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Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen Methoden ...

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Dienstag 16.15 Uhr - 17.50 Uhr HS 2<br />

Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Vorlesung<br />

1. Teil: Gr<strong>und</strong>begriffe<br />

§ 1 Begriff des Rechts (9.4.)<br />

§ 2 Begriff <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> (16.4.)<br />

§ 3 Begriff <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre (23.04.)<br />

2. Teil: <strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

§ 4 Alteuropäisches Erbe <strong>und</strong> neuzeitliche Vermächtnisse <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> (30.4.)<br />

§ 5 Klassiker <strong>der</strong> antiken Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie (14.5.)<br />

§ 6 Klassiker <strong>der</strong> rechts- <strong>und</strong> staatsphilosophischen Aufklärung (21.5.)<br />

§ 7 Freiheit als Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> Staatsphilosophie (28.5.)<br />

§ 8 Gerechtigkeit als Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> (4.6.)<br />

3. Teil: <strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 9 Wissenschaftscharakter <strong>der</strong> Jurisprudenz (11.6.)<br />

§ 10 Klassiker <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>lehre (18.6.)<br />

§ 11 Klassische Regeln <strong>der</strong> Gesetzesauslegung (25.6.)<br />

§ 12 Rechtsanwendung im Subsumtionsmodell (2.7.)<br />

Klausur zum Erwerb des Gr<strong>und</strong>lagenscheins: Dienstag, 9.7.2013, 14 - 16 Uhr, HS 2<br />

Literaturempfehlung:<br />

R. Gröschner/C. Dierksmeier/M. Henkel/A. Wiehart, Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie.<br />

Ein dogmenphilosophischer Dialog, Springer-Lehrbuch 2000; R. Gröschner, Art.<br />

Rechtsfindung, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Gruppe 2/430.


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 1 Begriff des Rechts<br />

I. Zugang zum Phänomen des Rechts<br />

1. Unübersehbarkeit <strong>und</strong> Unüberschaubarkeit des Phänomens<br />

a) Unübersehbare Präsenz des Rechts<br />

b) Unüberschaubare Masse rechtlicher Regelungen<br />

2. Rechtssprache <strong>und</strong> Alltagssprache<br />

a) Sprache als Medium des Rechts<br />

b) „Juristenlatein“ als notwendiges Werkzeug<br />

3. Wörter <strong>und</strong> Begriffe<br />

a) Begriff des Begriffs<br />

b) Nominaldefinitionen<br />

c) Legaldefinitionen<br />

II. Rechtsbegriffe <strong>und</strong> Alltagsbegriffe<br />

1. Beispiel § 985 BGB<br />

a) „Eigentümer“ <strong>und</strong> „Besitzer“<br />

b) Vindikationslage<br />

2. Beispiel Art. 145 II GG<br />

a) „Beginn“ <strong>und</strong> „Ablauf“ eines Tages<br />

b) Bedeutung <strong>der</strong> „juristischen Sek<strong>und</strong>e“<br />

III. Ungenügen eines positivistischen Rechtsbegriffs<br />

1. Kants Gr<strong>und</strong>unterscheidung<br />

a) Eine „bloß empirische“ Rechtslehre<br />

b) Eine „metaphysisch“ begründete Rechtslehre<br />

c) Rechtspositivismus <strong>und</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

2. Konsequenzen für den Rechtsbegriff<br />

a) Recht als Regelung von Lebensverhältnissen durch Rechtsverhältnisse<br />

b) Gerechtigkeit als Leitidee des Rechts<br />

c) Freiheit als Konstitutionsprinzip des Staates


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 1<br />

Zum Thema „Sprache als Medium des Rechts“<br />

Recht wird gesprochen. „Rechtsprechung“ ist eine <strong>der</strong> drei Funktionen staatlicher Gewalt.<br />

Aber auch für die beiden an<strong>der</strong>en Staatsfunktionen existiert Recht nur in Sprache: „Gesetzgebung“<br />

bedeutet Inkraftsetzung von Rechtsnormen, <strong>der</strong>en juristisch verbindlicher Text in<br />

amtlichen Gesetzblättern verkündet wird; „vollziehende Gewalt“ verweist auf den Vollzug<br />

dieser Normen im Einzelfall. Am Verwaltungsvollzug in Form eines „Bescheides“ zeigt sich<br />

<strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> Rechtssprache beson<strong>der</strong>s drastisch: die Amtssprache sollte Deutsch sein,<br />

ist in ihrem so genannten Amtsdeutsch für Nichtjuristen allerdings meist schwer o<strong>der</strong> nicht<br />

verständlich. Um gegen einen Akt <strong>der</strong> Verwaltung (fachsprachlich: „Verwaltungsakt“) vorgehen<br />

zu können, ist zunächst „Wi<strong>der</strong>spruch“ einzulegen <strong>und</strong> anschließend Klage zu erheben.<br />

An<strong>der</strong>s als früher erfolgt die „Erhebung“ einer solchen Klage nicht mehr durch Erheben<br />

<strong>der</strong> Stimme („diebio“, „feurio“, „mordio“), son<strong>der</strong>n durch Einreichung eines Schriftsatzes<br />

bei Gericht. Ob dort dann mündlich verhandelt wird (wie im Regelfall) o<strong>der</strong> schriftlich, än<strong>der</strong>t<br />

nichts am Ausgangsbef<strong>und</strong>: Medium des Rechts <strong>und</strong> Werkzeug des Juristen ist die<br />

Sprache.<br />

Da wesentliche Bestandteile unserer Rechtsordnung aus dem römischen Recht stammen, ist<br />

die Rechtssprache bis heute durchsetzt mit lateinischen Wörtern <strong>und</strong> Sentenzen: Der Staatsname<br />

„B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland“ enthält mit <strong>der</strong> „Republik“ ein Lehnwort aus dem Lateinischen<br />

(„res publica“), <strong>und</strong> das im „Bürgerlichen Gesetzbuch“ (BGB) geregelte Recht bezeichnet<br />

man synonym als „Bürgerliches Recht“ o<strong>der</strong> – nach dem römischen „ius civile“ –<br />

„Zivilrecht“. Die wichtigsten <strong>der</strong> heute noch gebräuchlichen Begriffe <strong>und</strong> Sätze sind unter<br />

<strong>der</strong> Überschrift „Juristenlatein“ auf <strong>der</strong> Homepage zusammengestellt. Je Vorlesung werden<br />

vier o<strong>der</strong> fünf davon besprochen.<br />

Zum Thema „Wörter <strong>und</strong> Begriffe“<br />

Ein Begriff müsse bei dem Worte sein; so sagt es <strong>der</strong> Jurist Goethe in <strong>der</strong> Schülerszene seines<br />

„Faust“. Die einfachste Formel – wenn man so will: die Faustformel – dafür lautet: Der Begriff<br />

ist die Bedeutung eines Wortes. Diese wie<strong>der</strong>um wird durch den Gebrauch des Wortes<br />

in einer Sprachgemeinschaft o<strong>der</strong>, mit einer berühmten Formulierung Wittgensteins, durch<br />

seine Verwendung in einem „Sprachspiel“ bestimmt. Definitionen von Rechtsbegriffen sind<br />

„Nominaldefinitionen“, die nichts über das „wahre Wesen“ des betreffenden Gegenstandes<br />

aussagen, die Festlegung <strong>der</strong> fachlichen Terminologie (<strong>der</strong> „termini technici“ <strong>der</strong> Rechtssprache)<br />

hat gleichwohl erhebliche rechtliche Konsequenzen. Solche terminologischen Festlegungen<br />

können entwe<strong>der</strong> direkt durch den Gesetzgeber (in „Legaldefinitionen“) o<strong>der</strong> auf<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage von Gesetzesbegriffen durch Rechtsprechung <strong>und</strong> Rechtslehre erfolgen.<br />

Legaldefinitionen sind typischerweise „Klammerdefinitionen“, die in <strong>der</strong> Klammer das zu<br />

definierende Wort (das definiendum) <strong>und</strong> vor <strong>der</strong> Klammer (im definiens) dessen fachterminologische<br />

Bedeutung enthalten: „Das Recht, von einem an<strong>der</strong>en ein Tun o<strong>der</strong> Unterlassen<br />

zu verlangen (Anspruch), unterliegt <strong>der</strong> Verjährung“ (§ 194 Abs. 1 BGB). Undefinierte


2<br />

Gesetzesbegriffe werden durch die Rechtsprechung näher bestimmt. Das Gr<strong>und</strong>recht, „sich<br />

aus allgemein zugänglichen Quellen ungehin<strong>der</strong>t zu unterrichten“ (Art. 5 Abs. 1 GG), setzt<br />

für seine effektive Inanspruchnahme eine Begriffsbestimmung <strong>der</strong> „allgemein zugänglichen<br />

Quelle“ voraus. Nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts lautet sie:<br />

„Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, wenn sie geeignet <strong>und</strong> bestimmt ist, <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit, also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu<br />

verschaffen“: BVerfGE 90, 27 (32). Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bindung aller Staatsorgane an die Entscheidungen<br />

des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts ist dies rechtlich ebenso verbindlich wie eine<br />

Legaldefinition (§ 31 BVerfGG).<br />

Zum Thema „Rechtsbegriffe <strong>und</strong> Alltagsbegriffe“<br />

„Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe <strong>der</strong> Sache verlangen“. Die vier<br />

Hauptwörter dieses Rechtssatzes (§ 985 BGB) finden auch in <strong>der</strong> Alltagssprache Verwendung,<br />

haben dort aber eine an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> juristischen mitunter wi<strong>der</strong>sprechende Bedeutung. Je<br />

nach Sprachspiel stellen sie einen Alltags- o<strong>der</strong> einen Rechtsbegriff dar. „Sachen“ sind nach<br />

§ 90 BGB „nur körperliche Gegenstände“, während es alltagssprachlich eine „Sache des Vertrauens“<br />

ist, an welchen Anwalt man sich in einer „heiklen Sache“ wendet. Wenn <strong>der</strong> Vermieter<br />

eines Hauses „Eigentümer“ ist, kann <strong>der</strong> Mieter nur „Besitzer“ sein. Dieser übt die<br />

„tatsächliche Gewalt“ (§ 854 BGB) über die „Mietsache“ (§ 535 BGB) aus, jenem steht dagegen<br />

die rechtliche Herrschaftsbefugnis (§ 903 BGB) zu. Das „Herausgabeverlangen“ des Eigentümers<br />

gegenüber dem Besitzer schließlich entstammt dem römischen Recht, weshalb es<br />

in dem bereits bekannten Juristenlatein noch heute „Vindikation“ (lateinisch: „rei<br />

vindicatio“) genannt <strong>und</strong> vom Vorliegen einer „Vindikationslage“ abhängig gemacht wird.<br />

Da juristisches Denken wesentlich in <strong>der</strong> Herstellung rechtssprachlicher Zusammenhänge<br />

besteht, hilft die Logik <strong>der</strong> Sprache bei <strong>der</strong> Lösung von Rechtsfragen gr<strong>und</strong>sätzlich – das<br />

heißt im Juristendeutsch: nach einer Regel unter Ausnahmevorbehalt – besser als die Logik<br />

<strong>der</strong> Mathematik. Deshalb läßt sich die „juristische Sek<strong>und</strong>e“ zwischen dem rechtlich definierten<br />

„Ablauf“ eines Tages um 24.00 Uhr <strong>und</strong> dem „Beginn“ des neuen Tages um 0.00 Uhr<br />

auch nicht messen; wohl aber denken. Das Gr<strong>und</strong>gesetz, das „mit Ablauf des Tages <strong>der</strong> Verkündung“<br />

in Kraft getreten ist (Art. 145 Abs. 2 GG), gilt demnach seit 23. Mai 1949,<br />

24.00 Uhr. Die falsche Antwort (0.00 Uhr) hätte eine Verschiebung unseres Verfassungstages<br />

vom 23. auf den 24. Mai zur Folge. Durch die Fiktion einer „juristischen Sek<strong>und</strong>e“ ist die<br />

Rechtssprache hier von größerer Präzision als die Zeitmessung.<br />

Zum „Ungenügen eines positivistischen Rechtsbegriffs“<br />

Locus classicus (klassischer Ort eines Zitats) hierfür ist Immanuel Kant, Die Metaphysik <strong>der</strong><br />

Sitten, Erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe <strong>der</strong> Rechtslehre, 2. Aufl. Königsberg 1798,<br />

Einleitung, § B („Was ist Recht?“): „Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er<br />

nicht in Tautologie verfallen, o<strong>der</strong>, statt einer allgemeinen Auflösung, auf das, was in irgend<br />

einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, eben so in Verlegenheit<br />

setzen, als die berufene Auffor<strong>der</strong>ung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei<br />

(quid sit iuris), d.i. was die Gesetze an einem gewissen Ort <strong>und</strong> zu einer gewissen Zeit sagen<br />

o<strong>der</strong> gesagt haben, kann er noch wohl angeben; aber, ob das, was sie wollten, auch recht sei,<br />

<strong>und</strong> das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et<br />

iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen<br />

Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in <strong>der</strong> bloßen Vernunft sucht (wiewohl<br />

ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen<br />

positiven Gesetzgebung die Gr<strong>und</strong>lage zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist<br />

(wie <strong>der</strong> hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, <strong>der</strong> schön sein mag, nur schade! daß er<br />

kein Gehirn hat“.


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 2 Begriff <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

I. Begriffsbestimmungen in <strong>der</strong> Lehrbuchliteratur<br />

1. Helmut Coing, <strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

2. Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie<br />

3. Norbert Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft <strong>und</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

4. Arthur Kaufmann u.a., Einführung in <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> Rechtstheorie<br />

<strong>der</strong> Gegenwart<br />

5. Matthias Kaufmann, <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

6. Stephan Kirste, Einführung in die <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

7. Wolfgang Naucke/Regina Harzer, Rechtsphilosophische Gr<strong>und</strong>begriffe<br />

8. Kurt Seelmann, <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

9. Stefan Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts<br />

10. Reinhold Zippelius, <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

II. Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> zur Rechtswissenschaft<br />

1. Einheit <strong>der</strong> Jurisprudenz<br />

a) Rechtspraxis <strong>und</strong> Rechtswissenschaft<br />

b) Rechtsdogmatik<br />

c) <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

2. Wesensmerkmale <strong>der</strong> Rechtsdogmatik<br />

a) Herkunft <strong>und</strong> Bedeutung des Wortes „dogma“<br />

b) Vermittlung zwischen Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />

c) Herstellung eines lehrbaren Ordnungszusammenhangs<br />

III. Wesensmerkmale <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

1. <strong>Rechtsphilosophie</strong> als Philosophie des Rechts <strong>und</strong> des Staates<br />

a) <strong>Rechtsphilosophie</strong> als Philosophie <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

b) Staatsphilosophie als Philosophie <strong>der</strong> Freiheit<br />

2. Dogmenphilosophie als Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie des gr<strong>und</strong>gesetzlichen<br />

Verfassungsstaates<br />

a) Philosophischer Anspruch <strong>der</strong> Dogmenphilosophie<br />

b) Dogmatischer Anspruch <strong>der</strong> Dogmenphilosophie


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 2<br />

Zu den Begriffsbestimmungen in <strong>der</strong> Lehrbuchliteratur<br />

Coing, <strong>Rechtsphilosophie</strong>, S. 4: „drei Gr<strong>und</strong>fragen <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> [. . .]: die Fragen<br />

nach den Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>der</strong> Gerechtigkeit, nach dem Wesen des positiven Rechts <strong>und</strong><br />

nach <strong>der</strong> Eigenart juristischen Denkens“.<br />

Hofmann, Einführung, S. 1: „Alle über die Bedürfnisse <strong>der</strong> Rechtspraxis hinausgehenden<br />

Beschäftigungen mit dem Recht umkreisen zwei Fragen. Entwe<strong>der</strong> will man genauer<br />

wissen, was das Recht eigentlich, seinem Wesen nach ist, was Rechtssätze von an<strong>der</strong>en<br />

Sätzen unterscheidet. O<strong>der</strong> es werden jene Maßstäbe verhandelt, nach denen das von<br />

irgendwelchen Autoritäten gesetzte Recht seinen impliziten Anspruch erfüllt, recht, d.h.<br />

richtig <strong>und</strong> gerecht zu sein“.<br />

Horn, Einführung, S. 41: „Die Hauptfragestellung <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> ist die Frage<br />

nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Es handelt sich um einen Ausschnitt <strong>der</strong> Fragen nach <strong>der</strong> Ethik<br />

o<strong>der</strong> Moral. Die Frage nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit ist also die Frage nach einem ethisch (moralisch)<br />

richtigen Handeln in bezug auf Rechtsfragen“.<br />

Kaufmann u.a., Einführung, S. 5: „Die Zahl <strong>der</strong> möglichen philosophischen Frage- <strong>und</strong><br />

Problemstellungen ist [. . .] gr<strong>und</strong>sätzlich unbegrenzt, wiewohl alle Philosophie letzten<br />

Endes immer auf dasselbe Ziel gerichtet ist: das Ganze des Seins, das Ganze <strong>der</strong> Wahrheit,<br />

das Ganze des Rechts. Auch hierin unterscheidet sich die Philosophie wie<strong>der</strong>um<br />

von den Einzelwissenschaften, bei denen die Zahl <strong>der</strong> Probleme prinzipiell begrenzt ist“.<br />

Kaufmann, <strong>Rechtsphilosophie</strong>, S. 13: „<strong>Rechtsphilosophie</strong> beschäftigt sich damit, was<br />

Recht ist“.<br />

Kirste, Einführung, S. 17: „Der beson<strong>der</strong>e Zugang <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> ist […] das Philosophieren.<br />

Daß sie häufig an juristischen Fakultäten betrieben wird, steht dem nicht<br />

entgegen“.<br />

Naucke/Harzer, Gr<strong>und</strong>begriffe, S. 9: „<strong>Rechtsphilosophie</strong> will eine Lehre vom richtigen<br />

Recht entwickeln, im Unterschied zur Lehre vom positiven (gegebenen, gesetzten)<br />

Recht“.<br />

Seelmann, <strong>Rechtsphilosophie</strong>, S. 1: „<strong>Rechtsphilosophie</strong> befaßt sich heute zumeist mit zwei<br />

Fragestellungen: einmal versucht sie zu klären, worum es sich bei ‚Recht‘ eigentlich handelt,<br />

wie dieses Phänomen näher zu bestimmen ist [. . .]. Zum an<strong>der</strong>en geht sie <strong>der</strong> Frage<br />

nach, ob es irgendwelche Kriterien des Richtigen gibt, die nicht schon einer von einem<br />

staatlichen Gesetzgeber erlassenen Norm o<strong>der</strong> richterlicher Entscheidungspraxis entnommen<br />

werden können, ob sich also sinnvoll von ‚vorpositivem‘ o<strong>der</strong> ‚überpositivem‘<br />

Recht sprechen läßt“.<br />

Smid, Einführung, S. 19: „<strong>Rechtsphilosophie</strong> als Teil <strong>der</strong> praktischen Philosophie verfolgt<br />

[. . .] das Ziel einer wissenschaftlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Gegenstand ‚Recht‘,<br />

die sich nicht in den immanenten Grenzen <strong>der</strong> Rechtswissenschaft bewegt, son<strong>der</strong>n den<br />

methodischen Anweisungen <strong>der</strong> eigenen Wissenschaft – <strong>der</strong> Philosophie – folgt. Hier<br />

liegt die eigentliche Schwierigkeit für Juristen, <strong>Rechtsphilosophie</strong> ernsthaft (wissenschaftlich)<br />

zu betreiben“.<br />

Zippelius, <strong>Rechtsphilosophie</strong>, Vorwort: „Von ihren Anfängen an versucht die <strong>Rechtsphilosophie</strong>,<br />

die Fragen nach dem Begriff des Rechts <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit mit rationalen<br />

Mitteln zu erschließen, <strong>und</strong> erfährt immer erneut, daß am Ende ein Rest bleibt, <strong>der</strong><br />

so unberechenbar ist, wie das Leben selbst“.


