Nyikos-Geschichte
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diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in<br />
Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich<br />
Illusionen und Gedanken über sich zu machen." 176<br />
51.<br />
Die Mentalität einer Gesellschaft ist die geistige Disposition 177 derjenigen, die deren<br />
Glieder sind, in bestimmten Situationen so und nicht anders zu handeln: diese oder jene<br />
der möglichen Handlungsoptionen zu favorisieren, dieser bestimmten Variante des<br />
Verhaltens vor jener anderen den Vorzug zu geben, 178 diese oder jene<br />
Verhaltensalternative zu wählen, auch wenn sie alle im Prinzip als praktikabel erscheinen<br />
und es (kontextunabhängig) auch sind.<br />
Mentalitäten entstehen in bestimmten historischen Lagen, als Ausfluß des Kontexts, in<br />
dem die Gesellschaft agiert: Erweist sich über lange Strecken der <strong>Geschichte</strong> hinweg<br />
diese oder jene Variante des Handelns als besonders erfolgreich (oder als zumindest nicht<br />
unpraktikabel), so wird sie fixiert, d.h. es bilden sich "Werte" (Treue, Tapferkeit usw.),<br />
"Strukturen" (die Einteilung der Zeit in Arbeit und Muße, der Dinge in profan und sakral<br />
usw.) respektive "Aversionen" (Kleidervorschriften, Speiseverbote, 179 Sexualtabus usw.),<br />
die das Handeln gleichsam als gesellschaftlich verbindliche (überindividuelle) "Wegweiser"<br />
orientieren.<br />
Insofern als diese mentalen Dispositionen von einer Generation auf die nächste, durch<br />
spontanes Lernen, überliefert werden, kann es nun sein, daß sie mit der Zeit ihre<br />
"Bodenhaftung" verlieren, dann nämlich, wenn die ökologischen oder die anderen<br />
Faktoren, denen sie ihr Dasein verdanken, sich grundlegend ändern. Sie funktionieren<br />
dann gleichsam als "geistiger" Rahmen der Praxis, der, so könnte man sagen, "autonom",<br />
unabhängig von der Produktions- respektive Konsumtionsweise wirkt.<br />
"Mentalität" ist gesellschaftliche Handlungsdisposition, 180 die man gleichsam mit der<br />
Muttermilch einsaugt, 181 hat daher mit dem "Bild von der Welt", das die Frucht<br />
"philosophischer Überlegungen" ist, im Prinzip nichts zu tun.<br />
52.<br />
176<br />
Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie …, S. 46f.<br />
177<br />
"Mit dem 'Mentalen' wird ein Bereich des Möglichen angezielt: der möglichen Empfänglichkeit für Reize,<br />
des möglichen Angesprochenseins, der möglichen Bereitschaft, in bestimmter Weise zu antworten und<br />
zu handeln." (U. Raulff, Vorwort, in: U. Raulff (Hg.), Mentalitäten-<strong>Geschichte</strong>, Wagenbach (1987), S. 10)<br />
178<br />
Mentalitäten äußern sich darin, daß die eine Gesellschaft in einer Dürreperiode Regentänze zelebriert,<br />
die andere aber Menschenopfer.<br />
179<br />
Das Verbot des Schweinefleischverzehrs bei den Israeliten (und überhaupt im Nahen Osten) wurde (von<br />
Marvin Harris) darauf zurückgeführt, daß die Schweine als Allesfresser zu dieser Zeit<br />
Nahrungskonkurrenten des Menschen waren.<br />
180<br />
"... der Idee als bewußter Konstruktion eines individuellen Geistes steht hier die stets kollektive<br />
Mentalität gegenüber, die die Vorstellungen und Urteile der sozialen Subjekte ohne deren Wissen<br />
beherrscht." Die Mentalitätengeschichte legt "den Akzent auf die Denkschemata oder -inhalte ..., die,<br />
selbst wenn sie auf individuelle Weise geäußert werden, in Wirklichkeit die nicht gewußten und<br />
verinnerlichten Verbindungen sind, durch die eine Gruppe oder Gesellschaft ein Vorstellungs- und<br />
Wertesystem miteinander teilt, ohne daß dieses explizit formuliert zu sein braucht." (R. Chartier,<br />
Intellektuelle <strong>Geschichte</strong> und <strong>Geschichte</strong> der Mentalitäten, in: U. Raulff (Hg.), Mentalitäten-<strong>Geschichte</strong>,<br />
Wagenbach (1987), S. 78) "Aber was ist das kollektive Unbewußte? Man müßte wohl sagen: das<br />
kollektive Nichtbewußte. Kollektiv, weil es zu einem bestimmten Zeitpunkt Gemeingut der gesamten<br />
Gesellschaft ist. Nichtbewußt, weil es selbstverständlich scheint, so wie die Gemeinplätze, die Codes der<br />
Moral, die Konformismen oder die Verbote, die auferlegten oder verpönten Ausdrucksformen von<br />
Gefühlen oder Phantasmen." (P. Ariès, Die <strong>Geschichte</strong> der Mentalitäten, in: J. Le Goff u.a. (Hg.), Die<br />
Rückeroberung des historischen Denkens, Fischer (1994), S. 162)<br />
181<br />
Die Mentalität funktioniert auf der Ebene des "Automatischen" (cf. J. Le Goff, zitiert bei: Chartier,<br />
Intellektuelle <strong>Geschichte</strong> und <strong>Geschichte</strong> der Mentalitäten …, S. 78).