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Cruiser September 2014

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Gesellschaft CRUISER Edition <strong>September</strong> <strong>2014</strong><br />

Arme Schwule<br />

Ein Tabu in der Gay-Szene<br />

Von Haymo Empl<br />

Tolga und René sind schwul<br />

und arm. Armut wird in der<br />

Gayszene konsequent totgeschwiegen.<br />

<strong>Cruiser</strong> hat mit<br />

Betroffenen gesprochen und<br />

die beiden Gesprächsprotokolle<br />

aufgezeichnet.<br />

Seit Dekaden geht die gemeine Bevölkerung davon<br />

aus, dass wer schwul ist, auch Geld hat. Vielleicht<br />

liegt es daran, dass die Heteros davon ausgehen,<br />

dass wenn da keine Kinder sind, mehr<br />

Geld übrig bleibt, weil der Verdienst nicht in<br />

Zahnspangen, Aknebehandlung, ADHS-Therapien<br />

oder sonstige Nachwuchsförderungsmassnahmen<br />

investiert werden müssen. Es mag sein,<br />

dass Gays über mehr Geld verfügen. Statistiken<br />

darüber existieren keine. Martina Guggisberg<br />

vom Eidgenössisches Departement des Innern<br />

EDI bestätigt: «Wir können bei unseren Armutsindikatoren<br />

nicht nach der sexuellen Orientierung<br />

der Person unterscheiden, da in der<br />

Datenbasis die entsprechenden Informationen<br />

fehlen. Ebenso fehlen uns bei alleinlebenden<br />

Personen Angaben darüber, ob sich diese in<br />

einer Beziehung befinden oder nicht. Was wir<br />

hingegen ausweisen, ist die Armutsbetroffenheit<br />

nach verschiedenen Haushaltstypen. Dabei<br />

zeigt sich, dass allein lebende Personen öfter<br />

einkommensarm sind als Personen, die in<br />

einem Haushalt mit mehreren Erwachsenen<br />

ohne Kinder leben.»<br />

Geht man vom Bundesamt für Statistik aus, lebt<br />

jeder 13. Schweizer in Armut. 590 000 Personen,<br />

so weist das BFS aus. «Armut» heisst, dass<br />

weniger als 2200 Franken pro Monat verdient<br />

werden. Davon müssen die Betroffenen den allgemeinen<br />

Lebensunterhalt wie Essen, Kleidung,<br />

Körperpflege und Verkehr sowie Wohnkosten<br />

und Versicherungen bestreiten. Mit Tolga und<br />

René geben wir der Armut ein Gesicht. Zwar<br />

verfügen die beiden über ein leicht höheres Einkommen,<br />

als die vom BSF festgelegte Armutsgrenze.<br />

Dennoch reicht es vorne und hinten<br />

nicht und sie fühlen sich ausgegrenzt.<br />

Tolga (22, Basel)<br />

«Ich arbeite bei Valora am Kiosk. Als Türke<br />

bin ich nicht geoutet. Meine Eltern sind<br />

vom Tessin nach Zürich gezogen, ich war<br />

damals 16 und hatte meine obligatorische<br />

Schulzeit beendet. Eigentlich hätte ich damals<br />

eine Lehrstelle suchen sollen, das Problem<br />

war aber, dass ich italienisch und türkisch<br />

sprach, aber kaum deutsch. Ich hatte<br />

damals die Wahl: entweder sofort deutsch<br />

zu lernen und eine Lehrstelle zu suchen oder<br />

möglichst schnell einen Job zu finden. Mein<br />

Vater bekam ein Jobangebot bei Sulzer in Zürich,<br />

meine Mutter war Hausfrau und meine<br />

beiden älteren Schwestern versuchten<br />

sich im Tourismus in der Türkei. Ich hatte<br />

eigentlich nicht wirklich eine Wahl in Sachen<br />

Beruf, denn mit 16 macht man sich<br />

nicht so wahnsinnig viele Gedanken über<br />

die Zukunft und meine Eltern fanden auch,<br />

dass ich Geld verdienen soll. Der Umzug von<br />

Lugano nach Zürich war für alle hart, ich<br />

hatte keine Freunde in der Deutschschweiz<br />

und ich merkte, dass «etwas nicht stimmte».<br />

In meiner Kultur spricht man nicht über Homosexualität<br />

und ich habe noch heute Mühe<br />

damit, dass es bei mir offenbar so ist und<br />

wohl auch so bleiben wird.<br />

Bald entdeckte ich, dass ich im damaligen «Caroussel»<br />

Sex finden konnte und dafür auch noch<br />

bezahlt wurde. Für mich eine «Win-Win»-Situation.<br />

Ich sah also damals keinen Grund, irgendetwas<br />

an meiner Lebenssituation zu ändern.<br />

Dass sich das später rächen würde, habe ich<br />

wohl vermutet, auch gespürt, aber es war mir<br />

egal und ich habe es verdrängt.<br />

Das «Caroussel» wurde geschlossen, ich habe<br />

dann an anderen einschlägigen Plätzen angeschafft<br />

und mich auch im Internet auf den entsprechenden<br />

Plattformen eingeschrieben – was<br />

ich heute teilweise noch immer mache.<br />

Vom Kiosk zum Strich<br />

Beim Kiosk werden bei uns keine Vollzeitstellen<br />

angeboten. Ich verdiene im Internet so um die<br />

1200 Franken, vom Kiosk kommen nochmals<br />

1600 Franken dazu. Da ich nicht mehr bei meinen<br />

Eltern wohne und nun eine eigene Wohnung<br />

habe, gehen schon mal monatlich 950<br />

Franken weg. Natel, Internet und TV kosten im<br />

Monat auch an die 200 Franken. Ich habe mir<br />

auch schon überlegt, mich beim RAV anzumelden<br />

und eine Umschulung zu beantragen. Das<br />

Problem: Wenn ich mich beim RAV anmelden<br />

würde, dann bekäme ich ja nur 80 % von meinem<br />

Kiosklohn. Und das würde dann ja überhaupt<br />

nicht reichen. In Basel wohne ich, weil<br />

ich weg von meinen Eltern wollte und ich keine<br />

Lust darauf habe, dass meine Mutter immer bei<br />

mir aufkreuzt. Im Tessin hätte ich noch weniger<br />

Chancen…<br />

Ich habe mittlerweile Deutsch gelernt und jemand<br />

hilft mir auch bei Bewerbungen. Leider<br />

bekomme ich immer nur Absagen, weil ich keine<br />

Berufslehre gemacht habe. Gerne würde ich<br />

mir auch dann und wann mal ein Parfüm leisten<br />

oder in Zürich essen gehen, aber schon die<br />

Fahrt mit dem Zug ist einfach teuer. Apropos<br />

Zug: Für eine Berufslehre ist dieser nun auch<br />

abgefahren. Ich habe es einmal versucht als<br />

Fitness-Instruktor, ein Kunde von mir hat mir<br />

die Ausbildung bei der Migros Klubschule bezahlt.<br />

Aber mein Deutsch war einfach noch zu<br />

schlecht und ich konnte den Unterrichtsstunden<br />

nicht folgen. Ebenfalls war ich es einfach<br />

nicht gewohnt, mich wieder in die Schulbank<br />

zu drücken und zu lernen. Vielleicht gehe ich<br />

auch in die Türkei und versuche mich dort als<br />

Fremdenführer oder so. Mal schauen.»<br />

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