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 3 Begriff <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

I. Begriffsbestimmungen in <strong>der</strong> Lehrbuchliteratur<br />

1. Klaus Adomeit, Rechtstheorie für Studenten<br />

2. Wolfgang Fikentscher, <strong>Methoden</strong> des Rechts<br />

3. Arthur Kaufmann, Das Verfahren <strong>der</strong> Rechtsgewinnung<br />

4. Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, <strong>Methoden</strong>lehre <strong>der</strong> Rechtswissenschaft<br />

5. Friedrich Müller, Juristische Methodik<br />

6. Martin Kriele, Theorie <strong>der</strong> Rechtsgewinnung<br />

7. Hans-Martin Pawlowski, Einführung in die juristische <strong>Methoden</strong>lehre<br />

8. Bernd Rüthers/Christian Fischer, Rechtstheorie<br />

9. Jan Schapp, Hauptprobleme <strong>der</strong> juristischen <strong>Methoden</strong>lehre<br />

10. Reinhold Zippelius, Juristische <strong>Methoden</strong>lehre<br />

II. Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>lehre zur <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

1. Zur Erinnerung: Einheit <strong>der</strong> Jurisprudenz (§ 2)<br />

2. Wesensmerkmale <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>lehre<br />

a) Herkunft <strong>und</strong> Bedeutung des Wortes „Methode“<br />

b) „Vorgehensweise“ <strong>und</strong> Orientierung an einem Leitstern<br />

c) „Hermeneutische Spirale“ zwischen Auslegung <strong>und</strong> Anwendung eines<br />

Gesetzes<br />

3. Verbindung mit <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> Argumentationslehre<br />

a) Der Streit als Gr<strong>und</strong>phänomen des Rechts<br />

b) Nochmals: Der Begriff des Rechts <strong>und</strong> das Rechtsverhältnis<br />

c) Dialogischer Charakter des materiellen Rechts<br />

d) Dialogischer Charakter des formellen Rechts<br />

III. Jurisprudenz als Kunst<br />

1. Begriff <strong>der</strong> Kunst<br />

a) „Techne“ in <strong>der</strong> hippokratischen Medizin<br />

b) „Ars“ in <strong>der</strong> römischen Jurisprudenz<br />

c) Entscheidungsfähigkeit heutiger Juristen<br />

2. Verhältnis zur Methode<br />

a) Verweisungszusammenhang zwischen Kunst <strong>und</strong> Methode<br />

b) Verweisungszusammenhang zwischen Logik <strong>und</strong> Dialogik<br />

c) Vermittlung durch Urteilskraft <strong>und</strong> Witz


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 3<br />

Zu den Begriffsbestimmungen in <strong>der</strong> Lehrbuchliteratur<br />

Adomeit, Rechtstheorie, S. 61: „Die juristische Methode erstrebt die Lösung von<br />

Rechtsfragen. Dies geschieht in einem vorwiegend von Gesetzen beherrschten<br />

Rechtssystem durch Anwendung von Gesetzen. Die Anwendbarkeit o<strong>der</strong><br />

Unanwendbarkeit eines konkreten Gesetzes klärt sich in Zweifelsfragen durch Auslegung<br />

(= Interpretation). Daher ist die Lehre von <strong>der</strong> juristischen Methode in ihrem<br />

Kernstück eine Auslegungslehre“.<br />

Fikentscher, <strong>Methoden</strong>, Bd. IV, S. 201: „Die Bildung <strong>der</strong> Fallnorm beruht [. . .] auf einer<br />

Unterbrechung (Sistierung) des hermeneutischen Zirkels an einer bestimmten<br />

Stelle des Erkenntnisgangs zwischen Norm <strong>und</strong> Sachverhalt. Besteht die Aufgabe<br />

darin, aus einer Gesetzesnorm die Fallnorm herauszupräparieren, dann ist <strong>der</strong> ‚Zirkel‘<br />

desto kürzer, je präziser das Gesetz ist. Je weiter die gesetzliche Norm gefaßt ist,<br />

desto mehr ‚Windungen‘ weist die – sich zum Punkt (dem ‚Umkehrpunkt‘) verengende<br />

– ‚hermeneutische Spirale‘ auf“.<br />

Kaufmann, Rechtsgewinnung, S. 1: „Nach dem herkömmlichen <strong>Methoden</strong>verständnis,<br />

das im Positivismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts seine Wurzeln hat, erschöpft sich die<br />

Rechtsanwendung in <strong>der</strong> Subsumtion des Falles unter die Gesetzesnorm. Die Subsumtion<br />

ist <strong>der</strong> einfachste <strong>und</strong> sicherste Syllogismus, nämlich eine Deduktion. Die<br />

hinter diesem Modell stehende Ideologie ist das Bestreben, die Rechtswissenschaft<br />

als eine echte Wissenschaft zu begründen“.<br />

Kriele, Theorie <strong>der</strong> Rechtsgewinnung, S. 51: „Das Postulat, <strong>der</strong> Richter solle richtig<br />

subsumieren, ist zwar zu billigen, aber es ist völlig nichtssagend. Wenn Rechtsanwendung<br />

sich in Subsumtion erschöpfen soll, so muß sich die For<strong>der</strong>ung an den Gesetz-<br />

<strong>und</strong> Verfassungsgeber richten: an ihm ist es, für jeden nur denkbaren Rechtsfall<br />

den treffenden Obersatz eindeutig <strong>und</strong> unmißverständlich vorzuformulieren. Da die<br />

Möglichkeiten unerschöpflich sind, wäre das freilich eine utopische For<strong>der</strong>ung“.<br />

Larenz/Canaris, <strong>Methoden</strong>lehre, S. 92: „Um zu erkennen, welche Rechtsfolge für einen<br />

– mir woher immer gegebenen – Sachverhalt gilt, muß ich [. . .] prüfen, ob dieser<br />

Sachverhalt einem bestimmten gesetzlichen Tatbestand als ein ‚Fall‘ unterzuordnen<br />

ist. Trifft dies zu, so ergibt sich die Rechtsfolge aus einem Syllogismus [. . .]. Diesen<br />

Syllogismus in kurzer <strong>und</strong> leicht verständlicher Weise auf formalisierte Art auszudrücken,<br />

ist äußerst schwierig“.<br />

Pawlowski, Einführung, S. 131: „Die ‚richtige‘ Methode <strong>der</strong> Rechtswissenschaft bestimmt<br />

sich [. . .] nach dem, was ‚Recht‘ ist, nach <strong>der</strong> ‚richtigen‘ Vorstellung vom<br />

Recht. Welche <strong>der</strong> verschiedenen Vorstellungen vom Recht aber nun die ‚richtige‘ ist,<br />

das kann sich offensichtlich nicht aus <strong>der</strong> <strong>Methoden</strong>lehre selbst ergeben, <strong>der</strong>en ‚Richtigkeit‘<br />

ja wie<strong>der</strong>um von den Vorstellungen über die Herkunft des Rechts (vom<br />

Rechtsbegriff) abhängig ist“.<br />

Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 408: „Das <strong>Methoden</strong>problem ist eine <strong>der</strong> vernachlässigten<br />

Gr<strong>und</strong>satzfragen <strong>der</strong> deutschen Gerichtspraxis <strong>und</strong> Rechtswissenschaft. Die<br />

Literatur dazu füllt zwar inzwischen ganze Bibliotheken. Anerkannte einheitliche<br />

Lösungen sind aber nicht absehbar“.<br />

Schapp, Hauptprobleme, S. 65: „Am nächsten kommt man dem Vorgang wohl, wenn<br />

man davon ausgeht, daß <strong>der</strong> Richter mit dem Gesetzgeber in ein Gespräch darüber<br />

eintritt, ob die Entscheidungsgründe des Gesetzgebers für einen bestimmten Fall die


2<br />

richterliche Entscheidung für den dem Richter vorliegenden Fall zu begründen vermögen“.<br />

Gröschner, Justizsyllogismus? Jurisprudenz! (in: Lerch, Recht verhandeln, 2005),<br />

S. 203 ff.: „Das A <strong>und</strong> O <strong>der</strong> Jurisprudenz ist <strong>der</strong> Fall. Er steht am Anfang <strong>der</strong> Laienerzählung<br />

dessen, was ‚passierte‘ <strong>und</strong> am Ende <strong>der</strong> Entscheidung über die daraus zu<br />

ziehenden rechtlichen Konsequenzen. Weil <strong>der</strong> juristische Laie diese Konsequenzen<br />

aber nicht beurteilen kann, vermag er allein aus seiner Laiensicht auch nicht festzustellen,<br />

was ‚<strong>der</strong> Fall‘ ist. Die Konstituierung des Falles erfolgt nicht durch Feststellung<br />

<strong>der</strong> Fakten einer unabhängig vom Recht existierenden objektiven Wirklichkeit,<br />

son<strong>der</strong>n durch juristische Beurteilung eines lebensweltlichen Geschehens, das zwischen<br />

den Beteiligten tatsächlich <strong>und</strong> rechtlich in Streit steht. Wo Recht gesprochen<br />

wird, wird über Fälle gestritten. Das Schema des Justizsyllogismus kennt den Fall<br />

freilich nur in jener unstreitigen Form, die er am Ende seiner Konstituierung gef<strong>und</strong>en<br />

hat: in <strong>der</strong> Form des ‚konkret-individuellen Sachverhalts‘ (S), <strong>der</strong> unter den ‚abstrakt-generellen<br />

Tatbestand‘ (T) <strong>der</strong> einschlägigen Rechtsnorm zu subsumieren sei.<br />

Auch wenn man zwischen Modellen <strong>der</strong> Entscheidungsfindung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entscheidungsbegründung<br />

differenziert, ist <strong>der</strong> ‚Syllogismus <strong>der</strong> Rechtsfolgebestimmung‘<br />

eine juristisch wie logisch fragwürdige Konstruktion. In <strong>der</strong> ursprünglichen Fassung<br />

<strong>der</strong> <strong>Methoden</strong>lehre von Karl Larenz hatte er folgende Gestalt: ‚1. Wenn T in irgendeinem<br />

Sachverhalt verwirklicht ist, gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R<br />

(Obersatz). 2. Dieser bestimmte Sachverhalt S verwirklicht T, d.h. er ist ein ‚Fall‘ von<br />

T (Untersatz). 3. Für S gilt R (Schlußfolgerung)‘. Was ist damit gewonnen, die Schlußfolgerung<br />

als eine formal-logische Konklusion aus Ober- <strong>und</strong> Untersatz darzustellen,<br />

wenn die innerhalb des Untersatzes stattfindende Subsumtion ein juristisches Urteil<br />

erfor<strong>der</strong>t, das seinerseits von <strong>der</strong> rechtlichen Würdigung des Obersatzes abhängt? Ist<br />

die Subsumtion erst einmal erfolgt, vollzieht sich <strong>der</strong> Schluß auf die Rechtsfolge von<br />

selbst, ohne juristisches Zutun <strong>und</strong> ohne logische Schwierigkeit. Mehr als ein Kin<strong>der</strong>spiel<br />

<strong>der</strong> Logik ist <strong>der</strong> Justizsyllogismus demnach nicht.<br />

Was die juristischen Urteile betrifft, die je<strong>der</strong> Subsumtion zugr<strong>und</strong>e- <strong>und</strong> jedem Justizsyllogismus<br />

vorausliegen, hat Hannah Arendt alles Notwendige kurz <strong>und</strong> bündig<br />

so formuliert: ‚Mit logischen Operationen – etwa in <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> folgenden: Alle Menschen<br />

sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich – haben Urteile<br />

nichts gemein‘. Außerdem gehört es zum kleinen Einmaleins <strong>der</strong> formalen Logik,<br />

daß ein Syllogismus, dessen Obersatz den Allquantor enthält (‚Alle A sind B‘) nach<br />

dem Muster des ersten Beispiels, das Aristoteles in seiner Ersten Analytik gibt, mit<br />

dem Untersatz ‚Alle B sind C‘ fortgeführt werden muß, um zum Schlußsatz ‚Alle A<br />

sind C‘ zu gelangen. Hier ein Individualurteil (‚S verwirklicht T‘) o<strong>der</strong> einen Eigennamen<br />

(‚Sokrates‘) aufzunehmen, ist ganz <strong>und</strong> gar unsyllogistisch im aristotelischen<br />

Sinne. In einem gern gekauften Lehrbuch eines angesehenen Autors <strong>der</strong> juristischen<br />

<strong>Methoden</strong>lehre heißt es dazu: ‚Genaugenommen sollte auch die zweite Prämisse allgemein<br />

sein, nach dem Muster ‚Alle Athener sind Menschen‘. Aber die individualisierende<br />

Form hat sich eingebürgert‘. Ist dies die ironische Konzession eines Logikers<br />

an den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand <strong>der</strong> ‚Bürger‘ o<strong>der</strong> die komplette Kapitulation<br />

<strong>der</strong> Logik vor den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Jurisprudenz? Mit Untersätzen von <strong>der</strong> Art<br />

‚Alle Athener sind Menschen‘ läßt sich <strong>der</strong> Fall Sokrates ebensowenig lösen wie je<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e Einzelfall. Deshalb sollte es sich langsam ‚eingebürgert‘ haben, Subsumtionen<br />

von (Einzel-)Fällen unter das Gesetz als ‚Urteile‘ zu begreifen <strong>und</strong> dafür juristischen<br />

Sachverstand <strong>und</strong> gemeine Menschenvernunft vorauszusetzen. Mit <strong>der</strong>en Hilfe wird<br />

auch <strong>der</strong> ‚Syllogismus <strong>der</strong> Rechtsfolgebestimmung‘ ohne Denkfehler verlaufen“.


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 4 Alteuropäisches Erbe <strong>und</strong> neuzeitliche Vermächtnisse<br />

<strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

I. Terminologie<br />

1. Alteuropäisches Erbe<br />

2. Neuzeitliche Vermächtnisse<br />

II. Alteuropäisches Erbe<br />

1. Das griechische Erbe<br />

a) Die Philosophie<br />

b) Die Demokratie<br />

2. Das römische Erbe<br />

a) Die Jurisprudenz<br />

b) Die Republik<br />

3. Das christliche Erbe<br />

a) Staatskirchenrecht<br />

b) Naturrechtslehren<br />

III. Neuzeitliche Vermächtnisse<br />

1. Privatautonomie<br />

a) Gr<strong>und</strong>prinzip des Zivilrechts<br />

b) Herkunft aus dem ökonomischen Liberalismus<br />

2. Gesetzlichkeitsprinzip<br />

a) Gr<strong>und</strong>prinzip des Strafrechts<br />

b) Herkunft aus dem Republikanismus <strong>der</strong> Aufklärung<br />

3. Menschenwürde<br />

a) Konstitutionsprinzip <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>rechte<br />

b) Herkunft aus dem Humanismus <strong>der</strong> italienischen Renaissance<br />

c) Verhältnis zum Konstitutionsprinzip <strong>der</strong> Republik


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 4<br />

Zur griechischen Philosophie<br />

Aus europäischer Sicht hat die Philosophie ihre Wurzeln im antiken Griechenland. Mehr<br />

noch als für die Naturphilosophie gilt dies für die Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie. Sie beginnt<br />

mit den Sophisten <strong>und</strong> ihrer sprichwörtlich „sophistischen“ Rhetorik (<strong>der</strong> Redekunst, <strong>der</strong>en<br />

degenerierte Form bloßer Überredungstechnik nicht „Sophistik“, son<strong>der</strong>n – mit Schopenhauer<br />

– „Eristik“ genannt werden sollte), findet in Sokrates als <strong>der</strong> ewigen Figur des kritischen<br />

Fragestellers ihr Vorbild <strong>und</strong> in seinem Meisterschüler Platon sowie dessen meisterlichem<br />

Schüler <strong>und</strong> Kritiker Aristoteles ihre Hauptvertreter. Während die Letztgenannten mit<br />

ihren Dialogen <strong>und</strong> Traktaten Texte hinterlassen haben, von <strong>der</strong>en philosophischer Substanz<br />

wir noch heute zehren (dazu § 5), ist Sokrates (von dem es nicht einen einzigen Originaltext<br />

gibt) durch sein Leben <strong>und</strong> – so paradox es klingen mag – durch seinen Tod unsterblich geworden:<br />

als weltgeschichtliche Persönlichkeit, nicht nur als Stammvater <strong>der</strong> europäischen<br />

Philosophie. Er starb siebzigjährig im Jahre 399 v. Chr., in einem aufsehenerregenden Strafverfahren<br />

zum Tode verurteilt, weil er die Jugend verdorben <strong>und</strong> die Götter Athens verunglimpft<br />

habe. Da er zu diesen „Taten“ stand, verzichtete Sokrates nicht nur auf die übliche<br />

Verteidigungsstrategie vor Gericht, son<strong>der</strong>n auch auf die angebotene Flucht aus dem Gefängnis<br />

