie T stets e<strong>in</strong>e Teilmenge der Menge<br />

derselben Theorie darstellen: M S(T) ⊆ M p(T) .<br />

Schließlich stellt die Restriktionenmenge C S(T) e<strong>in</strong>e Besonderheit des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

dar, die erst bei komplexen Theorieanwendungen Bedeutung erlangt. Sie ist <strong>in</strong> konventio-<br />

210


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 9<br />

nellen Theorieformulierungen des „statement view“ unbekannt <strong>und</strong> besitzt ke<strong>in</strong>en Bezug zu den<br />

äquivoken „Restriktionen“ aus entscheidungstheoretischen Modellierungen. Statt dessen handelt es<br />

sich bei den strukturalistischen Restriktionen um Anforderungen sui generis, die von mehreren potenziellen<br />

Modellen derselben Theorie geme<strong>in</strong>sam erfüllt werden müssen. Daher gilt für die<br />

Restriktionenmenge mithilfe des Potenzmengenoperators pot 1) + stets: C S(T) ⊆ pot + (M p(T) ). Die strukturalistischen<br />

Restriktionen besitzen die Qualität von Kohärenzbed<strong>in</strong>gungen, die zwischen mehreren<br />

Anwendungen derselben Theorie T gelten. Damit gehen diese Restriktionen <strong>in</strong> epistemologischer<br />

H<strong>in</strong>sicht über die „normalen“ nomischen Hypothesen h<strong>in</strong>aus, die nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Modells der<br />

Theorie T erfüllt se<strong>in</strong> müssen.<br />

Beispielsweise spielen strukturalistische Restriktionen e<strong>in</strong>e Rolle, wenn dieselbe produktionswirtschaftliche<br />

Theorie auf unterschiedliche Stufen e<strong>in</strong>es mehrstufigen Produktionssystems angewendet<br />

wird. Es liegen dann mehrere Theorieanwendungen vor, die durch Mengenkont<strong>in</strong>uitätsbed<strong>in</strong>gungen<br />

als Restriktionen strukturalistischer Art mite<strong>in</strong>ander verknüpft werden. Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Theorien erweisen sich jedoch aus der Perspektive des „non statement view“ als so<br />

e<strong>in</strong>fach strukturiert, dass <strong>in</strong> ihnen ke<strong>in</strong>e Restriktionen der zuvor skizzierten Art wirksam werden.<br />

Daher kann im Folgenden der Übersichtlichkeit halber von der vere<strong>in</strong>fachenden Annahme<br />

C S(T) = pot + (M p(T) ) ausgegangen werden.<br />

Nach der Ausdifferenzierung des Theoriekerns K T ist der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T der<br />

Theorie T festzulegen. Dies kann e<strong>in</strong>erseits durch spezielle Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />

geschehen, die von den <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen erfüllt werden müssen. Andererseits<br />

kommt auch die Verwendung so genannter „paradigmatischer“ Beispiele <strong>in</strong> Betracht, die als e<strong>in</strong>e<br />

Art Kristallisationskeim wirken, als dessen – zunächst offene <strong>und</strong> bei Bedarf erweiterte – Obermenge<br />

der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich „festgelegt“ wird. Auf die Details dieser Vorgehensweisen<br />

kann <strong>in</strong> der hier gebotenen Kürze nicht näher e<strong>in</strong>gegangen werden. Dies ist im hier erörterten Kontext<br />

auch nicht nötig, weil die spezielle Art <strong>und</strong> Weise, wie der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich e<strong>in</strong>er<br />

Theorie konkret bestimmt wird, von Theorie zu Theorie variieren kann. Für die allgeme<strong>in</strong>e<br />

strukturalistische Theorieformulierung reicht es aus zu bestimmen, <strong>in</strong> welchem charakteristischen<br />

Zusammenhang der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T e<strong>in</strong>er Theorie T mit ihrem Theoriekern K T<br />

steht. Dieser Zusammenhang wird durch die Gesamtheit aller <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereiche I T<br />

festgelegt, die sich aus strukturalistischer Perspektive mit dem Theoriekern K T konsistent vere<strong>in</strong>baren<br />

lassen. Diese Gesamtheit ist die Menge D T der denkmöglichen Anwendungen d T der Theorie T.<br />

E<strong>in</strong>e denkmögliche Theorieanwendung d T ist stets mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der<br />

Theorie T, also mit formalsprachlichen Konstrukten aus ihrer potenziellen Modellmenge M p(T) formuliert.<br />

Zwecks komplikationsfreier empirischer Überprüfung der Theorie T müssen jedoch noch<br />

die T-theoretischen Konstrukte elim<strong>in</strong>iert werden (sofern solche überhaupt existieren). Daher darf<br />

e<strong>in</strong>e denkmögliche Anwendung der Theorie T nur mithilfe ihrer partiellen potenziellen Modelle aus<br />

der Menge M pp(T) formuliert se<strong>in</strong>. Darüber h<strong>in</strong>aus stellt e<strong>in</strong>e denkmögliche Theorieanwendung im<br />

Allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e nicht-leere Menge von partiellen potenziellen Modellen m pp(T) dar, d.h., sie kann<br />

sich über mehrere partielle potenzielle Modelle der Theorie T erstrecken. Die Menge D T aller<br />

denkmöglichen Theorieanwendungen ist somit die Potenzklasse der Menge M pp(T) aller partiellen<br />

potenziellen Theoriemodelle (ohne die leere Menge): D T = pot + (M pp(T) ). Da die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />

i T der Theorie T aus der Menge D T aller denkmöglichen Theorieanwendungen stammen<br />

müssen, gilt für jede Menge I T von <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Theorie T: I T ⊆ D T <strong>und</strong><br />

I T ⊆ pot + (M pp(T) ).<br />

Die Anforderung I T ⊆ pot + (M pp(T) ) an jeden <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T , der sich mit Kern<br />

K T e<strong>in</strong>er strukturalistisch wohlgeformten Theorie T konsistent vere<strong>in</strong>baren lässt, drückt – kurz ge-<br />

1) Der Zusatz „+“ zum Potenzmengenoperator pot + vereist darauf, dass durch die Operatoranwendung nur die nichtleeren<br />

Teilmengen der jeweils zugr<strong>und</strong>e gelegten Referenzmenge erzeugt werden.<br />

211


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 10<br />

fasst – aus, dass jede <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendung e<strong>in</strong>e nicht-leere Menge aus partiellen potenziellen<br />

Modellen der Theorie T darstellen muss. Dies bedeutet, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendung<br />

e<strong>in</strong>erseits mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T formuliert se<strong>in</strong> muss <strong>und</strong> andererseits<br />

ke<strong>in</strong>e T-theoretischen Konstrukte enthalten darf.<br />

Die erste Teilanforderung sche<strong>in</strong>t zunächst trivial zu se<strong>in</strong>. Sie lenkt aber die Aufmerksamkeit auf<br />

den Umstand, dass es zu den Gr<strong>und</strong>lagen e<strong>in</strong>er wohlgeformten Theorie gehört, zunächst ihren term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparat formalsprachlich präzise zu explizieren, bevor über ihre <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />

„s<strong>in</strong>nvoll“ geredet werden kann. Diese Explizierung beruht auf der Menge M p(T) der potenziellen<br />

Modelle der betroffenen Theorie, aus der durch die Elim<strong>in</strong>ierung aller T-theoretischen<br />

Konstrukte die Menge M pp(T) ihrer partiellen potenziellen Modelle hervorgegangen ist.<br />

Die zweite Teilanforderung rückt die T-theoretischen Konstrukte als e<strong>in</strong>en zentralen epistemischen<br />

Aspekt des strukturalistischen Theorienkonzepts <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>. In der hier gebotenen Kürze<br />

kann auf die herausragende Bedeutung, aber auch die <strong>in</strong>härente Problematik dieser T-theoretischen<br />

Konstrukte nicht näher e<strong>in</strong>gegangen werden. Daher müssen an dieser Stelle e<strong>in</strong>ige kurze Anmerkungen<br />

ausreichen.<br />

E<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt verhält sich T-theoretisch <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e realwissenschaftliche<br />

Theorie T, falls sich se<strong>in</strong>e konkreten Ausprägungen nur dann messen lassen, wenn vorausgesetzt<br />

wird, dass m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tendierte Anwendung dieser Theorie T existiert, <strong>in</strong> der alle gesetzesartigen<br />

Aussagen dieser Theorie erfüllt s<strong>in</strong>d. Etwas vere<strong>in</strong>facht ausgedrückt, zeichnen sich die T-<br />

theoretischen Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie T dadurch aus, die empirische Geltung aller gesetzesartigen<br />

Aussagen dieser Theorie implizit vorauszusetzen.<br />

Sofern e<strong>in</strong>e Theorie T m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> solches T-theoretisches Konstrukt enthält, unterliegt sie e<strong>in</strong>em<br />

gravierenden Überprüfungsdefekt: Der empirische Geltungsanspruch der Theorie T lässt sich<br />

nicht überprüfen, ohne sich entweder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „circulus vitiosus“ oder aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>f<strong>in</strong>iten Regress<br />

zu verfangen, weil jeder Überprüfungsversuch implizit die empirische Geltung m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er<br />

Anwendung der Theorie voraussetzt.<br />

Dieser Überprüfungsdefekt bedeutet e<strong>in</strong>e „Bankrotterklärung“ des konventionellen Theorienverständnisses,<br />

sofern es den Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit – <strong>und</strong> Falsifizierbarkeit – der<br />

Geltungsansprüche realwissenschaftlicher Theorien erhebt. Dieser empirischer Überprüfbarkeits<strong>und</strong><br />

Falsifizierbarkeitsanspruch wird zum<strong>in</strong>dest für alle realwissenschaftlichen Theorien vertreten,<br />

die sich dem derzeit dom<strong>in</strong>ierenden Empirischen Paradigma zuordnen lassen, das wesentlich vom<br />

Kritischen Rationalismus (Realismus) POPPERS geprägt wurde. Das trifft <strong>in</strong>sbesondere auch auf<br />

wirtschaftswissenschaftliche Theorien zu, für die <strong>in</strong> der Regel proklamiert wird, empirisch überprüfbare<br />

realwissenschaftliche Theorien darzustellen <strong>und</strong> die methodologischen Maximen des Kritischen<br />

Rationalismus zu befolgen. Daher bedroht das strukturalistische Theorienkonzept mit se<strong>in</strong>er<br />

gravierenden Vorhaltung e<strong>in</strong>es pr<strong>in</strong>zipiellen Überprüfungsdefekts massiv das Selbstverständnis<br />

konventioneller realwissenschaftlicher Theoriebildung. Um so überraschender mag es anmuten,<br />

dass sich die Anhänger des Empirischen Paradigmas noch kaum mit der F<strong>und</strong>amentalkritik des<br />

„non statement view“ ause<strong>in</strong>andergesetzt haben, dem zuvor skizzierten Überprüfungsdefekt unvermeidlich<br />

ausgeliefert zu se<strong>in</strong>, sobald e<strong>in</strong>e Theorie m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> T-theoretisches Konstrukt umfasst.<br />

Den Ausgangspunkt der Entwicklung des strukturalistischen Theorienkonzepts bildete die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Überprüfungsdefekt konventionell formulierter Theorien. Es führte zu der<br />

hier vorgestellten Struktur wohlgeformter Theorien im S<strong>in</strong>ne des strukturalistischen Theorienkonzepts.<br />

Diese Theoriestruktur gestattet es, die Komplikationen aufgr<strong>und</strong> des Überprüfungsdefekts realwissenschaftlicher<br />

Theorien trotz Existenz T-theoretischer Konstrukte zu vermeiden. Die Kernidee<br />

hierzu liefert die oben angesprochene RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte. Sie<br />

besitzt die besondere Eigenschaft, e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendungen ohne Verwendung T-<br />

theoretischer Konstrukte zu formulieren <strong>und</strong> andererseits – trotz dieser Elim<strong>in</strong>ierung der T-theoreti-<br />

212


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 11<br />

schen Konstrukte – den empirischen Gehalt der jeweils betroffenen Theorie T nicht zu verändern.<br />

Daher ist es mithilfe der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung aller T-theoretischen Konstrukte möglich, die Geltungsansprüche<br />

realwissenschaftlicher Theorien unabhängig von der Existenz T-theoretischer Konstrukte<br />

empirisch zu überprüfen, ohne hierbei schon implizit die Gültigkeit der jeweils überprüften<br />

Theorien vorauszusetzen.<br />

Nachdem mithilfe der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung alle T-theoretischen Konstrukte aus den potenziellen<br />

Modellen m p(T) e<strong>in</strong>er Theorie T elim<strong>in</strong>iert wurden, liegen empirisch äquivalente, jedoch partielle potenzielle<br />

Modelle m pp(T) der Theorie T vor. Sie werden <strong>in</strong> der Menge M pp(T) zusammengefasst, die<br />

bereits oben als e<strong>in</strong>e der vier Komponenten des Theoriekerns K T e<strong>in</strong>geführt wurde. Da partielle potenzielle<br />

Modelle e<strong>in</strong>er Theorie aus ihren potenziellen Modellen ausschließlich durch Anwendung<br />

der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung hervorgehen, lässt sich mit ram als Operator für die Anwendung der<br />

RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte die Menge M pp(T) aller partiellen potenziellen<br />

Modelle der Theorie T durch M pp(T) = ram(M p(T) ) festlegen.<br />

Die Menge Z S(T) aller zulässigen Anwendungen z T e<strong>in</strong>er Theorie T mit der Struktur S(T) umfasst alle<br />

denkmöglichen Theorieanwendungen, die sowohl alle gesetzesartigen Aussagen dieser Theorie als<br />

auch alle ihre Restriktionen erfüllen. E<strong>in</strong>erseits besteht die Menge D T der denkmöglichen Theorieanwendungen<br />

aus allen nicht-leeren Mengen partieller potenzieller Modelle der Theorie T. Dies<br />

wurde bereits oben durch die Bed<strong>in</strong>gung D T = pot + (M pp(T) ) ausgedrückt. Andererseits beziehen sich<br />

die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie, <strong>in</strong> denen per def<strong>in</strong>itionem alle gesetzesartigen Aussagen dieser Theorie<br />

erfüllt werden, <strong>und</strong> ihre Restriktionenmenge auf potenzielle Modelle der Theorie T. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

unterscheiden sich die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie <strong>und</strong> ihre Restriktionenmenge noch dadurch, dass jedes<br />

Modell der Theorie T e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes potenzielles Modell dieser Theorie darstellt (<strong>in</strong> dem alle gesetzesartigen<br />

Aussagen erfüllt werden), während es sich bei den strukturalistischen Restriktionen um<br />

Anforderungen handelt, die von mehreren potenziellen Modellen derselben Theorie geme<strong>in</strong>sam erfüllt<br />

werden müssen. Dieser unterschiedliche Bezug von Modellen auf jeweils e<strong>in</strong>zelne <strong>und</strong> von Restriktionen<br />

auf jeweils mehrere potenzielle Modelle wird im strukturalistischen Theorienkonzept<br />

durch die bereits e<strong>in</strong>geführten Bed<strong>in</strong>gungen M S(T) ⊆ M p(T) bzw. C S(T) ⊆ pot + (M p(T) ) ausgedrückt. Zur<br />

Def<strong>in</strong>ition der zulässigen Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie T verbleibt also die Aufgabe, e<strong>in</strong>e zweifache<br />

formalsprachliche Diskrepanz zu überw<strong>in</strong>den. Erstens muss die Diskrepanz zwischen dem Bezug<br />

auf e<strong>in</strong>zelne potenzielle Modelle bzw. nicht-leere Mengen aus mehreren potenziellen Modellen ü-<br />

berbrückt werden. Dies geschieht im strukturalistischen Theorienkonzept dadurch, dass zulässige<br />

Theorieanwendungen von vornhere<strong>in</strong> auf nicht-leere Mengen potenzieller Modelle bezogen werden,<br />

<strong>in</strong> denen zugleich alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie als auch alle Elemente aus ihrer<br />

Restriktionenmenge erfüllt werden. Es werden also nur Elemente aus der charakteristischen Menge<br />

pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) als Kandidaten für zulässige Theorieanwendungen <strong>in</strong> Betracht gezogen. Zweitens<br />

gilt es die Lücke zu schließen, die noch zwischen den vorgenannten nicht-leeren Mengen potenzieller<br />

Modelle e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> den nicht-leeren Mengen partieller potenzieller Modelle für denkmögliche<br />

Theorieanwendungen andererseits besteht. Diese zweite Diskrepanz wird durch Anwendung der<br />

RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung auf alle T-theoretischen Konstrukte <strong>in</strong> den potenziellen Modellen der Theorie<br />

T überw<strong>und</strong>en. Daraus resultiert schließlich als Def<strong>in</strong>ition für die Menge Z S(T) aller zulässigen<br />

Anwendungen z T e<strong>in</strong>er Theorie T: Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ).<br />

Bislang wurde e<strong>in</strong>e wohlgeformte strukturalistische Theorie auf zwei Ebenen spezifiziert: e<strong>in</strong>erseits<br />

auf der ersten Ebene ihres Theoriekerns K T durch die charakteristischen Komponenten M p(T) , M pp(T) ,<br />

M S(T) <strong>und</strong> C S(T) sowie andererseits auf der zweiten Ebene ihres <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T .<br />

Auf der dritten <strong>und</strong> letzten Ebene, die den beiden vorgenannten Ebenen hierarchisch untergeordnet<br />

ist, werden der Theoriekern K T <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise zusammengeführt,<br />

die für das strukturalistische Theorienkonzept charakteristisch ist. Sie f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong><br />

ke<strong>in</strong>em anderen Theorienkonzept <strong>in</strong> dieser besonderen Form. Die Zusammenführung von Theoriekern<br />

K T <strong>und</strong> <strong>in</strong>tendiertem Anwendungsbereich I T geschieht mithilfe der Menge Z S(T) aller zulässigen<br />

Theorieanwendungen, die e<strong>in</strong>erseits aus den Komponenten M p(T) <strong>und</strong> C S(T) des Theoriekerns ab-<br />

213


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 12<br />

geleitet wurde <strong>und</strong> andererseits wie der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T auf der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung<br />

aller T-theoretischen Konstrukte beruht. Konkret erfolgt diese Zusammenführung durch die<br />

e<strong>in</strong>e empirische Gesamthypothese der Theorie T. Die empirische Gesamthypothese jeder strukturalistisch<br />

formulierten Theorie T besteht aus der „schlichten“ Behauptung: I T ⊆ Z S(T) . Sie drückt aus,<br />

dass jede <strong>in</strong>tendierte Anwendung der Theorie T zugleich e<strong>in</strong>e zulässige Anwendung dieser Theorie<br />

darstellt. Unter Rückgriff auf die oben e<strong>in</strong>geführte Def<strong>in</strong>ition Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) lässt<br />

sich die empirische Gesamthypothese auch <strong>in</strong> der folgenden, äquivalenten Weise explizieren, die<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer größeren Transparenz allgeme<strong>in</strong> üblich ist:<br />

I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) )<br />

Anhand dieser äquivalenten Darstellungsweise lässt sich unmittelbar die „Essenz“ der empirischen<br />

Gesamthypothese jeder strukturalistisch formulierten Theorie T erkennen: Jede <strong>in</strong>tendierte Anwendung<br />

der Theorie T soll sowohl alle gesetzesartigen Aussagen als auch alle Restriktionen der Theorie<br />

erfüllen, nachdem alle T-theoretischen Konstrukte aus der (nicht-leeren Potenzmenge der) Modellmenge<br />

M S(T) <strong>und</strong> der Restriktionenmenge C S(T) elim<strong>in</strong>iert worden s<strong>in</strong>d. Diese Gesamthypothese<br />

gilt es dann durch Betrachtung von Elementen aus dem Bereich I T <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

empirisch zu überprüfen.<br />

Die empirische Gesamthypothese e<strong>in</strong>er wohlgeformten, strukturalistisch formulierten Theorie erweist<br />

sich <strong>in</strong> m<strong>in</strong>destens dreifacher H<strong>in</strong>sicht als e<strong>in</strong>zigartig, <strong>und</strong> zwar im Vergleich zu alternativen<br />

Theoriekonzepten, <strong>in</strong>sbesondere zum e<strong>in</strong>gangs skizzierten konventionellen Theorienkonzept. Erstens<br />

nimmt nur diese empirische Gesamthypothese Bezug auf typische Konstrukte des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts, wie die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> den Operator ram für die RAMSEY-<br />

Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte. Diese E<strong>in</strong>zigartigkeitsfacette erweist sich jedoch als trivial,<br />

weil es nicht überraschen wird, dass andere Theoriekonzepte auf diese Spezifika des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts nicht zurückgreifen. Zweitens besitzt die empirische Gesamthypothese<br />

e<strong>in</strong>en eigentümlichen holistischen Charakter. Denn für jede Theorie T existiert aus strukturalistischer<br />

Perspektive nur genau e<strong>in</strong>e empirische Gesamthypothese, die sich auf die gesamte Theorie T<br />

erstreckt. Die empirische Bestätigung oder Widerlegung dieser empirischen Gesamthypothese<br />

schlägt somit sofort auf die betroffene Theorie T als Ganzes durch; ihr Geltungsanspruch lässt sich<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht <strong>in</strong> Teilen empirisch überprüfen. Dies kontrastiert auffällig mit alternativen Theoriekonzepten,<br />

die im Allgeme<strong>in</strong>en zulassen, für e<strong>in</strong>e Theorie beliebig viele empirische Thesen aufzustellen,<br />

die jeweils isoliert vone<strong>in</strong>ander empirisch überprüft werden können. Drittens besitzt die<br />

empirische Gesamthypothese für jede Theorie T dieselbe formale Gestalt: Unabhängig davon, wie<br />

der term<strong>in</strong>ologische Apparat, die gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> die Restriktionen e<strong>in</strong>er Theorie T<br />

im E<strong>in</strong>zelnen formuliert se<strong>in</strong> mögen, besitzt die empirische Gesamthypothese immer dieselbe Form<br />

I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ).<br />

Durch empirische Überprüfungen der Theorie T gew<strong>in</strong>nt man schließlich Auskunft darüber, ob e<strong>in</strong>e<br />

jeweils überprüfte <strong>in</strong>tendierte Anwendung i T aus dem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T entweder<br />

durch Erfüllung aller gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> aller Restriktionen der Theorie T bestätigt oder<br />

aber <strong>in</strong>folge Verstoßes gegen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e gesetzesartige Aussage oder gegen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />

Restriktion widerlegt wird. Entsprechend wachsen die Extensionen der Menge B T aller bestätigten<br />

bzw. der Menge W T aller widerlegten Theorieanwendungen im Zeitablauf an, wenn die Anzahl der<br />

empirischen Theorieüberprüfungen zunimmt. Für die Mengen aller bestätigten bzw. widerlegten<br />

Theorieanwendungen gelten e<strong>in</strong>erseits die Beziehungen B T ⊆ I T bzw. W T ⊆ I T , weil nur die <strong>in</strong>tendierten<br />

Theorieanwendungen i T mit i T ∈ I T auf ihre empirische Geltung h<strong>in</strong>sichtlich der Erfüllung<br />

aller gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> aller Restriktionen untersucht werden. Andererseits unterscheiden<br />

sich die <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen i T im Falle entweder der Bestätigung oder aber der<br />

Widerlegung des Geltungsanspruchs der Theorie T genau dadurch, dass sie die empirische Gesamthypothese<br />

I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) dieser Theorie erfüllen bzw. verletzen. Folglich müssen die<br />

Beziehungen i T ∈ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für e<strong>in</strong>e Bestätigung der Theorie T durch ihre <strong>in</strong>tendierte<br />

Anwendung i T <strong>und</strong> i T ∉ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für e<strong>in</strong>e Bestätigung der Theorie T durch ihre <strong>in</strong>-<br />

214


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 13<br />

tendierte Anwendung i T gelten. Mithilfe der Def<strong>in</strong>ition Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für die Menge<br />

Z S(T) aller zulässigen Theorieanwendungen lassen sich die beiden Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten<br />

bzw. widerlegten Theorieanwendungen kompakt wie folgt def<strong>in</strong>ieren: B T ⊆ I T <strong>und</strong> B T ⊆ Z T<br />

– also B T ⊆ (I T ∩ Z T ) – für die Menge aller bestätigten Theorieanwendungen sowie W T ⊆ I T <strong>und</strong><br />

W T ∩ Z T = ∅ – also W T ⊆ (I T / Z T ) – für die Menge aller widerlegten Theorieanwendungen.<br />

Nun stehen alle formalsprachlichen Konstrukte zur Verfügung, mit deren Hilfe sich sowohl e<strong>in</strong>e<br />

wohlgeformte strukturalistische Theorie darstellen lässt als auch e<strong>in</strong> Konzept für theoretischen Fortschritt<br />

entfaltet werden kann. Zunächst wird darauf e<strong>in</strong>gegangen, wie diese charakteristischen Theoriekomponenten<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts mite<strong>in</strong>ander zusammenhängen. Im anschließenden<br />

