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trug, Erpressung.“ Erst Sönke Wortmann<br />
sollte den Fußball im Revier wieder von diesem<br />
Lumpenproletariat erlösen und verlieh<br />
ihm mit dem „Wunder von Bern“ (2003)<br />
in Erinnerung an Helmut Rahn und die frühen<br />
fünfziger Jahre sogar nationale Weihen.<br />
Die Linie von Theo & Co schrieb dagegen<br />
Peter Thorwarth seit 1999 mit seiner<br />
„Unna-Trilogie“ fort. Dabei spielt der<br />
dritte und letzte Teil „Goldene Zeiten“ rund<br />
um einen Golfclub – ein Indiz für die fortschreitende<br />
Modernisierung der Region<br />
und die Tatsache, dass krumme Geschäfte<br />
nicht nur auf Golfplätzen rund um Köln<br />
getätigt werden.<br />
Für absurderen Humor in der Region<br />
steht der Name Helge Schneider. Der „Unterhaltungskünstler“<br />
tritt nicht nur als Musiker<br />
auf, sondern ist auch auf der Leinwand<br />
präsent. Neben vier eigenen Kinofilmen<br />
hat er mit Werner Nekes und Christoph<br />
Schlingensief zusammengearbeitet.<br />
Gegen dessen exzessive Stücke und Filme<br />
wie „Die 120 Tage von Bottrop“ (1997)<br />
setzt er seine ironische, in Teilen infantile<br />
Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebietsalltag.<br />
Die Liste seiner filmischen Aktivitäten<br />
reicht dabei von Rollen in Dani Levys<br />
„Mein Führer“ (2007) zurück bis zu „Manta<br />
– der Film“ (1991). Wie der fast parallel<br />
produzierte „Manta Manta“ (1992) beschäftigte<br />
er sich adäquat mit einem der<br />
modernen Mythen der Großregion nach<br />
dem Motto: im Ruhrgebiet wird mehr getunt<br />
als gestylt. Zeitgleich kam ein anderer<br />
Kultfilm in die Kinos. In „Kleine Haie“<br />
brilliert Armin Rohde alias „Bierchen“ als<br />
weiterer mobiler Ruhrgebietler. In Bewegung<br />
ist schließlich auch Thomas Durchschlag,<br />
dessen Film „Nachts“ (2002) durch<br />
das nächtliche Ruhrgebiet streift, weil die<br />
letzte S-Bahn weg ist. Es ist zu spüren: Das<br />
Ruhrgebiet hat sich verändert und ist auf<br />
dem Weg.<br />
Nachgefragt bei Regisseur<br />
Adolf Winkelmann<br />
Warum sollte<br />
es mehr Filme<br />
aus dem Ruhrgebiet<br />
geben?<br />
J a, warum eigentlich mehr? Es<br />
sollten doch zuerst gute Filme<br />
sein, die richtigen – mit anrührenden<br />
Bildern und spannenden Geschichten.<br />
Von Geschichtenerzählern<br />
geschrieben, die ihre Figuren,<br />
auch die schlimmsten und unmöglichsten<br />
lieben, besessen lieben – in<br />
Szene gesetzt von Fiction-Regisseuren<br />
oder Dokumentaristen, die<br />
noch was am Hut haben mit Heimatkunde,<br />
ohne sie wie anno<br />
Schnee schul- oder vereinsmeiermäßig<br />
zu betreiben. Wir reden<br />
so gern (vielleicht als Alibi) über<br />
Milieunähe und Regionalismus –<br />
aber über welchen? Den westfälischen,<br />
rheinischen, den angrenzend<br />
münsterländischen, sauerländischen?<br />
Regionales klingt auch seltsam,<br />
weil wir „das Ruhrgebiet“ ja<br />
in Zukunft „Metropole“ nennen<br />
wollen. Es gibt hier alles, aber auch<br />
alles. Alle Sprachen, Religionen und<br />
Milieus. Jede Art Dreck, jede Art<br />
Herzlichkeit. Wir haben ortsansässige<br />
Mafiosi, gigantische Bauskandale,<br />
Heuschrecken, die in verschwiegenen<br />
Parks leben, Koks in<br />
den Rathäusern und herrliche Intrigen<br />
im Theater, im Pop-Business, in<br />
Parteien und Profisport – es gibt genau<br />
soviel Neid und Liebe und Eifersucht<br />
und Hochzeiten wie anderswo,<br />
etwa nicht ? – und krasse<br />
und witzige Schlitzohren und ja,<br />
viele Verlierer in diesen Zeiten, die<br />