<strong>und</strong> trank gelassen das Gift des Schierlingsbechers.<br />

Diese Gelassenheit im Angesicht des Todes erklärt sich aus dem berühmten Wissen um das<br />

Nichtwissen, dessen richtiges Verständnis im Zentrum aller Erinnerungen an Sokrates als<br />

den Urtypus des dialogisch Philosophierenden stehen sollte. Einem verbreiteten Fehlzitat<br />

zum Trotz ist nirgends überliefert, Sokrates habe gesagt, er „wisse“, „nichts zu wissen“ (in<br />

richtigem Latein, aber mit unrichtigem Inhalt: „scio me nescire“). Einen solchen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen <strong>der</strong> Behauptung, etwas <strong>und</strong> doch nichts zu wissen, hätten we<strong>der</strong> Sokrates mündlich<br />

noch sein philosophischer Hauptzeuge Platon schriftlich artikuliert. In Platons „Apologie“<br />

(<strong>der</strong> literarisch gestalteten Verteidigungsrede des Sokrates) heißt es deshalb: Etwas, das<br />

ich nicht weiß, glaube ich auch nicht zu wissen (21 d). Warum also sollte er, <strong>der</strong> sich nicht<br />

anmaßte zu wissen, ob es ein Jenseits gibt <strong>und</strong> was ihn gegebenenfalls dort erwartet, Angst<br />

vor dem Tode gehabt haben? Und warum sollte er permanent Dialoge über das Gelingen des<br />

diesseitigen Lebens geführt haben, die allesamt ohne abschließende Antwort geblieben sind,<br />

wenn er insoweit ein monologisches Wissen für sich in Anspruch genommen hätte? Am Ende<br />

<strong>der</strong> Vorlesung wird deutlich geworden sein, was diese dialogische Gr<strong>und</strong>haltung für den<br />

philosophisch richtigen Umgang mit Recht <strong>und</strong> Staat bedeutet.<br />

Zur römischen Jurisprudenz<br />

Philosophie <strong>und</strong> Demokratie sind das griechische, Jurisprudenz <strong>und</strong> Republik das römische<br />

Erbe Europas. Am Anfang <strong>der</strong> römischen Republik (510 v. Chr.) steht die Vertreibung <strong>der</strong><br />

etruskischen Könige, am Beginn <strong>der</strong> römischen Jurisprudenz das Zwölftafelgesetz (450 v.<br />

Chr.). Benannt ist es nach den Tafeln, auf denen es aufgezeichnet <strong>und</strong> vor <strong>der</strong> Rednerbühne<br />

des Forum Romanum öffentlich aufgestellt war, damit es „ganz leicht zur Kenntnis genommen<br />

werden“ konnte (D.1.1.2). An<strong>der</strong>s als die Griechen, die ihr gesamtes Recht den Laien<br />

anvertrauten, haben die Römer einen eigenen Juristenstand, eine spezifische Kunst professioneller<br />

Rechts- <strong>und</strong> Gerechtigkeitspflege <strong>und</strong> eine selbstbewußte Wissenschaft vom Recht<br />

hervorgebracht: die „iuris prudentia“ (die mit „Rechtsklugheit“ genauer getroffen wäre als


2<br />

mit „Rechtswissenschaft“). Zwar waren die Richter weiterhin Laien, die Zivilprozesse wurden<br />

aber durch einen eigenen Beamten, den Prätor, vorbereitet. Unter seiner Führung <strong>und</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> seiner amtlichen Autorität hatten die streitenden Parteien sich auf eine „formula“<br />

zu einigen, die den rechtlichen Rahmen für die anschließende Verhandlung vorgab – daher<br />

<strong>der</strong> Name „Formularprozeß“.<br />

Nach heutigen Maßstäben entschied <strong>der</strong> Prätor über die Zulässigkeit <strong>der</strong> Klage, das zuständige<br />

Gericht <strong>und</strong> die statthafte Klageart <strong>und</strong> damit über die prozessualen Essentialia, für die<br />

er professioneller juristischer Kompetenz bedurfte, während die beweiswürdigende Aufarbeitung<br />

<strong>der</strong> Tatsachen den Laienrichtern überlassen wurde. Die Gr<strong>und</strong>sätze, nach denen <strong>der</strong><br />

Prätor Klagen in seinem jeweiligen Amtsjahr zulassen wollte, wurden in einem Edikt verkündet,<br />

das von seinen Nachfolgern übernommen wurde. Die prätorischen Edikte enthielten<br />

so eine Sammlung des tatsächlich geltenden, praktisch angewandten Rechts. Beraten wurden<br />

die Prätoren von den „iuris consulti“, den Rechtsgelehrten, die insbeson<strong>der</strong>e als<br />

„Respondierjuristen“ wissenschaftlich begründete Antworten (responsa) auf Anfragen erteilten.<br />

„Es war für die Entwicklung des römischen Rechts nun von großer Bedeutung, daß sich<br />

stets genügend Nobiles als Rechtsberater fanden; doch war <strong>der</strong> gelehrte Nachwuchs vor allem<br />

dadurch gesichert, daß die Tätigkeit des Rechtsgelehrten als standesgemäß galt“ (Jochen<br />

Bleicken, Die Verfassung <strong>der</strong> Römischen Republik, 8. Aufl., S. 145). Die von je<strong>der</strong> Juristengeneration<br />

zu wie<strong>der</strong>holende Rezeption (Aneignung) des römischen Rechts, die mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung<br />

<strong>der</strong> Kodifikation Justinians im 11./12. Jahrhun<strong>der</strong>t begann, <strong>und</strong> mit ihr die<br />

Pflege <strong>der</strong> über Jahrhun<strong>der</strong>te einheitlichen europäischen Gelehrtensprache könnte noch immer<br />

als standesgemäß gelten, wenn man in Schulen <strong>und</strong> Universitäten nicht alles nach unten<br />

nivelliert <strong>und</strong> das Latinum als Voraussetzung des Jurastudiums nicht abgeschafft hätte.<br />

Zur Menschenwürde<br />

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Nicht erst die feierliche Formulierung bringt die<br />

Beson<strong>der</strong>heit dieses Satzes zum Ausdruck, son<strong>der</strong>n schon seine Stellung als Eingangssatz<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Die Eigenschaft, <strong>der</strong> erste Satz <strong>der</strong> Verfassung zu sein, hebt ihn aus <strong>der</strong><br />

Masse <strong>der</strong> Normsätze unserer Rechtsordnung heraus. Seine Singularität spricht für die Exklusivität<br />

seines Sinnes o<strong>der</strong> kurz: für seinen Eigen-Sinn. Nach Theodor Heuss, dem späteren<br />

ersten B<strong>und</strong>espräsidenten, formuliert Art. 1 I 1 GG eine „nicht interpretierte These“. Eine<br />

„These“ ist eine Setzung, die eine Behauptung aufstellt, sie aber selbst nicht begründet. Mit<br />

Pico della Mirandola (1463-1494) kann man noch heute sagen, <strong>der</strong> Mensch sei „plastes et<br />

fictor“ – schöpferischer Gestalter – seiner selbst, pointiert: er verfüge über „Entwurfsvermögen“<br />

(zum ideengeschichtlichen Hintergr<strong>und</strong>: Band 1 <strong>der</strong> Reihe POLITIKA, hrsg. von Rolf<br />

Gröschner <strong>und</strong> Oliver Lembcke: Des Menschen Würde – entdeckt <strong>und</strong> erf<strong>und</strong>en im Humanismus<br />

<strong>der</strong> italienischen Renaissance, 2008, insbes. S. 159 ff. <strong>und</strong> S. 215 ff.). Da dieses „Vermögen“<br />

thetisch o<strong>der</strong> quasi-axiomatisch vorausgesetzt (unterstellt) wird, <strong>und</strong> eine reine (definitorisch<br />

zugesprochene) Potentialität zum Ausdruck bringt, ist es in <strong>der</strong> Tat „unantastbar“.<br />

Als „Konstitutionsprinzip“ (BVerfG) f<strong>und</strong>iert es die Menschenrechte (Art. 1 II GG), die<br />

als Gr<strong>und</strong>rechte alle staatliche Gewalt binden (Art. 1 III GG). In liberal-rechtsstaatlicher Tradition<br />

sind Gr<strong>und</strong>rechte zwar unstreitig Abwehrrechte gegen den Staat, ebenso unstreitig<br />

sind sie in demokratisch-republikanischer Funktion aber auch politische Mitwirkungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsrechte. Ernsthaft freiheitsphilosophisch konzipiert, haben die Freiheitsgr<strong>und</strong>rechte<br />

daher sowohl limitierende als auch legitimierende Funktion. Sie bilden den Gr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> die Grenze <strong>der</strong> freiheitlichen Ordnung des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Deren tragende Prinzipien<br />

o<strong>der</strong> Konstitutionsprinzipien sind Menschenwürde <strong>und</strong> Republik: das Republikprinzip konstituiert<br />

die Freiheit aller, das Menschenwürdeprinzip die Freiheit aller Einzelnen (Rolf<br />

Gröschner/Oliver Lembcke, Ethik <strong>und</strong> Recht, in: Nikolaus Knoepffler u.a., Einführung in die<br />

Angewandte Ethik, 2006, S. 60).


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 5 Klassiker <strong>der</strong> antiken Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie<br />

I. Sokrates <strong>und</strong> das richtige Fragen nach Recht <strong>und</strong> Staat<br />

1. Der „Typ Sokrates“<br />

a) Der historische <strong>und</strong> <strong>der</strong> platonische Sokrates<br />

b) Platons „Apologie des Sokrates“<br />

2. Das sokratische Fragen<br />

a) Zur Erinnerung: Wissen um das Nichtwissen<br />

b) Aporetik, Dialogik <strong>und</strong> Mäeutik<br />

II. Platon <strong>und</strong> das Muster des Staates<br />

1. Zum richtigen Umgang mit Platons Schriften<br />

a) Philosophie als „a series of footnotes to Plato“ (Whitehead)<br />

b) „Wissen, daß“ <strong>und</strong> „Wissen, wie“<br />

2. Platons Musterstaat<br />

a) Der gerechte Staat als stabiler Staat<br />

b) Die Philosophenherrschaft<br />

III. Aristoteles <strong>und</strong> das Ziel <strong>der</strong> staatlichen Gemeinschaft<br />

1. Die Gemeinschaft <strong>der</strong> polis <strong>und</strong> ihre Teile<br />

a) „Eudaimonia“ als Ziel <strong>der</strong> polis<br />

b) Der Mensch als „physei politikon zoon“<br />

c) Der Verweisungszusammenhang zwischen <strong>der</strong> „politeia“ <strong>und</strong> den<br />

„politai“<br />

2. Ausgleichende <strong>und</strong> austeilende Gerechtigkeit<br />

a) iustitia commutativa<br />

b) iustitia distributiva


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 5<br />

Zum sokratischen Fragen nach Recht <strong>und</strong> Staat<br />

Die Umstände seines Todes haben die weltgeschichtliche Bedeutung des Sokrates begründet,<br />

die lebenslang praktizierten Dialoge seinen philosophischen Weltruhm. Obwohl er die für<br />

seine Person <strong>und</strong> seine Philosophie konstitutiven Gespräche nur mündlich gepflegt hat, lassen<br />

die frühen Dialoge Platons doch jenen „Typ Sokrates“ erkennen (Böhme, 2002), <strong>der</strong> als<br />

philosophischer Lehrer für das richtige Fragen nach Recht <strong>und</strong> Staat bis heute unübertroffen<br />

ist. Es ist ein Fragen auf <strong>der</strong> Basis des sokratischen Wissens um das Nichtwissen, das zu philosophischer<br />

Bescheidenheit bei den großen Themen des Wahren, des Guten <strong>und</strong> des Schönen<br />

ebenso zwingt wie bei den Hauptthemen <strong>der</strong> Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie: Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Freiheit. Die immer wie<strong>der</strong> lesenswerten Dialoge sind: Thrasymachos über Gerechtigkeit<br />

(Politeia, Buch I), Laches über Tapferkeit, Charmides über Besonnenheit, Eutyphron<br />

über Frömmigkeit <strong>und</strong> Lysis über Fre<strong>und</strong>schaft (jeweils in einem Dialog dieses Titels). Sie<br />

alle enden in einer Aporie (ausweglosen Situation), in <strong>der</strong> die Gesprächspartner sich <strong>und</strong><br />

einan<strong>der</strong> eingestehen müssen, das wahre Wesen des Gesprächsgegenstandes nicht gef<strong>und</strong>en,<br />

genauer: nicht in einer Weise gef<strong>und</strong>en zu haben, die einen abschließend definierten, monologisch<br />

weiterverwendbaren Begriff zur Verfügung stellt.<br />

Sokrates wollte nicht zum Auswendiglernen von Definitionen erziehen, son<strong>der</strong>n zu kritischer<br />

Kompetenz gegenüber allen Absolutheitsansprüchen vermeintlich höherer Autoritäten.<br />

Eben deshalb zum Tode verurteilt, konnte er das formal korrekte Todesurteil als Rechtsspruch<br />

einer irdischen Instanz akzeptieren, ohne seinen eigenen Gerechtigkeitsanspruch<br />

suspendieren zu müssen: den Anspruch eines nicht-monologischen Modus des Philosophierens<br />

<strong>und</strong> eines entsprechend dialogischen Ethos des Philosophen. Als „Fremdling in <strong>der</strong> hier<br />

üblichen Art zu reden“ hatte Sokrates auch vor Gericht darauf bestanden, die Sache in seiner<br />

„gewohnten Weise“ zu führen (Apologie 17 d, 27 b). Statt „gejammert <strong>und</strong> gewehklagt“ zu<br />

haben (38 d), war er „ausfragend <strong>und</strong> ausforschend“ vorgegangen (41 b), um den „Dünkel“<br />

angemaßten Wissens als solchen zu entlarven (29 a). Für die Mehrheit <strong>der</strong> Geschworenen<br />

war dies dann doch zu provokativ. Das ist die Paradoxie sokratischen Philosophierens:<br />

Selbstdenkend <strong>und</strong> selbstredend erscheint <strong>der</strong> Philosoph des Nichtwissens anmaßend, obwohl<br />

er nur das Nichtwissen <strong>der</strong> Anmaßenden offenbart. Eine Schule, die dies lehrt, ist eine<br />

gute Vorschule <strong>der</strong> Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie. Dazu Gernot Böhme, <strong>der</strong> Typ Sokrates,<br />

3. Aufl. 2002, S. 118 f.: „Die sokratischen Fragen zwingen den Partner, sich zu decouvrieren,<br />

zu sagen, was er glaubt <strong>und</strong> für richtig hält, Behauptungen aufzustellen <strong>und</strong> nachher sie zu<br />

begründen. Diese sehr aggressive Frageweise läßt die Sache, die besprochen wird, fast<br />

gleichgültig werden gegenüber <strong>der</strong> Person, die ‚in Rede steht‘ […] Der Lehrer, <strong>der</strong> nichts<br />

lehrt: Sokrates hat mit diesem Paradox einen neuen Typ von Pädagogik erf<strong>und</strong>en. Man<br />

nennt sie, seinen eigenen Worten folgend, mäeutische Pädagogik, d.h. geburtshelfende Pädagogik.<br />

Die Idee besteht darin, daß <strong>der</strong> Lehrer dem Schüler kein Wissen mitteilt, son<strong>der</strong>n<br />

ihm vielmehr bei <strong>der</strong> Produktion von Wissen Hebammendienste leistet. Der Vorzug, <strong>der</strong><br />

mäeutischer Pädagogik gegenüber gewöhnlicher Wissensvermittlung zukommt, bestehe<br />

darin, sagt man, daß das Wissen auf diese Weise dem Schüler nicht äußerlich bleibe, son<strong>der</strong>n<br />

als selbstproduziertes seiner Persönlichkeit integriert werde. Wenn man die Einheit von Wissen<br />

<strong>und</strong> Person als das entscheidende Charakteristikum philosophischen Wissens bezeichnet,<br />

also ein typisch philosophischer Effekt“.<br />

Zur Philosophenherrschaft bei Platon


Bei aller Meisterschaft, mit <strong>der</strong> Platon die sokratischen Gespräche zu literarischen Kunstwerken<br />

ausformuliert <strong>und</strong> mit eigenem philosophischen Gehalt angereichert hat, ist er dem Dialog<br />

als Modus <strong>der</strong> Philosophie treu geblieben. Auch sein Anliegen war es, die richtige Art<br />

<strong>und</strong> Weise (kurz: den Modus) des Philosophierens zu lehren <strong>und</strong> die Dialektik (von<br />

„dialegesthai“, sich auseinan<strong>der</strong>setzen) als Kunst („techne“) <strong>der</strong> Dialogik zu pflegen. In <strong>der</strong><br />

angelsächsischen Platonforschung nennt man dies die Vermittlung eines „knowing how“<br />

statt eines „knowing that“ (Wiehart in: Gröschner/Dierksmeier/Henkel/Wiehart, Rechts<strong>und</strong><br />

Staatsphilosophie, 2000, § 1). Die berühmte Formel, die Platon im 4. Buch <strong>der</strong> Politeia<br />

für das Verhältnis <strong>der</strong> Philosophen, Wächter <strong>und</strong> Händler in einer gerechten Ordnung <strong>der</strong><br />

polis entwickelt – je<strong>der</strong> müsse „das Seinige tun“ (433 a) –, gibt deshalb kein fertiges Satzwissen<br />

vor, son<strong>der</strong>n bedarf eingehen<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem platonischen Begriff des<br />

Philosophen <strong>und</strong> <strong>der</strong> (allzu oft als Schlagwort verwendeten) Konzeption <strong>der</strong> Philosophenherrschaft<br />

(473 c). Sie ist keine Herrschaft von Kathe<strong>der</strong>philosophen, son<strong>der</strong>n von unabhängigen,<br />

unbestechlichen <strong>und</strong> unbeirrbar vernunftgeleiteten Persönlichkeiten – ein Modell, das<br />

in seiner Theoriearchitektur klassisch bleibt, auch wenn es praktisch nicht realisierbar ist<br />

(wie Platon ausdrücklich betont: 472 e).<br />

Zur Gerechtigkeit bei Aristoteles<br />

Während Platon die Gerechtigkeit im weiteren Verlauf des Politeia-Dialogs als Tugend <strong>der</strong><br />