Kapitel steht h<strong>in</strong>gegen die Erarbeitung e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts auf der Basis des<br />

strukturalistischen Theorienkonzepts im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Abb. 1 gibt die typische Struktur e<strong>in</strong>er Theorie T wieder, wie sie aus den Vorgaben des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts für wohlgeformte Theorien resultiert. Es handelt sich um e<strong>in</strong> „generisches“<br />

Strukturschema, das für jede konkrete Theorie T durch formalsprachliche Konkretisierungen<br />

der Theoriekomponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) , C S(T) <strong>und</strong> I T zu <strong>in</strong>stanziieren ist. Alle übrigen Beziehungen<br />

<strong>in</strong>nerhalb dieses Strukturschemas, <strong>in</strong>sbesondere die formale Gestalt der empirischen Gesamthypothese,<br />

liegen im strukturalistischen Theorienkonzept für jede Theorie T von vornhere<strong>in</strong><br />

fest. Abb. 1 verdeutlicht auch die vertikale Gliederung der strukturalistischen Theorieformulierung<br />

<strong>in</strong> drei Ebenen mit jeweils ebenenspezifischen formalsprachlichen Konstrukten. H<strong>in</strong>zu kommt auf<br />

der zweiten Ebene des Theoriekerns noch e<strong>in</strong>e zusätzliche horizontale Ausdifferenzierung <strong>in</strong> die<br />

vier Komponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) <strong>und</strong> C S(T) .<br />

Theorie: T = <br />

Theoriekern: K = <br />

T p(T) pp(T) S(T) S(T)<br />

<strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich: I T ⊆ pot+ (M pp(T) )<br />

empirische Gesamthypothese: I ⊆ ram( pot (M ) ∩ C )<br />

T + S(T) S(T)<br />

Abb. 1: Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien<br />

Die Abb. 2 auf der nächsten Seite lässt <strong>in</strong>sbesondere die „Zwei-Ebenen-Struktur“ erkennen, die für<br />

das strukturalistische Theorienkonzept charakteristisch ist. Sie entsteht dadurch, dass auf der e<strong>in</strong>en<br />

– „theoretischen“ – Ebene die (mögliche) Existenz T-theoretischer Konstrukte zu beachten ist. Auf<br />

der anderen – „empirischen“ – Ebene spielen die T-theoretischen Konstrukte h<strong>in</strong>gegen ke<strong>in</strong>e Rolle<br />

mehr, weil sie mittels der RAMSEY-Operation elim<strong>in</strong>iert wurden.<br />

215


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 14<br />

theoretische Ebene<br />

pot +<br />

(M S(T)<br />

) C S(T)<br />

pot +<br />

S(T)<br />

(M ) ∩ C S(T)<br />

pot + p(T)<br />

(M )<br />

RAMSEY-<br />

Elim<strong>in</strong>ierung aller<br />

T-theoretischen<br />

Konstrukte<br />

Erweiterung<br />

durch<br />

T-theoretische<br />

Konstrukte<br />

D<br />

T<br />

= pot+ (M<br />

pp(T)<br />

)<br />

empirische Ebene<br />

Abb. 2: Zwei-Ebenen-Struktur des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

216


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 15<br />

3.2 Das strukturalistische Fortschrittskonzept<br />

3.2.1 Mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept stellt e<strong>in</strong> „meta-theoretisches Forschungsprogramm“ dar,<br />

das e<strong>in</strong> bemerkenswertes Potenzial zur Konzeptualisierung <strong>und</strong> konkreten Messung wissenschaftlichen<br />

Fortschritts bietet. Gegenüber allen anderen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n zeichnet sich das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept dadurch aus, dass es an mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />

anknüpft. Als solche Inklusionsbeziehungen lassen sich sowohl Unter- oder Teilmengenbeziehungen<br />

(⊆ <strong>und</strong> ⊂) als auch Obermengenbeziehungen (⊇ <strong>und</strong> ⊃) verwenden.<br />

Der Ansatz des strukturalistischen Theorienkonzepts, Urteile über die Fortschrittlichkeit von Theorien<br />

auf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zurückzuführen, lässt sich durch fünf Besonderheiten<br />

charakterisieren:<br />

Die Fortschrittlichkeit von Theorien kann im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

nur durch Rückgriff auf die charakteristischen Theoriekomponenten beurteilt werden, die im<br />

voranstehenden Kapitel e<strong>in</strong>geführt, erläutert sowie <strong>in</strong> der Abb. 1 des Strukturschemas für die<br />

Formulierung wohlgeformter strukturalistischer Theorien zusammengefasst wurden. Das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept stellt also e<strong>in</strong> Konzept dar, das sich nur <strong>in</strong>nerhalb des metatheoretischen<br />

Rahmens des strukturalistischen Theorienkonzepts anwenden lässt. Daher setzt es<br />

voraus, dass alle Theorien, deren Fortschrittlichkeit anhand des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />

beurteilt werden sollen, als strukturalistisch wohlgeformte Theorien vorliegen.<br />

Die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie lässt sich nicht absolut, d.h. unabhängig von anderen Theorien<br />

beurteilen. Vielmehr nehmen die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, auf denen<br />

alle strukturalistischen Fortschrittlichkeitsurteile beruhen, stets Bezug auf charakteristische, jeweils<br />

gleichartige Theoriekomponenten aus jeweils zwei unterschiedlichen Theorien. Daher<br />

kann im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts nur die relative Fortschrittlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e andere Theorie, die Referenztheorie, beurteilt werden.<br />

Zwei gleichartige Theoriekomponenten aus jeweils zwei unterschiedlichen Theorien können,<br />

müssen aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mengentheoretischen Inklusionsbeziehung zue<strong>in</strong>ander stehen. Daher<br />

kann das strukturalistische Fortschrittskonzept auf e<strong>in</strong>er Menge von strukturalistisch formulierten<br />

Theorien ke<strong>in</strong>e vollständige, sondern nur e<strong>in</strong>e partielle Fortschrittsrelation def<strong>in</strong>ieren. Auf<br />

der Menge aller Theorien, die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Fortschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander verglichen werden,<br />

wird daher mittels der mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen im Allgeme<strong>in</strong>en nur<br />

e<strong>in</strong>e Halbordnung errichtet. Diese Halbordnung bildet das „strukturelle E<strong>in</strong>fallstor“ für die Inkommensurabilitäts-These.<br />

Dieser These zufolge können manche Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />

Fortschrittlichkeit pr<strong>in</strong>zipiell nicht mite<strong>in</strong>ander verglichen werden.<br />

Mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen gleichartigen charakteristischen Komponenten<br />

aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien stellen das „härteste“ zurzeit bekannte Instrument<br />

dar, um die relative Fortschrittlichkeit von Theorien zu beurteilen. Denn E<strong>in</strong>wände der<br />

„Unvergleichbarkeit“ unterschiedlicher Theorien, die gegen diverse, <strong>in</strong>sbesondere numerische<br />

Fortschrittlichkeitskonzepte vorgetragen werden, lassen sich nicht aufrechterhalten, wenn zwischen<br />

zwei Theoriekomponenten e<strong>in</strong>e Teil- oder Obermengenbeziehung besteht. Dieser zentrale<br />

Aspekt von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen beruht auf e<strong>in</strong>em charakteristischen<br />

Überschussgehalt im H<strong>in</strong>blick auf Modelle oder Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie: Wenn für zwei<br />

Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 für zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien T 1 bzw. T 2 beispielsweise<br />

festgestellt wird, dass TK 1 ⊆ TK 2 gilt, dann folgt daraus: Alle für die Fortschrittlichkeitsbeurteilung<br />

relevanten Aspekte, die auf Modelle oder Anwendungen aus der Theoriekomponente<br />

TK 1 der Theorie T 1 zutreffen, gelten auch für die Theorie T 2 . Denn wegen <strong>und</strong><br />

TK 1 ⊆ TK 2 ist jedes Modell oder jede Anwendung aus der Theoriekomponente TK 1 notwendig<br />

217


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 16<br />

auch e<strong>in</strong> Modell bzw. e<strong>in</strong>e Anwendung aus der Theoriekomponente TK 2 . Aber die Theorie T 2<br />

besitzt (abgesehen vom Grenzfall der Gleichheit TK 1 = TK 2 ) e<strong>in</strong>en Überschussgehalt h<strong>in</strong>sichtlich<br />

der für die Fortschrittlichkeitsbeurteilung relevanten Aspekte, weil sie noch weitere Modelle<br />

oder Anwendungen <strong>in</strong> der Theoriekomponente TK 2 umfasst, die qua Voraussetzung<br />

TK 1 ⊆ TK 2 (<strong>und</strong> TK 1 ≠ TK 2 ) <strong>in</strong> der Theoriekomponente TK 1 der Theorie T 1 nicht enthalten se<strong>in</strong><br />

können. Folglich gibt es ke<strong>in</strong> rationales Argument, an der Fort- oder Rückschrittlichkeit der<br />

Theorie T 2 gegenüber der Theorie T 1 bezüglich der Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 zu zweifeln.<br />

Dabei richtet sich die Fort- oder Rückschrittlichkeit der Theorie T 2 gegenüber der Theorie<br />

T 1 jeweils danach, ob die zur Fortschrittlichkeitsbeurteilung relevanten Aspekte, die auf Modelle<br />

oder Anwendungen aus den Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 zutreffen, beim Vorliegen der<br />

Inklusionsbeziehung „⊆“ für e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt bzw. für e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt<br />

sprechen.<br />

Das strukturalistische Fortschrittskonzept auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />

liefert als „Nebenprodukt“ zugleich e<strong>in</strong>en Ansatz für die <strong>Fortschrittsmessung</strong>. Als<br />

Fortschrittsmaß dient hierbei die relative Mächtigkeit derjenigen Mengen von Modellen oder<br />

Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie, die zu den gleichartigen Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander<br />

verglichenen Theorien gehören. Diese relativen Mengenmächtigkeiten s<strong>in</strong>d durch die mengentheoretischen<br />

Inklusionsbeziehungen, auf denen das hier entfaltete strukturalistische Fortschrittskonzept<br />

beruht, unmittelbar gegeben: Wenn zwei gleichartige Theoriekomponenten TK 1<br />

<strong>und</strong> TK 2 für zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien T 1 bzw. T 2 die Inklusionsbeziehungen<br />

TK 1 ⊂ TK 2 , TK 1 ⊆ TK 2 , TK 1 = TK 2 , TK 1 ⊇ TK 2 oder TK 1 ⊃ TK 2 erfüllen, dann erweist sich die<br />

Theorie T 1 h<strong>in</strong>sichtlich der Theorie T 2 im H<strong>in</strong>blick auf die betrachteten Theoriekomponenten<br />

als weniger mächtig, als höchstens gleich mächtig, als gleich mächtig, als m<strong>in</strong>destens gleich<br />

mächtig bzw. als mächtiger. Diese Mächtigkeitsaussagen erlauben es, die relative Fortschrittlichkeit<br />

der Theorie T 1 im H<strong>in</strong>blick auf die Referenztheorie T 2 auf e<strong>in</strong>er Ord<strong>in</strong>alskala präzise zu<br />

messen. Dadurch wird das e<strong>in</strong>leitend aufgestellte Messbarkeitspostulat erfüllt.<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept erweist sich h<strong>in</strong>sichtlich des Bestrebens, e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept<br />

für den Vergleich zwischen Theorien auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />

zu entfalten, aus zwei Gründen als besonders fruchtbar.<br />

Erstens umfasst das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>e Vielzahl charakteristischer Theoriekomponenten<br />

TK, zwischen denen sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen def<strong>in</strong>ieren lassen,<br />

die „s<strong>in</strong>nvolle“ Urteile über die Fortschrittlichkeit von jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />

Theorien gestatten. Dies betrifft zum<strong>in</strong>dest fünf Theoriekomponenten: die Menge M p(T) der potenziellen<br />

Modelle, die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle, die Menge M S(T) der Modelle,<br />

die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen für jede der beiden<br />

Theorien. Darüber h<strong>in</strong>aus wartet das strukturalistische Theorienkonzept mit weiter führenden<br />

Theoriekomponenten auf, welche die komb<strong>in</strong>atorische Vielfalt von verschiedenartigen Fortschrittsurteilen<br />

noch auszuweiten vermögen. Dazu gehören die Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten bzw.<br />

aller widerlegten Theorieanwendungen. Mit ihrer Hilfe lassen sich zusätzliche Fortschrittsurteile<br />

def<strong>in</strong>ieren, auf die später zurückgekommen wird.<br />

Zweitens hat das strukturalistische Theorienkonzept h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung von Urteilen über<br />

theoretischen Fortschritt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Fortentwicklung erfahren. Den konzeptionellen Ausgangspunkt<br />

bilden zwar weiterh<strong>in</strong> die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, auf die bislang ausschließlich<br />

e<strong>in</strong>gegangen wurde. Sie lassen sich jedoch nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er bestimmten strukturalistisch<br />

def<strong>in</strong>ierten „Makrostruktur“ anwenden, die als Theoriennetz bezeichnet wird. Darauf wird <strong>in</strong><br />

Kürze zurückgekommen. Schon bald zeigte sich bei der Anwendung des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

auf die Rekonstruktion von <strong>und</strong> den Vergleich zwischen realwissenschaftlichen Theorien,<br />

dass die Grenzen e<strong>in</strong>zelner Theoriennetze gesprengt wurden. Allerd<strong>in</strong>gs konnten andere <strong>in</strong>tertheoretische<br />

Beziehungen identifiziert werden, die sich ebenso zur Beurteilung der relativen Fortschrittlichkeit<br />

von Theorien eignen. Sie verhalten sich bei „h<strong>in</strong>reichend abstrakter Betrachtungswei-<br />

218


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 17<br />

se“ analog zu den bisher betrachteten mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen. In der hier gebotenen<br />

Kürze kann nicht detailliert auf das komplexe, stark ausdifferenzierte Geflecht der <strong>in</strong>tertheoretischen<br />

Beziehungen des strukturalistischen Theorienkonzepts e<strong>in</strong>gegangen werden. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

lassen sich im strukturalistischen Theorienkonzept jedoch <strong>in</strong>ter-theoretische Beziehungen<br />

zwei verschiedenen „makrostrukturellen“ Ebenen zuordnen:<br />

Die Beziehungen 1. Stufe s<strong>in</strong>d durch mengentheoretische Inklusionsbeziehungen def<strong>in</strong>iert, die<br />

zwischen „korrespondierenden“ Theoriekomponenten aus zwei strukturalistisch formulierten<br />

Theorien bestehen. Es handelt sich entweder um Unter- oder Teilmengenbeziehungen oder um<br />

Obermengenbeziehungen zwischen den Theoriekomponenten, die im strukturalistischen Theorienkonzept<br />

ihrerseits ebenso als Mengen ausgedrückt werden. Theorien, deren Theoriekomponenten<br />

mittels solcher Beziehungen 1. Stufe untere<strong>in</strong>ander „vernetzt“ s<strong>in</strong>d, bilden im strukturalistischen<br />

Theorienkonzept e<strong>in</strong>e besondere „Makrostruktur“, die als e<strong>in</strong> Theoriennetz bezeichnet<br />

wird.<br />

Die Beziehungen 2. Stufe umfassen alle mit formalen – mathematischen oder logischen –<br />

Hilfsmitteln ausdrückbaren Beziehungen, die zwischen gleichartigen Komponenten strukturalistisch<br />

formulierter Theorien bestehen <strong>und</strong> sich <strong>in</strong>haltlich als e<strong>in</strong> Ableitungszusammenhang<br />

zwischen den betroffenen Theorien <strong>in</strong>terpretieren lassen. Dazu gehört vor allem die Beziehung<br />

der Theoriereduktion: e<strong>in</strong>e „reduzierte“ Theorie wird auf e<strong>in</strong>e „reduzierende“ Theorie zurückgeführt.<br />

Aber es kommen auch andere Relationen <strong>in</strong> Betracht, wie z.B. Approximations-, Evidenz-<br />

<strong>und</strong> Theoretisierungsrelationen. Theorien, deren Theoriekomponenten nur mittels solcher<br />

Beziehungen 2. Stufe untere<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d (zwischen deren Theoriekomponenten also<br />

ke<strong>in</strong>e Beziehungen 1. Stufe bestehen), bilden im strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>e besondere<br />

„Makrostruktur“, die als e<strong>in</strong> Theorie-Holon bezeichnet wird.<br />

Für die Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie<br />

existieren im strukturalistischen Theorienkonzept gr<strong>und</strong>sätzlich zwei Ansätze. Beim ersten Ansatz<br />

partieller Fortschrittsurteile wird nur geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />

Theorien feststellen lassen. Beim zweiten Ansatz vollständiger Fortschrittsurteile wird h<strong>in</strong>gegen<br />

für die fünf charakteristischen Theoriekomponenten e<strong>in</strong>er strukturalistisch formulierten Theorie<br />

– die Menge M p(T) der potenziellen Modelle, die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle,<br />

die Menge M S(T) der Modelle, die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />

– geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen jedem Paar korrespondierender<br />

Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien feststellen lassen.<br />

3.2.2 Partielle Fortschrittsurteile<br />

Zunächst wird auf den Ansatz partieller Fortschrittsurteile (oder Rückschrittsurteile) e<strong>in</strong>gegangen.<br />

Aus dieser Perspektive lässt sich jeder Inklusionsbeziehung zwischen e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender<br />

Theoriekomponenten von zwei Theorien aus demselben Theoriennetz e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> Beitrag zum<br />

wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt zuordnen. Es handelt sich allerd<strong>in</strong>gs nur um e<strong>in</strong>en Beitrag<br />

zum wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt. Daher wird nur von partiellen Fort- oder Rückschrittsurteilen<br />

gesprochen, wenn ausschließlich auf e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten<br />

von zwei Theorien aus demselben Theoriennetz Bezug genommen wird. Denn wenn diese<br />

Betrachtungsweise auf mehrere Paare jeweils korrespondierender Theoriekomponenten ausgeweitet<br />

wird, kann e<strong>in</strong> „gemischter“ Fall e<strong>in</strong>treten, <strong>in</strong> dem sowohl m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen<br />

Fortschritt <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten als auch<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen Rückschritt <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> anderes Paar korrespondierender<br />

Theoriekomponenten vorliegen. In diesem „gemischten“ Fall lässt sich ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deuti-<br />

219


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 18<br />

ges Urteil über den Fort- oder Rückschritt beim Übergang von der e<strong>in</strong>en zur anderen Theorie fällen,<br />

weil sich entgegengesetzte Fortschrittsurteile auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />

nicht gegenseitig „aufrechnen“ lassen.<br />

Ob der Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 e<strong>in</strong>en Beitrag entweder zum theoretischen<br />

Fortschritt oder aber zum theoretischen Rückschritt <strong>in</strong> Bezug auf korrespondierende Theoriekomponenten<br />

aus den beiden mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 bedeutet, hängt von den<br />

Kriterien wissenschaftlichen Fort- bzw. Rückschritts ab, die im H<strong>in</strong>blick auf die jeweils korrespondierenden<br />

Theoriekomponenten def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Da <strong>in</strong>sgesamt fünf charakteristische Theoriekomponenten<br />

aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien zur Verfügung stehen,<br />

lassen sich daraus fünf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen gew<strong>in</strong>nen, für die sich auch zum<br />

Teil, aber nicht vollständig entsprechende partielle Fortschritts- oder Rückschrittsurteile aufstellen<br />

lassen. Im Folgenden wird der Kürze halber nur auf drei <strong>in</strong>teressant ersche<strong>in</strong>ende Fälle e<strong>in</strong>gegangen:<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />

Mengen M S(T1 ) bzw. M S(T2 ) ihrer Modelle verglichen wird <strong>und</strong> M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) gilt, dann liegt e<strong>in</strong><br />

Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil korrespondiert.<br />

Denn die Tatsache, dass die Modellmenge M S(T2 ) der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge<br />

der Modellmenge M S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, muss auf folgendem Sachverhalt beruhen:<br />

E<strong>in</strong>erseits dienen zur Spezifizierung der Modellmenge M S(T2 ) alle gesetzesartigen Aussagen,<br />

die auch an der Spezifizierung der Modellmenge M S(T1 ) beteiligt s<strong>in</strong>d, aber andererseits<br />

trägt zur Spezifizierung der Modellmenge M S(T2 ) m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere gesetzesartige Aussage<br />

bei, die an der Spezifizierung der Modellmenge M S(T1 ) nicht beteiligt ist. Folglich besitzt die<br />

Theorie T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en „nomischen Überschuss“, der die zulässigen<br />

Anwendungen der Theorie T 2 stärker e<strong>in</strong>schränkt als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />

T 1 , weil die zulässigen Anwendungen der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e umfangreichere Menge<br />

gesetzesartiger Aussagen erfüllen müssen als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />

T 1 . Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Zunahme der Präzision der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 .<br />

Folglich liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Fortschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />

M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) zwischen den Modellmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet<br />

e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil zugunsten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie<br />

T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Zunahme der Theoriepräzision angestiegen<br />

ist.<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />

Restriktionenmengen C S(T1 ) bzw. C S(T2 ) verglichen wird <strong>und</strong> C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) gilt, dann liegt e<strong>in</strong><br />

Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil korrespondiert.<br />

Zwar lässt sich aus der Tatsache, dass die Restriktionenmenge C S(T2 ) der Theorie T 2<br />

e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge C S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, ke<strong>in</strong> unmittelbarer<br />

Schluss auf e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Fortschritt im konventionellen Wissenschaftsverständnis<br />

ziehen, weil im konventionellen Theorienkonzept ke<strong>in</strong> Pendant zu den strukturalistischen<br />

Restriktionen existiert. Aber die Restriktionen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

besitzen wie gesetzesartige Aussagen die epistemische Qualität, die zulässigen Anwendungen<br />

e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>zuschränken. Daher kann analog zur o.a. Argumentation für Modellmengen<br />

(gesetzesartige Aussagen) gefolgert werden: Weil die Restriktionenmenge C S(T2 ) der Theorie T 2<br />

e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge C S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, müssen<br />

e<strong>in</strong>erseits zur Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T2 ) alle Restriktionen dienen, die auch<br />

an der Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T1) beteiligt s<strong>in</strong>d, während andererseits zur<br />

Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T2 ) m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere Restriktion beiträgt, die<br />

220


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 19<br />

an der Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T1 ) nicht beteiligt ist. Folglich besitzt die Theorie<br />

T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en „restriktiven Überschuss“, der die zulässigen<br />

Anwendungen der Theorie T 2 stärker e<strong>in</strong>schränkt als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />

T 1 , weil die zulässigen Anwendungen der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e umfangreichere Restriktionenmenge<br />

erfüllen müssen als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie T 1 . Dies bedeutet<br />

e<strong>in</strong>e Zunahme der Präzision der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 . Folglich<br />

liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Fortschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />

C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) zwischen den Restriktionenmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet e<strong>in</strong><br />

partielles Fortschrittsurteil zugunsten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie T 2<br />

gegenüber ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Zunahme der Theoriepräzision angestiegen ist.<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />

Mengen I T1 bzw. I T2 ihrer <strong>in</strong>tendierten Anwendungen verglichen wird <strong>und</strong> I T2 ⊂ I T1 gilt, dann<br />

liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen Rückschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Rückschrittsurteil<br />

korrespondiert. Denn die Tatsache, dass der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der Theorie<br />

T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T1 der Referenztheorie T 1 darstellt,<br />

muss darauf beruhen, dass e<strong>in</strong>erseits alle <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Theorie T 2 , die<br />

zu ihrem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T2 gehören, auch im <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />

I T1 der Theorie T 1 enthalten s<strong>in</strong>d, aber andererseits der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der<br />

Theorie T 1 m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>tendierte Anwendung umfasst, die nicht zum <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 gehört. Folglich besitzt die Theorie T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der<br />

Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en reduzierten <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich. Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung<br />

der Anwendungsbreite der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 . Folglich<br />

liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Rückschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />

I T2 ⊂ I T1 zwischen den Modellmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet e<strong>in</strong> partielles<br />

Rückschrittsurteil zulasten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie T 2 gegenüber<br />

ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung der Anwendungsbreite der Theorie abgenommen<br />

hat.<br />

Anhand der voranstehenden mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen lassen sich bereits erste<br />

E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das Fortschrittskonzept des „non statement view“ gew<strong>in</strong>nen:<br />

Das Postulat der Anschlussfähigkeit an weit verbreitete Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis-<br />

<strong>und</strong> wissenschaftstheoretischen Fachliteratur wird zum Teil erfüllt: Mittels der strukturalistischen<br />

Kriterien für wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt, die sich jeweils nur auf<br />

e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />

erstrecken, können partielle Fort- oder Rückschrittsurteile h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen Gehalts<br />

von Theorien gefällt werden. Sie decken sowohl den Unterfall des theoretischen Fortschritts<br />

(Rückschritts) durch e<strong>in</strong>e Zunahme (Abnahme) der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie ab als auch den Unterfall<br />

des theoretischen Fortschritts (Rückschritts) durch e<strong>in</strong>e Vergrößerung (Verr<strong>in</strong>gerung) der<br />

Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie.<br />

Im H<strong>in</strong>blick auf die empirische Bewährung von Theorien besteht jedoch noch e<strong>in</strong>e Lücke:<br />

Diesbezüglich lassen sich durch mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen den fünf<br />

charakteristischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte<br />

Theorien ke<strong>in</strong>e Kriterien für wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt gew<strong>in</strong>nen. Diese<br />

Lücke gilt es später mithilfe der Mengen entweder bestätigter oder aber widerlegter <strong>in</strong>tendierter<br />

Theorieanwendungen zu schließen.<br />

Die e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Forderung, e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept solle e<strong>in</strong>en Überschussgehalt gegenüber<br />

konventionellen Fortschrittsvorstellungen aufweisen, wird <strong>in</strong> Bezug auf die strukturalistische<br />

Restriktionenmenge C S(T) erfüllt: Sie erlaubt es, Fort- oder Rückschrittlichkeitsurteile<br />

221


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 20<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Theoriepräzision zu fällen, die sich nach heutigem Kenntnisstand nur <strong>in</strong>nerhalb<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts begründen lassen. Dadurch hebt sich das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Aussagekraft von alternativen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n<br />

ab; das Differenzierungspostulat wird erfüllt.<br />

Diese ersten E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das Fortschrittskonzept des „non statement view“ erweisen sich zwar als<br />

„ermutigend“, lassen jedoch <strong>in</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht erhebliche Wünsche offen: Es lassen sich<br />

nur partielle Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie im Vergleich zu e<strong>in</strong>er Referenztheorie<br />

fällen, weil jeweils nur e<strong>in</strong> Paar von korrespondierenden Theoriekomponenten aus<br />

dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien berücksichtigt wird. Im Wissenschaftsbetrieb<br />

besteht jedoch vermutlich ger<strong>in</strong>ger Bedarf für solche partiellen Urteile, sondern es <strong>in</strong>teressiert<br />

vielmehr, ob sich mit dem Übergang von e<strong>in</strong>er Referenztheorie zu e<strong>in</strong>er „neuen“ oder<br />

„anderen“ Theorie <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> wissenschaftlicher Fortschritt erzielen lässt – oder aber e<strong>in</strong> wissenschaftlicher<br />

Rückschritt zu befürchten ist.<br />

3.2.3 Vollständige Fortschrittsurteile<br />

Der zweite Ansatz vollständiger Fortschrittsurteile erweist sich für die Beurteilung der relativen<br />

Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien gegenüber dem Ansatz partieller Fortschrittsurteile als<br />

<strong>in</strong>teressanter. Er ermöglicht def<strong>in</strong>itive Aussagen darüber, ob sich e<strong>in</strong>e Theorie im Vergleich zu ihrer<br />

Referenztheorie als fort- oder rückschrittlich erweist, <strong>in</strong>dem jeweils alle Paare von korrespondierenden<br />

Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien berücksichtigt<br />

werden. Dabei wird für jede der fünf charakteristischen Theoriekomponenten e<strong>in</strong>er<br />

strukturalistisch formulierten Theorie – die Menge M p(T) der potenziellen Modelle, die Menge M pp(T)<br />

der partiellen potenziellen Modelle, die Menge M S(T) der Modelle, die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong><br />

die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen – geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />

zwischen jeweils e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander<br />

verglichenen Theorien feststellen lassen.<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage für diesen zweiten Ansatz des strukturalistischen Theorienkonzepts für vollständige<br />

Fortschrittsurteile bildet das Konzept der Spezialisierungsrelationen. Zweistellige Spezialisierungsrelationen<br />

SP – <strong>und</strong> ihre jeweils <strong>in</strong>versen Relationen, die zweistelligen Erweiterungsrelationen ER,<br />

– bilden das Rückgrat von Theoriennetzen. Jedes Element aus e<strong>in</strong>er Spezialisierungsrelation SP ist<br />

e<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung zwischen zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 : (T 1 ,T 2 ) ∈ SP. Sie wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Theoriennetz als e<strong>in</strong>e Kante dargestellt, die vom (Ursprungs-) Knoten, der die Theorie T 1 repräsentiert,<br />

zum (Ziel-) Knoten gerichtet ist, der die Theorie T 2 repräsentiert. In dem geordneten Paar<br />

(T 1 ,T 2 ) e<strong>in</strong>er Spezialisierungsbeziehung zwischen den beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 heißt T 1 die spezialisierte<br />

Theorie <strong>und</strong> T 2 die spezialisierende Theorie.<br />

Das strukturalistische Fortschrittskonzept baut auf diesen Spezialisierungsrelationen – <strong>und</strong> den <strong>in</strong>versen<br />

Erweiterungsrelationen – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweistufigen Analyseraster auf: Auf der ersten Stufe wird<br />

zunächst die Vielfalt möglicher Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen identifiziert, die zwischen<br />

den jeweils korrespondierenden Theorienkomponenten von strukturalistisch formulierten<br />

Theorien <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Theoriennetzes bestehen können. Alsdann werden auf der zweiten Stufe<br />

diejenigen Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen herausgefiltert, die e<strong>in</strong> relatives Fort- oder<br />

Rückschrittlichkeitsurteil für die jeweils mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 aus e<strong>in</strong>er<br />

Spezialisierungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ SP oder Erweiterungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ ER zulassen.<br />

Auf diesem zweistufigen Analyseraster beruhen auch die nachfolgenden Ausführungen. Der Übersichtlichkeit<br />

<strong>und</strong> Kürze halber wird auf zwei Vere<strong>in</strong>fachungen zurückgegriffen, weil die Ausführungen<br />

andernfalls wegen der komb<strong>in</strong>atorischen Vielfalt der strukturalistischen Spezialisierungs<strong>und</strong><br />

Erweiterungsrelationen „explodieren“ würden. Erstens wird – mit zwei Ausnahmen zum Zweck<br />

222


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 21<br />

der exemplarischen Veranschaulichung – nur auf Spezialisierungsrelationen e<strong>in</strong>gegangen, weil es<br />

e<strong>in</strong>e „fruchtlose“ Argumentationsverdopplung darstellen würde, die jeweils <strong>in</strong>versen Erweiterungsrelationen<br />

ebenso zu behandeln. Zweitens werden aus der Fülle der komb<strong>in</strong>atorisch möglichen Spezialisierungsrelationen<br />

nur e<strong>in</strong>ige wenige herausgegriffen, um das Pr<strong>in</strong>zip dieser Spezialisierungsrelationen<br />

zu veranschaulichen. Zugleich handelt es sich um diejenigen Spezialisierungsrelationen,<br />

mit deren Hilfe sich anschließend – auf der zweiten Analysestufe – Urteile über die relative Fortoder<br />

Rückschrittlichkeit von Theorien gew<strong>in</strong>nen lassen.<br />

Innerhalb des strukturalistischen Theorienkonzepts ist zunächst nur e<strong>in</strong>e notwendige 1) Bed<strong>in</strong>gung<br />

dafür def<strong>in</strong>iert, dass e<strong>in</strong>e Theorie T 2 die Spezialisierung e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 darstellen kann.<br />

Für e<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ SP zwischen den zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 müssen folgende<br />

drei Teilbed<strong>in</strong>gungen geme<strong>in</strong>sam erfüllt se<strong>in</strong>:<br />

Die Modellmenge der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge der Modellmenge der<br />

spezialisierten Theorie T 1 .<br />

Die Restriktionenmenge der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge der Restriktionenmenge<br />

der spezialisierten Theorie T 1 .<br />

Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungsbereichs der spezialisierten Theorie T 1 .<br />

Formalsprachlich lässt sich diese dreigliedrige, notwendige Bed<strong>in</strong>gung für die Spezialisierung e<strong>in</strong>er<br />

Theorie T 1 durch e<strong>in</strong>e andere Theorie T 2 spezifizieren, <strong>in</strong>dem für jede Spezialisierungsrelation SP<br />

gefordert wird:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP<br />

⇒ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />

Diese notwendige Bed<strong>in</strong>gung wird von allen nachfolgenden Spezialisierungsrelationen erfüllt. Die<br />

Spezialisierungsrelationen unterscheiden sich aber vone<strong>in</strong>ander durch zusätzliche, relationsspezifische<br />

Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gungen. Die Gesamtheit aus der o.a. notwendigen Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gung<br />

e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> h<strong>in</strong>zutretenden Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gungen andererseits bildet dann e<strong>in</strong>e<br />

notwendige <strong>und</strong> h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gung für die jeweils betrachtete Spezialisierungsrelation.<br />

Der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden der Spielraum aller komb<strong>in</strong>atorisch möglichen<br />

Spezialisierungsrelationen bei weitem nicht ausgeschöpft. Stattdessen werden nur e<strong>in</strong>ige gr<strong>und</strong>legende<br />

Spezialisierungsrelationen vorgestellt. Sie reichen aus, um auf ihrer Gr<strong>und</strong>lage Kriterien für<br />

die relative Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien zu def<strong>in</strong>ieren.<br />

1) Theoriespezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP T<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />

∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∨ I T2 ⊂ I T1 )<br />

Die Theoriespezialisierung stellt die allgeme<strong>in</strong>ste Variante der Spezialisierungsrelationen dar.<br />

1) Vgl. STEGMÜLLER (1980), S. 110 u. 184 f.<br />

223


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 22<br />

2) Kernspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP K<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />

∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />

E<strong>in</strong>e Kernspezialisierung stellt e<strong>in</strong>e Theoriespezialisierung dar, bei der auf jeden Fall der Theoriekern<br />

der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich ist nicht<br />

präziser festgelegt, als es bereits von der der Theoriespezialisierung gefordert wird.<br />

3) Anwendungsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP A<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊂ I T1<br />

E<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung ist e<strong>in</strong>e Variante der Theoriespezialisierung, bei der auf jeden Fall<br />

der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Für den Theoriekern<br />

erfolgt h<strong>in</strong>gegen ke<strong>in</strong>e weiter reichende Festlegung, als sie bereits <strong>in</strong> der Def<strong>in</strong>ition der<br />

Theoriespezialisierung geschehen ist. Die Anwendungsspezialisierung stellt daher das Komplement<br />

zur Kernspezialisierung im geme<strong>in</strong>samen Rahmen der Theoriespezialisierung dar.<br />

4) Re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rK<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />

E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung erfolgt, <strong>in</strong>dem der term<strong>in</strong>ologische Apparat, die Modellmenge oder<br />

die Restriktionenmenge der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />

wird dagegen unverändert beibehalten. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung geht aus e<strong>in</strong>er<br />

Kernspezialisierung hervor, <strong>in</strong>dem die Möglichkeit der Verengung des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs<br />

ausgeschlossen wird.<br />

5) Re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA<br />

:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊂ I T1<br />

224


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 23<br />

Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 wird gegenüber dem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />

I T1 der Theorie T 1 verkle<strong>in</strong>ert. Zugleich bleibt der Theoriekern unverändert. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />

Anwendungsspezialisierung resultiert aus e<strong>in</strong>er Anwendungsspezialisierung, <strong>in</strong>dem die Möglichkeit<br />

der Verengung des Theoriekerns ausgegrenzt wird. Die re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung verhält<br />

sich daher komplementär zur re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung.<br />

6) Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP Te<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Der term<strong>in</strong>ologische Apparat – also die Menge der potenziellen Modelle – der Theorie T 2 wird gegenüber<br />

dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 1 e<strong>in</strong>geschränkt. Die term<strong>in</strong>ologische Verengung<br />

kann z.B. darauf beruhen, dass T-theoretische Konstrukte aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat<br />

der spezialisierten Theorie T 1 entfernt werden. Ebenso ist es möglich, red<strong>und</strong>ante oder ab<strong>und</strong>ante<br />

Konstrukte aus der spezialisierten Theorie T 1 zu elim<strong>in</strong>ieren.<br />

7) Re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rTe<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung geht aus der Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung dadurch hervor,<br />

dass ke<strong>in</strong>e Verengung der Modellmenge oder der Restriktionenmenge stattf<strong>in</strong>det. Die Spezialisierung<br />

kann deshalb nur darauf beruhen, dass aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat red<strong>und</strong>ante oder ab<strong>und</strong>ante<br />

Konstrukte entfernt werden. Alle anderen Komponenten aus den formalen Strukturbeschreibungen<br />

der beiden <strong>in</strong>volvierten Theorien bleiben unverändert.<br />

8) Gesetzesspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP G<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Entweder fallen die gesetzesartigen Aussagen bei der Theorie T 2 strenger als bei der Theorie T 1 aus<br />

oder die Theorie T 2 umfasst gegenüber der Theorie T 1 zusätzliche gesetzesartige Aussagen (oder<br />

beide Effekte treten mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>iert auf). Dadurch wird der Umfang der Menge der Modelle,<br />

<strong>in</strong> denen alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, beim Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie<br />

T 2 verkle<strong>in</strong>ert. Der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie kann erhalten bleiben oder auch verengt<br />

werden. Daher bleibt es offen, ob die Gesetzesspezialisierung von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung des term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparats begleitet wird. Gleiches gilt für die Restriktionenmenge. Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />

wird dagegen auf ke<strong>in</strong>en Fall verändert.<br />

225


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 24<br />

9) Term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzesspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tbG<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die gesetzesartigen Aussagen s<strong>in</strong>d bei der Theorie T 2 gegenüber dem Theorie T 1 wie im Fall der<br />

„e<strong>in</strong>fachen“ Gesetzesspezialisierung verschärft. Die E<strong>in</strong>engung der Menge der Modelle, <strong>in</strong> denen<br />

alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, wird von e<strong>in</strong>er entsprechenden E<strong>in</strong>schränkung der potenziellen<br />

Modellmenge von Theorie T 1 begleitet. Dies bedeutet, dass auch der term<strong>in</strong>ologische Apparat<br />

der Theorie T 2 gegenüber dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 1 verkle<strong>in</strong>ert wird.<br />

10) Re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG<br />

:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die term<strong>in</strong>ologischen Apparate der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 unterscheiden sich nicht. Daher besitzen<br />

die Theorien die gleichen potenziellen Modellmengen. Die Verschärfung der gesetzesartigen<br />

Aussagen, die beim Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 e<strong>in</strong>tritt, kann niemals auf e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologische<br />

Verengung zurückgeführt werden. Daher liegt auf jeden Fall e<strong>in</strong>e „echte“ Gesetzesverschärfung<br />

im <strong>in</strong>tuitiven S<strong>in</strong>ne vor.<br />

11) Restriktionsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP R<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die Restriktionen der Theorie T 2 s<strong>in</strong>d strenger als bei der Theorie T 1 formuliert. Dadurch wird die<br />

Restriktionenmenge C S(T) verengt, wenn von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 übergegangen wird.<br />

12) Re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR<br />

:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung geht aus der Restriktionsspezialisierung dadurch hervor, dass<br />

zusätzlich die Invarianz von term<strong>in</strong>ologischem Apparat <strong>und</strong> der Menge der Modelle, <strong>in</strong> denen alle<br />

gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, gefordert wird.<br />

226


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 25<br />

13) Term<strong>in</strong>ologiebegleitete Restriktionsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tbR<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Die term<strong>in</strong>ologiebegleitete Restriktionsspezialisierung ist das Spiegelbild zur term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />

Gesetzesspezialisierung. Beide unterscheiden sich lediglich dadurch, dass e<strong>in</strong>mal die Restriktionenmenge<br />

bei <strong>in</strong>varianter Modellmenge verengt wird, während das andere Mal die Modellmenge<br />

bei <strong>in</strong>varianter Restriktionenmenge e<strong>in</strong>geschränkt wird.<br />

14) Term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tiK<br />

:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

∧ ( M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />

E<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung unterscheidet sich von der re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung<br />

nur dadurch, dass E<strong>in</strong>schränkungen des term<strong>in</strong>ologischen Apparats ausgeschlossen werden.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus ist es möglich, wechselseitige (Meta-) Beziehungen zwischen den 14 Spezialisierungsrelationen<br />

durch echte Teil- <strong>und</strong> Obermengenbeziehungen „⊃“ bzw. „⊂“ zu identifizieren.<br />

Dadurch manifestiert sich e<strong>in</strong> weiteres Mal die besondere Bedeutung, die mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />

für das strukturalistische Theorienkonzept besitzen. Die Teil- <strong>und</strong> Obermengenbeziehungen,<br />

die zwischen je zwei Spezialisierungsrelationen bestehen, können für die o.a. 14<br />

Spezialisierungsrelationen unmittelbar aus dem Vergleich ihrer Spezifikationen gewonnen werden.<br />

Daher werden die charakteristischen Inklusionsbeziehungen, die zwischen den hier vorgestellten 14<br />

Spezialisierungsrelationen bestehen, ohne weitere Herleitung <strong>in</strong> der nachfolgenden Abb. 3 präsentiert:<br />

⎧<br />

⎧<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎪ ⎪ SPTe<br />

⊃ SP<br />

⎪<br />

rTe<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎪ ⎪ ⎪⎧<br />

SPtbG<br />

⎪<br />

SPK ⊃ SPrK ⊃ ⎨ SPG<br />

⊃ ⎨<br />

SPT ⊃ ⎨<br />

⎪<br />

⎪⎩<br />

SPrG ⊂ SPtiK<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎪<br />

⎪<br />

SPrR<br />

⊂ SPtiK<br />

⎪ ⎪<br />

⎧⎪<br />

SPR<br />

⊃ ⎨<br />

⎪<br />

⎪<br />

SP<br />

⎪<br />

⎩<br />

⎪⎩ tbR<br />

⎪<br />

⎪⎩ SPA<br />

⊃ SPrA<br />

Abb. 3: Inklusionsbeziehungen zwischen den strukturalistischen Spezialisierungsrelationen<br />

227


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 26<br />

Die voranstehende Abb. 3 verdeutlicht, dass sich auf der (Meta-) Ebene des Vergleichs zwischen<br />

den unterschiedlichen Spezialisierungsrelationen des strukturalistischen Theorienkonzepts „Spezialisierungsbeziehungen<br />

2. Stufe“ e<strong>in</strong>führen lassen: Sie beruhen auf den Obermengenbeziehungen<br />

„⊃“, die <strong>in</strong> der Abb. 3 zwischen der Relation SP T der Theoriespezialisierung e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> den<br />

nachfolgenden Spezialisierungsrelationen – mit Ausnahme der Relation der term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>varianten<br />

Kernspezialisierung – andererseits bestehen. Die Kern- <strong>und</strong> die Anwendungsspezialisierung SP K<br />

bzw. SP A s<strong>in</strong>d z.B. spezielle, zue<strong>in</strong>ander komplementäre Ausformungen der Theoriespezialisierung<br />

SP T . Die Gesetzes- <strong>und</strong> die Restriktionsspezialisierung SP G bzw. SP R stellen spezielle Varianten der<br />

re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung SP rK dar. Die re<strong>in</strong>e <strong>und</strong> die term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzesspezialisierung<br />

SP rG bzw. SP tbG bilden wiederum spezielle Varianten der Gesetzesspezialisierung SP G usw.<br />

Zugleich werde auf der Ebene des Vergleichs zwischen unterschiedlichen Spezialisierungsrelationen<br />

auch „Erweiterungsbeziehungen 2. Ordnung“ e<strong>in</strong>geführt. Sie beruhen auf den Teilmengenbeziehungen<br />

„⊂“, die sich <strong>in</strong> der Abb. 3 zwischen den Relationen der re<strong>in</strong>en Gesetzes- <strong>und</strong> der<br />

re<strong>in</strong>en Restriktionsspezialisierung SP rG bzw. SP rR e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> der Relation der term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>varianten<br />

Kernspezialisierung SP tiK andererseits erstrecken. Durch diese Erweiterungsbeziehungen<br />

werden frühere Spezialisierungsbeziehungen, die zur re<strong>in</strong>en Gesetzes- bzw. zur re<strong>in</strong>en Restriktionsspezialisierung<br />

geführt haben, zum Teil wieder aufgehoben.<br />

Zu jeder von den 14 vorgestellten Spezialisierungsrelationen SP a lässt sich e<strong>in</strong>e gleichartige, aber<br />

<strong>in</strong>verse Erweiterungsrelation ER a def<strong>in</strong>ieren. Als verdeutlichendes Beispiel wird die Relation ER rA<br />

der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung betrachtet. Bei ihr wird der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T1<br />

e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zum größeren <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 erweitert. Alle<br />

anderen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien<br />

bleiben unverändert. Die Spezifikation dieser re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung lässt sich unmittelbar<br />

aus der Spezifikation der re<strong>in</strong>en Anwendungsspezialisierung gew<strong>in</strong>nen. Zu diesem Zweck reicht es<br />

aus, die Teilmengenbeziehung zwischen den <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichen der beiden Theorien<br />

durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>verse Obermengenbeziehung zu substituieren. Somit resultiert für die Relation<br />

ER rA der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA<br />

:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊃ I T1<br />

In der gleichen Weise lassen sich auch zu den übrigen 13 Spezialisierungsrelationen, die oben vorgestellt<br />

wurden, gleichartige Erweiterungsrelationen def<strong>in</strong>ieren. Dadurch würden aber ke<strong>in</strong>e neuartigen<br />

Erkenntnisse vermittelt. Stattdessen wird auf zwei besondere Erweiterungsrelationen näher<br />

e<strong>in</strong>gegangen, die sich nicht <strong>in</strong>vers zu den o.a. 14 Spezialisierungsrelationen verhalten.<br />

Die erste der beiden Erweiterungsrelationen erweist sich als besonders komplex. Sie lässt sich beispielsweise<br />

benutzen, um die E<strong>in</strong>beziehung unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter <strong>in</strong> produktionswirtschaftliche<br />

Theorien zu erfassen. Diese Erweiterungsrelation ER tbG + stellt e<strong>in</strong>e verschärfte Variante<br />

der Relation ER tbG term<strong>in</strong>ologiebegleiteter Gesetzeserweiterungen dar. Diese Erweiterungsrelation<br />

beruht zunächst darauf, den term<strong>in</strong>ologischen Apparat <strong>und</strong> die Menge der Modelle e<strong>in</strong>er Theorie T 1 ,<br />

von denen alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt werden, beim Übergang auf die Theorie T 2 auszudehnen.<br />

In dieser H<strong>in</strong>sicht besteht noch ke<strong>in</strong> Unterschied zur gewöhnlichen Relation ER tbG term<strong>in</strong>ologiebegleiteter<br />

Gesetzeserweiterungen. Zusätzlich werden aber zwei Anforderungen erhoben:<br />

Erstens soll der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungsbereichs der Theorie T 1 darstellen. Dies hat zur Folge, dass aus der term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />

Gesetzeserweiterung ER tbG e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzes- <strong>und</strong><br />

Anwendungserweiterung ER tbG + wird.<br />

228


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 27<br />

Zweitens soll die Gesetzeserweiterung so erfolgen, dass die gesetzesartigen Aussagen der Theorie<br />

T 1 lediglich an das vergrößerte Ausdrucksvermögen angepasst werden, das vom erweiterten<br />

term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 2 angeboten wird. Diese zweite Anforderung berücksichtigt,<br />

dass e<strong>in</strong>e Gesetzeserweiterung – entgegen dem ersten Ansche<strong>in</strong> ihres Namens – zumeist<br />

e<strong>in</strong>e Abschwächung der gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie bedeutet. Hier wird jedoch<br />

gefordert, dass ke<strong>in</strong>e solche Abschwächung der gesetzesartigen Aussagen erfolgen soll,<br />

solange nur der enger gefasste term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T 1 zur Verfügung steht.<br />

Dieses Postulat stellt sicher, dass beim Übergang zur erweiterten Theorie T 2 die Modellmenge<br />

nur wegen des vergrößerten term<strong>in</strong>ologischen Apparats, nicht aber als Folge von abgeschwächten<br />

gesetzesartigen Aussagen anwächst. Formal lässt sich die zweite Anforderung dadurch ausdrücken,<br />

dass der Durchschnitt aus der vergrößerten Modellmenge der erweiternden Theorie T 2<br />

<strong>und</strong> aus der potenziellen Modellmenge der erweiterten Theorie T 1 mit der Modellmenge der<br />

Theorie T 1 übere<strong>in</strong>stimmen soll.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der beiden zusätzlichen Anforderungen erhält die Relation ER tbG + der term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />

Gesetzes- <strong>und</strong> Anwendungserweiterung e<strong>in</strong>en besonderen Charakter: Sie beruht auf e<strong>in</strong>er Erweiterung<br />

des term<strong>in</strong>ologischen Apparats, die e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e echte Ausdehnung des Bereichs <strong>in</strong>tendierter<br />

Anwendungen ermöglicht, jedoch andererseits die gesetzesartigen Aussagen der erweiterten<br />

Theorie – sofern sie auch schon im Rahmen des noch nicht erweiterten term<strong>in</strong>ologischen Apparats<br />

gegolten haben – nicht abschwächt. Diese Eigenart der Erweiterungsrelation ER tbG + wird formal<br />

durch folgende Spezifikation präzisiert:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER tGA +<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊃ M p(T1 ) ∧ M S(T2 ) ⊃ M S(T1 )<br />

∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊃ I T1 ∧ M S(T2 ) ∩ M p(T1 ) = M S(T1 )<br />

Als zweites Beispiel dient die re<strong>in</strong>e Erweitung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie durch<br />

die Erweiterungsrelation ER rTe +. Sie stellt e<strong>in</strong>e verschärfte Variante der Relation ER rTe re<strong>in</strong>er Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen<br />

dar, die sich ihrerseits <strong>in</strong>vers zur Spezialisierungsrelation SP rTe verhält.<br />

E<strong>in</strong>e solche verschärfte Erweiterungsbeziehung besteht zwischen zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 , wenn<br />

der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T 1 so zum term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 2 erweitert<br />

wird, dass nach der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung aller T 1 -theoretischen <strong>und</strong> aller T 2 -theoretischen<br />

Konstrukte aus beiden Theorien für deren Mengen partieller potenzieller Modelle gilt:<br />

M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ). Unter dieser Voraussetzung resultiert als verschärfte Relation ER rTe + der re<strong>in</strong>en<br />

Term<strong>in</strong>ologieerweiterung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe +<br />

:⇔ M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊃ M p(T1 )<br />

∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />

Aus der Beziehung M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) folgt unmittelbar, dass für die Mengen D T2 <strong>und</strong> D T1 aller denkmöglichen<br />

Anwendungen der beiden Theorien T 2 bzw. T 1 gilt: pot + (M pp(T2 )) ⊃ pot + (M pp(T1 )), also<br />

D T2 ⊃ D T1 . Darüber h<strong>in</strong>aus lässt sich elementar zeigen, dass es bei e<strong>in</strong>er solchen term<strong>in</strong>ologischen<br />

Erweiterung bleibt, ohne dass die Mengen der zulässigen <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen<br />

verändert werden. Daher muss gelten: Z S(T2 ) = Z S(T1 ) <strong>und</strong> I T2 = I T1 . Darauf wird an späterer Stelle zurückgekommen,<br />

um die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie bei e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> term<strong>in</strong>ologischen Erweiterung<br />

beurteilen zu können.<br />

229


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 28<br />

Mit den voranstehenden Ausführungen wurde belegt, dass sich im strukturalistischen Theorienkonzept<br />

e<strong>in</strong>e Vielfalt von Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zwischen korrespondierenden<br />

Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien spezifizieren<br />

lässt. Allerd<strong>in</strong>gs bilden die Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen nur das F<strong>und</strong>ament –<br />

die erste Stufe – des strukturalistischen Fortschrittskonzepts. Denn aus dem Vorliegen e<strong>in</strong>er Spezialisierungs-<br />

oder e<strong>in</strong>er Erweiterungsbeziehung zwischen zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />

kann nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass sich e<strong>in</strong>e der beiden Theorien als fort- oder rückschrittlich<br />

gegenüber der jeweils anderen Theorie erweist. Vielmehr bedarf es auf der zweiten Stufe<br />

des strukturalistischen Fortschrittskonzepts e<strong>in</strong>er zusätzlichen Verknüpfung von theoretischem Fortoder<br />

Rückschritt mit der Erfüllung von Spezialisierungs- oder Erweiterungsbeziehungen. Diese<br />

Verknüpfung wird im Folgenden erörtert.<br />

Um die Anschlussfähigkeit an „weit verbreitete“ Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis- <strong>und</strong><br />

wissenschaftstheoretischen Fachliteratur zu wahren (Anschlussfähigkeitspostulat), wird im strukturalistischen<br />

Fortschrittskonzept von zwei Basisüberlegungen h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen Gehalts<br />

von Theorien ausgegangen:<br />

Die Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie T wird <strong>in</strong> ihrer strukturalistischen Formulierung durch ihren<br />

<strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T vollständig bestimmt. Folglich f<strong>in</strong>det beim Übergang<br />

von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 (ceteris paribus) e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch<br />

Vergrößerung der Anwendungsbreite statt, wenn der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der<br />

Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T1 der Theorie T 1 ist<br />

(<strong>und</strong> die Theoriepräzision bei diesem Theorieübergang nicht abnimmt).<br />

Die Präzision e<strong>in</strong>er Theorie T wird <strong>in</strong> ihrer strukturalistischen Formulierung durch ihre Menge<br />

U T unzulässiger Theorieanwendungen vollständig bestimmt, d.h., e<strong>in</strong>e Theorie ist umso präziser,<br />

je mehr denkmögliche Theorieanwendungen von ihr ausgeschlossen werden. Folglich f<strong>in</strong>det<br />

beim Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 (ceteris paribus) e<strong>in</strong> theoretischer<br />

Fortschritt durch Zunahme der Präzision statt, wenn die Menge U T2 unzulässiger Theorieanwendungen<br />

der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge der Menge U T1 unzulässiger Theorieanwendungen<br />

der Theorie T 1 ist (<strong>und</strong> die Theorieanwendungsbreite bei diesem Theorieübergang nicht<br />

verr<strong>in</strong>gert wird).<br />

Die beiden voranstehenden Basisüberlegungen lassen sich ohne Schwierigkeiten <strong>in</strong> die formalen<br />

Ausdrucksmittel des strukturalistischen Theorienkonzepts übersetzen: Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />

I T e<strong>in</strong>er Theorie T ist im strukturalistischen Theorienkonzept unmittelbar gegeben. Die<br />

Menge U T unzulässiger Theorieanwendungen e<strong>in</strong>er Theorie T lässt sich als Differenzmenge D T / Z T<br />

zwischen der Menge aller denkmöglichen D T <strong>und</strong> der Menge Z T aller zulässigen Anwendungen der<br />

betroffenen Theorie T ermitteln.<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage lässt sich für das hier entfaltete strukturalistische Fortschrittskonzept die erste<br />

Fortschrittsrelation e<strong>in</strong>führen: Es handelt sich um die Fortschrittsrelation FS eG . Sie gestattet relative<br />

Urteile über die Fortschrittlichkeit von Theorien im H<strong>in</strong>blick auf ihren empirischen Gehalt, d.h. ihre<br />

Präzision <strong>und</strong> ihre Anwendungsbreite. Sie wird mithilfe zweier zusätzlicher Fortschrittsrelationen<br />

FS A <strong>und</strong> FS P def<strong>in</strong>iert, mit denen auf analoge Weise relative Urteile über e<strong>in</strong>en Fortschritt durch<br />

Vergrößerung der Anwendungsbreite bzw. durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie ausgedrückt<br />

werden. Mit der Notation (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG für das Vorliegen e<strong>in</strong>es theoretischen Fortschritts h<strong>in</strong>sichtlich<br />

des empirischen Gehalts beim Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 – <strong>und</strong> analogen<br />

Notationen (T 1 ,T 2 ) ∈ FS A <strong>und</strong> (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P für die beiden Hilfsrelationen – können die beiden<br />

voranstehenden Basisüberlegungen <strong>und</strong> formalsprachlich wie folgt präzisiert werden:<br />

mit:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG :⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P )<br />

230


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 29<br />

a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A :⇔ (I T2 ⊃ I T1 ∧ U T2 ⊇ U T1 )<br />

b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P :⇔ (U T2 ⊃ U T1 ∧ I T2 ⊇ I T1 )<br />

Im Folgenden wird vorwiegend nur auf Fortschrittsrelationen näher e<strong>in</strong>gegangen, weil sich die<br />

komplementären Rückschrittsrelationen daraus ohne pr<strong>in</strong>zipielle Schwierigkeiten gew<strong>in</strong>nen lassen.<br />

Nur zuweilen wird auf die Rückschrittsrelationen ausdrücklich h<strong>in</strong>gewiesen, wenn sie im aktuellen<br />

Argumentationskontext von besonderem Interesse s<strong>in</strong>d.<br />

Die beiden Fortschrittsrelationen FS A <strong>und</strong> FS P für das Vorliegen e<strong>in</strong>es Fortschritts durch Vergrößerung<br />

der Anwendungsbreite bzw. durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie lassen sich <strong>in</strong> äquivalenter<br />

Weise def<strong>in</strong>ieren, <strong>in</strong>dem nicht mit den Mengen U T unzulässiger Theorienanwendungen, sondern<br />

mit den Mengen D T <strong>und</strong> Z T denkmöglicher bzw. zulässiger Theorieanwendungen gearbeitet<br />

wird. Hierzu braucht lediglich auf die Substitution U T = D T / Z T zurückgegriffen zu werden:<br />

a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ⇔ (I 2 ⊃ I 1 ∧ D T2 /Z T2 ⊇ D T1 /Z T1 )<br />

b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P ⇔ (D T2 /Z T2 ⊃ D T1 /Z T1 ∧ I 2 ⊇ I 1 )<br />

Diese zuletzt angeführte Darstellungsweise besitzt den Vorzug, mit den Mengen D T <strong>und</strong> Z T nur auf<br />

Konstrukte zurückzugreifen, die auf „orig<strong>in</strong>äre“ Weise im strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>geführt<br />

wurden (vgl. Abb. 2).<br />

Die Fortschrittsrelation FS eG <strong>und</strong> ihre beiden Hilfsrelationen FS A <strong>und</strong> FS P wurden so spezifiziert,<br />

dass e<strong>in</strong> Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite (Zunahme der Präzision) e<strong>in</strong>er Theorie<br />

nicht durch e<strong>in</strong>e entgegengesetzt gerichtete, rückschrittliche Abnahme der Präzision (Verr<strong>in</strong>gerung<br />

der Anwendungsbreite) derselben Theorie konterkariert werden konnte. Dies entspricht e<strong>in</strong>em<br />

ganzheitlichen Fortschrittsverständnis. Ihm zufolge tritt e<strong>in</strong> Fortschritt – hier: h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen<br />

Gehalts e<strong>in</strong>er Theorie – nur dann e<strong>in</strong>, wenn für alle <strong>in</strong>volvierten Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>anten –<br />

hier: die Anwendungsbreite <strong>und</strong> die Präzision e<strong>in</strong>er Theorie – gilt: H<strong>in</strong>sichtlich jeder Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>ante<br />

tritt ke<strong>in</strong> Rückschritt e<strong>in</strong> <strong>und</strong> h<strong>in</strong>sichtlich m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>ante tritt<br />

e<strong>in</strong> Fortschritt e<strong>in</strong>.<br />

Die voranstehend e<strong>in</strong>geführten Fortschrittsrelationen FS eG , FS A <strong>und</strong> FS P spezifizieren das strukturalistische<br />

Fortschrittsverständnis auf „generische“ Weise. Alle weiter führenden Überlegungen beziehen<br />

sich auf Spezialfälle der vorgenannten generischen Fortschrittsrelationen. Diese Spezialfälle<br />

kommen dadurch zustande, dass mithilfe der früher spezifizierten Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsbeziehungen<br />

zwischen charakteristischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für<br />

strukturalistisch formulierte Theorien h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gungen dafür spezifiziert werden, dass e<strong>in</strong><br />

theoretischer Fortschritt im S<strong>in</strong>ne der o.a. Fortschrittsrelationen erfolgt.<br />

Beispielsweise führt e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung, bei der die Modellmenge der spezialisierenden<br />

Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Modellmenge der Referenztheorie T 1 darstellt, zu ei-<br />

231


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 30<br />

nem theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Die Präzision der spezialisierenden<br />

Theorie T 2 nimmt gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 zu, ohne dass die Anwendungsbreite<br />

der Theorie verr<strong>in</strong>gert wird (die Anwendungsbreite bleibt sogar unverändert). Folglich<br />

gilt für die re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />

Auch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung, bei der die Restriktionenmenge der spezialisierenden<br />

Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge der Referenztheorie T 1 darstellt, führt zu<br />

e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Die Präzision der<br />

spezialisierenden Theorie T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 nimmt zu, ohne dass die Anwendungsbreite<br />

der Theorie verr<strong>in</strong>gert wird (die Anwendungsbreite bleibt sogar unverändert). Folglich<br />

gilt für die re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />

Dagegen bedeutet z.B. e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung, bei welcher der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />

der spezialisierenden Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs<br />

der Referenztheorie T 1 darstellt, e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt durch e<strong>in</strong>e Abnahme des<br />

empirischen Gehalts. Die Anwendungsbreite der spezialisierenden Theorie T 2 wird gegenüber ihrer<br />

Referenztheorie verr<strong>in</strong>gert, ohne dass die Präzision der Theorie zunimmt (die Präzision bleibt sogar<br />

unverändert). Folglich gilt für die re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung mit RS als Reduktionsrelation:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ RS eG<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ RS A<br />

Aus der Fortschrittsperspektive erweist sich h<strong>in</strong>gegen der <strong>in</strong>verse Fall e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung<br />

als <strong>in</strong>teressanter. Hierbei stellt der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der erweiternden<br />

Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs der Referenztheorie T 1 dar,<br />

sodass es zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts kommt.<br />

Die Anwendungsbreite der erweiternden Theorie T 2 wird gegenüber ihrer Referenztheorie vergrößert,<br />

ohne dass die Präzision der Theorie abnimmt (die Präzision bleibt sogar unverändert). Folglich<br />

gilt für die re<strong>in</strong>e Anwendungserweiterung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS A<br />

Der theoretische Fortschritt durch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung oder durch e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante<br />

Kernspezialisierung stellen e<strong>in</strong>en Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />

gegenüber alternativen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n dar. Denn nur im strukturalistischen<br />

Theorienkonzept s<strong>in</strong>d Restriktionenmengen <strong>und</strong> Theoriekerne def<strong>in</strong>iert, auf die sich die beiden vorgenannten<br />

Spezialisierungsrelationen beziehen. Dadurch wird das e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Differenzierungspostulat<br />

vom strukturalistischen Fortschrittskonzept erfüllt.<br />

E<strong>in</strong>en weiteren Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts bildet e<strong>in</strong>e Fortschrittsursache<br />

sui generis. Sie betrifft e<strong>in</strong>en theoretischen „Fortschritt“, der als Folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en<br />

Term<strong>in</strong>ologieerweiterung durch die verschärfte Erweiterungsrelation ER rTe + auftritt. Diese spezielle<br />

Erweiterungsrelation ER rTe + wurde bereits an früherer Stelle def<strong>in</strong>iert. Bei e<strong>in</strong>er solchen re<strong>in</strong>en<br />

Term<strong>in</strong>ologieerweiterung wird der term<strong>in</strong>ologische Apparat M p(T2 ) der Theorie T 2 gegenüber dem<br />

232


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 31<br />

term<strong>in</strong>ologischen Apparat M p(T1 ) der Referenztheorie T 1 so vergrößert, dass nach der RAMSEY-<br />

Elim<strong>in</strong>ierung aller T 1 - <strong>und</strong> T 2 -theoretischen Konstrukte für die Mengen D T2 <strong>und</strong> D T1 der denkmöglichen<br />

Anwendungen der beiden Theorien T 1 bzw. T 2 gilt: M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ). Daraus folgt unmittelbar<br />

pot + (M pp(T2 )) ⊃ pot + (M pp(T1 )), also auch D T2 ⊃ D T1 . Da die Def<strong>in</strong>ition der verschärften Erweiterungsrelation<br />

ER rTe + des Weiteren die Komponente M S(T2 ) = M S(T 1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T 1 ) ∧ I T2 = I T1 umfasst, bleiben<br />

die Mengen der zulässigen <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen beim Übergang von der<br />

Theorie T 1 auf die Theorie T 2 unverändert: Z T2 = Z T1 <strong>und</strong> I T2 = I T1 . Wegen D T2 ⊃ D T1 <strong>und</strong> Z T2 = Z T1<br />

gilt D T2 / Z T2 ⊃ D T1 / Z T1 , also auch U T2 ⊃ U T1 . Da für die Mengen U T2 <strong>und</strong> U T1 unzulässiger Anwendungen<br />

der Theorien T 2 bzw. T 1 die Beziehung U T2 ⊃ U T1 gilt, ist der Umfang der potenziellen Falsifikatoren<br />

der Theorie T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 als Folge des erweiterten term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparats der Theorie T 2 angestiegen. Dadurch nimmt die Präzision der Theorie T 2 gegenüber<br />

ihrer Referenztheorie T 1 zu. Zugleich bleibt die Anwendungsbreite der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2<br />

wegen I T2 = I T1 unverändert. Deshalb kommt es <strong>in</strong>sgesamt zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch<br />

e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Folglich gilt für die re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe + ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe + ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />

E<strong>in</strong> theoretischen „Fortschritt“, der <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung durch die verschärfte<br />

Erweiterungsrelation ER rTe + auftritt, wird im Allgeme<strong>in</strong>en auf erhebliche Bedenken stoßen.<br />

Dafür sprechen im Wesentlichen drei Gründe. Erstens entspricht e<strong>in</strong> solcher „Fortschritt“, der ausschließlich<br />

auf Erweiterungen des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie beruht, nicht dem <strong>in</strong>tuitiven<br />

Fortschrittsverständnis. Stattdessen wird e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt gewöhnlich an die größere<br />

Präzision, die größere Anwendungsbreite oder die größere empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie<br />

geknüpft. Zweitens dürfte kaum e<strong>in</strong> Interesse daran bestehen, die Term<strong>in</strong>ologie e<strong>in</strong>er Theorie<br />

um ihrer selbst willen zu erweitern. Stattdessen wird – <strong>und</strong> dies lässt sich als e<strong>in</strong> dritter Gr<strong>und</strong> auffassen<br />

– e<strong>in</strong>e Ausdehnung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie zumeist von Veränderungen<br />

ihrer gesetzesartigen Aussagen oder ihrer Restriktionen begleitet se<strong>in</strong>. Diese Veränderungen<br />

führen wiederum dazu, dass sich die Menge der zulässigen Theorieanwendungen <strong>in</strong> der Regel verändert.<br />

Dies verstößt gegen die Beziehung Z T2 = Z T1 , die aus e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />

durch die verschärfte Erweiterungsrelation ER rTe + zwangsläufig resultiert. Aus den vorgenannten<br />

Gründen erachtet der Verfasser e<strong>in</strong>en theoretischen „Fortschritt“ <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />

als e<strong>in</strong>en Grenzfall. Zwar verdeutlicht er exemplarisch die <strong>in</strong>haltliche Breite des strukturalistischen<br />

Fortschrittskonzepts, jedoch dürfte er für die Beurteilung der Fortschrittlichkeit von<br />

Theorien im praktischen Wissenschaftsbetrieb ke<strong>in</strong>e nennenswerte Rolle spielen.<br />

3.2.4 Erweiterung um Evidenzaspekte<br />

Das strukturalistische Fortschrittskonzept bleibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er bislang entfalteten Form darauf beschränkt,<br />

die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihres empirischen Gehalts –<br />

also im H<strong>in</strong>blick auf ihre Anwendungsbreite <strong>und</strong> ihre Präzision – zu beurteilen. Die Spezialisierungs-<br />

<strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zwischen korrespondierenden Theoriekomponenten aus dem<br />

Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien lassen sich aber nicht dazu benutzen, die<br />

Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer empirischen Bewährung (Evidenz) zu<br />

beurteilen. Diese „Bewährungslücke“ lässt sich strukturalistischen Theorienkonzept jedoch ohne<br />

Schwierigkeiten schließen.<br />

233


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 32<br />

Den Ausgangspunkt bilden die Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten bzw. aller widerlegten Anwendungen<br />

e<strong>in</strong>er Theorie T. Wie schon mehrfach verdeutlicht, wird wiederum nur auf mengentheoretische<br />

Inklusionsbeziehungen zurückgegriffen. Sie reichen aus, um e<strong>in</strong>en theoretischen Fort- oder<br />

Rückschritt durch Vergrößerung bzw. Verr<strong>in</strong>gerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie –<br />

oder synonym: durch Erhöhung bzw. Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieevidenz – präzise zu spezifizieren.<br />

Die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T nimmt zu, wenn die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen<br />

anwächst, ohne dass die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen an Umfang zunimmt.<br />

Dagegen nimmt die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T ab, wenn die Menge W T ihrer<br />

widerlegten Anwendungen anwächst, ohne dass die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen an<br />

Umfang zunimmt. Mit FS eB - als Relation für e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt durch Vergrößerung der<br />

empirischen Theoriebewährung <strong>und</strong> RS eB - als Relation für e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt durch<br />

Verr<strong>in</strong>gerung der empirischen Theoriebewährung lassen sich die zugehörigen strukturalistischen<br />

Fort- bzw. Rückschrittsbeziehungen wie folgt spezifizieren:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB - :⇔ (B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 )<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ RS eB - :⇔ (W T2 ⊃ W T1 ∧ B T2 ⊆ B T1 )<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus ist es möglich, die voranstehenden Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen FS eB - bzw.<br />

RS eB - dadurch zu verallgeme<strong>in</strong>ern, dass auch folgende Fälle zugelassen werden, die nicht unmittelbar<br />

auf der Hand liegen, aber dem <strong>in</strong>tuitiven Fort- bzw. Rückschrittsverständnis ebenso gerecht<br />

werden: E<strong>in</strong>erseits kann e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der empirischen Bewährung<br />

e<strong>in</strong>er Theorie T auch dadurch e<strong>in</strong>treten, dass die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen unverändert<br />

bleibt <strong>und</strong> die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen schrumpft. Andererseits kann e<strong>in</strong><br />

theoretischer Rückschritt durch Abnahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T auch dadurch<br />

stattf<strong>in</strong>den, dass die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen unverändert bleibt <strong>und</strong> die<br />

Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen schrumpft. Werden diese beiden letztgenannten Fälle e-<br />

benso berücksichtigt, so gilt für die verallgeme<strong>in</strong>erten Fort- bzw. Rückschrittsrelationen FS eB bzw.<br />

RS eB des strukturalistischen Theorienkonzepts im H<strong>in</strong>blick auf die empirische Theoriebewährung:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB :⇔ ((B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 ) ∨ (B T2 = B T1 ∧ W T2 ⊂ W T1 ))<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ RS eB :⇔ ((W T2 ⊃ W T1 ∧ B T2 ⊆ B T1 ) ∨ (W T2 = W T1 ∧ B T2 ⊂ B T1 ))<br />

Von den verallgeme<strong>in</strong>erten Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen FS eB bzw. RS eB wird im Folgenden<br />

ausgegangen. Sie schließen die oben angeführte „Bewährungslücke“ des strukturalistischen Fortschrittskonzepts.<br />

Sie werden auch als Evidenzrelationen bezeichnet, weil sie sich auf die empirische<br />

Bewährung von Theorien – oder kurz: ihre Evidenz – beziehen.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der bislang entfalteten Fortschrittsrelationen lässt sich das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er – vorläufigen – Fortschrittsrelation FS zusammenfassen. Sie berücksichtigt<br />

sowohl den theoretischen Fortschritt aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Zunahme des empirischen Gehalts als<br />

auch aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Zunahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie. Für den Übergang e<strong>in</strong>er<br />

Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 ist diese „umfassende“ strukturalistische Fortschrittsrelation FS wie<br />

folgt def<strong>in</strong>iert:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS :⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB )<br />

mit:<br />

⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB )<br />

234


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 33<br />

a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A :⇔ (I 2 ⊃ I 1 ∧ U T2 ⊇ U T1 )<br />

b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />

(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P :⇔ (U T2 ⊃ U T1 ∧ I 2 ⊇ I 1 )<br />

c) Fortschritt durch Zunahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB :⇔ ((B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 ) ∨ (B T2 = B T1 ∧ W T2 ⊂ W T1 ))<br />

Die strukturalistische Fortschrittsrelation FS geht sowohl h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Präzision als auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihres Inhalts bereits deutlich über das h<strong>in</strong>aus, was <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>schlägigen Fachliteratur zu<br />

<strong>Fortschrittskonzepte</strong>n üblich ist.<br />

3.2.5 Zwischenfazit für das strukturalistische Fortschrittskonzept<br />

Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte zusammengefasst, die <strong>in</strong> den voranstehenden Ausführungen<br />

entwickelt wurden, um die Fort- oder Rückschrittlichkeit 1) von Theorien zu beurteilen,<br />

die im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts (re-) konstruiert wurden.<br />

Als Fortschrittsursachen gelten die Spezialisierungs- <strong>und</strong> die Erweiterungsbeziehungen, die zwischen<br />

Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien oder<br />

daraus abgeleiteten Theoriekomponenten bestehen. Denn der Übergang zwischen zwei Theorien,<br />

die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer relativen Fort- oder Rückschrittlichkeit beurteilt werden, wird im strukturalistischen<br />

Theorienkonzept durch diejenigen Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsbeziehungen bewirkt,<br />

die an früherer Stelle ausführlich erläutert wurden. Je nachdem, wie diese Spezialisierungs- <strong>und</strong><br />

Erweiterungsbeziehungen entweder isoliert oder aber auch mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>iert werden, kann im<br />

strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>e breite Palette verschiedenartiger Fortschrittsrelationen<br />

spezifiziert werden. Jede dieser Fortschrittsrelationen def<strong>in</strong>iert e<strong>in</strong>e relationsspezifische Fortschrittsart<br />

im strukturalistischen Theorienkonzept.<br />

Die Fortschrittsdimensionen s<strong>in</strong>d die drei – „trichotomen“ – Bereiche des Theoriekerns, der Theorieanwendung<br />

