Sozialisation - Fachsymposium-Empowerment
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3.4. Beruflicher Habitus<br />
In Anlehnung an den französischen Bildungs- und<br />
Kultursoziologen Bourdieu hat Windolf (1981) den<br />
Begriff des „beruflichen Habitus" als Resultat der<br />
Verknüpfung von <strong>Sozialisation</strong> und Familie, Schule<br />
und Erwerbstätigkeit, die allesamt durch die<br />
gesellschaftliche Reproduktion durch Arbeit geprägt<br />
sind, diskutiert. Der berufliche Habitus ist ein stabiles<br />
System verinnerlichter interner Handlungsregeln, die<br />
nicht nur der Anpassung an die Arbeitsanforderungen,<br />
sondern auch der Selbstinterpretation und der Deutung<br />
gesellschaftlicher Verhältnisse dienen. Die sozialen<br />
Anforderungen, die beim Erlernen und Ausüben eines<br />
Berufs erfüllt werden, führen zu Akteuren mit einem<br />
gleichen Habitus, d. h. gemeinsamen Denk- und<br />
Beurteilungsmustern sowie Handlungsschemata.<br />
Der berufliche Habitus ist ein idealtypisches Konstrukt,<br />
ein Bezugsrahmen für individualisierende<br />
<strong>Sozialisation</strong>sprozesse. Er konkretisiert sich durch die<br />
Beteiligung am betrieblichen Arbeitsprozess, wodurch<br />
die Erwerbstätigen in den jeweiligen kulturellen Code<br />
der Organisation eingefügt werden; dies geschieht durch<br />
Initiationsprozesse und Statuspassagen, nachdem<br />
Selektionskriterien überwunden sind. Dabei geht es<br />
darum, die impliziten Spielregeln oder den „geheimen<br />
Lehrplan" der Arbeitsorganisation zu entschlüsseln. Der<br />
Betrieb rekrutiert Mitglieder, die soziale und kulturelle<br />
Grundqualifikationen mitbringen und unterzieht sie<br />
einer Einweisungsphase (z. B. als Trainee,<br />
Referendar/in, Volontär/in, Assistent/in), um das für den<br />
beruflichen Habitus konstitutive „Betriebswissen" zu<br />
vermitteln. Auch wenn der Betrieb keine expliziten<br />
Lernprozesse neben der Berufsausbildung und<br />
Weiterbildung organisiert, so verweist das Konzept des<br />
beruflichen Habitus auf mehr oder weniger lange<br />
berufliche Orientierungsphasen, die vor allem für die<br />
akademischen Professionen von Bedeutung sind.<br />
Als Leitmotiv der beruflichen <strong>Sozialisation</strong>sforschung<br />
ist nach Schumm (1982) die Fragestellung zu sehen, ob<br />
und wie Arbeitserfahrungen die Fähigkeiten zu<br />
selbstverantwortlichen Handeln stärken oder<br />
schwächen. Dabei stehen beruflichfachliche<br />
Qualifikationen und verinnerlichte normative<br />
Orientierungen in Bezug auf Arbeitsleistung,<br />
Zuverlässigkeit, Aufstieg, Kollegialität, Konflikt und<br />
Kooperation im Betrieb im Mittelpunkt. Im Hinblick<br />
auf die Einführung neuer Arbeitstechniken und<br />
Umstellungen in der Betriebsorganisation gewinnen<br />
Eigenverantwortung und die Bereitschaft zur<br />
Mitgestaltung von Arbeitsabläufen an Bedeutung.<br />
Bei der Untersuchung der <strong>Sozialisation</strong>seffekte<br />
beruflicher Arbeit sind drei Ebenen zu unterscheiden:<br />
• Welche Arbeitsanforderungen und<br />
-bedingungen sind überhaupt<br />
sozialisationsrelevant;<br />
• auf welche Weise wird die Identität bzw.<br />
Persönlichkeitsstruktur durch Arbeitserfahrung<br />
geprägt und<br />
• welche langfristig wirksamen<br />
<strong>Sozialisation</strong>sprozesse gehen von der<br />
beruflichen Arbeit aus und inwieweit tragen sie<br />
zur Reproduktion des gesellschaftlichen<br />
Normen- und Wertesystems bei?<br />
Sie bilden den Rahmen für das Ausmaß an Akzeptanz<br />
bzw. Kritik von betrieblichen Herrschaftsstrukturen,<br />
Entscheidungsprinzipien und Arbeitsbelastungen. Zur<br />
Erfüllung konkreter Arbeitsaufgaben sind schließlich<br />
regulative Nonnen notwendig, die alltagssprachlich als<br />
„Arbeitstugenden", wie Disziplin, Gründlichkeit,<br />
Sorgfältigkeit und Übersicht, bezeichnet werden.<br />
Die technisch-organisatorischen Arbeitsanforderungen<br />
verweisen auf ein Bündel von Qualifikationen, die aus<br />
Kenntnissen, praktischen Fertigkeiten und Fähigkeiten<br />
zusammengesetzt sind. Die normativen Orientierungen<br />
beziehen sich auf subjektive Ansprüche, Erwartungen<br />
und Motivation, insbesondere das Ausmaß der inneren<br />
Verpflichtung der Berufstätigen bei der Erfüllung von<br />
Aufgabenstellung im Betriebszusammenhang. Die<br />
berufsbezogenen normativen Orientierungen sind in<br />
soziale Deutungsmuster eingelagert, die Vorstellungen<br />
über die gerechte Verteilung gesellschaftlicher<br />
Privilegien und materieller Ressourcen enthalten.<br />
Aus sozialisationstheoretischer Sicht stellt sich damit<br />
die Frage nach dem Verhältnis von Berufsarbeit und<br />
persönlicher Identität (Leithäuser & Heinz 1976).<br />
Entsprechend der Theorie des symbolischen<br />
Interaktionismus führen <strong>Sozialisation</strong>sprozesse nicht zu<br />
einer mechanischen Verinnerlichung von<br />
Handlungserwartungen, vielmehr wer<br />
den diese durch die Akteure interpretiert und mit ihrer<br />
Biographie in Verbindung gebracht. Dementsprechend<br />
schlagen sich auch restriktive Arbeitsbedingungen nicht<br />
in einer total angepassten Arbeitspersönlichkeit nieder.<br />
Auch bei begrenzten Handlungsspielräumen und<br />
anspruchslosen Tätigkeiten entwickeln die Arbeitenden<br />
Bewältigungsstrategien, die der Identitätsverteidigung<br />
dienen (Heinz 1982). Berufliche Anforderungen und<br />
Arbeitssituationen prägen also das Arbeitshandeln nicht<br />
direkt, sie sind durch berufliche <strong>Sozialisation</strong>sprozesse<br />
vermittelt und werden von den Beteiligten interpretiert.<br />
Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 43