Einzelpersönlichkeit bestimmt, Weisheit, Tapferkeit <strong>und</strong> Besonnenheit (mo<strong>der</strong>n gesprochen:<br />

Kopf, Herz <strong>und</strong> Bauch) miteinan<strong>der</strong> in Einklang zu bringen (441 c, 443 d), greift Aristoteles<br />

auf das interpersonale Verhältnis zum An<strong>der</strong>en aus („pros heteron“): Nikomachische Ethik<br />

V 3: „Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, aber nicht schlechthin, son<strong>der</strong>n im<br />

Hinblick auf den an<strong>der</strong>en Menschen. Darum gilt die Gerechtigkeit vielfach als die vornehmste<br />

<strong>der</strong> Tugenden [...] <strong>und</strong> im Sprichwort sagt man: ‚In <strong>der</strong> Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefaßt‘.<br />

Sie gilt vor allem als die vollkommene Tugend, weil sie die Anwendung <strong>der</strong><br />

vollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist sie, weil <strong>der</strong>, <strong>der</strong> sie besitzt, die Tugend auch<br />

dem an<strong>der</strong>n gegenüber anwenden kann <strong>und</strong> nicht nur für sich. Viele nämlich können in ihren<br />

eigenen Angelegenheiten die Tugend anwenden, nicht aber in den Beziehungen zu an<strong>der</strong>en.<br />

Darum scheint das Wort des Bias richtig zu sein: ‚Die Herrschaft zeigt den Mann‘;<br />

denn <strong>der</strong> Herrschende steht bereits in Gemeinschaft <strong>und</strong> in Beziehung zu an<strong>der</strong>en. Aus<br />

demselben Gr<strong>und</strong>e scheint auch die Gerechtigkeit allein unter allen Tugenden ‚ein fremdes<br />

Gut‘ zu sein, weil sie sich auf den an<strong>der</strong>n bezieht. Sie tut nämlich, was einem an<strong>der</strong>en zuträglich<br />

ist, sei es dem Regenten o<strong>der</strong> jenem, <strong>der</strong> <strong>der</strong>selben Gemeinschaft angehört. Der<br />

Schlechteste ist dementsprechend, wer die Schlechtigkeit gegen sich selbst <strong>und</strong> gegen die<br />

Fre<strong>und</strong>e anwendet, <strong>der</strong> Beste, wer die Tugend nicht nur gegen sich, son<strong>der</strong>n gegen den an<strong>der</strong>n<br />

anwendet. Denn dies ist eine schwierige Aufgabe“. Zum rechtsphilosophischen Klassiker<br />

ist Aristoteles durch die Unterscheidung zweier Arten interpersonaler Gerechtigkeit geworden:<br />

<strong>der</strong> ausgleichenden <strong>und</strong> <strong>der</strong> zuteilenden Gerechtigkeit, die man mit Begriffen <strong>der</strong><br />

mittelalterlichen Scholastik – namentlich mit Thomas von Aquin – als „iustitia commutativa“<br />

<strong>und</strong> „iustitia distributiva“ bezeichnet. Die ausgleichende (kommutative) Gerechtigkeit bezieht<br />

sich auf Austauschverhältnisse vor allem des Privatrechts (paradigmatisch auf Vertragsverhältnisse<br />

wie den Kauf), aber auch auf die Strafe als Ausgleich für begangenes Unrecht<br />

durch Wie<strong>der</strong>herstellung des Rechts; die zuteilende (distributive) Gerechtigkeit betrifft<br />

die Verteilung von Lasten <strong>und</strong> Leistungen im Öffentlichen Recht (aktuell: Steuern <strong>und</strong> Sozialhilfe).<br />

Noch immer aktuell ist Aristoteles auch für den Zugang zu öffentlichen Ämtern, <strong>der</strong><br />

nicht wie beim Kaufpreis nach „arithmetischer“ Logik (<strong>der</strong> gleichen Zahl), son<strong>der</strong>n nach<br />

„geometrischer“ Logik (<strong>der</strong> Proportionalität) erfolgt: nach den Anfor<strong>der</strong>ungen des Amtes<br />

<strong>und</strong> nach „Eignung, Befähigung <strong>und</strong> fachlichen Leistung“ des Bewerbers (Art. 33 Abs. 2<br />

GG).<br />

2


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 6 Klassiker <strong>der</strong> rechts- <strong>und</strong> staatsphilosophischen Aufklärung<br />

I. Begriff <strong>der</strong> „Aufklärung“<br />

1. Die klassische Formel Kants<br />

2. Pico della Mirandola als Aufklärer <strong>der</strong> Renaissance<br />

a) Der Mensch als „plastes et fictor“ seiner selbst<br />

b) Menschenwürde als „Entwurfsvermögen“<br />

II. Thomas Hobbes <strong>und</strong> Jean-Jacques Rousseau<br />

1. Der Gesellschaftsvertrag bei Hobbes<br />

a) Das Gedankenexperiment des Naturzustands<br />

b) Die Beendigung des Naturzustands durch die Konstituierung des Staates<br />

2. Rousseaus Philosophie <strong>der</strong> Republik<br />

a) Titel <strong>und</strong> Untertitel des Contrat Social als Programm<br />

b) Der Contrat Social als Republiktheorie<br />

c) Die Transformation <strong>der</strong> natürlichen in die republikanische Freiheit<br />

III. Immanuel Kant <strong>und</strong> Georg Wilhelm Friedrich Hegel<br />

1. Kants Kritische Philosophie<br />

a) Begriff <strong>der</strong> „Kritik“<br />

b) Begriff <strong>der</strong> „Transzendentalphilosophie“<br />

c) Kants Freiheitsbegriff<br />

d) Der kategorische Imperativ<br />

2. Hegels Dialektische Philosophie<br />

a) Begriff <strong>der</strong> „Dialektik“<br />

b) Hegels Freiheitsbegriff<br />

c) Der Staat als sittlicher Staat


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 6<br />

Zum Begriff <strong>der</strong> „Aufklärung“<br />

Immanuel Kant, Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist Aufklärung? (Berlinische Monatsschrift<br />

1784, S. 481 ff.): „Aufklärung ist <strong>der</strong> Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten<br />

Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seinen Verstandes ohne Leitung<br />

eines an<strong>der</strong>en zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache<br />

<strong>der</strong>selben nicht am Mangel des Verstandes, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Entschließung <strong>und</strong> des Mutes liegt,<br />

sich seiner ohne Leitung eines an<strong>der</strong>n zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen<br />

Verstandes zu bedienen! ist also <strong>der</strong> Wahlspruch <strong>der</strong> Aufklärung“.<br />

Pico della Mirandola, De hominis dignitate, hrsg. v. A. Buck, Hamburg 1990, S. 5 ff.: „Wir<br />

haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine<br />

beson<strong>der</strong>e Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen <strong>und</strong> die Gaben, die du selbst dir<br />

ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch <strong>und</strong> Entschluß habest <strong>und</strong> besitzest. Die Natur<br />

<strong>der</strong> übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt <strong>und</strong> wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze<br />

begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung <strong>und</strong> Enge, nach deinem Ermessen,<br />

dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte <strong>der</strong> Welt<br />

gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf <strong>der</strong> Welt gibt.<br />

We<strong>der</strong> haben wir dich himmlisch noch irdisch, we<strong>der</strong> sterblich noch unsterblich geschaffen,<br />

damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheiden<strong>der</strong>, schöpferischer Bildhauer (plastes et<br />

fictor) dich selbst zu <strong>der</strong> Gestalt ausformst, die du bevorzugst“.<br />

Zum Gesellschaftsvertrag bei Hobbes <strong>und</strong> Rousseau<br />

In den Theorien des sogenannten Kontraktualismus – von „contractus“, Vertrag – bezeichnet<br />

„Gesellschaftsvertrag“ kein Phänomen <strong>der</strong> Rechtswirklichkeit, son<strong>der</strong>n das zentrale Gedankenexperiment<br />

zur Rechtfertigung (Legitimation) des Staates. In <strong>der</strong> historisch wie systematisch<br />

erstrangigen Legitimationstheorie des Thomas Hobbes wird die Notwendigkeit eines<br />

(fingierten) Vertragsschlusses zur Konstituierung des Staates mit <strong>der</strong> Überwindung eines<br />

„bellum omnium contra omnes“ – eines Krieges aller gegen alle – in einem (fiktiven) Naturzustand<br />

begründet, in dem niemand seines Lebens sicher sein kann (Leviathan, englische<br />

Erstausgabe 1651, lateinische Ausgabe 1670, Kap. 13). Hobbes verweist seine Leser insoweit<br />

auf die schlichte Alltagserfahrung, ohne eine pessimistische Anthropologie begründen zu<br />

wollen: „Manchem, <strong>der</strong> sich diese Dinge nicht gründlich überlegt hat, mag es seltsam vorkommen,<br />

daß die Natur die Menschen so sehr entzweien <strong>und</strong> zu gegenseitigem Angriff <strong>und</strong><br />

gegenseitiger Vernichtung treiben sollte, <strong>und</strong> vielleicht wünscht er deshalb, da er dieser<br />

Schlußfolgerung aus den Leidenschaften nicht traut, dies durch die Erfahrung bestätigt zu<br />

haben. Er möge deshalb bedenken, daß er sich bei Antritt einer Reise bewaffnet <strong>und</strong> darauf<br />

bedacht ist, in guter Begleitung zu reisen, daß er beim Schlafengehen seine Türen <strong>und</strong> sogar<br />

in seinem Hause seine Kästen verschließt – <strong>und</strong> dies in Kenntnis dessen, daß es Gesetze <strong>und</strong><br />

bewaffnete Beamte gibt, um alles Unrecht zu verfolgen, das ihm angetan wird. Welche Meinung<br />

hat er also von seinen Mit-Untertanen, wenn er bewaffnet reist, welche von seinen<br />

Mitbürgern, wenn er seine Türen verschließt, <strong>und</strong> welche von seinen Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Bediensteten,<br />

wenn er seine Kästen verschließt? Klagt er da die Menschen durch seine Handlungen<br />

nicht ebensosehr an wie ich durch meine Worte? Aber keiner von uns klagt damit die<br />

menschliche Natur an“.


Wird <strong>der</strong> Gesellschaftsvertrag im Hobbesschen Gedankenexperiment geschlossen, um den<br />

Staat als Friedensordnung zu legitimieren, liegt die Legitimationsleistung des Vertragsschlusses<br />

bei Jean-Jacques Rousseau in <strong>der</strong> Errichtung des Staates als Freiheitsordnung. Der<br />

im „Contrat Social“ (1762) entwickelte, für Kant <strong>und</strong> Hegel wegweisende Freiheitsbegriff ist<br />

allerdings mit <strong>der</strong> herkömmlichen, liberal-rechtsstaatlichen Vorstellung individueller Handlungsspielräume<br />

empirischer Subjekte nicht zu erfassen. In guter sokratischer Tradition sollte<br />

man ihn von <strong>der</strong> Fragestellung her zu verstehen versuchen. Sie besteht darin, eine Form<br />

des Zusammenschlusses („association“) zu finden, die nicht nur die jeweiligen Eigeninteressen<br />

<strong>der</strong> Vertragsschließenden (durch <strong>der</strong>en bloße „aggregation“) schützt, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong><br />

„je<strong>der</strong>, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht <strong>und</strong> genauso frei bleibt wie<br />

zuvor“ (Contrat Social, I 6). Der Bürger eines solchen (wie<strong>der</strong>um fingierten) Vertragsschlusses<br />

kann nicht <strong>der</strong> lediglich auf seine individuelle Freiheit fixierte „bourgeois“ sein, son<strong>der</strong>n<br />

nur <strong>der</strong> am generellen Freiheitsinteresse orientierte „citoyen“, <strong>der</strong> im gemeinsamen Bestreben,<br />

eine allgemeine Freiheitsordnung zu etablieren (das ist die unübersetzbare „volonté<br />

générale“), die legitimatorische Einheit des Volkes („peuple“) <strong>und</strong> mit ihr die cité –<br />

Rousseaus Begriff für Republik – hervorbringt: „Les citoyens font la cité“.<br />

Zur Freiheit bei Kant <strong>und</strong> Hegel<br />

Kant folgt Rousseau in <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>konzeption <strong>der</strong> Freiheit als Gehorsam gegenüber dem<br />

selbstgegebenen Gesetz. An die Stelle des citoyen, <strong>der</strong> den staatskonstituierenden Vertrag<br />

aus einem im klassischen Sinne politischen o<strong>der</strong> republikanischen Interesse an allgemeiner<br />

Freiheit schließt, tritt nun aber die moralische Persönlichkeit. „Moralisch“ ist sie nicht als<br />

empirischer, von sinnlichen Neigungen <strong>und</strong> Antrieben motivierter Mensch („homo phaenomenon“),<br />

son<strong>der</strong>n als apriorisches, aller Erfahrung vorausliegendes Subjekt <strong>der</strong> Moralität<br />

(„homo noumenon“) unter <strong>der</strong> „regulativen Idee“ <strong>der</strong> Freiheit als einem „reinen Vernunftbegriff“.<br />

Die Unterscheidung zwischen <strong>der</strong> empirischen <strong>und</strong> <strong>der</strong> nicht-empirischen (metaphysischen<br />

o<strong>der</strong> – bei Kant synonym – transzendentalen) Dimension des Menschseins ist in<br />

keinem an<strong>der</strong>en philosophischen System so kategorial wie im kantischen. Deshalb müssen<br />

auch die beiden Freiheitsdimensionen strikt auseinan<strong>der</strong>gehalten werden: „Innere“ Freiheit<br />

ist das einzige „angeborne“, dem Vernunftmenschen „kraft seiner Menschheit“ zustehende<br />

Recht (im Singular), während „die Rechte“ (im Plural) solche des Sinnenmenschen in den<br />

„äußeren“ Freiheitsverhältnissen des Rechts sind. Als Idee <strong>der</strong> „reinen“ Vernunft wirkt die<br />

Freiheit moralischer Persönlichkeiten unter selbstgegebenen Gesetzen für eine empirische<br />

Rechtslehre regulativ – wie ein Leitstern: § 1 III 2 –, nicht aber konstitutiv.<br />

Dieser dualistischen Konzeption einer inneren, <strong>der</strong> Vernunft verpflichteten Moralität einerseits<br />

<strong>und</strong> einer äußeren, unter empirischen Bedingungen stehenden Legalität an<strong>der</strong>erseits<br />

setzt Hegel eine dialektische Konzeption entgegen, in <strong>der</strong> die Sozialität des Menschen konstitutiv<br />

für die „Wirklichkeit <strong>der</strong> konkreten Freiheit“ im Staat wird (Hegel, Gr<strong>und</strong>linien <strong>der</strong><br />

Philosophie des Rechts, 1821, § 260). „Konkret“ wird die Freiheit, indem die bei Kant selbständigen<br />

Elemente <strong>der</strong> Legalität <strong>und</strong> <strong>der</strong> Moralität zu „Momenten“ des Freiheitsbegriffs –<br />

das heißt hegelisch: zu nicht-isolierbaren Eigentümlichkeiten eines dialektischen Ganzen –<br />

werden, <strong>der</strong> sowohl das äußere („abstrakte“) Recht als auch die innere („subjektive“) Moralität<br />

umfaßt, diese beiden Momente aber im Prinzip <strong>der</strong> objektiven, in den Institutionen des<br />

(„sittlichen“) Staates verwirklichten <strong>und</strong> in ihrer Allgemeinheit gewollten Freiheit „aufhebt“<br />

(in <strong>der</strong> bekannten Bedeutung des Höherhebens auf eine begriffliche Ebene, auf <strong>der</strong> die Gegensätze<br />

sowohl aufbewahrt als auch überw<strong>und</strong>en sind). Die dafür erfor<strong>der</strong>liche „politische<br />

Gesinnung“ <strong>und</strong> das „zur Gewohnheit gewordene Wollen“, die Idee <strong>der</strong> Freiheit als „Resultat<br />

<strong>der</strong> im Staate bestehenden Institutionen“ zu verwirklichen (§ 268), weisen Hegels Freiheitsphilosophie<br />

ebenso als Fortschreibung <strong>der</strong> Republiklehre Rousseaus aus wie die Rede<br />

vom „politischen Staat“ als „Einheit <strong>der</strong> sich wollenden <strong>und</strong> wissenden Freiheit“ (§ 267, Zusatz).<br />

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 7 Freiheit als Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> Staatsphilosophie<br />

I. Verweisungszusammenhänge zwischen §§ 7 <strong>und</strong> 8<br />

1. Begriff des „Verweisungszusammenhangs“<br />

a) Phänomenologische „Trennungen“<br />

b) Begriffliche „Unterscheidungen“<br />

2. Verweisungszusammenhänge zwischen Recht <strong>und</strong> Staat<br />

a) Recht <strong>und</strong> Staat als Phänomene <strong>der</strong> Praxis<br />

b) Recht <strong>und</strong> Staat als juristische Begriffe<br />

c) Recht <strong>und</strong> Staat als philosophische Begriffe<br />

II. Republikanische Freiheit aller<br />

1. Zugriff auf das Phänomen „Freiheit“<br />

a) Weite <strong>und</strong> Untiefen <strong>der</strong> Wortverwendung<br />

b) „Haben“ o<strong>der</strong> „Sein“?<br />

2. Begriffliche Basisunterscheidungen<br />

a) Persönliche <strong>und</strong> politische Freiheit<br />

b) Rechtliche, moralische <strong>und</strong> sittliche Freiheit<br />

3. Republikanische Freiheit bei den Klassikern <strong>der</strong> philosophischen Aufklärung<br />

a) „Volonté générale“ bei Rousseau<br />

b) „Autonomie“ bei Kant<br />

c) „Wirklichkeit <strong>der</strong> Freiheit“ bei Hegel<br />

III. Gr<strong>und</strong>rechtliche Freiheiten Einzelner<br />

1. Freiheitsrechte des Ersten Abschnitts des GG<br />

a) Individuelle <strong>und</strong> institutionelle Freiheiten<br />

b) Monologischer <strong>und</strong> dialogischer Freiheitsgebrauch<br />

c) Innere <strong>und</strong> äußere Freiheiten<br />

2. Rechtsstaatliche <strong>und</strong> demokratische Freiheiten<br />

a) Freiheitsrechte als rechtsstaatliche Abwehrrechte<br />

b) Freiheitsrechte als demokratische Mitwirkungsrechte<br />

3. Legitimation des Staates durch Freiheit<br />

a) Republikanische Legitimation durch die Freiheit aller<br />

b) Menschenrechtliche Legitimation durch die Freiheit aller Einzelnen


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 7<br />

Zur republikanischen Freiheit aller<br />

Da Freiheit we<strong>der</strong> wie ein körperlicher Gegenstand „begriffen“ noch wie ein ökonomisches<br />