<strong>und</strong> der Theorieüberprüfung. 2) Sie durchziehen das strukturalistische Theorienkonzept<br />

wie e<strong>in</strong> „roter Faden“. Sie bieten sich an, um die Vielfalt strukturalistisch identifizierbarer<br />

Fortschrittsursachen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> übersichtliches, drei-dimensionales Schema e<strong>in</strong>zuordnen:<br />

Fortschrittsdimension des Theoriekerns: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Präzisionserhöhung knüpft<br />

ausschließlich an Spezialisierungen von Komponenten des Theoriekerns an. Als drei „normale“<br />

Beispiele wurden Fortschritte durch re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung, re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung<br />

<strong>und</strong> term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung vorgestellt. Daneben kommt auch e<strong>in</strong>e<br />

re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterung als präzisionserhöhende Fortschrittsursache <strong>in</strong> Betracht. Sie<br />

stellt jedoch e<strong>in</strong>e Sonderform dar, über deren epistemische Relevanz sich streiten lässt.<br />

1) Der Übersichtlichkeit halber ist im Folgenden nur noch von Fortschrittsaspekten explizit die Rede. Rückschrittsaspekte<br />

werden hierbei implizit mitgedacht.<br />

2) Die gleichen drei Fortschrittsdimensionen heben als Arten des normalwissenschaftlichen – oder synonym: evolutionären<br />

– Fortschritts hervor: STEGMÜLLER (1979), S. 33 u. 95; STEGMÜLLER (1983), S. 1072; GADENNE (1984), S.<br />

153, sowie STEGMÜLLER (1986), S. 114 f.<br />

235


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 34<br />

Fortschrittsdimension der Theorieanwendung: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Varianzerhöhung beruht<br />

ausschließlich auf Erweiterungen des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs e<strong>in</strong>er Theorie. Er<br />

resultiert aus der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung e<strong>in</strong>er Theorie.<br />

Fortschrittsdimension der Theorieüberprüfung: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Evidenzerhöhung<br />

kann bei empirischen Theorieüberprüfungen e<strong>in</strong>treten. Er lässt sich auf Erweiterungen der<br />

Menge bestätigter <strong>und</strong> auf Spezialisierungen der Menge widerlegter Theorieanwendungen zurückführen,<br />

die so mite<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d, dass die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie<br />

zunimmt.<br />

In der nachfolgenden Abb. 4 wird verdeutlicht, wie sich die Fortschrittsursachen des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts <strong>in</strong> die charakteristische Trichotomie aus den Fortschrittsdimensionen Theoriekern,<br />

Theorieanwendung <strong>und</strong> Theorieüberprüfung e<strong>in</strong>betten lassen.<br />

Aus der Abb. 4 wird deutlich, dass der „non statement view“ h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts<br />

mit den konventionellen Fortschrittsauffassungen des „statement view“ weit gehend übere<strong>in</strong>stimmt.<br />

Dies gilt zum<strong>in</strong>dest bei e<strong>in</strong>er ersten, groben Annäherung an die Fortschrittsauffassungen der<br />

beiden Theorienkonzepte. Der e<strong>in</strong>zige offensichtliche Unterschied besteht dar<strong>in</strong>, dass aus der Perspektive<br />

des „statement view“ zunächst e<strong>in</strong>e dichotome Differenzierung erfolgt: 1) Es wird zwischen<br />

e<strong>in</strong>em Fortschritt durch Vergrößerung des empirischen Gehalts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Fortschritt durch Vergrößerung<br />

der empirischen Bewährung unterschieden. Erst danach wird der gehaltsbezogene Fortschritt<br />

<strong>in</strong> zwei Aspekte aufgespalten. E<strong>in</strong>erseits kann er sich durch e<strong>in</strong>e Vergrößerung der Präzision<br />

e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>stellen. Andererseits kommt ebenso e<strong>in</strong>e Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er<br />

Theorie <strong>in</strong> Betracht. Sobald diese Aufspaltung vollzogen ist, bietet die Fortschrittskonzeption<br />

des „statement view“ das gleiche trichotome Ersche<strong>in</strong>ungsbild, wie es von den drei Fortschrittsdimensionen<br />

des „non statement view“ aufgespannt wird. Aufgr<strong>und</strong> dieser großen Ähnlichkeit lässt<br />

sich e<strong>in</strong> weiteres Mal die Anschlussfähigkeit des strukturalistischen Theorienkonzepts an das konventionelle<br />

Theorienverständnis unterstreichen.<br />

Die Eigenarten des strukturalistischen Theorienkonzepts zeigen sich im H<strong>in</strong>blick auf die Konzeptualisierung<br />

wissenschaftlichen Fortschritts erst bei genauerem H<strong>in</strong>sehen. Sie lassen sich im Wesentlichen<br />

<strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht identifizieren.<br />

Erstens weist das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong> beträchtlich größeres Potenzial zur Differenzierung<br />

wissenschaftlichen Fortschritts auf. Im konventionellen Theorienkonzept wird nur zwischen<br />

drei Fortschrittsarten unterschieden: Zunahme der Theoriepräzision, Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />

<strong>und</strong> Vergrößerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie. Spezielle Ursachen<br />

dieser Fortschrittsarten werden im Allgeme<strong>in</strong>en nicht explizit thematisiert.<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept übernimmt diese drei Fortschrittsarten zwar als drei Fortschrittsdimensionen,<br />

verfe<strong>in</strong>ert diese jedoch durch e<strong>in</strong>e größere Anzahl von Fortschrittsarten, die<br />

jeweils durch e<strong>in</strong>e strukturalistische Fortschrittsrelation def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Als Beispiele für diese Fortschrittsrelationen<br />

wurden hier vor allem die Fortschritte durch re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierungen,<br />

durch re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierungen, durch term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierungen,<br />

durch re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen, durch re<strong>in</strong>e Anwendungserweiterungen sowie durch Zunahme<br />

der empirischen Bewährung thematisiert. Es wurde jedoch zuvor gezeigt, dass sich im strukturalistischen<br />

Theorienkonzept e<strong>in</strong>e weitaus größere Anzahl von Fortschrittsrelationen spezifizieren<br />

lässt, die jeweils andere Fortschrittsarten def<strong>in</strong>ieren.<br />

1) Die Fortschrittsdichotomie zwischen Vergrößerung des empirischen Gehalts <strong>und</strong> Vergrößerung der empirischen<br />

Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie wird besonders deutlich bei POPPER (1984), S. 77 ff. („Grade der Prüfbarkeit“, die als<br />

empirischer Theoriegehalt konkretisiert werden) versus S. 198 ff. („Bewährung“). Ebenso klar hebt POPPER (1984)<br />

diese Dichotomie auf S. 347 hervor: „Ich glaube, daß diese beiden Begriffe – der des Gehaltes <strong>und</strong> der des Grades<br />

der Bewährung – die wichtigsten logischen Werkzeuge s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Buch entwickelt wurden.“<br />

236


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 35<br />

Präzision<br />

der Theorie<br />

Anwendungsbreite<br />

der Theorie<br />

re<strong>in</strong>e Gesetzes-/<br />

Restriktionsspezialisierung,<br />

term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante<br />

Kernspezialisierung<br />

re<strong>in</strong>e<br />

Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />

re<strong>in</strong>e<br />

Anwendungserweiterung<br />

Fortschritt durch<br />

re<strong>in</strong>e Präzisionserhöhung<br />

(Bestimmtheit)<br />

Fortschritt durch<br />

re<strong>in</strong>e Varianzerhöhung<br />

(Allgeme<strong>in</strong>heit)<br />

Vergrößerung des empirischen Gehalts<br />

Fortschritt<br />

Vergrößerung der empirischen Bewährung<br />

Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Evidenzerhöhung<br />

empirische<br />

Überprüfung<br />

empirische Gesamthypothese<br />

der Theorie<br />

Abb. 4: Fortschrittsursachen <strong>und</strong> -dimensionen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

237


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 36<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus bietet das strukturalistische Fortschrittskonzept die Gelegenheit, nicht nur Fortschrittsarten<br />

auf den Phänomenebene zu identifizieren, sondern diese auch auf Spezialisierungs<strong>und</strong><br />

Erweiterungsbeziehungen als Fortschrittsursachen zurückzuführen. Zwar wurde oben schon<br />

angedeutet, dass bei weitem nicht alle Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zu e<strong>in</strong>em theoretischen<br />

Forschritt führen. Aber selbst dann, wenn dieser Sachverhalt berücksichtigt wird, stellt das<br />

strukturalistische Theorienkonzept noch weit mehr – sogar explizit thematisierte – Fortschrittsursachen<br />

<strong>und</strong> darauf aufbauende Fortschrittsarten zur Verfügung, als im konventionellen Theorienkonzept<br />

bekannt s<strong>in</strong>d. Beispielsweise s<strong>in</strong>d im konventionellen Theorienkonzept Fortschritte, die durch<br />

re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierungen, durch term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierungen oder durch<br />

re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen verursacht werden, überhaupt nicht bekannt.<br />

Folglich zeichnet sich das strukturalistische Fortschrittskonzept durch e<strong>in</strong>en Überschussgehalt gegenüber<br />

dem konventionellen Theorienkonzept aus. Er betrifft sowohl die Varietät von Fortschrittsarten<br />

als auch die explizite Berücksichtigung von Fortschrittsursachen. Damit verfügt das strukturalistische<br />

Theorienkonzept über e<strong>in</strong> größeres Differenzierungspotenzial für die Reflexion wissenschaftlichen<br />

Fortschritts, das weit über die drei üblichen Fortschrittsarten des konventionellen Theorienkonzepts<br />

h<strong>in</strong>ausweist.<br />

Zweitens ermöglicht das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>e präzise Messung der Fortschrittlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie. Die <strong>Fortschrittsmessung</strong> beruht auf der I-<br />

dee, sämtliche Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien ausschließlich auf mengentheoretische<br />

Inklusionsbeziehungen zwischen Komponente aus den jeweils mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />

Theorien zurückzuführen. Mittels dieser Inklusionsbeziehungen kann genau dann e<strong>in</strong> relatives<br />

Urteil über die Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie gefällt werden, wenn diese Theorie<br />

<strong>und</strong> ihre Referenztheorie die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen „⊂“, „⊆“, „=“, „⊇“ oder<br />

„⊃“ aus der Spezifikation e<strong>in</strong>er strukturalistischen Fort- bzw. Rückschrittsrelation erfüllen. Die<br />

Messung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf ihre Referenztheorie erfolgt<br />

dadurch, dass überprüft wird, ob die spezifizierten Inklusionsbeziehungen erfüllt s<strong>in</strong>d oder nicht.<br />

Diese besondere Art der relativen, mengentheoretisch f<strong>und</strong>ierten Messung ermöglicht zwar ke<strong>in</strong>e<br />

Abbildung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien auf absolute, numerische Werte e<strong>in</strong>er<br />

Kard<strong>in</strong>alskala. Aber sie erweist sich als ausdrucksstark genug, um die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

von Theorien durch relative, mengenwertige Urteile auf e<strong>in</strong>er Ord<strong>in</strong>alskala auszudrücken.<br />

Durch diesen zwar eigentümlichen, aber nichtsdestoweniger formalsprachlich präzisen Ansatz zur<br />

Messung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien unterscheidet sich das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept abermals deutlich von den meisten Fortschrittsauffassungen des „statement<br />

view“. Seitens jener Fortschrittsauffassungen wird die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien<br />

zumeist nur natürlichsprachlich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Zunahme der Theoriepräzision, e<strong>in</strong>er Vergrößerung<br />

der Anwendungsbreite oder e<strong>in</strong>er Vergrößerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie beschrieben.<br />

Formalsprachliche Konkretisierungen für die Theoriepräzision, die Anwendungsbreite<br />

<strong>und</strong> die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie unterbleiben jedoch im Allgeme<strong>in</strong>en. Noch seltener<br />

werden Ansätze zur präzisen Messung der Zunahme bzw. Vergrößerung der vorgenannten Konstrukte<br />

vorgelegt. Folglich wird das e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Messbarkeitspostulat durch das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept – nach derzeitigem Kenntnisstand – durch das strukturalistische Theorienkonzept<br />

noch am besten erfüllt.<br />

238


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 37<br />

3.2.6 Erweiterung um komplexere <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen<br />

3.2.6.1 Überblick<br />

E<strong>in</strong>e wesentliche E<strong>in</strong>schränkung des bislang entfalteten strukturalistischen Fortschrittskonzepts besteht<br />

dar<strong>in</strong>, dass (relative) Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien ausschließlich<br />

auf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zurückgeführt wurden. Diese Inklusionsbeziehungen<br />

bestehen entweder direkt zwischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch<br />

formulierte Theorien oder zwischen daraus abgeleiteten Theoriekomponenten. Erstes<br />

betrifft die charakteristischen Theoriekomponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) , C S(T) <strong>und</strong> I T , die vor allem <strong>in</strong><br />

den Spezialisierungs- <strong>und</strong> von Erweiterungsrelationen verwendet werden. Die daraus abgeleiteten<br />

Theoriekomponenten D T , Z T <strong>und</strong> U T sowie B T <strong>und</strong> W T fließen dagegen – neben dem <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungsbereich I T – vornehmlich <strong>in</strong> die Spezifikationen der Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts e<strong>in</strong>.<br />

Zwar erweisen sich diese mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen wegen ihrer e<strong>in</strong>fachen Def<strong>in</strong>ition<br />

<strong>und</strong> unmittelbaren Transparenz als „erste Wahl“ für die Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

von Theorien. Aber sie schöpfen das Potenzial für wohlbegründete Fort- oder Rückschrittlichkeitsurteile<br />

nicht aus. Denn es lassen sich auch komplexere Beziehungsstrukturen zwischen<br />

Theorien spezifizieren, die weiterh<strong>in</strong> wohlbegründete Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

von Theorien zulassen. Hierzu dienen die so genannten Relationen 2. Stufe, die schon an<br />

früherer Stelle erwähnt wurden. Ihre Bezeichnung weist darauf h<strong>in</strong>, dass es sich im Gegensatz zu<br />

den mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, die <strong>in</strong> diesem Argumentationszusammenhang<br />

auch als Relationen 1. Stufe angesprochen werden, um Konstrukte höherer Komplexität handelt.<br />

Die Relationen 2. Stufe weisen e<strong>in</strong>en ambivalenten Charakter auf. E<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d sie mathematisch<br />

komplexer formuliert <strong>und</strong> auch schwerer zu überprüfen als die Relationen 1. Stufe, weil die Relationen<br />

2. Stufe das „sichere“ F<strong>und</strong>ament e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> mengentheoretischen Analyse <strong>in</strong>ter-theoretischer<br />

Abhängigkeiten verlassen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird auf die Relationen 2. Stufe im Allgeme<strong>in</strong>en erst<br />

dann zurückgegriffen, wenn die Anwendung von Relationen 1. Stufe zu ke<strong>in</strong>en zufrieden stellenden<br />

Erkenntnissen über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien führt. Andererseits erweisen<br />

sich die Relationen 2. Stufe als e<strong>in</strong> bemerkenswertes „Sammelbecken“ für <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen,<br />

die sich aus wissenschaftstheoretischer Perspektive nicht nur als besonders diffizil, sondern<br />

auch als besonders <strong>in</strong>teressant erweisen. Wesentliche Beiträge zur Fortentwicklung des strukturalistischen<br />

Theorienkonzepts erfolgen zurzeit auf diesem Gebiet der Relationen 2. Stufe, wie etwa bei<br />

der Analyse von <strong>in</strong>ter-theoretischen <strong>und</strong> Approximations-, Reduktions- <strong>und</strong> Theoretisierungsrelationen.<br />

Des Weiteren bieten sich die Relationen 2. Stufe an, um „Licht <strong>in</strong>s Dunkel“ von revolutionären,<br />

„Paradigma sprengenden“ Theorieentwicklungen zu br<strong>in</strong>gen. Denn sie greifen – aus der Perspektive<br />

des strukturalistischen Theorienkonzepts – erst dort, wo sich die <strong>in</strong>ner-paradigmatischen Inklusionsbeziehungen<br />

zwischen den Theorien e<strong>in</strong>es Theoriennetzes nicht mehr anwenden lassen. Da die<br />

Relationen 2. Stufe ebenso präzise def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d wie die Relationen 1. Stufe, gestatten sie <strong>in</strong> dem<br />

Ausmaß, wie sie sich tatsächlich anwenden lassen, die revolutionären „Paradigmen-Wechsel“ im<br />

S<strong>in</strong>ne von KUHN formalsprachlich zu rekonstruieren <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er rationalen Betrachtungsweise zuzuführen.<br />

Insbesondere leisten sie e<strong>in</strong>en Beitrag dazu, die Inkommensurabilitätsthese im S<strong>in</strong>ne von<br />

FEYERABEND, die vor allem im kulturwissenschaftlichen Bereich zahlreiche Anhänger f<strong>in</strong>det, partiell<br />

<strong>in</strong> die Schranken zu verweisen. Dies gel<strong>in</strong>gt so weit, wie sich <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen 2.<br />

Stufe <strong>und</strong> damit verknüpfte Kriterien der wissenschaftlichen Fort- oder Rückschrittlichkeit auf zwei<br />

Theorien anwenden lassen, die zu unterschiedlichen Theoriennetzen gehören <strong>und</strong> somit den Ansche<strong>in</strong><br />

erwecken, sich wegen ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Paradigmen zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>kommensurabel<br />

zu verhalten.<br />

239


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 38<br />

Aus den voranstehenden, skizzenhaften Erläuterungen sollte zweierlei deutlich geworden se<strong>in</strong>. Erstens<br />

stellen die Relationen 2. Stufe im strukturalistischen Theorienkonzept das zwar wissenschaftstheoretisch<br />

<strong>in</strong>teressantere, jedoch sowohl formal als auch <strong>in</strong>haltlich schwerer zu handhabende Instrumentarium<br />

für die Analyse der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien dar. Das Potenzial<br />

für die Spezifikation solcher Relationen 2. Stufe erweist sich als „offen“ – se<strong>in</strong>e Grenze hängt nur<br />

davon ab, welche Beziehungsstrukturen zwischen Theorien <strong>und</strong> ihren Komponenten noch als „überzeugende“<br />

Indikatoren für theoretischen Fort- oder Rückschritt anerkannt werden. Diese Grenze<br />

lässt sich nicht objektiv bestimmen, sondern hängt von subjektiv wertenden Entscheidungen im Basisbereich<br />

e<strong>in</strong>er Wissenschaftlergeme<strong>in</strong>schaft ab, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong> Theorienübergang<br />

noch – oder nicht mehr – als theoretischer Fort- oder Rückschritt anerkannt wird. Als Beispiel<br />

für solche komplexeren Beziehungsstrukturen wird im Folgenden nur kurz auf die <strong>in</strong>ter-theoretische<br />

Reduktionsrelation e<strong>in</strong>gegangen.<br />

3.2.6.2 Theoriereduktionen<br />

Es existiert e<strong>in</strong>e Vielzahl unterschiedlicher Ansätze für die Spezifikation von Reduktionsrelationen.<br />

1) Trotz dieser Vielfalt wird im Folgenden nur e<strong>in</strong>e exemplarisch ausgewählte Reduktionsrelation<br />

behandelt. Sie ersche<strong>in</strong>t dem Verfasser als besonders transparent. Im generischen S<strong>in</strong>ne wird sie<br />

kurz als die Reduktionsrelation angesprochen. Wenn zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 diese Reduktionsrelation<br />

RED erfüllen, so wird dies als (T 1 ,T 2 ) ∈ RED notiert. Es wird dann davon gesprochen, dass sich<br />

die Theorie T 1 auf die Theorie T 2 reduzieren lässt. Theorie T 1 heißt <strong>in</strong> diesem Fall die reduzierte,<br />

Theorie T 2 die reduzierende Theorie.<br />

E<strong>in</strong>e Theorie T 1 lässt sich genau dann auf e<strong>in</strong>e andere Theorie T 2 reduzieren, wenn zwei Bed<strong>in</strong>gungen<br />

erfüllt s<strong>in</strong>d. Erstens muss m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e zweistellige, „bedeutungserhaltende“ Übersetzungsrelation<br />

tr bekannt se<strong>in</strong>, die es gestattet, jedes potenzielle Modell der Theorie T 1 durch m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong> potenzielles Modell der Theorie T 2 auszudrücken. Zweitens ist es erforderlich, dass alle gesetzesartigen<br />

Aussagen der Theorie T 1 als logische Konsequenzen der gesetzesartigen Aussagen aus<br />

der Theorie T 2 rekonstruiert werden können, wenn e<strong>in</strong>e entsprechende Übersetzung zwischen den<br />

unterschiedlichen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten der beiden Theorien erfolgt. Dies bedeutet, dass jedes<br />

Modell der Theorie T 2 , das alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie T 2 erfüllt, nach e<strong>in</strong>er bedeutungserhaltenden<br />

Übersetzung se<strong>in</strong>er Konstrukte zugleich auch e<strong>in</strong> Modell der Theorie T 1 se<strong>in</strong><br />

muss, das alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie T 1 erfüllt. Unter diesen Annahmen lässt sich<br />

die Reduktionsrelation RED wie folgt spezifizieren:<br />

(T 1 ,T 2 ) ∈ RED<br />

:⇔ ∃ tr: (tr ⊆ (M p(T1 ) x M p(T2 )))<br />

∧ (∀m p(T1 ) ∃m p(T2 ): (m p(T1 ),m p(T2 )) ∈ tr)<br />

∧ (∀m p(T1 ) ∀m p(T2 ):<br />

(m p(T1 ) ∈ M p(T 1 ) ∧ m p(T2 ) ∈ M p(T 2 ) ∧ m p(T2 ) ∈ M S(T 2 ) ∧ (m p(T1 ),m p(T2 )) ∈ tr)<br />

→ m p(T1 ) ∈ M S(T 1 ) )<br />

1) Vgl. zu Reduktionsrelationen im H<strong>in</strong>blick auf strukturalistisch formulierte Theorien <strong>und</strong> Theoriennetze STEGMÜL-<br />

LER (1973), S. 144 ff.; STEGMÜLLER (1979), S. 36 ff., 68 f., 71 f., 78 u. 96 ff.; STEGMÜLLER (1980), S. 48 ff., 79 ff.,<br />

101 f., 130 f., 161 ff. u. 190 f.; BALZER/MOULINES/SNEED (1987), S. 252 ff. u. 306 ff.; MANHART (1998), S. 318<br />

ff.; NIEBERGALL (2002), S. 147 ff.; BICKLE (2002), S. 123 ff.<br />

240


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 39<br />

Der Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 auf e<strong>in</strong>e Theorie T 2 stellt aus dieser Perspektive genau dann e<strong>in</strong>en<br />

theoretischen Fortschritt durch Theoriereduktion dar, wenn sich die Theorie T 1 auf die Theorie<br />

T 2 reduzieren lässt, die Umkehrung jedoch nicht zutrifft. Die Essenz dieses Fortschritts liegt dar<strong>in</strong>,<br />

dass alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 als logische Konsequenzen der gesetzesartigen<br />

Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 rekonstruiert werden können. Die fortschrittlichere,<br />

reduzierende Theorie T 2 deckt daher den nomischen Gehalt der reduzierten Theorie T 1 vollständig<br />

ab. Die reduzierende Theorie T 2 besitzt zugleich e<strong>in</strong>en nomischen Überschussgehalt, der <strong>in</strong><br />

der reduzierten Theorie T 1 nicht enthalten ist. Es handelt sich dabei um jene gesetzesartigen Aussagen,<br />

die zwar zur reduzierenden Theorie T 2 , nicht aber zur reduzierten Theorie T 1 gehören. Daher<br />

lässt sich die Reduktionsbeziehung zwischen den beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 nicht umkehren, falls<br />

der Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt darstellt. Da sich bei<br />

diesem Theorienübergang alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 als logische<br />

Konsequenzen aus den gesetzesartigen Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 gew<strong>in</strong>nen lassen, die<br />

Umkehrung jedoch nicht zutrifft, wird oftmals auch davon gesprochen, dass die reduzierende, fortschrittliche<br />

Theorie T 2 e<strong>in</strong>e größere Erklärungskraft als die reduzierte Theorie T 1 besitzt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist die Charakterisierung des Fortschritts durch Theoriereduktion noch unvollständig.<br />

Denn es ist möglich, alle gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie T 1 als logische Konsequenzen der<br />

gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie T 2 abzuleiten, ohne dabei auf das Konzept der Theoriereduktion<br />

zurückzugreifen. Stattdessen ist es ebenso möglich, die beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 als Theorien<br />

aufzufassen, die aus demselben Theoriennetz stammen. Das logische Konsequenzverhältnis<br />

zwischen den gesetzesartigen Aussagen der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 ist auch dann erfüllt, wenn<br />

die Theorie T 2 wegen (T 1 ,T 2 ) ∈ SP G e<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung der Theorie T 1 darstellt.<br />

