Nyikos-Geschichte
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Handeln, das Spuren hinterläßt, ist historisches Handeln: 7 Handeln, das nicht völlig<br />
vergangen, 8 nicht gänzlich geschwunden und fern ist, sondern im Zustand des<br />
Aufgehobenseins im Hier und Jetzt "fortlebt". 9 Freilich hinterläßt nicht jedes Handeln<br />
Spuren, auch wenn andererseits selbst Alltagshandeln Spuren hinterläßt, und bisweilen<br />
tiefere Spuren als das Handeln der Großen Akteure. 10 Das Ensemble der Spuren nun, die<br />
den Kontext für das aktuelle Handeln bilden – das ist die Essenz der <strong>Geschichte</strong>. 11<br />
3.<br />
Der Standpunkt, den die materialistische Geschichtsauffassung vertritt, ist demnach der,<br />
daß sich die Gegenwart im Grunde als <strong>Geschichte</strong> erweist, also als ein Moment eines<br />
historischen Prozesses, 12 während der Standpunkt der Post-Moderne sich darin resümiert,<br />
daß jeder Augenblick nichts als Gegenwart ist, daß es also <strong>Geschichte</strong> als historischen<br />
Prozeß gar nicht gibt. 13 Dies impliziert, daß die Vergangenheit als Gegenwart gedacht<br />
wird, wenngleich als Gegenwart von früher, und daß der nächste Moment wesentlich nur<br />
als eine Kopie, als Dublette des aktuellen erscheint – wie anders er sich auch sonst<br />
darstellen mag –, daß das Futurum also gleichfalls nur ein simples Präsens ist. Dies hat<br />
zur Konsequenz, daß die Haltung, die man gegenüber dem Vergangenen, d.h. dem<br />
Früheren einnimmt, sich prinzipiell nicht von derjenigen zum aktuell Gegebenen abheben<br />
kann, daß also, da man sich lieber, anstatt zu durchdenken, um zu begreifen, moralisch<br />
entrüstet, man sich auch über die Vorwelt entrüstet – auch wenn das ziemlich billig ist. 14<br />
Und weiterhin hat es zur Folge, daß der Zusammenhang in der <strong>Geschichte</strong> völlig aus dem<br />
Gesichtskreis verdrängt wird, daß man, mit anderen Worten, gar nicht einsehen will, daß,<br />
wer eine Feldfrucht abernten will, sich eben abplacken muß, bevor er die Ernte einfahren<br />
kann. Und dies gilt nicht minder für die <strong>Geschichte</strong>. 15 Wenn dem Unglück der übergroßen<br />
7<br />
Während, wie Perry Anderson feststellt (vgl. P. Anderson, Arguments Within English Marxism, Verso<br />
(1980), S. 14), E. P. Thompson <strong>Geschichte</strong> mit der Vergangenheit per se gleichsetzt, behauptet Louis<br />
Althusser, daß ein historisches Faktum nur dann eines sei, wenn es Veränderungen innerhalb<br />
existierender struktureller Relationen hervorruft. Da hat Althusser bis zu einem bestimmten Punkt sicher<br />
recht.<br />
8<br />
Hier haben wir den Unterschied zwischen Vergangenheit und <strong>Geschichte</strong> in seiner ganzen Deutlichkeit<br />
vor uns.<br />
9<br />
Cf. Hegels Begriff der "Aufhebung": beseitigen, bewahren, auf eine höhere Stufe heben.<br />
10<br />
Alltagshandeln hinterläßt Spuren, indem es wie ein steter Tropfen, der den Stein höhlt, wirkt.<br />
11<br />
Die <strong>Geschichte</strong> ist das real Gegebene; sie "wirkt", indem sie an und für sich präsent ist. Sie wirkt nicht in<br />
dem Sinne, daß die Erinnerung an das Vergangene die gegenwärtige Praxis im Sinne der "Lehren aus<br />
der <strong>Geschichte</strong>" beeinflussen würde: Aus der <strong>Geschichte</strong> wurden nämlich noch nie Lehren gezogen.<br />
Schon Hegel hat klarsichtig erkannt, daß "Völker und Regierungen niemals etwas aus der <strong>Geschichte</strong><br />
gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben." (Hegel,<br />
Vorlesungen über die Philosophie der <strong>Geschichte</strong> …, S. 17)<br />
12<br />
"Jede Epoche ist ein Knotenpunkt der Dreidimensionalität der Zeit: mit ihren Voraussetzungen greift sie<br />
in die Vergangenheit zurück, mit ihren Folgen reicht sie in die Zukunft hinein, und durch ihre Struktur ist<br />
sie in der Gegenwart verankert." (K. Kosík, Die Dialektik des Konkreten, Suhrkamp (1986), S. 234f.)<br />
13<br />
"Somit hat es eine <strong>Geschichte</strong> gegeben, aber es gibt keine mehr." (K. Marx, Das Elend der Philosophie,<br />
in: MEW 4, S. 139) So faßt Marx den Standpunkt der Bourgeoisie zur <strong>Geschichte</strong> zusammen. Heute<br />
jedoch gilt als Credo: "Es hat nie eine <strong>Geschichte</strong> gegeben." – Zur Postmoderne hat Heiner Müller das<br />
Wesentliche gesagt: "Die Urformel der Postmoderne ist das, was Goethe als Ursünde begreift. Also zum<br />
Augenblick zu sagen: 'Verweile doch! Du bist so schön.'" (H. Müller, Zur Lage der Nation, Rotbuch<br />
(1990), S. 22)<br />
14<br />
"<strong>Geschichte</strong> und Politik moralisch zu nehmen, das ist eine bürgerliche Haltung zur <strong>Geschichte</strong>." (H.<br />
Müller, Gesammelte Irrtümer I, Verlag der Autoren (1986), S. 163) Schon bei Hegel findet sich der<br />
Gedanke, daß auf den historischen Prozeß moralische Kategorien nicht anwendbar sind. Vgl. A. Gulyga,<br />
G. W. F. Hegel, Reclam Leipzig (1980), S. 177. – Bisweilen ist es sogar so, daß die moralische<br />
Empörung über längst Geschehenes den willkommenen Nebeneffekt produziert (bewußt oder<br />
unbewußt), die aktuellen Schändlichkeiten zum Verschwinden zu bringen. Vide Norman Finkelstein.<br />
15<br />
Ist vielleicht der Umstand, daß die Post-Modernen so wie die Vögel im Neuen Testament (Mt, 6, 26)<br />
nicht säen noch ernten und trotzdem leben können (nämlich indem sie sich im Supermarkt mit Waren