als PDF - Universitätsklinikum Leipzig
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SOZIALES 19<br />
Ausgabe 6 / 19. März 2010<br />
Gesundheit und mehr...<br />
AMOKLAUF<br />
„Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein“<br />
Nina Mayer, eine<br />
24-jährige Referendarin,<br />
wird<br />
am 11. März 2009 beim<br />
Amoklauf in Winnenden<br />
erschossen. Ein Jahr<br />
nach der Tat veröffentlicht<br />
ihre Mutter ein<br />
Buch über den Mord an<br />
ihrer Tochter und die<br />
Folgen, die der Amoklauf<br />
für die Gesellschaft<br />
haben sollte.<br />
„Der schwärzeste Tag<br />
meines Lebens begann<br />
strahlend schön“ – so<br />
beginnt Gisela Mayer<br />
ihr Buch „Die Kälte darf<br />
nicht siegen“. In knappen<br />
Worten erzählt sie<br />
im ersten Kapitel, wie<br />
sie beim Einkaufen von<br />
einem Amoklauf in der<br />
Schule ihrer Tochter<br />
„Nan“ hört und versucht,<br />
Kontakt mit ihr<br />
aufzunehmen: „Ich tippte<br />
eine kurze SMS ’Alles<br />
o.k.?’. Mehr nicht. Nan<br />
hatte nicht ein einziges<br />
Mal nicht auf eine SMS<br />
von mir geantwortet.<br />
Nicht in all den Jahren.<br />
Diesmal kam keine Antwort.<br />
Mein Handy blieb<br />
stumm.“<br />
Als Gisela Mayer, ihr<br />
Mann und ihre jüngere<br />
Tochter in die Schule<br />
kommen, werden ihre<br />
schlimmsten Befürchtungen<br />
bestätigt: Ihre Nan,<br />
Referendarin für Kunst,<br />
Deutsch und Religion,<br />
starb, weil sie in ihrer<br />
Ursachen liegen auch in der Gesellschaft: Eine Frau und ein Kind trauerten vor<br />
einem Jahr in Winnenden um die Opfer des Amoklaufs.<br />
Foto: ddp<br />
Freistunde hilfsbereit zu<br />
einem Klassenzimmer<br />
eilte, in dem Lärm zu<br />
hören war.<br />
Bis heute ist für die<br />
Mutter nicht begreiflich,<br />
warum sie 36 Stunden<br />
warten musste, bis sie<br />
zu ihrer Tochter durfte:<br />
„Warum glaubten dam<strong>als</strong><br />
alle, dass uns nicht<br />
das Herz gebrochen war,<br />
sondern dass wir den<br />
Verstand verloren hätten?<br />
Andere entschieden<br />
nun darüber, was uns<br />
zuzumuten war und was<br />
nicht. Ich fühlte mich<br />
hilflos, entmündigt.“<br />
An Nina Mayers 25. Geburtstag,<br />
dem 17. März,<br />
„haben wir sie zum<br />
letzten Mal umarmt,<br />
den Sarg geschlossen<br />
und unsere geliebte Nan<br />
einem kalten, dunklen<br />
Loch übergeben“. Schon<br />
zwölf Tage nach dem<br />
„schwärzesten Tag“<br />
gründete Gisela Mayer<br />
mit anderen Opfereltern<br />
das „Aktionsbündnis<br />
Amoklauf Winnenden“,<br />
das acht Monate später<br />
in die „Stiftung gegen<br />
Gewalt an Schulen“<br />
überging.<br />
Ihre Forderung: „Unsere<br />
Kinder dürfen nicht<br />
umsonst gestorben sein!<br />
Wir müssen die Kraft<br />
unserer Trauer in Engagement<br />
umwandeln und<br />
alles dafür tun, dass sich<br />
so eine Tat nicht wiederholt.“<br />
Die Lehrerin Gisela<br />
Mayer sieht den 15-fachen<br />
Mörder Tim K. <strong>als</strong><br />
ein „exemplarisches Produkt<br />
dieser Gesellschaft,<br />
das mit größtmöglicher<br />
Brutalität auf diese zurückgeschlagen<br />
hat“.<br />
Deshalb fordert sie,<br />
dieser „Menschenkatastrophe“<br />
Menschlichkeit<br />
entgegenzusetzen. Alles<br />
beginne in der Familie,<br />
in der bei der Erziehung<br />
der Kinder ein klarer<br />
Kurs aus „Vertrauen,<br />