Daher kommt bei der Theoriereduktion zum logischen Konsequenzverhältnis zwischen wesentlichen<br />

gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong> weiterer Aspekt h<strong>in</strong>zu: Von e<strong>in</strong>em Reduktionsverhältnis zwischen<br />

zwei Theorien wird erst dann gesprochen, wenn es sich um Theorien handelt, die zu verschiedenen<br />

Theoriennetzen gehören. Zwischen den beiden Theorien kann wegen ihrer Zugehörigkeit<br />

zu unterschiedlichen Theoriennetzen ke<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung, <strong>in</strong>sbesondere auch ke<strong>in</strong>e<br />

Gesetzesspezialisierung bestehen. Das schließt alle Erweiterungsbeziehungen e<strong>in</strong>, die stets Umkehrungen<br />

von Spezialisierungsbeziehungen darstellen. Wegen der Nichtexistenz von Spezialisierungsoder<br />

Erweiterungsbeziehungen ist es ausgeschlossen, dass zwischen den beiden betrachteten Theorien<br />

e<strong>in</strong> evolutionärer Übergang erfolgt. Vielmehr bedeutet ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen<br />

Theoriennetzen, dass e<strong>in</strong> Wechsel von e<strong>in</strong>er Theorie zur jeweils anderen Theorie nur <strong>in</strong> revolutionärer<br />

Weise möglich ist. Daher eignet sich die Reduktionsrelation vor allem für die Aufgabe zu untersuchen,<br />

ob sich trotz e<strong>in</strong>es revolutionären Theorienwandels die <strong>in</strong>volvierten Theorien h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihrer Fort- oder Rückschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander vergleichen lassen. Infolgedessen steht die Reduktionsrelation<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er engen <strong>in</strong>haltlichen Beziehung zur Inkommensurabilitäts-These.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus wird hier lediglich der Regelfall betrachtet, <strong>in</strong> dem die term<strong>in</strong>ologischen Apparate<br />

zweier Theorien, die aus unterschiedlichen Theoriennetzen stammen, weder gleich s<strong>in</strong>d noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Spezialisierungsbeziehung zue<strong>in</strong>ander stehen. Es darf also für die term<strong>in</strong>ologischen Apparate<br />

der beiden mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien weder M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) noch M p(T2 ) ⊃ M p(T1 ) gelten. In<br />

diesem Fall wird auch kurz davon geredet, dass die beiden Theorien <strong>in</strong>kompatible – oder synonym:<br />

unverträgliche – term<strong>in</strong>ologische Apparate besitzen. Aufgr<strong>und</strong> dieser term<strong>in</strong>ologischen Inkompatibilität<br />

scheidet es von vornhere<strong>in</strong> aus, alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 wie<br />

bei e<strong>in</strong>er Gesetzesspezialisierung unmittelbar als logische Konsequenzen aus den gesetzesartigen<br />

Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 abzuleiten. Stattdessen ist nur e<strong>in</strong>e mittelbare Rekonstruktion<br />

dieses Konsequenzenverhältnisses möglich. Die Vermittlung stiftet die Übersetzungsrelation tr.<br />

Sie transformiert Ausdrücke aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der e<strong>in</strong>en Theorie <strong>in</strong> entsprechende,<br />

d.h. bedeutungserhaltende Ausdrücke aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der jeweils anderen Theorie.<br />

241


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 40<br />

Zu den wesentlichen Schwierigkeiten des Konzepts der Theoriereduktion gehört es, <strong>in</strong>haltlich festzulegen,<br />

unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Ausdrücke aus <strong>in</strong>kompatiblen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten<br />

e<strong>in</strong>ander so entsprechen, dass e<strong>in</strong>e bedeutungserhaltende Übersetzung vorliegt. 1) Denn jeder term<strong>in</strong>ologische<br />

Apparat e<strong>in</strong>er Theorie lässt sich „irgendwie“ auf den term<strong>in</strong>ologischen Apparat e<strong>in</strong>er<br />

anderen Theorie abbilden. E<strong>in</strong>e derart unkontrollierte Term<strong>in</strong>ologieabbildung liegt dem Übersetzungsbegriff<br />

des Reduktionskonzepts aber nicht zugr<strong>und</strong>e. Stattdessen werden unterschiedliche Kriterien<br />

für die Adäquanz von Übersetzungsrelationen diskutiert. 2) Die Adäquanzkriterien sollen sicherstellen,<br />

dass ke<strong>in</strong>e „unvernünftigen“ oder „absurden“ Übersetzungen zwischen <strong>in</strong>kompatiblen<br />

term<strong>in</strong>ologischen Apparaten erfolgen. Von solchen speziellen Adäquanzkriterien wird im Folgenden<br />

abgesehen. Stattdessen wird nur die allgeme<strong>in</strong>e Anforderung aufrecht erhalten, dass sich jede<br />

Übersetzungsrelation tr als bedeutungserhaltend erweisen muss.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs stehen dem Konzept bedeutungserhaltender Übersetzungsrelationen erhebliche Probleme<br />

entgegen. Diese Probleme s<strong>in</strong>d zunächst pr<strong>in</strong>zipieller Natur. Sie beruhen <strong>in</strong>sbesondere auf sprachanalytischen<br />

Arbeiten von QUINE zur gr<strong>und</strong>sätzlichen Unbestimmtheit von Übersetzungen. 3) Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Übersetzungsunbestimmtheit lässt sich streng genommen am Postulat bedeutungserhaltender<br />

Übersetzungsrelationen zwischen <strong>in</strong>kompatiblen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten von Theorien<br />

aus verschiedenen Theoriennetzen nicht festhalten. Aber <strong>in</strong> wirtschaftswissenschaftlichen Argumentationskontexten<br />

wirken sich die pr<strong>in</strong>zipiellen Übersetzungsunbestimmtheiten nach E<strong>in</strong>schätzung<br />

des Verfassers – bis zum Beweis des Gegenteils – nicht so stark aus, dass sie alle Bemühungen<br />

um „näherungsweise“ bedeutungserhaltende Übersetzungsrelationen für Theoriereduktionen<br />

von vornhere<strong>in</strong> scheitern lassen würden.<br />

Immerh<strong>in</strong> existieren bereits e<strong>in</strong>ige wenige Ansätze, die Hoffnung schöpfen lassen: Sie zeigen für<br />

Spezialfälle auf, wie bedeutungserhaltende Übersetzungen – unter den zuvor geäußerten pr<strong>in</strong>zipiellen<br />

E<strong>in</strong>schränkungen – zwischen Theorien verwirklicht werden können. 4) Aber die ger<strong>in</strong>ge Anzahl<br />

von Arbeiten auf diesem Gebiet lässt erkennen, dass die gravierenden Schwierigkeiten, die durch<br />

bedeutungserhaltende Übersetzungen aufgeworfen werden, bei weitem noch nicht beherrscht werden.<br />

3.2.2 Exemplarische Anwendung des Fortschrittskonzepts<br />

auf die Theorie der Aktivitätsanalyse<br />

3.2.2.1 E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die erforderliche Theorie-Rekonstruktion<br />

Um die Vorgehensweise bei der Anwendung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts <strong>und</strong> se<strong>in</strong><br />

Erkenntnispotenzial exemplarisch zu verdeutlichen, wird im Folgenden exemplarisch auf die ausschnittsweise<br />

Rekonstruktion e<strong>in</strong>es aktivitätsanalytischen Theoriennetzes e<strong>in</strong>gegangen. Für die<br />

Auswahl dieses Beispiels sprechen im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens stellt „die“ Theorie der<br />

Aktivitätsanalyse 5) e<strong>in</strong>e der „modernsten“ <strong>und</strong> <strong>in</strong>teressantesten F<strong>und</strong>amente der Produktionstheorie<br />

1) Ausführlicher wird das Verhältnis zwischen Theoriereduktionen <strong>und</strong> Übersetzungsrelationen behandelt bei<br />

PEARCE (1982), S. 311 ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 299 ff.; BALZER/MOULINES/SNEED (1987), S. 309 ff.<br />

2) Vgl. STEGMÜLLER (1986), S. 129 f. u. 244; PEARCE (1987), S. 11, 55 ff., 64 ff. (<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 44), 110 ff. u.<br />

189.<br />

3) Vgl. zur These der Übersetzungsunbestimmtheit QUINE (2002), S. 56 f., 59 ff., 66 ff., 101 ff., 129 ff. u. 137 ff.<br />

(<strong>in</strong>sbesondere S. 61, 136, 138 u. 146 f.).<br />

4) Vgl. MANHART (1995), S. 273 ff.; SOWA (2000), S. 288 ff.<br />

5) WITTMANN (1979), S. 280 ff.; SHEPHARD/FÄRE (1980), S. 8 ff.; FÄRE (1988), S. 3 ff.; KISTNER (1993), S. 3 ff., 54<br />

ff. u. 238 ff.; DYCKHOFF (2003), S. 26 ff., 54 ff., 83 ff., 137 ff. u. 162 ff.<br />

242


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 41<br />

dar, weil sie es – im Gegensatz zu klassischen Produktionsfunktionen – gestattet, produktionswirtschaftliche<br />

Theorien über e<strong>in</strong>er präzisen, formalsprachlich explizierten <strong>und</strong> axiomatischen Basis zu<br />

errichten. Zweitens bildet die Aktivitätsanalyse e<strong>in</strong> viel versprechendes Untersuchungsobjekt für<br />

Studien über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieentwicklungen. Denn die Debatte über<br />

die „richtige“ Ausformulierung des Effizienzkriteriums der Aktivitätsanalyse hat seit Beg<strong>in</strong>n der<br />

neunziger Jahre zu verschiedenen, noch heute kontrovers diskutierten Fortentwicklungen aktivitätsanalytischer<br />

Theorien geführt.<br />

In der hier gebotenen Kürze können diese Fortentwicklungen aktivitätsanalytischer Theorien weder<br />

systematisch noch vollständig nachgezeichnet werden. Stattdessen wird nur e<strong>in</strong> Teil dieser Entwicklungen<br />

<strong>in</strong> der Form e<strong>in</strong>es (partiellen) Theoriennetzes mithilfe des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />

rekonstruiert. Der Ausschnitt ist so bemessen, dass er ausreicht, um wesentliche Kriterien des<br />

strukturalistischen Fortschrittskonzepts für theoretischen Fort- <strong>und</strong> auch Rückschritt anhand konkreter<br />

Theorieübergänge zu veranschaulichen.<br />

E<strong>in</strong> zentrales Erkenntnis<strong>in</strong>strument der Aktivitätsanalyse stellt das Effizienzkriterium dar. Es bezieht<br />

sich auf Aktivitäten a e<strong>in</strong>es oder mehrerer Produzenten. Diese Produktions-Aktivitäten werden <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em N-dimensionalen Güterraum durch Vektoren a = (x 1 ,...,x N ) T mit entsprechenden Gütere<strong>in</strong>satzmengen<br />

x n < 0 <strong>und</strong> Güterausbr<strong>in</strong>gungsmengen x n > 0 dargestellt (jeweils für n ∈ {1,...,N}).<br />

Das Effizienzkriterium hilft, e<strong>in</strong>e große Anzahl technisch zulässiger Aktivitäten aus weiter führenden<br />

Untersuchungen auszuschließen, weil sie sich aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> mengenmäßigen Betrachtung<br />

als ökonomisch un<strong>in</strong>teressant herausstellen. Für jede dieser „dom<strong>in</strong>ierten“ Aktivitäten a gilt, dass<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e andere, technisch ebenso zulässige Aktivität a* = (x 1 *,...,x N *) T mit x n * ≥ x n für alle<br />

n ∈ {1,...,N} <strong>und</strong> x n * > x n für m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> n ∈ {1,...,N} existiert, d.h., dass die Aktivität a* m<strong>in</strong>destens<br />

die gleichen Güterausbr<strong>in</strong>gungsmengen mit höchstens den gleichen Gütere<strong>in</strong>satzmengen zu<br />

realisieren vermag <strong>und</strong> von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Güterart e<strong>in</strong>e echt größere Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge hervorbr<strong>in</strong>gt<br />

oder von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Güterart e<strong>in</strong>e echt kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>satzmenge verzehrt. Es ersche<strong>in</strong>t<br />

zw<strong>in</strong>gend rational, alle derart dom<strong>in</strong>ierten (<strong>in</strong>effizienten) Aktivitäten a nicht weiter zu würdigen<br />

<strong>und</strong> sich stattdessen nur noch auf die Restmenge aller nicht-dom<strong>in</strong>ierten Aktivitäten zu konzentrieren.<br />

Diese werden auch als effiziente Aktivitäten bezeichnet.<br />

Mit Hilfe des Effizienzkriteriums gel<strong>in</strong>gt es nicht nur, die Menge der ökonomisch <strong>in</strong>teressanten<br />

Produktions-Aktivitäten drastisch zu reduzieren. Vielmehr bestätigt es auch das klassische Dogma<br />

der Produktionstheorie, dass gehaltreiche produktionstheoretische Aussagen ohne jeglichen Wertbezug<br />

ausschließlich auf der Basis von Mengengrößen getroffen werden können. Erst für die Aggregation<br />

von oder die Auswahl zwischen mehreren effizienten Aktivitäten werden – jenseits der<br />

klassischen Produktionstheorie – Wertgrößen erforderlich, die der Kostenwerttheorie entnommen<br />

oder <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er komb<strong>in</strong>ierten Produktions- <strong>und</strong> Kostentheorie betrachtet werden.<br />

Angesichts der <strong>in</strong>tuitiv leichten Verständlichkeit <strong>und</strong> zugleich formalen Präzision des Effizienzkriteriums<br />

überraschte es umso mehr, als die formalsprachliche Behandlung von ökologischen Problemstellungen<br />

mit Mitteln der Aktivitätsanalyse zu der verblüffenden E<strong>in</strong>sicht führte, dass besonders<br />

stark Umwelt verschmutzende Produktionsanlagen im Vergleich mit ähnlichen, aber (relativ)<br />

umweltschonenden Anlagen als effizient e<strong>in</strong>gestuft werden müssen: Produzieren z.B. zwei Kraftwerke<br />

ceteris paribus die gleichen Leistungsmengen, wie etwa elektrischen Strom <strong>und</strong> Heizwärme,<br />

mit gleich hohen Faktore<strong>in</strong>satzmengen <strong>und</strong> unterscheiden sie sich lediglich dadurch, dass das erste<br />

Kraftwerk e<strong>in</strong>e größere Schadstoffmenge – wie etwa Diox<strong>in</strong> – als das zweite an se<strong>in</strong>e Umwelt abgibt,<br />

so wird das zweite vom ersten Kraftwerk gemäß dem o.a. Effizienzkriterium dom<strong>in</strong>iert. Falls<br />

alle weiteren Kraftwerke entweder für die Erzeugung von m<strong>in</strong>destens gleichen Leistungs- <strong>und</strong><br />

Schadstoffmengen von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Faktorart e<strong>in</strong>e größere E<strong>in</strong>satzmenge aufwenden müssen<br />

oder bei höchstens gleichen Faktore<strong>in</strong>satzmengen von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Leistungs- oder Schadstoffart<br />

e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge hervorbr<strong>in</strong>gen, gilt das erste Kraftwerk sogar per def<strong>in</strong>itionem<br />

als e<strong>in</strong>e „effiziente“ Produktionsanlage.<br />

243


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 42<br />

Sachlich etwas verkürzt, aber prägnanter ausgesprochen bedeutet das zuvor skizzierte Phänomen:<br />

Kraftwerke verhalten sich bei sonst gleichen Faktore<strong>in</strong>satz- <strong>und</strong> Leistungsausbr<strong>in</strong>gungsmengen umso<br />

„effizienter“, je größere Schadstoffmengen sie an ihre Umwelt abgeben. Dieses Resultat widerspricht<br />

zwar völlig dem „ges<strong>und</strong>en Menschenverstand“. Aber es ergibt sich zwangsläufig aus der<br />

Anwendung des e<strong>in</strong>gangs vorgestellten, zunächst völlig e<strong>in</strong>leuchtend ersche<strong>in</strong>enden Effizienzkriteriums<br />

der Aktivitätsanalyse.<br />

Folglich besteht e<strong>in</strong>e tiefe Kluft zwischen der E<strong>in</strong>beziehung ökologischer Aspekte <strong>in</strong> die Produktionstheorie<br />

aus der Perspektive des ges<strong>und</strong>en Menschenverstands e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> dem etablierten axiomatischen<br />

F<strong>und</strong>ament der Produktionstheorie <strong>in</strong> Gestalt der Aktivitätsanalyse mit ihrem Effizienzkriterium<br />

andererseits. Diesen Bruch zu heilen stellte seit Beg<strong>in</strong>n der neunziger Jahre e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Herausforderung an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung dar. Sie führte zu alternativen<br />

Ansätzen für e<strong>in</strong>e theoretische Fortentwicklung der Aktivitätsanalyse, die bis heute noch zu<br />

ke<strong>in</strong>em produktionstheoretischen Konsens geführt haben. Allen Ansätzen ist das Bemühen geme<strong>in</strong>sam,<br />

die formalsprachliche, axiomatisch f<strong>und</strong>ierte Formulierung der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />

so zu überarbeiten, dass sie sich auch bei Berücksichtigung der oben skizzierten ökologischen Aspekte<br />

wieder mit den <strong>in</strong>tuitiven E<strong>in</strong>sichten des ges<strong>und</strong>en Menschenverstands vere<strong>in</strong>baren lässt. Diese<br />

Bemühungen stehen im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen zur Rekonstruktion der aktivitätsanalytischen<br />

Theorie aus strukturalistischer Perspektive.<br />

Es wird im Folgenden gezeigt werden, dass „marg<strong>in</strong>ale“ Reparaturen der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />

nicht ausreichen, um ökologische Aspekte <strong>in</strong> das aktivitätsanalytische Effizienzkriterium erfolgreich<br />

zu <strong>in</strong>tegrieren. Stattdessen s<strong>in</strong>d gravierende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die formale Theoriestruktur, also<br />

<strong>in</strong> den Kern K T der aktivitätsanalytischen Theorie T, erforderlich, um Umweltschutzaspekte so zu<br />

repräsentieren, dass sie mit empirisch vorgef<strong>und</strong>enen Produktionsverhältnissen <strong>und</strong> dem ges<strong>und</strong>en<br />

Menschenverstand wieder übere<strong>in</strong>stimmen. Dies gilt zum<strong>in</strong>dest dann, wenn das Versagen des konventionellen<br />

Effizienzkriteriums der Aktivitätsanalyse <strong>und</strong> die Ausdifferenzierung des Güterbegriffs<br />

<strong>in</strong> die drei wertgeladenen Kategorien der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong> der neutralen Güter<br />

<strong>in</strong> die Theorieformulierung e<strong>in</strong>bezogen werden sollen. Daher bedeuten die beiden vorgenannten<br />

Schwierigkeiten <strong>in</strong> der Tat „echte“ Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung:<br />

Sie lassen sich nicht mehr durch marg<strong>in</strong>ale Adjustierungen im Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

bewältigen, sondern erzw<strong>in</strong>gen tief schneidende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die formale Theoriestruktur.<br />

Folgende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> den Kern K T der aktivitätsanalytischen Theorie T s<strong>in</strong>d erforderlich:<br />

Der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T muss so erweitert werden, dass er e<strong>in</strong>e Differenzierung<br />

zwischen den präferenzabhängigen Kategorien der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong><br />

der neutralen Güter erlaubt. Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Modifizierung der Menge M p(T) der potenziellen<br />

Modelle der aktivitätsanalytischen Theorie T.<br />

Das konventionell formulierte Effizienzkriterium der Aktivitätsanalyse muss so erweitert werden,<br />

dass es zwischen den Fällen erwünschter, unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter zu unterscheiden<br />

vermag. Da das Effizienzkriterium die Qualität e<strong>in</strong>er nomischen Hypothese besitzt,<br />

führt dies zu e<strong>in</strong>er Veränderung der Modellmenge M S(T) der aktivitätsanalytischen Theorie T.<br />

Bei e<strong>in</strong>er näheren Befassung mit aktivitätsanalytischen Theorieformulierungen zeigt sich jedoch,<br />

dass ihr Effizienzkriterium ke<strong>in</strong>e atomare gesetzesartige Aussage darstellt. Vielmehr handelt es sich<br />

um e<strong>in</strong> Kompositum aus e<strong>in</strong>er generellen nomischen Rationalitäts-Hypothese, e<strong>in</strong>er nomischen Effizienz-Hypothese<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nomischen Präferenz-Hypothese. Zur Bewältigung der o.a. ökologischen<br />

Herausforderungen reicht es aus, „nur“ die nomische Präferenz-Hypothese durch <strong>in</strong>verse Präferenzen<br />

für die Kategorie unerwünschter Güter <strong>und</strong> „Nicht“-Präferenzen für die Kategorie neutraler<br />

Güter zu erweitern.<br />

244


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 43<br />

3.2.2.2 Strukturalistische Rekonstruktion der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />

im Rahmen e<strong>in</strong>er Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />

In der hier gebotenen Kürze ist es nicht möglich, die strukturalistische Formulierung aktivitätsanalytischer<br />

Theorien im Detail zu erläutern. Stattdessen wird e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache aktivitätsanalytische<br />

(Basis-) Theorie T 0 präsentiert, die an die früheren Erläuterungen zum strukturalistischen Theorienkonzept<br />

im Kapitel 3.1 unmittelbar anknüpft. Sie wird mit Hilfe e<strong>in</strong>es sortierten prädikatenlogischen<br />

Kalküls ausformuliert, weil sich auf diese Weise die nomischen Hypothesen der Aktivitätsanalyse<br />

<strong>in</strong> besonders klarer Form als allquantifizierte Subjugatformeln darstellen lassen.<br />

Unter den Randbed<strong>in</strong>gungen dieser Theorie T 0 werden die Axiome aufgeführt, die für aktivitätsanalytische<br />

Theorieformulierungen charakteristisch s<strong>in</strong>d. Die Axiome schränken den Bereich <strong>in</strong>tendierter<br />

Theorieanwendungen gr<strong>und</strong>sätzlich auf solche denkmöglichen Anwendungen e<strong>in</strong>, die allen axiomatisch<br />

vorausgesetzten Anforderungen gerecht werden. Die ersten sechs Axiome stellen Standardanforderungen<br />

der Aktivitätsanalyse dar. Die beiden letztgenannten Axiome wurden h<strong>in</strong>gegen<br />

ergänzt. Sie besitzen die Qualität von Plausibilitätsanforderungen, die sich aus der erweiterten Ausdrucksmächtigkeit<br />

der prädikatenlogischen Theorieformulierung ergeben. Anschließend wird skizziert,<br />

wie sich aus der Basistheorie T 0 durch sukzessive Transformationen e<strong>in</strong>e modifizierte Theorie<br />

T 6 gew<strong>in</strong>nen lässt, die den e<strong>in</strong>gangs diskutierten ökologischen Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche<br />

Theoriebildung mittels e<strong>in</strong>er Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />

– oder präziser: der zugehörigen nomischen Präferenz-Hypothese – gerecht wird.<br />

In diesem Kapitel werden zunächst nur diejenigen formalen Aspekte hervorgehoben, die beim<br />

Übergang zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Stufen der Theorieentwicklung jeweils e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle<br />

spielen. Erst im nächsten Kapitel werden diese Theorieübergänge materiell <strong>in</strong>terpretiert <strong>und</strong> h<strong>in</strong>sichtlich<br />

ihrer theoretischen Fort- oder Rückschrittlichkeit näher erläutert. Der Leser, der an re<strong>in</strong><br />

formalsprachlichen Theorieformulierungen weniger <strong>in</strong>teressiert ist, kann daher direkt zum nächsten<br />

Kapitel überwechseln.<br />

Aktivitätsanalytische Theorie T 0 :<br />

a) Term<strong>in</strong>ologischer Apparat (potenzielle Modellmenge):<br />

aa) Relevante Objektklassen (Sorten):<br />

sorts:<br />

gütermenge_1<br />

• • •<br />

gütermenge_N<br />

aktivität<br />

artefakt<br />

produzent<br />

ab)<br />

Objektzusammensetzungen <strong>und</strong> Objektbeziehungen<br />

(Funktionssymbole):<br />

funs: akt: gütermenge_1 ... gütermenge_N → aktivität<br />

prod: gütermenge_1 ... gütermenge_N → artefakt<br />

245


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 44<br />

ac) Urteile über Objekte (Prädikatssymbole):<br />

Präs: EFF: aktivität produzent<br />

PRÄF: aktivität produzent aktivität<br />

RAND: aktivität<br />

RAT: aktivität produzent<br />

REAL: aktivität produzent<br />

TECH: aktivität<br />

TECH_BEK: aktivität produzent<br />

ad)<br />

Def<strong>in</strong>itorische Beziehungen für Urteile,<br />

Objektzusammensetzungen <strong>und</strong> Objektbeziehungen:<br />

equs: ∀x 1 ... ∀x N ∀x N+1 : ...<br />

( x 1 ∈TERM gütermenge_1 ∧ ... ∧ x N ∈TERM gütermenge_N ∧ x N+1 ∈TERM aktivität<br />

