Textbuch als PDF (2,6 MB) - Cusanuswerk
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keinesfalls anzusetzen. In beiden Ländern<br />
lassen sich dagegen im 17. und vermehrt<br />
im 18. Jahrhundert Abschottungstendenzen<br />
ausmachen, durch die sich der Kreis der<br />
wirklich einflussreichen Personen verengte.<br />
Eine abnehmende soziale Mobilität, eine<br />
zunehmende Oligarchisierung, die Aufspaltung<br />
der Stimmberechtigten in Patrone und<br />
Klientel, die Bildung von Interessengruppen<br />
etc. sollten aber nicht allzu schnell <strong>als</strong> Ausdruck<br />
zunehmender Funktionsunfähigkeit<br />
beider Staaten interpretiert werden. In Polen<br />
stieg schon im Laufe des 16. Jahrhundert der<br />
Wert umfassender Bildung innerhalb des<br />
Adels erheblich an, <strong>als</strong> das Rede- und Überzeugungsvermögen<br />
im Sejm an Bedeutung<br />
gewannen. Diese strengen Regeln folgende<br />
Redekunst erwarben sich Adlige an bedeutenden<br />
Universitäten im Ausland wie auch<br />
an der eigenen blühenden Krakauer Universität.<br />
In den Niederlanden wurde 1575 die<br />
Universität Leiden ebenfalls mit dem Ziel<br />
gegründet, fähige Staatsbeamte und Politiker<br />
hervorzubringen, die den komplexen<br />
Anforderungen einer partizipativen Regierungsform<br />
gewachsen waren. Eine weitere<br />
strukturelle Übereinkunft beider Ständestaaten<br />
lag in der von Zeitgenossen bewunderten<br />
oder verdammten religiösen Toleranz.<br />
Polen-Litauen war europaweit bekannt<br />
<strong>als</strong> Sammelbecken aller devianter Glaubensrichtungen<br />
des 16. Jahrhunderts. Dennoch<br />
kam der katholischen Kirche eine bevorrechtigte<br />
Stellung zu, nur deren Bischöfe<br />
hatten Sitz und Stimme im Senat. In den<br />
Niederlanden fungierte die calvinistische<br />
Kirche <strong>als</strong> einzige offiziell anerkannte Kirche,<br />
die aber keine Staatskirche war. Beide<br />
gingen in ihrer Toleranz jedoch weit über<br />
das Übliche hinaus.<br />
Beide Republiken traf schon der zeitgenössische<br />
Vorwurf ineffizienter Organisation<br />
und langsamer, von eigensüchtigen Interessen<br />
der jeweiligen Vertreter geprägter<br />
und gebremster Entscheidungsfindung. Die<br />
Berichte der Botschafter fremder Mächte<br />
sind voller Verweise und geprägt von grundsätzlichem<br />
Misstrauen gegenüber allen republikanischen<br />
Herrschaftsmodellen. Negativ<br />
war das sicher aus der Position des absolutistischen<br />
Machtstaates, anders stellte sich das<br />
allerdings aus der Sicht der Beteiligten dar.<br />
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein<br />
wurden Erfolg und Misserfolg der Union<br />
aus der Perspektive der polnischen Teilungen<br />
und der Katastrophen des 20. Jahrhunderts<br />
bilanziert. Je nach Standort – polnisch oder<br />
litauisch, russisch oder deutsch – fielen die<br />
Wertungen unterschiedlich aus. Wichtig<br />
scheint mir jedoch: der polnische Ständestaat<br />
funktionierte, und zwar von ca. 1500<br />
bis 1795 fast 300 Jahre lang! Die Vorwürfe<br />
von Ineffizienz und Verteidigungsunfähigkeit<br />
treffen nur begrenzt zu. Sehr lange war<br />
Polen durchaus in der Lage, sich bei Konflikten<br />
abseitig zu halten oder sich seiner<br />
Gegner wirkungsvoll zu erwehren. Polen<br />
konnte allerdings keine expansive Außenpolitik<br />
führen. Und erst <strong>als</strong> alle umliegenden<br />
Staaten die Teilungen beschlossen hatten,<br />
war ihnen Polen ausgeliefert. Übrigens:<br />
Preußen stand noch im Siebenjährigen<br />
Krieg kurz vor dem gleichen Schicksal. Die<br />
russische Armee marschierte bereits Richtung<br />
Berlin und wurde nur vom in jenen<br />
Tagen zufällig auf den Thron gelangten und<br />
von Friedrich II. besessenen Zaren Peter III.<br />
gestoppt und gegen Österreich, den ehemaligen<br />
Verbündeten, gewendet.<br />
Bei näherer Betrachtung erweist sich,<br />
dass die polnische Republik sehr lange in<br />
der Lage war, den Erfordernissen eines<br />
(früh)neuzeitlichen Staates zu genügen. Nur<br />
wählte sie dazu eben nicht den Weg einer<br />
nationalen zentralen Monarchie, die sich<br />
im 19. Jahrhundert zum Leitmodell entwickelte<br />
und unser Bild vom erfolgreichen<br />
Staat bis weit in das 20. Jahrhundert bestimmen<br />
sollte. Mit seinem Weg stand Polen allerdings<br />
– theoretisch gesprochen – keineswegs<br />
am Rande europäischer Entwicklung,<br />
sondern ging einen Weg, den andere Staaten<br />
wie die Niederlande oder die Schweizer Eidgenossenschaft<br />
ebenfalls beschritten.<br />
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