Verantwortung, Zuneigung<br />
und Zeit“ nötig sei.<br />
Außerdem seien Eltern<br />
auch dafür verantwortlich,<br />
was sie den Gehirnen<br />
und Gefühlen ihrer<br />
Kinder zumuten. „Wer<br />
permanent mit Pumpguns,<br />
Flammenwerfern<br />
oder Kettensägen virtuell<br />
mordet, baut in der Realität<br />
Hemmungen ab.“<br />
Auch das deutsche<br />
Bildungssystem müsse<br />
überdacht werden, in<br />
dem schulische Verlierer<br />
keinen Platz haben. Die<br />
Pädagogin Mayer schlägt<br />
vor, ein neues, versetzungsrelevantes<br />
Fach<br />
an Schulen einzuführen,<br />
das Fach „ESK – Erwerb<br />
sozialer Kompetenzen“,<br />
in dem nicht schulische<br />
Leistungen, sondern<br />
„soft skills“ benotet werden.<br />
Selbst Tim K., der mit<br />
„113 Kugeln kalter Wut“<br />
mordete, habe in perverser<br />
Verkennung aller<br />
Werte Anerkennung gesucht.<br />
Wie ein Eintrag in<br />
einem Internetchatraum<br />
belegt, sei es ihm bei der<br />
Tat darum gegangen,<br />
berühmt und beachtet zu<br />
werden. „Diese Anerkennung<br />
ist ihm so wichtig,<br />
dass er auf schreckliche<br />
Weise alles dafür tut, um<br />
von uns wahrgenommen<br />
zu werden.“ Das Buch<br />
endet mit dem Appell an<br />
die Leser: „Um das Klima<br />
der Gesellschaft <strong>als</strong> Ganzes<br />
zu ändern, müssen<br />
wir uns selbst ändern.“<br />
Judith Kubitscheck<br />
AM RANDE<br />
Papst soll<br />
Farbe bekennen<br />
Auch Papst Benedikt XVI. soll<br />
Farbe bekennen im Missbrauchsskandal<br />
katholischer<br />
Einrichtungen – das fordert die<br />
Reformbewegung „Wir sind Kirche“.<br />
„Denn Joseph Ratzingers<br />
Amtszeit <strong>als</strong> Münchner Erzbischof<br />
von 1977 bis 1982 gehört<br />
genau zu den Jahren, um die es<br />
bei den Missbrauchsfällen geht“,<br />
sagte „Wir sind Kirche“–Sprecher<br />
Christian Weisner in München.<br />
Es dränge sich die Frage auf, ob<br />
er dam<strong>als</strong> Kenntnis von solchen<br />
Übergriffen gehabt habe – und<br />
falls ja, wie er damit umgegangen<br />
sei. Auch außerhalb der katholischen<br />
Kirche wurden Missbrauchsfälle<br />
bekannt – an der<br />
renommierten Odenwaldschule<br />
in Heppenheim (Hessen). Betroffene<br />
berichteten, sie seien in<br />
der Zeit von 1970 bis 1985 von<br />
Lehrern <strong>als</strong> „sexuelle Dienstleister“<br />
fürs Wochenende eingeteilt<br />
worden.<br />
dpa<br />
Sammlung<br />
für Jugendarbeit<br />
Für die Kinder- und Jugendarbeit<br />
der Evangelischen<br />
Kirche in Mitteldeutschland begann<br />
dieser Tage eine Spendensammlung.<br />
Im vergangenen Jahr<br />
kamen bei der Straßensammlung<br />
124 900 Euro zusammen.<br />
In der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands<br />
gibt es zweimal<br />
im Jahr eine solche Aktion. Jeweils<br />
im Frühling und im Herbst<br />
sammeln die Gläubigen für die<br />
Kinder- und Jugendarbeit ihrer<br />
Kirche.<br />
ddp<br />
INTEGRATION<br />
Sarazzin beklagt sich wieder<br />
Das Bundesbank-Vorstandsmitglied<br />
Thilo Sarrazin<br />
hat erneut einen<br />
mangelnden Integrationswillen<br />
von Migranten beklagt. Der<br />
ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator<br />
kritisierte in Wiesbaden,<br />
dass viele Zugezogene<br />
aus dem Nahen Osten und Afrika<br />
nicht Deutsch lernen wollten<br />
und nur unter sich blieben. Es<br />