∧ akt(x 1 ,...,x N ) = x N+1 )<br />

→ x N+1 = (x 1 ,...,x N )<br />

∀a ∀p: EFF(a,p) ...<br />

↔ (TECH_BEK(a,p) ∧ ( ¬(∃a*: TECH_BEK(a*,p) ∧ PRÄF(a*,p,a) )))<br />

∀a ∀x 1 ... ∀x N : a = akt(x 1 ,...,x N ) → ...<br />

( RAND(a)<br />

↔ (( TECH(a) → (∀ε∈R + ∃a* ∃x 1 * ... ∃x N *: a* = akt(x 1 *,...,x N *)<br />

∧ (∀n∈{1,...,N}: x n -ε ≤ x n ≤ x n +ε) ∧ ¬TECH(a*) ))<br />

∧ ( ¬TECH(a) → (∀ε∈R + ∃a* ∃x 1 * ... ∃x N *: a* = akt(x 1 *,...,x N *)<br />

∧ (∀n∈{1,...,N}: x n -ε ≤ x n ≤ x n +ε) ∧ TECH(a*) ))))<br />

b) Wesentliche gesetzesartige Aussagen (Modellmenge):<br />

ba)<br />

Nomische Rationalitäts-Hypothese:<br />

GES_RAT :⇔ ∀a ... ∀p: REAL(a,p) → RAT(a,p)<br />

bb)<br />

Nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.):<br />

GES_EFF :⇔ ∀a ... ∀p: RAT(a,p) → EFF(a,p)<br />

246


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 45<br />

bc)<br />

Nomische Präferenz-Hypothese:<br />

GES_PRÄ :⇔ ...<br />

∀a 1 ∀p ∀a 2 ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀x 2.1 ... ∀x 2.N : ...<br />

( a 1 = akt(x 1.1 ,...,x 1.N ) ∧ a 2 = akt(x 2.1 ,...,x 2.N ) )<br />

→ ( PRÄF(a 1 ,p,a 2 ) ↔ (∀n∈{1,...,N}: x 1.n ≥ x 2.n ∧ ∃n∈{1,...,N}: x 1.n > x 2.n ))<br />

bd)<br />

Nomische Produktionsmöglichkeiten-Hypothese:<br />

GES_PRO :⇔ ...<br />

∀a ∀x 1 ... ∀x N : (TECH(a) ∧ a = akt(x 1 ,...,x N )) → prod(x 1 ,...,x N ) = 0<br />

c) Anwendungsbed<strong>in</strong>gungen (<strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich):<br />

ca)<br />

caa)<br />

DBs:<br />

Interpretationsbed<strong>in</strong>gungen<br />

für die formalen Konstrukte aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat:<br />

Def<strong>in</strong>itionsbereiche der Sorten:<br />

DB gütermenge_1 = R<br />

• • •<br />

DB gütermenge_N = R<br />

DB aktivität<br />

= R N<br />

DB artefakt = {0}<br />

DB produzent = {P 1 ,...,P Q }<br />

Korrespondenzregeln:<br />

• Jeder positive Term der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N}<br />

repräsentiert die Netto-Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge (den Output) des Guts „n“.<br />

• Jeder negative Term der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N}<br />

repräsentiert die Netto-E<strong>in</strong>satzmenge (den Input) des Guts „n“.<br />

• Der Term „0“ der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N} drückt entweder aus, dass das<br />

Gut „n“ weder e<strong>in</strong>gesetzt noch ausgebracht wird. Oder er stellt <strong>in</strong> Netto-Notationsweise dar,<br />

dass vom Gut „n“ dieselben Mengen sowohl e<strong>in</strong>gesetzt als auch ausgebracht werden.<br />

cab)<br />

Abbildungsvorschriften der Funktionen,<br />

die aus den Funktionssymbolen hervorgehen:<br />

funs: akt: DB gütermenge_1 x ... x DB gütermenge_N → DB aktivität<br />

(x 1 ,...x N ) → akt(x 1 ,...x N ) = x = (x 1 ,...x N ) T<br />

prod: DB gütermenge_1 x ... x DB gütermenge_N → DB artefakt<br />

(x 1 ,...x N ) → prod(x 1 ,...x N ) = 0<br />

247


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 46<br />

Anmerkung: Für den schematischen Ausdruck prod(x 1 ,...x N ) muss <strong>in</strong> jeder konkreten Theorieanwendung<br />

die Abbildungsvorschrift für den Funktor „prod“ der impliziten Produktionsfunktion<br />

ergänzt werden, die hier noch nicht spezifiziert ist. Daher wird durch die hier<br />

vorgelegte Theorierekonstruktion streng genommen noch ke<strong>in</strong>e strukturalistische Theorie<br />

der Aktivitätsanalyse festgelegt, sondern nur e<strong>in</strong> Theorieschema, das durch e<strong>in</strong>e beliebig –<br />

im Pr<strong>in</strong>zip unendlich – große Menge konkreter Theorien ausgefüllt werden kann. Diese<br />

Theorien unterscheiden sich durch jeweils verschiedene Abbildungsvorschriften für die<br />

implizite Produktionsfunktion.<br />

cac)<br />

Extensionen der atomaren Prädikate, die aus den Prädikatssymbolen hervorgehen:<br />

Präs: EXT PRÄF = M 1<br />

EXT RAT = M 2<br />

EXT REAL = M 3<br />

EXT TECH = M 4<br />

EXT TECH_BEK = M 5<br />

Anmerkungen:<br />

a) Die noch unspezifizierten Mengen M 1 bis M 5 für die Prädikatsextensionen müssen <strong>in</strong><br />

jeder konkreten Theorieanwendung ergänzt werden. Daher wird durch die hier vorgelegte<br />

Darstellung abermals streng genommen noch ke<strong>in</strong>e strukturalistische Theorie spezifiziert,<br />

sondern nur e<strong>in</strong> Theorieschema, das durch e<strong>in</strong>e beliebig – im Pr<strong>in</strong>zip unendlich – große<br />

Menge konkreter Theorien ausgefüllt werden kann.<br />

b) Die Prädikatsextensionen EXT EFF <strong>und</strong> EXT RAND brauchen dagegen nicht ergänzt zu werden,<br />

weil sie durch die Abbildungsvorschrift der Produktionsfunktion <strong>und</strong> durch die übrigen<br />

Prädikatsextensionen über def<strong>in</strong>itorische Beziehungen vollständig determ<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d.<br />

cb)<br />

Randbed<strong>in</strong>gungen (Axiome):<br />

cba)<br />

Technische Möglichkeit der Null-Aktivität (Möglichkeit des Produktionsstillstands):<br />

RB NA :⇔ TECH(akt(0 1 ,...,0 N ))<br />

cbb)<br />

Technische Möglichkeit von Aktivitäten, <strong>in</strong> denen E<strong>in</strong>satzgüter verschwendet<br />

oder Ausbr<strong>in</strong>gungsgüter vernichtet werden:<br />

RB VV :⇔ ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀x 2.1 ... ∀x 2.N : ...<br />

(TECH(akt(x 1.1 ,...,x 1.N )) ∧ ( ∀n∈{1,...,N}: x 2.n ≤ x 1.n ))<br />

→ TECH(akt(x 2.1 ,...,x 2.N ))<br />

cbc)<br />

Existenz m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er technisch möglichen Aktivität,<br />

<strong>in</strong> der m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Gut ausgebracht wird:<br />

RB AA :⇔ ∃x 1 ... ∃x N : TECH(akt(x 1 ,...,x N )) ∧ (∃n∈{1,...,N}: x n > 0)<br />

248


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 47<br />

cbd)<br />

Technische Unmöglichkeit von reversiblen Aktivitäten:<br />

RB UR :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : ...<br />

(TECH(akt(x 1 ,...,x N )) ∧ (x 1 ,...,x N ) ≠ (0 1 ,...,0 N ) ))<br />

→ (¬TECH(akt(-x 1 ,...,-x N )))<br />

cbe)<br />

Technische Unmöglichkeit des „Schlaraffenlandes“:<br />

RB US :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : ((x 1 ,...,x N ) ≠ (0 1 ,...,0 N ) ∧ ( ∀n∈{1,...,N}: x k ≥ 0 ))<br />

→ (¬TECH(akt(x 1 ,...,x N )))<br />

cbf)<br />

Abgeschlossenheit der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten:<br />

RB AB :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : RAND(akt(x 1 ,...,x N )) → TECH(akt(x 1 ,...,x N ))<br />

cbg)<br />

Irrtumsfreiheit des <strong>in</strong>dividuellen Produzenten-Wissens<br />

über technisch mögliche Aktivitäten:<br />

RB IR :⇔ ∀a ∀p: TECH_BEK(a,p) → TECH(a)<br />

cbh)<br />

Realitätskonformität des allgeme<strong>in</strong> verfügbaren Wissens<br />

über technisch mögliche Aktivitäten:<br />

RB RK :⇔ ∀a ∀p: REAL(a,p) → TECH(a)<br />

Erläuterung der nicht logisch-mathematischen Symbolbedeutungen:<br />

aktivität<br />

akt<br />

artefakt<br />

DB<br />

DBs<br />

EFF<br />

EXT<br />

funs<br />

funs<br />

GES_EFF<br />

GES_PRÄ<br />

GES_PRO<br />

GES_RAT<br />

gütermenge_n<br />

n<br />

P<br />

PRÄF<br />

Präs<br />

Präs<br />

Sorte für Aktivitäten<br />

aktivitätsgenerierende Funktion<br />

Sorte für den Funktionswert „0“ e<strong>in</strong>er implizit notierten Produktionsfunktion<br />

Def<strong>in</strong>itionsbereich<br />

Sektion für Def<strong>in</strong>itionsbereiche<br />

Effizienz e<strong>in</strong>er Aktivität bezüglich des Wissens e<strong>in</strong>es Produzenten<br />

über ihm bekannte technisch mögliche Aktivitäten<br />

Extension e<strong>in</strong>es atomaren Prädikats<br />

Sektion für Funktionssymbole<br />

Sektion für Funktionskonstanten (kurz: Funktionen) mit Abbildungsvorschriften<br />

nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.)<br />

nomische Präferenz-Hypothese<br />

nomische Produktionsmöglichkeiten-Hypothese<br />

nomische Rationalitäts-Hypothese<br />

Sorte für die Mengen e<strong>in</strong>es Guts „n“<br />

Index für Güter mit n ∈{1,...,N}<br />

Produzent<br />

Präferenz e<strong>in</strong>es Produzenten für e<strong>in</strong>e von zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Aktivitäten<br />

Sektion für Prädikatssymbole<br />

Sektion für Prädikatskonstanten (kurz: Prädikate) mit Extensionen<br />

249


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 48<br />

prod<br />

Produktionsfunktion<br />

produzent Sorte für Produzenten<br />

q<br />

Index für Produzenten mit q ∈{1,...,Q}<br />

RAND<br />

e<strong>in</strong>e Aktivität gehört zum Rand der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten<br />

RAT<br />

Rationalität der Entscheidung e<strong>in</strong>es Produzenten zugunsten e<strong>in</strong>er Aktivität<br />

RB AA<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die Existenz m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er technisch möglichen Aktivität,<br />

<strong>in</strong> der m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Gut ausgebracht wird<br />

RB AB<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die Abgeschlossenheit der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten<br />

RB IF<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die Irrtumsfreiheit des <strong>in</strong>dividuellen Produzenten-Wissens<br />

über technisch mögliche Aktivitäten<br />

RB NA<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Möglichkeit der Null-Aktivität<br />

RB RK<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die Realitätskonformität des allgeme<strong>in</strong> verfügbaren Wissens<br />

über technisch mögliche Aktivitäten<br />

RB UR<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Unmöglichkeit von reversiblen Aktivitäten<br />

RB US<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Unmöglichkeit des „Schlaraffenlandes“<br />

RB VV<br />

Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Möglichkeit von Aktivitäten,<br />

<strong>in</strong> denen E<strong>in</strong>satzgüter verschwendet oder Ausbr<strong>in</strong>gungsgüter vernichtet werden<br />

REAL<br />

von e<strong>in</strong>em Produzenten realisierte (<strong>und</strong> empirisch beobachtete) Aktivität<br />

sorts<br />

Sektion für Sorten<br />

TECH<br />

technisch mögliche (<strong>und</strong> empirisch beobachtbare) Aktivität<br />

TECH_BEK technisch mögliche (<strong>und</strong> empirisch beobachtbare) Aktivität, die e<strong>in</strong>em Produzenten bekannt ist<br />

TERM<br />

Termmenge<br />

(x 1 ,...,x N ) Produktionsverhältnisse mit den Mengen x n der Güter „n“ mit n ∈{1,...,N}<br />

zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung<br />

für den Übergang zur Theorie T 1 :<br />

∀a ∀p ∀x 1 ... ∀x N : (REAL(a,p) ∧ a = akt(x 1 ,...,x N ))<br />

→ (TECH_BEK(a,p) ∧<br />

(∀a* ∀x 1 * ... ∀x N *: (TECH_BEK(a*,p) ∧ a* = akt(x 1 *,...,x N *) )<br />

→ ((∃n∈{1,...,N}: x n * < x n ) ∨ ( ∀n∈{1,...,N}: x n * ≤ x n ) )))<br />

Übersetzungsrelation<br />

für den Übergang zur Theorie T 2 :<br />

Die Übersetzungsrelation tr zwischen potenziellen Modellen m p(T1 ) der Theorie T 1 <strong>und</strong> potenziellen<br />

Modellen m p(T2 ) der Theorie T 2 wird mittels e<strong>in</strong>er Schar von N umkehrbar e<strong>in</strong>deutigen Übersetzungsfunktionen<br />

üf n mit n∈{1,...,N} <strong>und</strong> mithilfe von N neuen Gütersorten good_n mit DB good_n = R<br />

<strong>und</strong> n∈{1,...,N} für die Mengen von erwünschten Gütern wie folgt def<strong>in</strong>iert:<br />

250


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 49<br />

üf n : gütermenge_n → good_n<br />

üf n : DB gütermenge_n → DB good_n<br />

x n → üf n (x n ) = x n<br />

üf -1 n : good_n → gütermenge_n<br />

üf -1 n : DB good_n → DB gütermenge_n<br />

x n → üf -1 n (x n ) = x n<br />

Sorten für erwünschte <strong>und</strong> neutrale Güter<br />

für den Übergang zur Theorie T 3 :<br />

Analog zu den Gütersorten good_n mit DB good_n = R <strong>und</strong> n∈{1,...,N} für die Mengen von erwünschten<br />

Gütern werden M neue Gütersorten bad_m mit DB bad_m = R <strong>und</strong> m∈{1,...,M} für die<br />

Mengen von unerwünschten Gütern sowie K neue Gütersorten neut_k mit DB neut_k = R <strong>und</strong><br />

k∈{1,...,K} für die Mengen von neutralen Gütern e<strong>in</strong>geführt. Des Weiteren werden sortenspezifische<br />

Variablen x i.n , y i.m <strong>und</strong> z i.k für Gütermengen aus Aktivitäten a i e<strong>in</strong>geführt, die jeweils nur<br />

durch Mengen von erwünschten, von unerwünschten bzw. von neutralen Gütern ersetzt werden<br />

können.<br />

Nomische Präferenz-Hypothese<br />

für den Übergang zur Theorie T 4 :<br />

Mit den formalsprachlichen Ausdrucksmitteln der Theorie T 3 lässt sich der Übergang zu e<strong>in</strong>er aktivitätsanalytischen<br />

Theorie T 4 vollziehen, deren nomische Präferenz-Hypothese die wesentliche<br />

Fallunterscheidung zwischen den schwachen ord<strong>in</strong>alen Präferenzen für erwünschte Gütermengen<br />

e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> für unerwünschte Gütermengen andererseits aufweist. Die dritte Kategorie der neutralen<br />

Güter manifestiert sich nur mittelbar <strong>in</strong> der Gestalt e<strong>in</strong>er „Nicht“-Präferenz, d.h., die Mengen<br />

neutraler Güter bee<strong>in</strong>flussen die Produzentenpräferenzen h<strong>in</strong>sichtlich zweier mite<strong>in</strong>ander verglichener<br />

Produktions-Aktivitäten a 1 <strong>und</strong> a 2 <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise:<br />

∀a 1 ∀p ∀a 2 ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀y 1.1 ... ∀y 1.M ∀z 1.1 ... ∀z 1.K<br />

∀x 2.1 ... ∀x 2.N ∀y 2.1 ... ∀y 2.M ∀z 2.1 ... ∀z 2.K : ...<br />

( a 1 = akt(x 1.1 ,...,x 1.N ;y 1.1 ,...,y 1.M ;z 1.1 ,...,z 1.K )<br />

∧ a 2 = akt(x 2.1 ,...,x 2.N ;y 2.1 ,...,y 2.M ;z 2.1 ,...,z 2.K ))<br />

→ ( PRÄF(a 1 ,p,a 2 ) ↔ ...<br />

( (∀n∈{1,...,N}: x 1.n ≥ x 2.n ) ∧ (∀m∈{1,...,M}: y 1.m ≤ y 2.m )<br />

∧ ((∃n∈{1,...,N}: x 1.n > x 2.n ) ∨ ( ∃m∈{1,...,M}: y 1.m < y 2.m ))))<br />

251


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 50<br />

Übergänge zu den Theorien T 5 <strong>und</strong> T 6 :<br />

Die Elim<strong>in</strong>ierung der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung, die oben für den Übergang von der Theorie T 0<br />

zur Theorie T 1 e<strong>in</strong>geführt worden war, wird jetzt beim Übergang von der Theorie T 4 zur Theorie T 5<br />

zurückgenommen. Für den Übergang von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 s<strong>in</strong>d schließlich die Produktionsfunktion<br />

<strong>und</strong> alle <strong>in</strong> der Theorie T 0 bereits aufgeführten Randbed<strong>in</strong>gungen zu prüfen, <strong>in</strong>wiefern<br />

sie an die Existenz unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter anzupassen s<strong>in</strong>d.<br />

3.2.2.3 Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieübergängen<br />

Zwischen der Theorie T 0 , die e<strong>in</strong>e „konventionelle“ aktivitätsanalytische Theorie darstellt, <strong>und</strong> der<br />

Theorie T 6 , die aus der Theorie T 0 als Reaktion auf die e<strong>in</strong>gangs diskutierten ökologischen Herausforderungen<br />

mittels Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums hervorgegangen<br />

ist, klafft zunächst – bei oberflächlicher Betrachtung – e<strong>in</strong> unüberw<strong>in</strong>dbar ersche<strong>in</strong>ender Abgr<strong>und</strong><br />

der Inkommensurabilität. Denn beide Theorien s<strong>in</strong>d mit unterschiedlichen term<strong>in</strong>ologischen<br />

Apparaten formuliert: Die Theorie T 0 kennt nur <strong>und</strong>ifferenzierte Gütermengen, während die Theorie<br />

T 6 e<strong>in</strong>e kategoriale Unterscheidung zwischen den Mengen der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong><br />

der neutralen Güter voraussetzt. Infolge dieser gr<strong>und</strong>sätzlichen Verschiedenartigkeit, die <strong>in</strong> den<br />

term<strong>in</strong>ologischen Apparaten der beiden Theorien verankert ist, lassen sie sich nicht unmittelbar<br />

mite<strong>in</strong>ander vergleichen.<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept zeigt jedoch e<strong>in</strong>en Weg auf, wie sich mittels schrittweiser<br />

formalsprachlicher Rekonstruktion des Übergangs von Theorie T 0 zu Theorie T 6 die sche<strong>in</strong>bare Inkommensurabilität<br />

beider Theorien überw<strong>in</strong>den lässt. Die hierfür erforderlichen Transformationsschritte<br />

wurden im voranstehenden Kapitel so weit skizziert, wie sie wesentliche Modifizierungen<br />

der formalsprachlichen Theorieformulierung betrafen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus besitzt der „non statement view“ den Vorzug, die formalsprachlich rekonstruierten<br />

Übergänge zwischen zwei aufe<strong>in</strong>ander folgenden Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer epistemischen Qualität<br />

beurteilen zu können. Denn das strukturalistische Theorienkonzept stellt operational formulierte<br />

Kriterien zur Verfügung, mit deren Hilfe sich die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieentwicklungen<br />

messen lässt. Diese Kriterien wurden bereits <strong>in</strong> früheren Kapiteln anhand der strukturalistischen<br />

Fort- bzw. Rückschrittsrelationen ausführlich vorgestellt. Sie gelangen nun zur Anwendung,<br />

um die Transformationsschritte zwischen jeweils zwei aufe<strong>in</strong>ander folgenden Theorien, die<br />

im voranstehenden Kapitel zwecks Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />

skizziert wurden, h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Auswirkungen auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit des Theorienübergangs<br />

zu beurteilen. Abb. 5 gewährt e<strong>in</strong>en Überblick über die Beurteilungsresultate, die im<br />

Folgenden näher erläutert werden.<br />

Die Transformationswirkungen, die <strong>in</strong> Abb. 5 fett hervorgehoben s<strong>in</strong>d, stellen diejenigen Auswirkungen<br />

auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit der Theorienübergänge dar, die nach <strong>in</strong>tuitiver E<strong>in</strong>schätzung<br />

des Verfassers für die Entwicklung der Theorie der Aktivitätsanalyse am „wichtigsten“<br />

s<strong>in</strong>d. Die übrigen Transformationswirkungen geben dagegen lediglich untergeordnete Effekte wieder.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gestattet die ord<strong>in</strong>ale Skala, auf der die relativen Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

von Theorienübergängen „gemessen“ werden, streng genommen ke<strong>in</strong>en Vergleich<br />

der relativen Ausmaße von verschiedenartigen Transformationswirkungen. Daher können die hier<br />

angesprochenen E<strong>in</strong>schätzungen des Verfassers nicht str<strong>in</strong>gent gerechtfertigt werden. Sie können<br />

allenfalls auf e<strong>in</strong>e ähnlich gerichtete Intuition der Rezipienten setzen.<br />

252


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 51<br />

Schritte der Theorietransformation<br />

bei Erweiterung des Effizienzkriteriums<br />

a)<br />

Zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung:<br />

• E<strong>in</strong>schränkung des <strong>in</strong>tendierten<br />

Anwendungsbereichs der Theorie<br />

• Erhöhung der Theoriebewährung<br />

b)<br />

Übersetzungsrelation für<br />

Mengen erwünschter Güter<br />

c) E<strong>in</strong>führung unerwünschter/neutraler Güter:<br />

• Erweiterung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats<br />

• Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten Anw.bereichs<br />

d)<br />

Gesetzesspezialisierung durch Erweiterung<br />

der nomischen Präferenz-Hypothese<br />

e) Elim<strong>in</strong>ieren der Randbed<strong>in</strong>gung aus a):<br />

• Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten Anw.bereichs<br />

• Erhöhung der Theorieevidenz<br />

f)<br />

Veränderung des <strong>in</strong>tend. Anwendungsbereichs<br />

durch Produktionsfunkt. <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />

auch für unerwünschte <strong>und</strong> neutrale Güter<br />

Transformationswirkung<br />

"+": Fortschritt "-": Rückschritt<br />

"0”: weder Fort- noch Rückschritt (Indifferenz)<br />

-<br />

+<br />

Zunahme der Theoriebewährung<br />

durch Ausschluss widerlegter<br />

Theorieanwendungen<br />

o<br />

o o<br />

+<br />

Konstanz der Theoriepräzision<br />

Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />

+<br />

Zunahme der Theoriepräzision<br />

+<br />

+<br />

Zunahme der Theoriebewährung<br />

durch E<strong>in</strong>schluss bestätigter<br />

Theorieanwendungen<br />

+/-<br />

Abb. 5: Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorietransformationen<br />

aus Anlass der Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />

253


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 52<br />

Beim Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 wird der Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

durch e<strong>in</strong>e zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung vorübergehend e<strong>in</strong>geschränkt [Schritt a) <strong>in</strong> Abb. 5]. Diese<br />

Randbed<strong>in</strong>gung erfüllt den Zweck, zunächst alle „pathologischen“ Theorieanwendungen als<br />

nicht-<strong>in</strong>tendierte Anwendungen auszugrenzen. Es handelt sich um denkmögliche Anwendungen der<br />

Theorie T 0 , die zwar alle Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen der Theorie T 0 erfüllen, jedoch aufgr<strong>und</strong><br />

der Relevanz von Umweltschutzaspekten zu e<strong>in</strong>er Verletzung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />

– oder präziser: der nomischen Präferenz-Hypothese – führen würden.<br />

Zur Erläuterung wird e<strong>in</strong>e exemplarische Theorieanwendung herausgegriffen, die zwei Aktivitäten<br />

a <strong>und</strong> a* umfasst. Der E<strong>in</strong>fachheit halber wird im Folgenden davon ausgegangen, dass sich die beiden<br />

Aktivitäten bis auf e<strong>in</strong>e ökologisch relevante Güterart n, die für x n > 0 bzw. x n * > 0 e<strong>in</strong>e emittierte<br />