Gut „gehandelt“ werden kann, sollte <strong>der</strong> philosophische Zugriff nicht über die Kategorie des<br />

„Habens“, son<strong>der</strong>n über die des „Seins“ erfolgen. Frei zu „sein“, heißt deshalb (existenz-)<br />

philosophisch schon immer: Freiheit nicht „haben“ zu wollen, son<strong>der</strong>n sie je <strong>und</strong> je leben,<br />

erleben <strong>und</strong> einsetzen zu müssen. Das gilt sowohl für die persönliche (individuelle o<strong>der</strong> subjektive)<br />

als auch für die politische (allgemeine o<strong>der</strong> objektive) Freiheit. Um diese beiden<br />

Freiheitsformen so strikt wie möglich voneinan<strong>der</strong> zu unterscheiden <strong>und</strong> jede Verwechslung<br />

auszuschließen, kann man in rechts- <strong>und</strong> staatsphilosophischen Zusammenhängen von<br />

rechtlichen Freiheiten (im Plural) <strong>und</strong> von politischer Freiheit (im Singular) sprechen. Die<br />

politische o<strong>der</strong> (synonym) republikanische Freiheit kann dann noch zusätzlich mit dem Prädikat<br />

„große“ Freiheit versehen werden, um sie gegenüber den „kleinen“ Freiheiten von<br />

Rechtssubjekten (insbeson<strong>der</strong>e Gr<strong>und</strong>rechtsträgern), <strong>der</strong>en F<strong>und</strong>ament sie ist, auszuzeichnen.<br />

„F<strong>und</strong>ament“ ist dabei die metaphorische Fassung des Begriffs „Legitimationsbasis“<br />

(o<strong>der</strong> „Rechtfertigungsgr<strong>und</strong>“). Ergänzt um die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte ergibt sich <strong>der</strong> bereits bekannte Satz: „das Republikprinzip konstituiert<br />

die Freiheit aller, das Menschenwürdeprinzip die Freiheit aller Einzelnen“ (Texte zu § 4 am<br />

Ende).<br />

Die maßgeblichen Theoretiker <strong>der</strong> großen Freiheit dürfen nicht gegeneinan<strong>der</strong> ausgespielt,<br />

son<strong>der</strong>n sollten in ihrer jeweiligen Akzentsetzung aufeinan<strong>der</strong> bezogen werden: Kants Akzent<br />

liegt auf <strong>der</strong> nicht-empirischen (transzendentalphilosophischen) Begründung <strong>der</strong> Freiheit<br />

moralischer Persönlichkeiten, die sich die (ethischen <strong>und</strong> juridischen) Gesetze ihres<br />

Handelns aus Gründen <strong>der</strong> reinen Vernunft selbst geben müssen, weil sie an<strong>der</strong>nfalls<br />

fremdbestimmt <strong>und</strong> damit nicht frei (autonom) wären. Rousseau begründet dieses Ergebnis<br />

nicht mit <strong>der</strong> reinen, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> politischen Vernunft, genauer, mit <strong>der</strong> politischen Existenzweise<br />

von citoyens, die ihre subjektiven Freiheiten in <strong>der</strong> objektiven Freiheitsordnung<br />

einer Republik bestens aufgehoben wissen. Hegel schließlich bestimmt diese „Aufhebung“<br />

<strong>der</strong> Einzelfreiheiten im politischen Staat dialektisch <strong>und</strong> bringt damit auf seine Art die Abhängigkeit<br />

einer freiheitlichen Verfassung von einer freiheitlichen Gesinnung ihrer Bürger<br />

als Verfassungspatriotismus zum Ausdruck („Patriotismus“: § 268). Für Verfassungspatrioten<br />

ist die Freiheit aller keine Frage des Habens, son<strong>der</strong>n eine Frage des Seins (<strong>und</strong> damit<br />

stets auch des Werdens).<br />

Zu den gr<strong>und</strong>rechtlichen Freiheiten Einzelner<br />

Der erste Abschnitt des Gr<strong>und</strong>gesetzes (Art. 1 bis 19 GG) trägt die Überschrift „Die Gr<strong>und</strong>rechte“.<br />

Allein <strong>der</strong>en Aufzählung zeigt die Pluralität <strong>der</strong> Freiheiten, die dort gewährleistet<br />

werden: Freie Entfaltung <strong>der</strong> Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1), Glaubens-, Gewissens- <strong>und</strong> Bekenntnisfreiheit<br />

(Art. 4 Abs. 1), Meinungs- <strong>und</strong> Informations-, Presse- <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funkfreiheit<br />

(Art. 5 Abs. 1), Freiheit <strong>der</strong> Kunst <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3), Schutz von Ehe <strong>und</strong><br />

Familie (Art. 6 Abs. 1), Gewährleistung <strong>der</strong> Elternverantwortung (Art. 6 Abs. 2) auch in <strong>der</strong><br />

Schule (Art. 7), Versammlungs- <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit (Art. 8 <strong>und</strong> 9), Unverletzlichkeit<br />

des Brief-, Post- <strong>und</strong> Fernmeldegeheimnisses (Art. 10) sowie <strong>der</strong> Wohnung (Art. 13), Berufsfreiheit<br />

(Art. 12 Abs. 1), Gewährleistung des Eigentums <strong>und</strong> des Erbrechts (Art. 14 Abs. 1),<br />

Asyl- <strong>und</strong> Petitionsrecht (Art. 16 a <strong>und</strong> 17), freier Zugang zu staatlichen Gerichten (Art. 19<br />

Abs. 4). Darunter sind individuelle Freiheiten wie die Meinungsfreiheit, von denen man so-


lipsistisch („solus ipse“: je<strong>der</strong> für sich allein) Gebrauch machen kann <strong>und</strong> institutionelle<br />

Freiheiten wie die R<strong>und</strong>funkfreiheit, <strong>der</strong>en Ausübung rechtlich geordnete Institutionen voraussetzt<br />

(wie Hörfunk <strong>und</strong> Fernsehen im „dualen System“ öffentlicher <strong>und</strong> privater Anbieter).<br />

Freiheiten wie die Vereinigungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1: „das Recht, Vereine <strong>und</strong> Gesellschaften<br />

zu bilden“) kann man nicht als Einzelperson, son<strong>der</strong>n nur in Gemeinschaft mit an<strong>der</strong>en<br />

wahrnehmen.<br />

Die Wissenschaftsfreiheit setzt bestimmte fachliche Qualifikationen voraus, die Wohnungsfreiheit<br />

bestimmte faktische Gegebenheiten (Räume als Stätten des Privatlebens). Während<br />

eine „Meinung“ monologisch geäußert werden kann, ist „Lehre“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG ein<br />

dialogischer Begriff, <strong>der</strong> einen Lehrenden <strong>und</strong> ein Auditorium von (traditionell mindestens<br />

drei) Lernenden verlangt. Die Glaubensfreiheit ist eine innere, die Versammlungsfreiheit<br />

eine äußere Freiheit. Freiheitsphilosophisch gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> als <strong>der</strong>artige Einteilungen <strong>der</strong><br />

Rechtsdogmatik ist die Unterscheidung zwischen rechtsstaatlichen <strong>und</strong> demokratischen<br />

Freiheiten: Jene bilden als Abwehrrechte „Grenzsteine“ gegen den Staat, diese sind dagegen<br />

Mitwirkungs- o<strong>der</strong> Teilhaberechte an <strong>der</strong> „politischen Willensbildung des Volkes“ (Art. 21<br />

Abs. 1 GG). Jene sind das verfassungsgeschichtliche Vermächtnis <strong>der</strong> Neuzeit, diese das alteuropäische<br />

Erbe <strong>der</strong> griechischen Demokratie (§ 4). Beide Gruppen, die rechtsstaatlichen<br />

<strong>und</strong> die demokratischen Freiheiten, ruhen staatsphilosophisch auf demselben F<strong>und</strong>ament:<br />

auf <strong>der</strong> großen, politischen o<strong>der</strong> republikanischen – <strong>und</strong> als solcher nicht privaten, son<strong>der</strong>n<br />

öffentlichen – Freiheit aller. Die große Freiheit ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>, die kleinen Freiheiten sind die<br />

Grenze des Staates.<br />

Zur „freiheitlichen Ordnung“ als Synonym für „Republik“<br />

Als Vorgriff auf ein vertieftes Studium <strong>der</strong> hier nur in ersten Ansätzen angedeuteten Zusammenhänge<br />

eine Passage aus dem Beitrag „Die Republik“ im Handbuch des Staatsrechts,<br />

Bd. 2, 3. Aufl. 2004, S. 411: „Freiheitliche Ordnung ist ein Komplementärbegriff, sobald <strong>und</strong><br />

soweit er die wechselseitige Ergänzung <strong>der</strong> beiden Begriffsbestandteile bezeichnet. Dies bedeutet,<br />

daß ‚freiheitliche Ordnung‘ nur dann zum Synonym für ‚Republik‘ werden kann,<br />

wenn Freiheit <strong>und</strong> Ordnung auf <strong>der</strong> objektivrechtlichen Prinzipienebene untrennbar (wiewohl<br />

begrifflich unterscheidbar) aufeinan<strong>der</strong> bezogen bleiben. Auf diese Weise wird die<br />

Fortwirkung <strong>der</strong> objektiven Freiheit des Legitimationsprinzips bei <strong>der</strong> alltäglichen Gestaltung<br />

<strong>der</strong> Freiheitsordnung sichergestellt – samt <strong>der</strong> rechtsstaatlich selbstverständlichen Beachtung<br />

subjektiver Freiheiten von Gr<strong>und</strong>rechtsträgern. Das so vielseitig verwendbare Wort<br />

‚Freiheit‘ kann dann nicht mehr im liberalistisch-permissiven Sinne gebraucht werden, son<strong>der</strong>n<br />

nur noch als ‚republikanische Freiheit‘, die sich ihrer Angewiesenheit auf einen freiheitssichernden<br />

Ordnungsrahmen bewußt bleibt. Ganz analog verliert <strong>der</strong> schillernde Terminus<br />

‚Ordnung‘ dann (als ‚republikanische Ordnung‘) seine etatistisch-autoritären Konnotationen.<br />

Mit einem solchermaßen komplementär bestimmten Begriff <strong>der</strong> ‚freiheitlichen<br />

Ordnung‘, dem zufolge alle Ordnung einen Freiheitsaspekt <strong>und</strong> alle Freiheit einen Ordnungsaspekt<br />

hat, könnte die Republik wie<strong>der</strong> Anschluß an die besten Zeiten ihrer Ideen<strong>und</strong><br />

Verfassungsgeschichte gewinnen: Anschluß an die dogmatisch wie praktisch anspruchsvolle<br />

Aufgabenstellung, Freiheit <strong>und</strong> Ordnung zu vereinen, <strong>und</strong> zwar republiktheoretisch<br />

auf dem festen F<strong>und</strong>ament jenes objektiven Freiheitsprinzips, aufgr<strong>und</strong> dessen staatliche<br />

Ordnung ausschließlich als friedensichernde Freiheitsordnung legitimierbar ist. Nicht<br />

die Ordnung ist das Legitimationsprinzip <strong>der</strong> Republik, son<strong>der</strong>n die Freiheit“. Fazit S. 425:<br />

„Der Republikbegriff des Gr<strong>und</strong>gesetzes enthält ebenso wie die Synonyme ‚Freistaat‘ <strong>und</strong><br />

‚freiheitliche Ordnung‘ ein gehaltvolles Prinzip <strong>der</strong> Legitimation <strong>und</strong> Gestaltung jener Freiheitsordnung.<br />

Als Legitimationsprinzip hat das republikanische Prinzip antidespotische,<br />

antitotalitäre <strong>und</strong> antianarchische Wirkung. Antidespotisch wirkt es durch die<br />

Delegitimierung einer Herrschaft aus höherem Recht; in antitotalitärer Wirkung ist es gegen<br />

alle freiheitsnegierenden Ordnungen gerichtet, antianarchisch gegen jede ordnungsnegierende<br />

Freiheit“.<br />

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 8 Gerechtigkeit als Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong><br />

I. Gr<strong>und</strong>positionen einer sokratischen Gerechtigkeitsphilosophie<br />

1. Zur Erinnerung: Das sokratische Nichtwissen<br />

a) „Etwas, das ich nicht weiß...“<br />

b) Gerechtigkeit als Leitidee des Rechts<br />

2. Zur Erinnerung: Gerechtigkeit bei Platon <strong>und</strong> Aristoteles<br />

a) Gerechtigkeit als Tugend des Einzelnen<br />

b) Gerechtigkeit im Verhältnis zum An<strong>der</strong>en<br />

3. Zur Vertiefung: Gerechtigkeit bei Celsus <strong>und</strong> Ulpian<br />

a) „Juristenlatein“ Nr. 32<br />

b) „Juristenlatein“ Nr. 33<br />

II. Personale Gerechtigkeit<br />

1. Die dialogische Gr<strong>und</strong>struktur des Rechts<br />

a) Der Streit als rechtliches Urphänomen<br />

b) Die „Sache“ des Rechts<br />

c) Streitvermeidung <strong>und</strong> Streitentscheidung<br />

2. Gerechtigkeit in den Rechtsverhältnissen des positiven Rechts<br />

a) Ausgleichende Gerechtigkeit in Privatrechtsverhältnissen<br />

b) Austeilende Gerechtigkeit in den Rechtsverhältnissen des Öffentlichen<br />

Rechts<br />

c) Gerechtigkeit im „Zwischen“ <strong>der</strong> Streitbeteiligten<br />

III. Soziale Gerechtigkeit<br />

1. Weite <strong>und</strong> Untiefen <strong>der</strong> Wortverwendung<br />

a) „Soziale Gerechtigkeit“ als Schlagwort politischer Debatten<br />

b) „Soziale Gerechtigkeit“ als Gr<strong>und</strong>begriff <strong>der</strong> Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie<br />

2. Gerechtigkeit im Sozialstaat des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

a) Konzeption des freiheitlichen Sozialstaates<br />

b) Unterscheidung von Staat <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

c) Bedeutung „realer Freiheit“<br />

d) Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 8<br />

Zu den gerechtigkeitsphilosophischen Gr<strong>und</strong>positionen<br />

Das Gr<strong>und</strong>problem <strong>der</strong> Staatsphilosophie ist Freiheit, dasjenige <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> Gerechtigkeit.<br />

Der sokratische Zugang zu beiden Problemen verlangt einen Verzicht auf abschließende<br />

Definitionen „<strong>der</strong>“ Freiheit <strong>und</strong> „<strong>der</strong>“ Gerechtigkeit sowie eine regulative, leitsternartige<br />

Verwendung <strong>der</strong> Begriffe. Für den richtigen Umgang mit Apologie 21 d („etwas,<br />

das ich nicht weiß, glaube ich auch nicht zu wissen“) wird auf die Texte zu § 4 verwiesen,<br />

zur Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> platonischen Tugendlehre <strong>und</strong> <strong>der</strong> aristotelischen Gerechtigkeitsphilosophie<br />

auf die Texte zu § 5.<br />

Zur Gerechtigkeit bei Celsus <strong>und</strong> Ulpian<br />

Am Beginn <strong>der</strong> Digesten steht <strong>der</strong> berühmte Satz des Celsus „ius est ars boni et aequi“ – Das<br />

Recht ist die Kunst des Guten <strong>und</strong> Gerechten (siehe Juristenlatein Nr. 32). Nicht weniger<br />

berühmt ist ein Satz des Ulpianus (um 170-228 n. Chr.), <strong>der</strong> als „Ulpianische Formel“ zum<br />

geflügelten Wort römischer Gerechtigkeitsvorstellungen geworden ist: „iustitia est constans<br />

et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens” (I. 1, 1 pr.; in D. 1, 1, 10 pr. endet <strong>der</strong> Satz<br />

dagegen mit „tribuendi”) – „Gerechtigkeit ist <strong>der</strong> unwandelbare <strong>und</strong> dauerhafte Wille, einem<br />

jedem sein Recht zukommen zu lassen” (siehe Nr. 33). In dieser Formel muß zunächst<br />

einmal beachtet werden, daß es um die Bestimmung <strong>der</strong> Gerechtigkeit (iustitia) <strong>und</strong> nicht<br />

des Rechts (ius wie bei Celsus) geht; des weiteren ist zu beachten, daß es nicht heißt, jedem<br />

müsse „das Seine” zukommen. Bei Ulpian ist ausdrücklich die Rede davon, daß einem jeden<br />

„sein Recht” zuteil werde – was in heutiger Terminologie bedeutet, daß hier vom Recht im<br />

subjektiven Sinne die Rede ist, nicht wie bei Celsus vom Recht im objektiven Sinne. Während<br />

das objektive Recht die kunstgerecht gestalteten Regelungen bereitstellt, nach denen Fallgruppen<br />

systematisch richtig entschieden werden können, erfor<strong>der</strong>t die Gerechtigkeit den in<br />

jedem einzelnen Streitfall zu betätigenden Willen, den subjektiven Rechten <strong>der</strong> Streitenden –<br />

unter bestmöglicher Wahrung <strong>der</strong> Gegenrechte – zur Durchsetzung zu verhelfen. Wegen <strong>der</strong><br />

Korrelation von Rechten <strong>und</strong> Gegenrechten bzw. von Rechten <strong>und</strong> Pflichten ist <strong>der</strong> Gerechtigkeitsbegriff<br />

des Rechts notwendig ein personaler, genauer: interpersonaler Begriff.<br />

Zur personalen Gerechtigkeit<br />

Für die interpersonale Gerechtigkeit des Rechts ist bei Aristoteles anzusetzen, weil sein Gerechtigkeitsbezug<br />

auf den An<strong>der</strong>en („pros heteron“, scholastisch: „ad alterum“) <strong>der</strong> dialogischen<br />

Gr<strong>und</strong>struktur des Rechts entspricht. Dialogisch ist diese Gr<strong>und</strong>struktur, weil „Recht“<br />

gar nicht an<strong>der</strong>s gedacht werden kann als eine Regelung, die den Streit zwischen mindestens<br />

zwei Rechtssubjekten zu vermeiden o<strong>der</strong> zu entscheiden sucht. Die „Sache“ des Rechts ist<br />

also stets eine (aktuelle o<strong>der</strong> potentielle) „Streitsache“, was beim Aufruf <strong>der</strong> „Sache X gegen<br />

Y“ täglich tausendfach auf den Gerichtsfluren zu hören ist. Die Etymologie gibt auch hier –<br />

wie schon beim Zusammenhang ius/iustitia <strong>und</strong> recht/gerecht – einen schönen Hinweis<br />

(ohne selbst Beweis zu sein): „sakan“, das gotische Verbum, aus dem die „Sache“ gebildet<br />

wurde, hieß „streiten“. Mit einer augenzwinkernden Anspielung auf Heraklits berühmtes<br />

Fragment vom Streit („polemos“) als kosmischem Urprinzip könnte man sagen: Der Streit ist<br />

<strong>der</strong> Vater aller juristischen Dinge.