sei absolut auffallend, dass türkische<br />
und arabische Kinder<br />
niem<strong>als</strong> deutsche Gäste zu sich<br />
einlüden, sagte Sarrazin bei<br />
einer Diskussionsveranstaltung<br />
im hessischen Integrationsministerium.<br />
Sarrazin, der schon mehrfach<br />
wegen Äußerungen zu Migranten<br />
Aufsehen erregte, sah die<br />
Verantwortung für eine mangelnde<br />
Integration vor allem bei<br />
den Ausländern: „Integration ist<br />
zu 80 Prozent eine Bringschuld<br />
und keine Holschuld.“ EU-Ausländer,<br />
Russlanddeutsche und<br />
etwa Vietnamesen würden sich<br />
anstrengen und hätten ähnlich<br />
gute Schulabschlüsse wie Deutsche.<br />
Anders sehe es dagegen<br />
bei Einwanderern aus Afrika,<br />
der Türkei und dem Nahen<br />
Osten aus. Im Saal bekam der<br />
ehemalige Politiker für seine<br />
Äußerungen viel Applaus. Vor<br />
dem Gebäude protestierten<br />
rund zwei Dutzend Mitglieder<br />
des „Wiesbadener Bündnis<br />
gegen Rechts“ und Landtagsabgeordnete<br />
der Linkspartei<br />
gegen den Auftritt.<br />
„Meine Lösung ist mehr Bildung“,<br />
sagte Sarrazin und forderte ein<br />
Umdenken in der Schulpolitik.<br />
An Schulen müsse „ganz banal“<br />
und „ganz konkret“ gelehrt<br />
werden. Mehr Personal sei nicht<br />
nötig. Vielmehr müssten „vernünftige<br />
Lehrpläne“ ausgearbeitet<br />
und die Kinder ordentlich<br />
kontrolliert werden, ob sie ihre<br />
Hausaufgaben gemacht hätten.<br />
Würden sie dem zweimal nicht<br />
nachkommen, „dann wird eben<br />
das Kindergeld um 50 Prozent<br />
gekürzt“.<br />
Bundesbank-Vorstand Thilo<br />
Sarrazin (SPD). Foto: dpa<br />
Der deutsch-türkische Medienunternehmer<br />
Kenan Kubilay<br />
sagte, Versäumnisse bei der Integration<br />
habe es auch bei der<br />
einheimischen Bevölkerung gegeben:<br />
„Die Schuld auf die eine<br />
Seite zu schieben, das wäre<br />
f<strong>als</strong>ch.“ Sarrazins Äußerungen<br />
seien „erniedrigend“. Kubilay<br />
kritisierte, dass Sarrazin Salz in<br />
die Wunde streue. Das demotiviere<br />
und bringe die Integration<br />
nicht voran. „Wir reden über<br />
Menschen“, ergänzte Kubilay.<br />
Bei der Veranstaltung unter<br />
dem Motto „Freiheit, die ich<br />
meine – Chance und Grenzen<br />
der Integration“ verteidigte<br />
der hessische Justiz- und Integrationsminister<br />
Jörg-Uwe<br />
Hahn (FDP) die Einladung<br />
Sarrazins. Es dürfe keine<br />
„Schweige- oder Denkverbote“<br />
geben. Hahn räumte zwar ein,<br />
dass rabiate Äußerungen die<br />
Zugezogenen „verschrecken“<br />
könnten und für eine förderliche<br />
„Willkommenskultur“<br />
nicht dienlich seien. Dennoch<br />
müsste „eine offene und ehrliche<br />
Diagnose“ gestellt werden,<br />
welche Probleme es in der Integration<br />
gebe.<br />
Sarrazin hatte im vergangenen<br />
September heftige Kritik für<br />
Äußerungen in einem Interview<br />
mit der Zeitschrift „Lettre International“<br />
geerntet. Sarrazin<br />
sagte dam<strong>als</strong>: „Jemanden, der<br />
nichts tut, muss ich auch nicht<br />
anerkennen. Ich muss niemanden<br />
anerkennen, der vom Staat<br />
lebt, diesen Staat ablehnt, für<br />
die Ausbildung seiner Kinder<br />
nicht vernünftig sorgt und ständig<br />
neue kleine Kopftuchmädchen<br />
produziert.“ Daraufhin<br />
wurde sein Zuständigkeitsbereich<br />
im Bundesbankvorstand<br />
beschnitten.<br />
epd