Schadstoffart (oder für x n < 0 bzw. x n * < 0 e<strong>in</strong>e beseitigte Müllart) darstellt, nicht unterscheiden.<br />

Beide Aktivitäten s<strong>in</strong>d dem betrachteten Produzenten als technisch realisierbar bekannt.<br />

Tatsächlich hat der Produzent die Aktivität a realisiert, weil er weiß, dass seitens der Aktivität a*<br />

e<strong>in</strong>e größere Schadstoffmenge emittiert (e<strong>in</strong>e dem Betrage nach kle<strong>in</strong>ere Müllmenge e<strong>in</strong>gesetzt)<br />

würde als bei der Aktivität a. Diese Realisierungsentscheidung entspricht zwar dem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand,<br />

würde aber das konventionell formulierte Effizienzkriterium der Aktivitätsanalyse,<br />

das der Theorie T 0 zugr<strong>und</strong>e liegt, verletzen. Folglich führt die empirisch beobachtete Realisierung<br />

der Alternative a – solange sie wegen Erfüllung aller Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen zu den<br />

<strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen gehört – zur Widerlegung der Theorie T 0 .<br />

E<strong>in</strong> solcher pathologischer Fall, <strong>in</strong> dem realistische Produktionsentscheidungen aufgr<strong>und</strong> der Eigenarten<br />

von ökologisch unerwünschten Gütermengen zu formal korrekten, aber materiell <strong>in</strong>plausiblen<br />

Theoriewiderlegungen führen, wird durch die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung der Theorie T 1 ausgeschlossen.<br />

Diese Randbed<strong>in</strong>gung stellt sicher, dass alle denkmöglichen Theorieanwendungen, die<br />

zwei Aktivitäten mit den zuvor geschilderten Eigenschaften umfassen, gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zum Bereich<br />

<strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen gehören. Denn sie gestattet nicht, dass dem Produzenten,<br />

der e<strong>in</strong>e Aktivität a realisiert, e<strong>in</strong>e alternative Aktivität a* bekannt ist, die ceteris paribus zu e<strong>in</strong>er<br />

höheren Schadstoffemission (e<strong>in</strong>em betragsmäßig ger<strong>in</strong>geren Mülle<strong>in</strong>satz) führen würde. Dies entspricht<br />

der Intuition des ges<strong>und</strong>en Menschenverstandes, ke<strong>in</strong>e Produktions-Aktivitäten mit unnötig<br />

hohem Schadstoffausstoß (dem Betrage nach unnötig ger<strong>in</strong>gem Mülle<strong>in</strong>satz) zu verwirklichen.<br />

Da die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung die vorgenannten zwar denkmöglichen, aber pathologischen<br />

Theorieanwendungen aus dem Bereich I T1 <strong>in</strong>tendierter Anwendungen der Theorie T 1 ausschließt,<br />

s<strong>in</strong>kt die Theorieanwendungsbreite beim Übergang von Theorie T 0 zu Theorie T 1 auf I T1 mit<br />

I T1 ⊂ I T0 . Aus dieser Perspektive stellt sich e<strong>in</strong> Rückschritt <strong>in</strong> der Theorieentwicklung durch Reduzierung<br />

der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>. Er entspricht der negativen Heuristik von LAKATOS. Sie empfiehlt,<br />

im Falle e<strong>in</strong>er „unbequemen“ empirischen Datenlage – hier konkretisiert durch die o.a. pathologischen<br />

Fälle – e<strong>in</strong>e Theorie dadurch zu retten, dass ihre Hülle <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

„abgeschmolzen“ wird.<br />

Zugleich tritt aber auch e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt e<strong>in</strong>, weil die Theoriebewährung re<strong>in</strong> rechnerisch<br />

zugenommen hat. Dieses Resultat mag auf den ersten Blick verblüffen, weil die zuvor skizzierten<br />

Pathologien eher gegen als für die empirische Evidenz e<strong>in</strong>er Theorie sprechen. Die Zunahme<br />

der Theoriebewährung beruht aber nicht auf diesen pathologischen Fällen selbst, sondern auf deren<br />

Ausschluss durch die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung. Dieser Ausschluss führt dazu, dass – bei konstanter<br />

Menge von bestätigten Theorieanwendungen (B T1 = B T0 ) – die Menge W T1 der widerlegten Theorieanwendungen<br />

um die bereits beobachteten pathologischen Fälle schrumpft: W T1 ⊂ W T0 . Dadurch<br />

wird die Fortschrittsrelation FS eB h<strong>in</strong>sichtlich der zweiten Komponente aus dem Adjugat ihrer Spezifikation<br />

erfüllt. Also ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung e<strong>in</strong>getreten.<br />

254


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 53<br />

Der theoretische Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung kann nicht mit dem zuvor dargelegten<br />

theoretischen Rückschritt durch Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite „verrechnet“<br />

werden. Denn beide relativen Urteile s<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong>er ord<strong>in</strong>alen Skala gemessen, sodass über ihr Verhältnis<br />

zue<strong>in</strong>ander ke<strong>in</strong>e klare Aussage getroffen werden kann. Stattdessen werden hier „ansatzweise“<br />

– <strong>und</strong> messtheoretisch weiterh<strong>in</strong> unzulässige – Kompensationen von Fort- <strong>und</strong> Rückschritten bei<br />

der Theorieentwicklung nur dann im S<strong>in</strong>ne grober Tendenzaussagen zugelassen, wenn sich die relativen<br />

Urteile über die Fort- <strong>und</strong> Rückschrittlichkeit von Theorieübergängen jeweils auf dieselbe<br />

Fortschrittsdimension beziehen, also jeweils entweder nur auf die Theoriepräzision oder nur auf die<br />

Theorieanwendung oder nur auf die Theoriebewährung. Darauf wird später zurückgekommen.<br />

Der Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 wird durch die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er formalen Übersetzungsrelation<br />

tr vollzogen [Schritt b) <strong>in</strong> Abb. 5]. Sie vermittelt zwischen der alten Theorie T 1 , <strong>in</strong><br />

der <strong>und</strong>ifferenzierte Gütermengen der Sorte gütermenge_n für jede Güterart n verwendet werden,<br />

<strong>und</strong> der neuen Theorie T 2 , <strong>in</strong> der nur noch die speziellen Mengen erwünschter Güter der Sorte<br />

good_n für jede Güterart n benutzt werden. Die Übersetzungsrelation leistet e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>-e<strong>in</strong>deutige Zuordnung<br />

zwischen allen Termen für Gütermengen <strong>in</strong> den beiden Theorien, sodass jede Theorie –<br />

e<strong>in</strong>schließlich ihrer nomischen Hypothesen – auf die jeweils andere reduziert werden kann. Beide<br />

Theorien erweisen sich daher trotz ihrer unterschiedlichen formalsprachlichen Konstrukte als äquivalent.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Äquivalenzbeziehung hat dieser Transformationsschritt weder zu e<strong>in</strong>em<br />

Fort- noch zu e<strong>in</strong>em Rückschritt der Theorieentwicklung geführt.<br />

Aus der Theorie T 2 geht Theorie T 3 hervor, <strong>in</strong>dem die Sorten bad_m <strong>und</strong> neut_k für die Mengen der<br />

beiden Kategorien der unerwünschten bzw. neutralen Güter e<strong>in</strong>geführt werden [Schritt c) <strong>in</strong> Abb.<br />

5]. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Erweiterung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T 2 , da die Theorie<br />

T 3 über die zwei neuartigen formalsprachlichen Konstrukte der Sorten bad_m <strong>und</strong> neut_k (sowie<br />

aller davon abhängigen Konstrukte) verfügt. Diese term<strong>in</strong>ologische Erweiterung lässt die Menge<br />

D T3 der denkmöglichen Theorieanwendungen <strong>in</strong> Theorie T 3 gegenüber Theorie T 2 stark ansteigen.<br />

Denn zu jeder denkmöglichen Anwendung von Theorie T 2 lässt sich e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip beliebig<br />

große Anzahl zusätzlicher denkmöglicher Anwendungen der Theorie T 3 gew<strong>in</strong>nen, die sich von den<br />

erstgenannten Theorieanwendungen nur durch zusätzliche unerwünschte oder neutrale Gütermengen<br />

unterscheiden. In dem gleichen Ausmaß wächst auch die Menge Z T3 der zulässigen Anwendungen<br />

der Theorie T 3 , weil sich die gesetzesartigen Aussagen (nomischen Hypothesen) <strong>in</strong> der Theorie<br />

T 3 weiterh<strong>in</strong> nur auf erwünschte Gütermengen beziehen. Die gesetzesartigen Aussagen können also<br />

ke<strong>in</strong>e der neu h<strong>in</strong>zugekommenen denkmöglichen Theorieanwendungen mit zusätzlichen unerwünschten<br />

oder neutralen Gütermengen als unzulässig ausgrenzen. Da die Mengen D T3 <strong>und</strong> Z T3 aller<br />

denkmöglichen bzw. zulässigen Theorieanwendungen im gleichen Ausmaß vergrößert wurden,<br />

hat sich die Menge U T3 der unzulässigen Theorieanwendungen gegenüber der Theorie T 2 nicht verändert.<br />

Wegen U T3 = U T2 ist die Theoriepräzision also konstant geblieben. Aus dieser Perspektive<br />

stellt sich <strong>in</strong>folge der term<strong>in</strong>ologischen Erweiterung von Theorie T 2 also weder e<strong>in</strong> theoretischer<br />

Fort- noch e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt e<strong>in</strong>.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs bedeutet die Vergrößerung der Menge D T3 denkmöglicher Anwendungen von Theorie T 3<br />

bei unveränderten Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen, dass der Bereich I T3 <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

im gleichen Ausmaß größer wird. Denn die Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />

bleiben vorerst noch auf die erwünschten Gütermengen beschränkt, sodass sie ke<strong>in</strong>e denkmöglichen<br />

Theorieanwendungen als nicht-<strong>in</strong>tendierte Anwendungen aus der Theorie T 3 auszugrenzen vermögen.<br />

Folglich nimmt die Anwendungsbreite der Theorie T 3 , die durch den <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />

I T3 def<strong>in</strong>iert ist, ebenso stark zu. Es entsteht also e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch<br />

Vergrößerung der Anwendungsbreite der aktivitätsanalytischen ohne Abnahme der Theoriepräzision.<br />

255


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 54<br />

Im Zentrum der sukzessiven Theorietransformationen steht der Übergang von der Theorie T 3 zur<br />

Theorie T 4 [Schritt d) <strong>in</strong> Abb. 5]. Er f<strong>in</strong>det statt, <strong>in</strong>dem die alte nomische Präferenz-Hypothese, die<br />

nur auf erwünschte Güter bezogen war, durch e<strong>in</strong>e neue nomische Präferenz-Hypothese ersetzt<br />

wird, die sich ebenso auf unerwünschte Güter erstreckt. Hierdurch <strong>und</strong> im Zusammenwirken mit<br />

der unverändert bleibenden nomischen Effizienz-Hypothese (i.e.S.) werden zahlreiche der denkmöglichen<br />

Theorieanwendungen, die beim Übergang zur Theorie T 3 neu h<strong>in</strong>zugekommen waren,<br />

als unzulässig ausgeschlossen, weil Aktivitäten aus diesen Theorieanwendungen mit den nunmehr<br />

<strong>in</strong>versen Präferenzen für unerwünschte Güter die nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.) nicht mehr<br />

erfüllen. Auf diese Weise erfolgt e<strong>in</strong>e „Reparatur“ des strukturalistisch formulierten Theoriekerns,<br />

<strong>in</strong>dem jene Aktivitäten mit unerwünschten Gütern, die zum „Versagen“ des konventionell formulierten<br />

Effizienzkriteriums führten, nun nicht mehr effizient se<strong>in</strong> können.<br />

Durch diese Ausgrenzung früher zulässiger Theorieanwendungen aus der Menge Z T3 , die nun zur<br />

Menge U T4 unzulässiger Anwendungen der Theorie T 4 gehören, geschieht e<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung.<br />

Sie bewirkt e<strong>in</strong>e Reduzierung der Menge M S(T4 ) aller Modelle der Theorie T 4 <strong>und</strong> lässt dadurch<br />

ihre Menge Z T4 zulässiger Theorieanwendungen schrumpfen. Die Menge U T4 unzulässiger<br />

Anwendungen der Theorie T 4 wurde gegenüber der Menge U T3 unzulässiger Anwendungen der<br />

Theorie T 3 so vergrößert, dass U T4 ⊃ U T3 gilt, ohne dass der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich beider<br />

Theorien verändert wurde (I T4 = I T3 ). Folglich ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der<br />

Theoriepräzision e<strong>in</strong>getreten.<br />

Der Übergang von der Theorie T 4 zur Theorie T 5 [Schritt e) <strong>in</strong> Abb. 5] entspricht spiegelbildlich<br />

dem früheren Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 . Denn die Theorie T 5 geht aus der Theorie<br />

T 4 dadurch hervor, dass die frühere zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung nachträglich zurückgenommen<br />

wird. H<strong>in</strong>sichtlich der Theorieanwendungsbreite tritt deshalb der genau entgegengesetzte Effekt<br />

zum Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 auf: Das Fortlassen der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung<br />

lässt denkmögliche Theorieanwendungen, die früher kraft dieser artifiziellen Randbed<strong>in</strong>gung<br />

aus dem Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen vorläufig ausgeschlossen worden waren, jetzt zu<br />

zulässigen Anwendungen der Theorie T 5 werden. Folglich wächst der Bereich I T5 <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />

gegenüber der Theorie T 4 an: I T5 ⊃ I T4 . Die Mengen denkmöglicher, zulässiger<br />

<strong>und</strong> unzulässiger Theorieanwendungen werden dagegen durch die Rücknahme der Randbed<strong>in</strong>gung<br />

nicht bee<strong>in</strong>flusst, weil sich Randbed<strong>in</strong>gungen im strukturalistischen Theorienkonzept nur auf den<br />

<strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich e<strong>in</strong>er Theorie auszuwirken vermögen. Folglich bleibt die Theoriepräzision<br />

unverändert. Daher ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />

der aktivitätsanalytischen Theorie (ohne Abnahme der Theoriepräzision) e<strong>in</strong>getreten. Da dieses<br />

Anwachsen der Theoriebreite aufgr<strong>und</strong> der Elim<strong>in</strong>ierung der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung genauso<br />

groß ist wie die frühere E<strong>in</strong>schränkung der Theoriebreite anlässlich der E<strong>in</strong>führung jener zusätzlichen<br />

Randbed<strong>in</strong>gung, können die beiden entgegengesetzt gleichen Auswirkungen auf die Theoriebreite<br />

mite<strong>in</strong>ander verrechnet werden. Per Saldo ergibt sich daraus weder e<strong>in</strong> Fort- noch e<strong>in</strong><br />

Rückschritt der Theorieentwicklung. Vgl. dazu die Andeutung dieser Saldierung <strong>in</strong> Abb. 5 mittels<br />

der Notation „0“ für die komplementären Rück- <strong>und</strong> Fortschrittswirkungen aus den Schritten a)<br />

bzw. e).<br />

Immerh<strong>in</strong> nimmt die Bewährung der Theorie T 5 gegenüber der Theorie T 4 zu, sofern empirische<br />

Prüfungen der Theorie T 5 anhand solcher Theorieanwendungen unternommen werden, die früher als<br />

pathologische Fälle ausgeschlossen waren. Diese Theorieanwendungen gehören seit Elim<strong>in</strong>ierung<br />

der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung zum <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T5 der Theorie T 5 . Da beim<br />

Übergang von der Theorie T 3 zur Theorie T 4 bereits die nomische Präferenz-Hypothese so modifiziert<br />

wurde, dass die ehemals pathologischen Fälle nun alle nomischen Hypothesen der Theorie T 5<br />

erfüllen, handelt es sich nicht nur um <strong>in</strong>tendierte, sondern auch um zulässige Theorieanwendungen.<br />

256


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 55<br />

Sobald sie erfolgreich empirisch überprüft wurden, vergrößern sie die Menge B T5 der bestätigten<br />

Anwendungen von Theorie T 5 : B T5 ⊃ B T4 . Die Menge W T5 der widerlegten Theorieanwendungen<br />

bleibt dagegen unverändert, weil durch das Elim<strong>in</strong>ieren der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung ke<strong>in</strong>e neuen<br />

<strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen h<strong>in</strong>zukommen können, die m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e der nomischen<br />

Hypothesen von Theorie T 5 verletzen würden: W T5 = W T4 . Dadurch wird die Fortschrittsrelation<br />

FS eB h<strong>in</strong>sichtlich der ersten Komponente aus dem Adjugat ihrer Spezifikation erfüllt. Also ist e<strong>in</strong><br />

theoretischer Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung e<strong>in</strong>getreten.<br />

Schließlich kann e<strong>in</strong> Übergang von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 erforderlich werden, um Produktions-<br />

oder Verbrauchsfunktionen oder Randbed<strong>in</strong>gungen an die Existenz unerwünschter <strong>und</strong> neutraler<br />

Güter anzupassen [Schritt f) <strong>in</strong> Abb. 5]. Ob e<strong>in</strong>e solche Anpassung tatsächlich erforderlich ist,<br />

muss anhand der nomischen Produktionsmöglichkeiten-Hypothese <strong>und</strong> anhand jeder Randbed<strong>in</strong>gung<br />

jeweils im E<strong>in</strong>zelfall überprüft werden. Beispielsweise lässt sich vorstellen, dass die nomische<br />

Produktionsmöglichkeiten-Hypothese erweitert wird, <strong>in</strong>dem erwünschte Güter, die vormals <strong>in</strong> Produktionsprozessen<br />

e<strong>in</strong>gesetzt wurden (wie z.B. Prozessenergie), durch unerwünschte Güter als Prozess<strong>in</strong>puts<br />

(etwa thermisch verwertbare Kunststoffe) substituiert werden. Die Erfassung solcher<br />

Substitutionsmöglichkeiten würde die Menge zulässiger Theorieanwendungen ausweiten <strong>und</strong> damit<br />

die Theoriepräzision s<strong>in</strong>ken lassen, weil die Menge denkmöglicher Theorieanwendungen nicht verändert<br />

wird <strong>und</strong> <strong>in</strong>folgedessen die Menge unzulässiger Theorieanwendungen schrumpft. Durch die<br />

Präzisionsabnahme träte e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt e<strong>in</strong>. Zugleich können solche Substitutionseffekte<br />

aber auch empirisch beobachtet werden <strong>und</strong> dadurch die Menge der bestätigter Theorieanwendungen<br />

anwachsen lassen. Auf diese Weise käme es zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch<br />

Zunahme der Theoriebewährung. Da es vom jeweils betrachteten E<strong>in</strong>zelfall der Anpassung von<br />

nomischen Hypothesen <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen abhängt, ob sich dabei entweder e<strong>in</strong> theoretischer<br />

Fort- oder e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt (oder beides zusammen) e<strong>in</strong>stellt, kann die epistemische<br />

Qualität des Übergangs von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 hier nicht abschließend beurteilt werden.<br />

In Abb. 5 wurde daher die Transformationswirkung mit e<strong>in</strong>em unentschiedenen „+/-“ gekennzeichnet.<br />

4 Zusammenfassende Würdigung<br />

des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />

Das strukturalistische Theorienkonzept des „non statement view“ erlaubt es, den Begriff des theoretischen<br />

Fortschritts <strong>in</strong>haltlich präzise zu bestimmen. Zur Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie werden formalsprachliche Kriterien <strong>in</strong> der<br />

Gestalt von Fort- bzw. Rückschrittsrelationen angeboten. Diese Relationen basieren auf e<strong>in</strong>er 1.<br />

Stufe ausschließlich auf mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, deren Überprüfung im strukturalistischen<br />

Theorienkonzept relativ e<strong>in</strong>fach möglich ist. Sofern diese Relationen 1. Stufe ke<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>deutiges Urteil zulassen, kann auf der 2. Stufe auch auf komplexere Beziehungsstrukturen zwischen<br />

Theorien zurückgegriffen werden, wie z.B. die Relation der Theoriereduktion.<br />

Das strukturalistische Fortschrittskonzept zeichnet sich <strong>in</strong> dem Ausmaß, wie es im hier vorgelegten<br />

Beitrag entwickelt wurde, durch m<strong>in</strong>destens vier wesentliche Eigenschaften aus. Erstens stellt es<br />

sich als anschlussfähig gegenüber konventionellen Fortschrittsverständnissen heraus, weil Aspekte<br />

wie der empirische Gehalt (Theoriepräzision <strong>und</strong> -Anwendungsbreite) <strong>und</strong> die empirische Bewährung<br />

von Theorien <strong>in</strong> den strukturalistischen Fortschrittskriterien unmittelbar berücksichtigt werden.<br />

Zweitens besitzt das strukturalistische Fortschrittskonzept e<strong>in</strong>en signifikanten Überschussgehalt. Er<br />

gestattet es, e<strong>in</strong>e größere Vielfalt von Ursachen <strong>und</strong> Arten theoretischen Fortschritts zu identifizieren,<br />

als es im konventionellen Theorienkonzept des „statement view“ möglich ist. Drittens erlauben<br />

257


Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 56<br />

sowohl die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen als auch die komplexeren Beziehungsstrukturen<br />

(wie z.B. auf der Basis von Reduktionsrelationen) e<strong>in</strong>e konkrete Messung der Fort- oder<br />

Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie. Schließlich – <strong>und</strong> viertens –<br />

erweist sich das strukturalistische Fortschrittskonzept als „praktikabel“, wie anhand der Rekonstruktion<br />

e<strong>in</strong>er aktivitätsanalytischen Theorieentwicklung skizziert wurde.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs beruht das strukturalistische Fortschrittskonzept auch auf m<strong>in</strong>destens zwei f<strong>und</strong>amentalen<br />

Prämissen, die se<strong>in</strong>e Anwendung im Wissenschaftsbetrieb beh<strong>in</strong>dern können. Erstens setzt es<br />

die Bereitschaft voraus, realwissenschaftliche Theorien entweder von vornhere<strong>in</strong> formalsprachlich<br />

zu formulieren oder zum<strong>in</strong>dest nachträglich formalsprachlich zu rekonstruieren. Zweitens müssen<br />

die Theorien nach den Maßgaben des strukturalistischen Theorienkonzepts formuliert bzw. rekonstruiert<br />

werden. Wenn diese beiden Prämissen für die eigenen Theorien für unerfüllbar gehalten<br />

oder aus anderen Gründen – wie etwa e<strong>in</strong>er „Formalisierungsphobie“ – abgelehnt werden, kann das<br />

strukturalistische Fortschrittskonzept gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zum E<strong>in</strong>satz gelangen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus müssen e<strong>in</strong>ige wenige gravierende E<strong>in</strong>schränkungen des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />

beachtet werden. Erstens gestattet es nur relative Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e jeweils betrachtete Referenztheorie. Dadurch kann<br />

nur e<strong>in</strong>e fortschrittsbezogene Halbordnung über der Menge aller Theorien e<strong>in</strong>er Wissenschaftsdiszipl<strong>in</strong><br />

– wie etwa der Betriebswirtschaftslehre oder der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik – errichtet werden.<br />

Die „absolute“ Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er isoliert untersuchten Theorie T<br />

ist dagegen nicht möglich. Zweitens lassen sich die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />

des strukturalistischen Fortschrittskonzepts nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Theoriennetzes unmittelbar anwenden,<br />

zwischen dessen Knoten wohldef<strong>in</strong>ierte Spezialisierungs- oder Erweiterungsbeziehungen bestehen.<br />

Wenn die Grenzen e<strong>in</strong>es solchen Theoriennetzes überschritten werden, bietet das strukturalistische<br />

Fortschrittskonzept zwar durch se<strong>in</strong>e Relationen 2. Stufe, wie etwa die Reduktionsrelation,<br />

noch weiter führende Fortschrittskriterien an. Aber diese Relationen 2. Stufe s<strong>in</strong>d kompliziert anzuwenden<br />

– <strong>und</strong> es lässt sich im E<strong>in</strong>zelfall darüber streiten, ob solche Relationen 2. Stufe akzeptable<br />

Rückschlüsse auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien gestatten. In dieser H<strong>in</strong>sicht bef<strong>in</strong>det<br />

sich die Forschung zum strukturalistischen Theorienkonzept noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadium der<br />

„Selbstf<strong>in</strong>dung“. Drittens leidet das strukturalistische Theorienkonzept derzeit noch unter erheblichen<br />

Akzeptanzproblemen, zum<strong>in</strong>dest im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich. Zwar liegen erste<br />

strukturalistische Theorieformulierungen im Bereich der Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />

vor, wie e<strong>in</strong>leitend dokumentiert wurde. Aber die Mehrheit wirtschaftswissenschaftlicher<br />

Forscher steht dem strukturalistischen Theorienkonzept derzeit noch distanziert gegenüber.<br />

Dies mag daran liegen, dass die strukturalistische (Re-) Konstruktion von Theorien erheblichen <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Aufwand bereitet <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>e Aufgeschlossenheit gegenüber formalsprachlichen<br />

Theorieformulierungen erfordert.<br />

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