Streitvermeidung als vorsorgende <strong>und</strong> Streitentscheidung als nachsorgende Aufgabe des<br />

Rechts unter die Leitidee dialogischer Gerechtigkeit zu stellen, bedeutet, vom „Rechtsverhältnis“<br />

als <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>figur des Rechts ausgehen zu müssen. Leitende Gerechtigkeitsvorstellung<br />

für die Rechtsverhältnisse des Privatrechts <strong>und</strong> des Strafrechts ist in guter aristotelischer<br />

Tradition die iustitia commutativa, für die Rechtsverhältnisse des Öffentlichen Rechts<br />

die iustitia distributiva. Da sich beide Gerechtigkeitsformen auf (natürliche o<strong>der</strong> juristische)<br />

Personen beziehen, kann man sie „personale Gerechtigkeit“ nennen. Im dialogischen Sinne<br />

einer dem jeweiligen Verhältnis entsprechenden Konzeption handelt es sich um eine interpersonale,<br />

zwischen den beteiligten Personen vermittelnde Gerechtigkeit. Ihr Ort ist – mit<br />

einem von Martin Buber geprägten Begriff – „das Zwischen“. In diesem Zwischen-Raum<br />

(zwischen Gläubiger <strong>und</strong> Schuldner, Täter <strong>und</strong> Opfer, Behörde <strong>und</strong> Bürger) entscheidet sich,<br />

ob die jeweilige Rechtsregel als (generell) gerecht <strong>und</strong> ihre Anwendung im (individuellen)<br />

Einzelfall als billig empf<strong>und</strong>en wird. Die dialogische Gr<strong>und</strong>struktur des Rechts ist dabei<br />

nicht erst Folge des Gegenüberstehens von Klägern <strong>und</strong> Beklagten (<strong>und</strong> sonstigen Beteiligten)<br />

im Prozeß, son<strong>der</strong>n schon des materiellrechtlichen Gegenüberstehens von Anspruchstellern<br />

<strong>und</strong> Anspruchsgegnern.<br />

Zur sozialen Gerechtigkeit<br />

„Soziale Gerechtigkeit“ ist heute ein Topos, <strong>der</strong> quer durch die politischen Parteien Verwendung<br />

findet. Als Verfassungsbegriff gewinnt er Struktur <strong>und</strong> Gehalt aus <strong>der</strong> freiheitlichen<br />

Ordnung des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Zunächst einmal bedeutet dies die Berücksichtigung <strong>der</strong> Neutralität<br />

des Staates i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG. Die dort gewährleistete „Freiheit des religiösen <strong>und</strong><br />

weltanschaulichen Bekenntnisses“ ist nicht nur ein wichtiges subjektives Recht des Einzelnen,<br />

son<strong>der</strong>n auch ein wesentliches Element objektiver Freiheit, das den sozusagen bekennenden<br />

Sozialstaat ausschließt. Die Spezifika sozialstaatlicher Gerechtigkeit dürfen deshalb<br />

nicht von religiös o<strong>der</strong> moralisch begründeten sozialethischen Motiven her interpretiert<br />

werden. So segensreich karitative, diakonische <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Organisationen <strong>der</strong> freien Wohlfahrtspflege<br />

auf ihrem Gebiet wirken: Sie agieren im Bereich <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> werden<br />

vom Prinzip des sozialen Staates nur insofern tangiert, als dieser Staat das Soziale we<strong>der</strong><br />

monopolisieren noch gänzlich delegieren darf. Zum zweiten zwingt die verfassungsrechtliche<br />

Freiheitsordnung dazu, den Staat des Gr<strong>und</strong>gesetzes als freiheitlichen Sozialstaat zu begreifen<br />

<strong>und</strong> ihn nicht zum Gegenbegriff rechtsstaatlich-liberaler Gr<strong>und</strong>rechtsfreiheit mutieren<br />

zu lassen. Vielmehr muß <strong>der</strong> Sozialstaat als Garant <strong>der</strong> Möglichkeit konzipiert werden,<br />

Freiheitsrechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Um seinen Bürgern eine<br />

solche, nicht nur de iure, son<strong>der</strong>n de facto existierende Möglichkeit garantieren zu können,<br />

hat er die allgemeinen Voraussetzungen zum Gebrauch <strong>der</strong> Freiheitsgr<strong>und</strong>rechte zu gewährleisten,<br />

etwa durch eine soziale Wohnungspolitik, die auch Vermögenslose in den Besitz einer<br />

Wohnung <strong>und</strong> damit tatbestandlich in den Genuß des klassisch liberalen Abwehrrechts<br />

aus Art. 13 Abs. 1 GG kommen läßt: „Die Wohnung ist unverletzlich“.<br />

Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat die schon früh erhobene For<strong>der</strong>ung „sozialer Gerechtigkeit“<br />

in einer späteren Formulierung dahin präzisiert, „daß <strong>der</strong> Staat die Pflicht hat, für einen<br />

Ausgleich <strong>der</strong> sozialen Gegensätze <strong>und</strong> damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“<br />

(BVerfGE 22, 180/204). Diese verfassungsrechtliche Verbindung von sozialem Ausgleich <strong>und</strong><br />

sozialer Gerechtigkeit kann auch staatsphilosophisch als geglückt bezeichnet werden, weil<br />

<strong>der</strong> Bezug auf den Ausgleich von sozialen Gegensätzen eine Absage an absolute Gerechtigkeitsideen<br />

bedeutet. „Gerechtigkeit“ verweist den Sozialstaat we<strong>der</strong> auf eine situationsunabhängige<br />

normative Zielvorgabe noch auf einen rechtlich verbindlichen Pflichtenkanon,<br />

son<strong>der</strong>n auf eine im politisch-kommunikativen Prozeß <strong>und</strong> in angemessener Reaktion auf<br />

die jeweilige gesellschaftliche Lage zu erfüllende Ordnungsaufgabe. Die Erfüllung dieser<br />

Aufgabe obliegt in <strong>der</strong> gefestigten Verfassungstradition des Gr<strong>und</strong>gesetzes dem Gesetzgeber.<br />

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 9 Wissenschaftscharakter <strong>der</strong> Jurisprudenz<br />

I. Begriff <strong>der</strong> „Wissenschaft“<br />

1. Traditionelle Unterscheidungen<br />

a) Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschaften<br />

b) Theoretische <strong>und</strong> praktische Wissenschaften<br />

c) „Szientistische“ <strong>und</strong> „prudentielle“ Wissenschaften<br />

2. Wissenschaftstheoretische Differenzierungen<br />

a) „Wissen aus Gründen <strong>und</strong> im System“<br />

b) Begriff des „Gr<strong>und</strong>es“<br />

c) Begriff des „Systems“<br />

II. Begriff <strong>der</strong> „Methode“<br />

1. Griechische Ursprungsbedeutung<br />

a) Der „Weg von ... nach ...“<br />

b) Die „Vorgehensweise“<br />

2. Traditionelle <strong>Methoden</strong>modelle<br />

a) Induktive Methode<br />

c) Deduktive Methode<br />

d) Abduktive Methode<br />

III. Wissenschaftstheoretischer Status <strong>der</strong> „Jurisprudenz“<br />

1. Stellung <strong>der</strong> Jurisprudenz in <strong>der</strong> aristotelischen Dreiteilung <strong>der</strong><br />

Wissenschaften<br />

a) „Theorie“-Charakter <strong>der</strong> Jurisprudenz<br />

b) „Praxis“-Charakter <strong>der</strong> Jurisprudenz<br />

c) „Poiesis“-Charakter <strong>der</strong> Jurisprudenz<br />

2. Begriff <strong>der</strong> „Urteilskraft“<br />

a) Schopenhauers Aphorismus<br />

b) Kants Begriffsbestimmung


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<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 9<br />

Zum Wissenschaftsbegriff<br />

Wissenschaft ist Wissen aus Gründen <strong>und</strong> im System. Welche Gründe (griechisch „logoi“,<br />

lateinisch „argumenta“) in einer Wissenschaft als gute Gründe gelten, hängt sowohl von<br />

ihrem System- als auch von ihrem <strong>Methoden</strong>begriff ab. Ein wissenschaftlich f<strong>und</strong>iertes System<br />

(von griechisch „systema“, Zusammenstellung) ist mehr als ein Aggregat von zufälligen<br />

Einsichten, nämlich ein auf planmäßige Weise („methodisch“) zustandegekommenes <strong>und</strong><br />

nach Prinzipien geordnetes Ganzes <strong>der</strong> Erkenntnis. Die Methode (griechisch <strong>der</strong> Weg von ...<br />

nach ...: die Vorgehensweise) ist ihrerseits vom jeweiligen System abhängig: Ein naturwissenschaftliches<br />

System (wie die Physik) lebt von <strong>der</strong> induktiven, vom Einzelnen auf das Allgemeine<br />

schließenden Methode, ein geisteswissenschaftliches System (wie die Mathematik)<br />

von <strong>der</strong> Deduktion, den Schlüssen vom Allgemeinen auf das Einzelne. Gäbe es nur diesen<br />

Dualismus, dieses Entwe<strong>der</strong>-O<strong>der</strong> zweier einan<strong>der</strong> ausschließen<strong>der</strong> <strong>Methoden</strong>, bliebe <strong>der</strong><br />

Jurisprudenz nur <strong>der</strong> wissenschaftstheoretisch klägliche Status eines We<strong>der</strong>-Noch. Denn jede<br />

juristische Entscheidung hat deduktive, mit den allgemeinen Begriffen des Gesetzes operierende,<br />

aber auch induktive, vom jeweiligen Fall ausgehende Bestandteile.<br />

Zur Verteidigung ihrer Wissenschaftlichkeit könnte die Jurisprudenz einer solch dualistischen<br />

<strong>Methoden</strong>(fehl)vorstellung entgegenhalten, ihre Entscheidungen nicht auf formallogische<br />

„Schlüsse“, son<strong>der</strong>n auf spezifisch juristische „Urteile“ zu gründen – unterstützt<br />

von einem treffenden Aphorismus Schopenhauers, demzufolge <strong>der</strong> „ges<strong>und</strong>e Mensch“ gar<br />

nicht in Gefahr sei, „falsch zu schließen“, sehr wohl aber, „falsch zu urteilen“. So richtig dies<br />

ist, so wichtig ist <strong>der</strong> Hinweis auf eine dritte Form formal-logisch richtigen Schließens: auf<br />

die Abduktion, die vom hypothetischen Ergebnis eines generellen Satzes auf das Vorliegen<br />

eines speziellen Falles schließt. Genau dies erfolgt in je<strong>der</strong> gutachterlichen Erörterung einer<br />

Rechtsfrage: Wenn die Tötung „grausam“ erfolgt wäre, läge kein Totschlag i.S.d. § 212 StGB<br />

vor, son<strong>der</strong>n ein Mord i.S.d. § 211 StGB. Dieser abduktive Schluß verbindet Deduktionen aus<br />

allgemeinen Normsätzen mit Induktionen aus einer einzelnen Tathandlung. Seit Peirce, ein<br />

Philosoph des amerikanischen Pragmatismus, die Abduktion vor hun<strong>der</strong>t Jahren in den<br />

Rang einer – inzwischen anerkannten – Methode erhoben hat, kann die Jurisprudenz sich<br />

ihrer Wissenschaftlichkeit wie<strong>der</strong> sicher sein (Lege, Pragmatismus <strong>und</strong> Jurisprudenz, 1999).<br />

Zum Begriff <strong>der</strong> „Jurisprudenz“<br />

Wissenschaftstheoretisch nicht weniger naiv als die schlichte Zweiteilung <strong>der</strong> <strong>Methoden</strong> in<br />

deduktive <strong>und</strong> induktive ist <strong>der</strong> – lei<strong>der</strong> weit verbreitete – Dualismus von Theorie <strong>und</strong> Praxis.<br />

Schon Aristoteles hat gelehrt, daß es neben theoretischen (von „theorein“, betrachten)<br />

<strong>und</strong> praktischen (von „prattein“, handeln) „poietische“ Tätigkeiten (von „poiein“, herstellen)<br />

gibt, die eine Dreiteilung <strong>der</strong> Wissenschaften erfor<strong>der</strong>n – wobei „Poietik“ auf alles werkschaffende<br />

Wissen <strong>und</strong> Können im Medium <strong>der</strong> Sprache bezogen <strong>und</strong> nicht auf die Dichtkunst<br />

(„Poetik“) beschränkt ist. Mit einer eingängigen Unterscheidung Kants kann man den<br />

drei Wissenschaftsgruppen die Vermögen des (theoretischen) Verstandes, <strong>der</strong> (praktischen)<br />

Vernunft <strong>und</strong> <strong>der</strong> (zwischen Verstand <strong>und</strong> Vernunft vermittelnden) Urteilskraft zuordnen<br />

(Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft, Vorrede). Es ist deshalb mehr als ein Wortspiel, richterliche Urteile<br />

wissenschaftstheoretisch auf die „Urteilskraft“ des Richters zurückzuführen (ohne die gesamte<br />

transzendentale <strong>Methoden</strong>lehre Kants übernehmen zu müssen).<br />

Ihre Mittel- <strong>und</strong> Vermittlerstellung zwischen Verstand <strong>und</strong> Vernunft zeigt den hohen wissenschaftstheoretischen<br />

Anspruch, <strong>der</strong> an die Urteilskraft zu stellen ist. Ein reiner Theoreti-


ker, <strong>der</strong> nur über einen scharfen analytischen Verstand verfügt, wird diesem Anspruch<br />

ebensowenig gerecht wie ein reiner Praktiker, <strong>der</strong> lediglich von Fall zu Fall entscheidet. Die<br />

traditionell zweistufige Juristenausbildung ist (wie die Lehrerausbildung) darauf angelegt,<br />

beide Vermögen zu schulen: im Studium die Theoriefähigkeit, in <strong>der</strong> Referendarzeit die Praxistauglichkeit.<br />

Die Probe auf die Urteilskraft erfolgt dann ernsthaft allerdings erst im Härtetest<br />

des Berufsalltags. Die bezeichnen<strong>der</strong>weise so genannten Gr<strong>und</strong>lagenfächer – Rechtsgeschichte,<br />

<strong>Rechtsphilosophie</strong>, Rechtstheorie, Juristische <strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

– sind nach wie vor das theoretische F<strong>und</strong>ament für all die praktischen Erfahrungen, die<br />

erfor<strong>der</strong>lich sind, um diesen Test zu bestehen. Der Oberbegriff für die Disziplinen <strong>und</strong><br />

Kompetenzen, die dies ermöglichen, ist „Jurisprudenz“: Lehre vom klugen Umgang mit dem<br />

Recht <strong>und</strong> von <strong>der</strong> Urteilskraft als dem zentralen Vermögen des Juristen.<br />

Zur „Abduktion“<br />

Lege, Pragmatismus <strong>und</strong> Jurisprudenz, 1999, S. 452 f.: „In <strong>der</strong> Jurisprudenz können Abduktionen<br />

nach Art <strong>der</strong> deskriptiven Wissenschaft zunächst bei <strong>der</strong> Sachverhaltsermittlung – <strong>der</strong><br />

quaestio facti – eine Rolle spielen [. . .] Darüber hinaus gibt es in <strong>der</strong> Jurisprudenz jedoch<br />

auch im Rahmen <strong>der</strong> quaestio iuris Schlüsse ‚vom Ergebnis her‘, d.h. hier: von <strong>der</strong> konkreten<br />

Rechtsfolge her. Dieses Schließen hat sogar einen eigenen Namen: Gutachtentechnik<br />

(A könnte einen Anspruch haben, er könnte sich strafbar gemacht haben). Jedoch kann dabei<br />

das ‚Resultat‘ nicht, wie in <strong>der</strong> deskriptiven Wissenschaft, <strong>der</strong> Fixpunkt des Forschungsprozesses<br />

sein. Das liegt zum einen daran, daß wegen <strong>der</strong> Bindung an das Recht das Ergebnis<br />

‚aus‘ <strong>der</strong> Regel (abstrakten Rechtsnorm) folgen soll, nicht umgekehrt die Regel aus dem Resultat.<br />

Zum an<strong>der</strong>n liegt es daran, daß das Resultat (die Rechtsfolge) von Anfang an streitig<br />

ist. Das Resultat ist somit we<strong>der</strong> die harte ‚Realität‘, an <strong>der</strong> die Rechtsregel am Ende verifiziert<br />

o<strong>der</strong> falsifiziert werden kann. Noch ist eine bestimmte Rechtsfolge das fest vorgegebene<br />

‚neue Phänomen‘, das erklärt o<strong>der</strong> gerechtfertigt werden müßte. Son<strong>der</strong>n ‚neu‘<br />

sind in <strong>der</strong> Jurisprudenz typischerweise Fälle – Fälle, <strong>der</strong>en Ergebnis offen, <strong>der</strong>en Resultat<br />

aufgegeben ist [. . .] Die zweite Spielart <strong>der</strong> Abduktion folgert ‚vom Fall‘ auf Regel <strong>und</strong> Ergebnis.<br />

Sie ist die typisch ‚juristische‘ Abduktion, denn es geht ihr um die Beurteilung von<br />

Fällen. Dabei besteht in <strong>der</strong> Jurisprudenz das Hauptproblem darin, daß die abstrakte<br />

Rechtsnorm (Regel), ‚aus‘ <strong>der</strong> die konkrete Rechtsfolge (Resultat) folgen soll, oft erst anhand<br />

des Rechtsfalles geschaffen werden muß. Auch diese Abduktionsform nimmt ihren Ausgangspunkt<br />

von etwas Neuem <strong>und</strong> schließt von daher auf etwas Neues [. . .]<br />

S. 461 f.: „Nach dem berühmten Wort von Engisch findet bei <strong>der</strong> Rechtsfindung, genauer bei<br />

<strong>der</strong> Gewinnung konkreter rechtlicher Sollensurteile, ein ‚Hin- <strong>und</strong> Herwan<strong>der</strong>n des Blickes’<br />

statt. Die vorangegangenen Analysen haben das bestätigt, jedoch in einem etwas an<strong>der</strong>en<br />

Sinn. Für Engisch nämlich wan<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Blick primär zwischen Ober- <strong>und</strong> Untersatz des Justizsyllogismus,<br />

also zwischen abstraktem Tatbestand <strong>und</strong> konkretem Lebenssachverhalt.<br />

[Danach] spielt jedoch die Konklusion, also die Anordnung <strong>der</strong> konkreten Rechtsfolge, logisch<br />

erst sek<strong>und</strong>är eine Rolle: Sie ‚ergibt sich’ aus den Prämissen nach <strong>der</strong>en Zurichtung,<br />

<strong>und</strong> diese Zurichtung geschieht zumindest teilweise ‚wertend’, d.h. außerhalb logischen<br />

Schließens. Demgegenüber soll hier betont werden, daß ‚die Logik’ bei <strong>der</strong> Zurichtung <strong>der</strong><br />

Prämissen immer schon insoweit mitspielt, als das Resultat <strong>der</strong> Zurichtung gerade nicht zunächst<br />

‚außer Betracht’ bleibt. Das ‚Hin- <strong>und</strong> Herwan<strong>der</strong>n des Blickes’ findet sogar primär<br />

zwischen Resultat (konkreter Rechtsfolge) <strong>und</strong> Regel (abstraktem Tatbestand) statt, eben<br />

weil Rechtsfälle von Anfang an streitig sind. ‚Vom Fall her’ wird daher abduktiv beides erschlossen:<br />

die Auslegung bzw. Geltungsbestimmung einer Regel <strong>und</strong> das Resultat, das daraus<br />

folgen würde“.<br />

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<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 10 Klassiker <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong> <strong>Methoden</strong>lehre<br />

I. Drei ausgewählte Klassiker des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

1. Friedrich Carl von Savigny<br />

a) Savigny als Repräsentant <strong>der</strong> „Historischen Rechtsschule“<br />

b) Das „System des heutigen Römischen Rechts“<br />

c) Die Auslegungslehre in dessen erstem Band<br />

d) Der Streit zwischen „subjektiver“ <strong>und</strong> „objektiver“ Auslegungsmethode<br />

2. Rudolf von Jhering<br />

a) Jhering als Repräsentant <strong>der</strong> „Interessenjurisprudenz“<br />

b) Der „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner<br />

Entwicklung“<br />

c) Die „Theorie <strong>der</strong> Technik“ in dessen zweitem Teil<br />

d) Das bleibende Verdienst <strong>der</strong> Interessenjurisprudenz<br />

3. Karl Engisch<br />

a) Die „Logischen Studien zur Gesetzesanwendung“<br />

b) Die Metapher vom „Hin- <strong>und</strong> Herwan<strong>der</strong>n des Blickes“<br />

c) Die bleibende Bedeutung dieses Bildes<br />

II. Das Klassische an den drei Klassikern<br />

1. Savigny als Klassiker <strong>der</strong> Auslegungslehre<br />

a) „<strong>Methoden</strong>“ <strong>der</strong> Auslegung<br />

b) „Regeln“ <strong>der</strong> Auslegung<br />

2. Jhering als Klassiker <strong>der</strong> teleologischen Auslegung<br />

a) „Der Zweck im Recht“<br />

b) „Sinn <strong>und</strong> Zweck“ einer Rechtsnorm<br />

3. Engisch als Klassiker <strong>der</strong> juristischen Hermeneutik<br />

a) Wort <strong>und</strong> Begriff <strong>der</strong> Hermeneutik<br />

b) Hans-Georg Gadamers „Wahrheit <strong>und</strong> Methode“<br />

c) Die exemplarische Bedeutung <strong>der</strong> juristischen Hermeneutik für eine<br />

allgemeine Theorie <strong>der</strong> Interpretation von Texten<br />

d) Der hermeneutische Vorrang <strong>der</strong> Frage


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<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 10<br />

Zu Savigny<br />

Friedrich Carl von Savigny (1779 - 1861), 1810 bis 1842 Professor an <strong>der</strong> (heutigen Humboldt)Universität<br />

zu Berlin, 1842 bis 1848 Justizminister Preußens. Im Kodifikationsstreit mit<br />

Anton Friedrich Justus Thibaut („Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen<br />

Rechts für Deutschland“, 1814) wandte er sich gegen die Notwendigkeit einer BGB-<br />

Gesetzgebung („Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung <strong>und</strong> Rechtswissenschaft“, 1814).<br />

Er hielt die Weiterentwicklung des römischen Rechts durch die sogenannte<br />

Pandektenwissenschaft für vorzugswürdig. Darin war <strong>und</strong> ist er Repräsentant <strong>der</strong> „Historischen<br />

Rechtsschule“. Deren Programm kommt im Titel seines Hauptwerkes eindeutig zum<br />

Ausdruck: „System des heutigen (!) Römischen Rechts“ (8 Bände, 1840 bis 1849). Das Ausrufezeichen<br />

will das Mißverständnis verhin<strong>der</strong>n, Savigny sei es um einen Rückfall in die Vergangenheit<br />

des römischen Reiches gegangen – sein Anliegen war die Anpassung <strong>der</strong> römischen<br />

Rechtsinstitute an den „Volksgeist“ (ein damals gänzlich unbelasteter Begriff) seiner<br />

Zeit. Band 1 des „Systems“ (1840) enthält ein eigenes Kapitel „Auslegung <strong>der</strong> Gesetze“, dessen<br />

Bedeutung für die Juristische <strong>Methoden</strong>lehre bis heute unbestritten ist. Deshalb wird<br />

§ 11 <strong>der</strong> Vorlesung sich ausführlich mit Savignys „Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong> Auslegung“ beschäftigen.<br />

Fürs erste sei zweierlei hervorgehoben: erstens betont Savigny zurecht, die Auslegung<br />

sei „eine Kunst“, die sich „eben so wenig, als irgend eine an<strong>der</strong>e, durch Regeln mitteilen<br />

o<strong>der</strong> erwerben“ lasse (S. 211). Zweitens vertritt er bei näherer Betrachtung keine subjektive,<br />

son<strong>der</strong>n eine objektive Auslegungsmethode: „sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers<br />

versetzen“ heißt bei ihm nämlich „Reconstruction des dem Gesetze (!) innewohnenden<br />

Gedankens“ (S. 213).<br />

Zu Jhering<br />

Rudolf von Jhering (1818 – 1892), Professor in Basel, Rostock, Kiel, Gießen, Wien <strong>und</strong> Göttingen<br />

(ab 1872). Mit seinem – teilweise polemischen – Kampf gegen die „Begriffsjurisprudenz“<br />

<strong>und</strong> seiner Orientierung am „Zweck im Recht“ wurde er zum Protagonisten <strong>der</strong> „Interessenjurisprudenz“.<br />

Hauptwerk: „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner<br />

Entwicklung“, 3 Teile, 1852 ff. In Teil 2, Abteilung 2 hat Jhering eine „Theorie <strong>der</strong> Technik“<br />

entwickelt, an <strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>idee man sich noch heute halten kann: „Das Recht ist dazu da,<br />

daß es sich verwirkliche“ (S. 322). Weiter heißt es dort: „Die Verwirklichung ist das Leben<br />

<strong>und</strong> die Wahrheit des Rechts, ist das Recht selbst. Was nicht in Wirklichkeit übergeht, was<br />

bloß in Gesetzen, auf dem Papiere steht, ist ein bloßes Scheinrecht... Nicht also <strong>der</strong> abstrakte<br />

Inhalt <strong>der</strong> Gesetze entscheidet über den Wert eines Rechts, nicht die Gerechtigkeit auf dem<br />

Papiere <strong>und</strong> die Sittlichkeit in den Worten, son<strong>der</strong>n die Objektivierung des Rechts im Leben“<br />

(S. 322). Noch immer zutreffend ist auch die Einschätzung des Verhältnisses von Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis <strong>der</strong> Jurisprudenz: Die „Kunst“ <strong>der</strong> Rechtsanwendung (die er mit <strong>der</strong> altgriechischen<br />

Bedeutung von „Technik“ meint) habe „mit <strong>der</strong> materiellen wissenschaftlichen<br />

Durchbildung des Rechtes keineswegs immer gleichen Schritt“ gehalten: „Erfolgt letztere<br />

vorzugsweise durch die Theorie im heutigen Sinn, d.h. einen gelehrten Juristenstand, <strong>der</strong><br />

nur schreibt <strong>und</strong> lehrt, das Recht nur darstellt, ohne es anzuwenden, so vergißt die Wissenschaft<br />

nur zu leicht, daß sie auch Kunst sein soll“ (S. 323 f.).


Zu Engisch<br />

Karl Engisch (1899 - 1990), nach dem 2. Weltkrieg Nachfolger Gustav Radbruchs (<strong>der</strong> 1933<br />

von den Nazis entlassen worden war) auf dem Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht<br />

<strong>und</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> in Heidelberg, ab 1953 Professor in München bis zur Emeritierung<br />

1967. Seine „Einführung in das juristische Denken“ (1956) liegt inzwischen in <strong>der</strong> 10. Auflage<br />

(2004) vor. Geradezu sprichwörtlich geworden ist eine Metapher, die er in seinen „Logischen<br />

Studien zur Gesetzesanwendung“ (1943) geprägt hat: das Bild vom „Hin- <strong>und</strong> Herwan<strong>der</strong>n<br />

des Blickes“ zwischen Gesetz <strong>und</strong> Lebenssachverhalt (3. Aufl. 1963, S. 15).<br />

Zu Gadamer<br />

Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) hat mit „Wahrheit <strong>und</strong> Methode“ (1960) ein weltweit<br />

beachtetes Standardwerk <strong>der</strong> allgemeinen Hermeneutik publiziert, dessen Titel als Leitsatz<br />

seiner Lehre formulierbar ist: Wahrheit ist keine Frage <strong>der</strong> Methode, <strong>und</strong> zwar in all jenen<br />

„geisteswissenschaftlichen“ Disziplinen nicht, die man mit Gadamer „hermeneutische“ nennen<br />

kann. Zu ihnen gehören nicht nur traditionelle hermeneutische Disziplinen wie Theologie,<br />

Jurisprudenz <strong>und</strong> Philosophie, son<strong>der</strong>n auch Geschichte, insbeson<strong>der</strong>e Kunst- <strong>und</strong> Philosophiegeschichte,<br />

Ästhetik im speziellen <strong>und</strong> Philosophie im allgemeinen. Wahrheit ist<br />

dort eine Frage des Verstehens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verständigung. Verstehen bedeutet dabei, jede Aussage<br />

als Antwort auf eine bestimmte Frage zu verstehen („hermeneutischer Vorrang <strong>der</strong> Frage“).<br />

Die juristische Hermeneutik ist hier für Gadamer von „exemplarischer Bedeutung“<br />

gewesen. Josef Essers „Vorverständnis <strong>und</strong> <strong>Methoden</strong>wahl in <strong>der</strong> Rechtsfindung“ (1970)<br />

konnte gerade deshalb gut an Gadamer anknüpfen.<br />

Im Rückblick auf die Philosophie <strong>der</strong> Griechen, insbeson<strong>der</strong>e auf das sokratische Wissen um<br />

das Nichtwissen liefert Gadamer zugleich ein schönes Beispiel für die Verbindung von<br />

<strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> Juristischer <strong>Methoden</strong>lehre: „Es gehört zu den größten Einsichten,<br />

die uns die platonische Sokratesdarstellung vermittelt, daß das Fragen – ganz im Gegensatz<br />

zu <strong>der</strong> allgemeinen Meinung – schwerer ist als das Antworten. Wenn die Partner des sokratischen<br />

Gesprächs, um Antworten auf die lästigen Fragen des Sokrates verlegen, den Spieß<br />

umdrehen wollen <strong>und</strong> ihrerseits die vermeintlich vorteilhafte Rolle des Fragers beanspruchen,<br />

dann scheitern sie damit erst recht. Hinter diesem Komödienmotiv <strong>der</strong> platonischen<br />

Dialoge steckt die kritische Unterscheidung zwischen eigentlicher <strong>und</strong> uneigentlicher Rede.<br />

Wer im Reden nur das Rechthaben sucht <strong>und</strong> nicht die Einsicht in eine Sache, wird freilich<br />

das Fragen für leichter halten als das Antworten. Dabei droht ja nicht die Gefahr, einer Frage<br />

die Antwort schuldig zu bleiben. In Wahrheit zeigt sich aber am neuerlichen Versagen des<br />

Partners, daß <strong>der</strong> überhaupt nicht fragen kann, <strong>der</strong> alles besser zu wissen meint. Um fragen<br />

zu können, muß man wissen wollen, d.h. aber: wissen, daß man nicht weiß. In <strong>der</strong> komödienhaften<br />

Vertauschung von Fragen <strong>und</strong> Antworten, Wissen <strong>und</strong> Nichtwissen, die Plato<br />

uns schil<strong>der</strong>t, kommt mithin die Vorgängigkeit <strong>der</strong> Frage für alles sacherschließende Erkennen<br />

<strong>und</strong> Reden zur Anerkennung. Ein Reden, das eine Sache aufschließen soll, bedarf des<br />

Aufbrechens <strong>der</strong> Sache durch die Frage. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist die Vollzugsweise <strong>der</strong> Dialektik<br />

das Fragen <strong>und</strong> Antworten, o<strong>der</strong> besser, <strong>der</strong> Durchgang alles Wissens durch die Frage.<br />

Fragen heißt ins Offene stellen. Die Offenheit des Gefragten besteht in dem<br />

Nichtfestgelegtsein <strong>der</strong> Antwort. Das Gefragte muß für den feststellenden <strong>und</strong> entscheidenden<br />

Spruch noch in <strong>der</strong> Schwebe sein. Das macht den Sinn des Fragens aus, das Gefragte so<br />

in seiner Fraglichkeit offenzulegen. Es muß in die Schwebe gebracht werden, so daß dem Pro<br />

das Contra das Gleichgewicht hält. Jede Frage vollendet erst ihren Sinn im Durchgang durch<br />

solche Schwebe, in <strong>der</strong> sie eine offene Frage wird. Jede echte Frage verlangt diese Offenheit.<br />

Fehlt ihr dieselbe, so ist sie im Gr<strong>und</strong>e eine Scheinfrage, die keinen echten Fragesinn hat“.<br />

(Gesammelte Werke 1, 1999, S. 368 f.).<br />

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<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 11 Klassische Regeln <strong>der</strong> Gesetzesauslegung<br />

I. Savignys „Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong> Auslegung“<br />

1. Das „grammatische Element“<br />

a) Originaltext<br />

b) Interpretation<br />

2. Das „logische Element“<br />

a) Originaltext<br />

b) Interpretation<br />

3. Das „historische Element“<br />

a) Originaltext<br />

b) Interpretation<br />

4. Das „systematische Element“<br />

a) Originaltext<br />

b) Interpretation<br />

II. Die heutigen Standardkriterien <strong>der</strong> Auslegung<br />

1. Grammatische Auslegung<br />

a) Alltagssprachgebrauch<br />

b) Juristische Terminologie<br />

2. Genetische Auslegung<br />

a) „Historische“ o<strong>der</strong> „genetische“ Auslegung?<br />

b) Argumente aus <strong>der</strong> Entstehungsgeschichte<br />

3. Systematische Auslegung<br />

a) Äußeres System<br />

b) Inneres System<br />

4. Teleologische Auslegung<br />

a) „Zweck“ o<strong>der</strong> „Sinn <strong>und</strong> Zweck“?<br />

b) „ratio legis“ („Regelungsgr<strong>und</strong>“)<br />

5. Verfassungskonforme Auslegung<br />

a) Vorrang <strong>der</strong> Verfassung<br />

b) Verfassungskonformität <strong>der</strong> Gesetze


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<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 11<br />

Zu Savignys „Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong> Auslegung“<br />

Die folgende Passage ist eine wörtliche Wie<strong>der</strong>gabe von Savignys Text im „System des<br />

heutigen Römischen Rechts“, Bd. 1, 1840, § 33 (S. 212 - 215) <strong>und</strong> § 34 (S. 216 - 219). Sie folgt<br />

dem hermeneutischen Gr<strong>und</strong>prinzip, daß die Quelle allen Verstehens <strong>der</strong> jeweilige<br />

Originaltext sein muß. Das gilt nicht nur für Gesetze, son<strong>der</strong>n auch für wissenschaftliche<br />

Texte. Deren Interpretation ist daher eine gute Schule <strong>der</strong> Auslegungskunst.<br />

§ 33.<br />

A. Auslegung einzelner Gesetze.<br />

Gr<strong>und</strong>regeln <strong>der</strong> Auslegung.<br />

„Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also<br />

irgend einen Gedanken (sey er einfach o<strong>der</strong> zusammengesetzt) auszusprechen, wodurch das<br />

Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum <strong>und</strong> Willkühr gesichert werde. Soll dieser<br />

Zweck erreicht werden, so müssen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung<br />

kommen, jenen Gedanken rein <strong>und</strong> vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in<br />

Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, <strong>und</strong> dessen Thätigkeit in sich<br />

künstlich wie<strong>der</strong>holen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das<br />

ist das Geschäft <strong>der</strong> Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des<br />

dem Gesetze inwohnenden Gedankens. Nur auf diese Weise ist es möglich, eine sichere <strong>und</strong><br />

vollständige Einsicht in den Inhalt des Gesetzes zu erlangen, <strong>und</strong> nur so ist daher <strong>der</strong> Zweck<br />

des Gesetzes zu erreichen.<br />

Soweit ist die Auslegung <strong>der</strong> Gesetze von <strong>der</strong> Auslegung jedes an<strong>der</strong>en ausgedrückten<br />

Gedankens (wie sie z.B. in <strong>der</strong> Philologie geübt wird) nicht verschieden. Das Eigenthümliche<br />

<strong>der</strong>selben zeigt sich aber, wenn wir sie in ihre Bestandtheile zerlegen. So müssen wir in ihr<br />

Vier Elemente unterscheiden: ein grammatisches, logisches, historisches <strong>und</strong> systematisches.<br />

Das grammatische Element <strong>der</strong> Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den<br />

Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in<br />

<strong>der</strong> Darlegung <strong>der</strong> von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze.<br />

Das logische Element geht auf die Glie<strong>der</strong>ung des Gedankens, also auf das logische<br />

Verhältnis, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einan<strong>der</strong> stehen.<br />

Das historische Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das<br />

vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand<br />

sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, <strong>und</strong> die Art dieses Eingreifens, das was<br />

dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung<br />

bringen.<br />

Das systematische Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher<br />

alle Rechtsinstitute <strong>und</strong> Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (§ 5). Dieser<br />

Zusammenhang, so gut als <strong>der</strong> historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt,


<strong>und</strong> wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar<br />

machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, <strong>und</strong> wie es<br />

in das System wirksam eingreifen soll.<br />

Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also<br />

nicht vier Arten <strong>der</strong> Auslegung, unter denen man nach Geschmack <strong>und</strong> Belieben wählen<br />

könnte, son<strong>der</strong>n es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die<br />

Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die an<strong>der</strong>e wichtiger seyn <strong>und</strong><br />

sichtbarer hervortreten, so daß nur die stete Richtung <strong>der</strong> Aufmerksamkeit nach allen diesen<br />

Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung<br />

eines jeden dieser Elemente als unnütz <strong>und</strong> schwerfällig unterlassen werden kann, ohne<br />

Gefahr für die Gründlichkeit <strong>der</strong> Auslegung. Von zwey Bedingungen aber hängt <strong>der</strong> Erfolg<br />

je<strong>der</strong> Auslegung ab, <strong>und</strong> darin lassen sich jene vier Elemente kurz zusammen fassen: erstlich<br />

daß wir uns die geistige Thätigkeit, woraus <strong>der</strong> vor uns liegende einzelne Ausdruck von<br />

Gedanken hervorgegangen ist, lebendig vergegenwärtigen: zweytens, daß wir die<br />

Anschauung des historisch-dogmatischen Ganzen, woraus dieses Einzelne allein Licht<br />

erhalten kann, in hinlänglicher Bereitschaft haben, um die Beziehungen desselben in dem<br />

vorliegenden Text sogleich wahrzunehmen. . .“<br />

§ 34.<br />

Gr<strong>und</strong> des Gesetzes.<br />

„Ist es nun die Aufgabe <strong>der</strong> Auslegung, uns den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtseyn zu<br />

bringen, so liegt Alles, was nicht Theil dieses Inhalts ist, wie verwandt es ihm auch seyn<br />

möge, streng genommen außer den Gränzen jener Aufgabe. Dahin gehört also auch die<br />

Einsicht in den Gr<strong>und</strong> des Gesetzes (ratio legis). Der Begriff dieses Gr<strong>und</strong>es ist auf sehr<br />

verschiedene Weise aufgefaßt worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit gesetzt hat,<br />

bald in die Zukunft. Nach <strong>der</strong> ersten Ansicht gilt als Gr<strong>und</strong> die schon vorhandene höhere<br />

Rechtsregel, <strong>der</strong>en consequente Durchführung das gegenwärtige Gesetz herbeygeführt hat.<br />

Nach <strong>der</strong> zweyten Ansicht gilt als Gr<strong>und</strong> die Wirkung, die durch das Gesetz hervorgebracht<br />

werden soll, so daß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>, von diesem Standpunkt aus, auch als Zweck o<strong>der</strong> als Absicht<br />

des Gesetzes bezeichnet wird. Es würde irrig seyn, diese beiden Ansichten in einem<br />

absoluten Gegensatz zu denken. Vielmehr ist anzunehmen, daß dem Gesetzgeber stets beide<br />

Beziehungen seines Gedankens gegenwärtig gewesen sind. Eine relative Verschiedenheit<br />

aber liegt allerdings darin, daß bald die eine, bald die an<strong>der</strong>e <strong>der</strong>selben bey einzelnen<br />

Gesetzen überwiegend seyn kann [. . .] Die Kenntniß des Gesetzgr<strong>und</strong>es kann mehr o<strong>der</strong><br />

weniger gewiß seyn. Die höchste Sicherheit erhält sie dadurch, daß <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> in dem<br />

Gesetze selbst ausgesprochen wird. Aber selbst in diesem Fall bleibt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> von dem das<br />

Recht bestimmenden Inhalt des Gesetzes getrennt, <strong>und</strong> darf nicht etwa als Bestandtheil<br />

desselben angesehen werden. Eben so wird auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Kraft des Gesetzes<br />

durch den gänzlichen Mangel eines uns bekannten Gr<strong>und</strong>es Nichts entzogen; ja selbst wenn<br />

wir bestimmt wissen, daß das Gesetz gar keinen eigentlichen Gr<strong>und</strong> je gehabt hat (von<br />

weichem Fall sogleich weiter die Rede seyn wird), vermin<strong>der</strong>t sich dadurch dessen bindende<br />

Kraft nicht. . . Eben so giebt es auch verschiedene Grade in <strong>der</strong> Verwandtschaft des Gr<strong>und</strong>es<br />

mit dem Inhalt des Gesetzes. Sie können zu einan<strong>der</strong> stehen in dem einfachen, rein logischen<br />

Verhältniß des Gr<strong>und</strong>es zur Folge: dann erscheint <strong>der</strong> Gesetzgr<strong>und</strong> als identisch mit dem<br />

Inhalt. In an<strong>der</strong>en Fällen dagegen werden beide sehr entfernt von einan<strong>der</strong> stehen. Beide<br />

Fälle sollen hier durch die Namen specieller <strong>und</strong> genereller Gründe unterschieden werden.<br />

Diese Begriffe aber sind relativ, eine scharfe Gränze besteht zwischen denselben nicht, <strong>und</strong><br />

es lassen sich vielmehr sehr allmälige Übergänge denken.“<br />

2


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

§ 12 Rechtsanwendung im Subsumtionsmodell<br />

I. Das Subsumtionsmodell im Studienalltag<br />

1. Wort <strong>und</strong> Begriff <strong>der</strong> „Subsumtion“<br />

2. „Subsumtion“ <strong>und</strong> „Subordination“<br />

3. „Subsumtion“ <strong>und</strong> „Justizsyllogismus“<br />

a) Wort <strong>und</strong> Begriff des „Syllogismus“<br />

b) Das berühmte aristotelische Beispiel<br />

c) Das berüchtigte Sokrates-Beispiel<br />

II. Klassische Formulierungen des Modells<br />

1. Arthur Schopenhauer<br />

a) Originalzitat<br />

b) Kritik<br />

2. Karl Larenz<br />

a) Originalzitat<br />

b) Kritik<br />

III. Weiterentwicklungen des Modells<br />

1. Wolfgang Fikentscher<br />

a) „<strong>Methoden</strong> des Rechts in vergleichen<strong>der</strong> Darstellung“<br />

b) Die „Fallnorm“<br />

2. Friedrich Müller<br />

a) Die „Strukturierende Rechtslehre“<br />

b) „Normprogramm“ <strong>und</strong> „Normbereich“<br />

3. Jan Schapp<br />

a) Das Gesetz als „Entscheidung“<br />

b) Der Begriff <strong>der</strong> „Fallreihe“


Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2013<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>züge</strong> <strong>der</strong> <strong>Rechtsphilosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Juristischen</strong><br />

<strong>Methoden</strong>- <strong>und</strong> Argumentationslehre<br />

Texte zu § 12<br />

Klaus Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 38 f.: „Die Lehre von den<br />

Schlüssen läßt es zu, aus wahren Aussagen (mindestens 2) auf einen neuen wahren Satz zu<br />

schließen, aus Prämissen auf die conclusio. Gr<strong>und</strong>voraussetzungen: wahre Prämissen, folgerichtige<br />

Ableitung [. . .] im alten Beispiel<br />

Alle Menschen sind sterblich.<br />

Sokrates ist ein Mensch. 28<br />

Also ist Sokrates sterblich.<br />

was mit <strong>der</strong> Unsterblichkeit seines philosophischen Ruhms durchaus vereinbar ist“.<br />

Hannah Arendt, Das Urteilen, 1998, S. 14: „Ich werde zeigen, daß meine Hauptannahme für<br />

das Herausstellen <strong>der</strong> Urteilskraft als einer sich von an<strong>der</strong>en deutlich unterscheidenden Fähigkeit<br />

unseres Geistes darin liegt, daß Urteile we<strong>der</strong> durch Deduktion noch durch Induktion<br />

zustande kommen. Kurz gesagt, mit logischen Operationen – etwa in <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> folgenden:<br />

Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich – haben<br />

Urteile nichts gemein“.<br />

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille <strong>und</strong> Vorstellung, Bd. 2, Ausg. v. Löhneysen<br />

1976, S. 144: „je<strong>der</strong> gerichtliche Prozeß“ liefere „den förmlichsten <strong>und</strong> großartigsten Syllogismus“<br />

im Sinne <strong>der</strong> aristotelischen Schlußformenlehre; „die Zivil- o<strong>der</strong> Kriminal- Übertretung,<br />

wegen welcher geklagt wird, ist die minor . . . Das Gesetz für solchen Fall ist die maior.<br />

Das Urteil ist die Konklusion“.<br />

Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, <strong>Methoden</strong>lehre <strong>der</strong> Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995,<br />

S. 92: „Wir haben früher gesehen, daß ein vollständiger Rechtssatz seinem logischen Sinne<br />

nach besagt: Immer wenn <strong>der</strong> Tatbestand T in einem konkreten Sachverhalt S verwirklicht<br />

ist, gilt für S die Rechtsfolge R. Der allgemein gefaßte Tatbestand T ist in einem bestimmten<br />

Sachverhalt verwirklicht, wenn S, logisch gesehen, ein ‚Fall‘ von T ist. Um zu erkennen, welche<br />

Rechtsfolge für einen – mir woher immer gegebenen – Sachverhalt gilt, muß ich daher<br />

prüfen, ob dieser Sachverhalt einem bestimmten gesetzlichen Tatbestand als ein ‚Fall‘ unterzuordnen<br />

ist. Trifft dies zu, so ergibt sich die Rechtsfolge aus einem Syllogismus, <strong>der</strong> folgende<br />

Gestalt hat:<br />

Wenn T in irgendeinem Sachverhalt verwirklicht ist, gilt für diesen Sachverhalt die<br />

Rechtsfolge R (Obersatz).<br />

Dieser bestimmte Sachverhalt S verwirklicht T, d.h. er ist ein ‚Fall‘ von T (Untersatz).<br />

Für S gilt R (Schlußfolgerung).<br />

Diesen Syllogismus in kurzer <strong>und</strong> leicht verständlicher Weise auf formalisierte Art auszudrücken,<br />

ist äußerst schwierig, doch ist es für die Zwecke <strong>der</strong> vorliegenden Überlegungen<br />

auch nicht erfor<strong>der</strong>lich <strong>und</strong> soll daher hier nicht versucht werden. Man kann die erörterte<br />

Denkfigur als ‚Syllogismus <strong>der</strong> Rechtsfolgebestimmung‘ bezeichnen“.<br />

Wolfgang Fikentscher, <strong>Methoden</strong> des Rechts in vergleichen<strong>der</strong> Darstellung, Bd. IV, 1977,<br />

S. 201: „Wann habe ich die Fallnorm? Wenn ich den ‚hermeneutischen Zirkel‘ abbreche. Dies<br />

definiert mir die anzuwendende Regel. Wo breche ich ab? Wo weitere Unterscheidungen im<br />

Hinblick auf die Wertungen nach den Kriterien <strong>der</strong> Sach- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gleichgerechtigkeit nichts<br />

mehr hergeben. Wann geben die wertenden Unterscheidungen nichts mehr her? Dies ist das<br />

28<br />

Genaugenommen sollte auch die zweite Prämisse allgemein sein, nach dem Muster „Alle Athener<br />

sind Menschen“. Aber die individualisierende Form hat sich eingebürgert.


allgemeine Problem <strong>der</strong> Norm in <strong>der</strong> Zeit. [. . .]. Die Bildung <strong>der</strong> Fallnorm beruht also auf<br />

einer Unterbrechung (Sistierung) des hermeneutischen Zirkels an einer bestimmten Stelle<br />

des Erkenntnisgangs zwischen Norm <strong>und</strong> Sachverhalt. Besteht die Aufgabe darin, aus einer<br />

Gesetzesnorm die Fallnorm herauszupräparieren, dann ist <strong>der</strong> ‚Zirkel‘ desto kürzer, je präziser<br />

das Gesetz ist. Je weiter die gesetzliche Norm gefaßt ist, desto mehr ‚Windungen‘ weist<br />

die – sich zum Punkt (dem ‚Umkehrpunkt‘) verengende – ‚hermeneutische Spirale‘ auf. Die<br />

Fallnorm ist das, was vom hermeneutischen Zirkel bleibt, wenn man ihn abbricht“.<br />

Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 79: „Noch immer ist allerdings die<br />

Meinung, Norm <strong>und</strong> Normtext seien dasselbe, weit verbreitet. Sie muß auch noch in <strong>der</strong> verfassungsrechtlichen<br />

Methodik als herrschend bezeichnet werden. Unter ‚<strong>Methoden</strong>‘ des Verfassungsrechts<br />

werden bis heute nicht die tatsächlichen Arbeitsweisen verfassungsrechtlicher<br />

Normkonkretisierung im umfassenden Sinn verstanden, son<strong>der</strong>n vor allem überlieferte<br />

Kunstregeln <strong>der</strong> Normtextinterpretation. Methodik gilt als Methodik <strong>der</strong> Auslegung von<br />

Sprachtexten. Doch ist eine Rechtsnorm mehr als <strong>der</strong> Wortlaut. Dieser drückt, da noch nicht<br />

interpretiert, noch nicht einmal den sogenannten Rechtsbefehl, das Normprogramm, aus.<br />

Gleichrangig <strong>und</strong> mitkonstitutiv zur Norm gehört jedoch auch <strong>der</strong> Normbereich, d.h. jener<br />

Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Gr<strong>und</strong>struktur, den sich das vom Rechtsarbeiter<br />

aus <strong>der</strong> Interpretation sämtlicher Sprachdaten entwickelte Normprogramm als Regelungsbereich<br />

‚ausgesucht‘ (nicht- o<strong>der</strong> nur z.T. rechtserzeugter Normbereich) o<strong>der</strong> den es möglicherweise<br />

erst geschaffen hat (rechtserzeugter Normbereich). ‚Normbereich‘ meint in diesem<br />

Zusammenhang nicht den gesamten Regelungssektor <strong>der</strong> Rechtsnorm, son<strong>der</strong>n nur einen<br />

Ausschnitt aus diesem. ‚Normbereich‘ heißt die Gr<strong>und</strong>struktur des Sachbereichs <strong>der</strong> Rechtsnorm,<br />

also die Summe <strong>und</strong> <strong>der</strong> Zusammenhang <strong>der</strong> vom Juristen anhand des Normprogramms<br />

als mit diesem vereinbar <strong>und</strong> für die Fallösung wesentlich, damit zugleich als<br />

(mit-)normativ begründbaren Tatsachen des Sachbereichs. Da die Norm mehr ist als ein<br />

sprachlicher Satz, <strong>der</strong> auf dem Papier steht, kann ihre ‚Anwendung‘ sich nicht allein in Interpretation,<br />

in Auslegung eines Textes erschöpfen. Vielmehr handelt es sich um fallbezogene<br />

Konkretisierung dessen, was Normprogramm, Normbereich <strong>und</strong> die Eigenheiten des<br />

Sachverhalts an Daten liefern [. . .]. Von wenigen an <strong>der</strong> Grenze liegenden Normtypen wie<br />

numerisch bestimmten Vorschriften abgesehen, ist das formallogische Verfahren des syllogistischen<br />

Schlusses für juristische Konkretisierung nie zureichend“.<br />

Jan Schapp, Hauptprobleme <strong>der</strong> juristischen <strong>Methoden</strong>lehre, 1983, S. 64 f.: „Der Tatbestand<br />

des Gesetzes entwickelt nach unserer Auffassung die Gründe, die den Gesetzgeber zu<br />

einer bestimmten Entscheidung im Hinblick auf einen bestimmten Fall bewogen haben. Dabei<br />

lassen sich diese Gründe nicht vom Fall selbst abstrahieren. Wir hatten das Verhältnis so<br />

aufgefaßt, daß <strong>der</strong> ungelöste Fall über die Gründe seiner Entscheidung sich zur Entscheidung<br />

hin entwickelt [. . .]. Der ‚Fallvergleich‘ liegt nun darin, daß <strong>der</strong> Richter die im Gesetz<br />

für einen bestimmten Fall vorgetragenen Entscheidungsgründe im Hinblick auf den ihm<br />

vorliegenden Fall erwägt [. . .]. Am nächsten kommt man dem Vorgang wohl, wenn man<br />

davon ausgeht, daß <strong>der</strong> Richter mit dem Gesetzgeber in ein Gespräch darüber eintritt, ob die<br />

Entscheidungsgründe des Gesetzgebers für einen bestimmten Fall die richterliche Entscheidung<br />

für den dem Richter vorliegenden Fall zu begründen vermögen. Man möge uns zugestehen,<br />

daß wir von einem ‚Gespräch‘ sprechen, auch wenn <strong>der</strong> Gesetzgeber nur ein stiller<br />

Partner dieses Gesprächs ist 4 “.<br />

4<br />

Was unter Gespräch zu verstehen ist, soll hier nicht vertieft werden. Wir dürfen dazu auf die Untersuchungen<br />

W. Schapps in „Philosophie <strong>der</strong> Geschichten“, Vierter Teil: Das Wort <strong>und</strong> die Geschichte,<br />

S. 267 ff. verweisen. Neuerdings hat Gröschner die Thematik in einer umfassenden Monographie mit<br />

dem Titel „Dialogik <strong>und</strong> Jurisprudenz“ behandelt. Vgl. auch Gadamer, Wahrheit <strong>und</strong> Methode, S. 365,<br />

<strong>der</strong> die Wechselbeziehung zwischen Interpret <strong>und</strong> Text mit <strong>der</strong> Wechselseitigkeit im Gespräch vergleicht<br />

[. . .].<br />

2

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