man sich mit dem Strukturwandel<br />
erklärt. Also, Armut und Läuse und<br />
irre Gewalt und hoffnungslos unterbesetzte<br />
Schulen mit Schulleitern,<br />
die sich schämen, darüber zu sprechen.<br />
Dazu fällt den Autoren zu wenig<br />
ein? Nichts Trauriges, nichts Komisches?<br />
Und überhaupt ist nicht<br />
nur über den Spielfilm zu reden,<br />
den man im Kino oder Wohnzimmer<br />
sieht. Bewegt-Bilder-Macher<br />
sind längst dabei, die öffentlichen<br />
Verkehrsräume zu erobern: Innenräume,<br />
Außenräume, Büro-Foyers,<br />
Bahnhofsfassaden und Kaufpark-<br />
Passagen, Dach- und Turm-Kronen.<br />
Muss man sie den Propagandisten<br />
überlassen?<br />
Es sollte noch viel mehr Filme aus<br />
dem Ruhrgebiet geben ...<br />
damit ich im und aus dem<br />
Ausland nicht mehr hören muss:<br />
„Where the hell is Essen?“ oder<br />
„What the hell is Ruhrgebiet?“<br />
Marianne Menze,<br />
Kinobetreiberin Lichtburg Essen<br />
Eine Welle von aktuellen Dokumentarfilmen mit dem Ruhrgebiet als<br />
Thema macht deutlich: Der Strukturwandel dieser Region ist abgeschlos-<br />
sen, aber von den Menschen noch nicht verarbeitet. Über Jahrzehnte<br />
hat sich bei den dort angesiedelten Filmemachern ein besonderer doku-<br />
mentarischer Blick entwickelt.<br />
Dokumentarszene Ruhrgebiet<br />
Ruhrpott reloaded?<br />
VON GÜNTER JEKUBZIK<br />
Das Ruhrgebiet stellt eine gigantische, historisch<br />
einzigartige Industrie- und Menschenlandschaft<br />
mit vielen überraschenden Nischen dar. Dieser<br />
Moloch zog schon immer Auswärtige an, wie<br />
Klaus Wildenhahn („Rheinhausen, Herbst ’88“,<br />
1988/89) und Peter Nestler („Im Ruhrgebiet“,<br />
1967). Jetzt drehte James Benning den Eröffnungsfilm<br />
der 33. Duisburger Filmwoche mit dem Titel<br />
„Ruhr“: Der berühmte US-amerikanische Avantgarde-Filmemacher<br />
Benning „hat im Duisburger<br />
Stahlwerk gedreht, die Marxloher Moschee besucht<br />
und das Treiben in einer Essener Seitenstraße<br />
beobachtet. ‚Ruhr’ ist nicht nur das Porträt einer<br />
Region im Strukturwandel, sondern auch eine<br />
Hommage an die Menschen, die diese Region<br />
arbeitend gestalten“, so gibt das Festival bekannt,<br />
das seit drei Jahrzehnten herausragend die Welt,<br />
aber auch immer wieder das eigene Umland dokumentarisch<br />
reflektiert. „erkenne die lage“ lautet<br />
das Motto des diesjährigen Festivals, und es<br />
scheint, als habe eine besondere Lage eine besondere<br />
Generation von Dokumentarfilmern hervorgebracht.<br />
Während die abschließende Episode in Michael<br />
Glawoggers Industrie-Geschichte „Working<br />
Man’s Death“ den Emscher Landschaftspark industriebereinigt<br />
als Kultur- und Spielplatz zeigt, verfolgen<br />
andere Dokumentaristen die Umbrüche weiter:<br />
10 Jahre nach „Abenteuer Ruhrpott“ kehren<br />
Werner Kubny und Peter Schnell gerade wieder ins<br />
Ruhrgebiet zurück, um zu sehen, wo die Leute aus<br />
dem Milieu heute stehen. „Was bleibt sind wir“ begleitet<br />
ganz unterschiedliche Menschen im Ruhrgebiet<br />
einen Tag lang in ihrem Leben. Auch die Dokumentarfilmer<br />
Ulrike Franke und Michael Loeken<br />
kommen mit „See der Träume oder die Zukunft<br />
kann beginnen“ ins Ruhrgebiet zurück. Nach ihrem<br />
preisgekrönten Film „Losers and Winners“ widmen<br />
sie sich erneut dem Wandel des Reviers und beobachten<br />
über lange Zeit die Umgestaltung eines<br />
Stahlwerksgeländes, auf dem ein See mit mediterranem<br />
Ambiente entsteht, sowie die Reaktionen<br />
der Anwohner darauf.<br />
Es sind vor allem an der Ruhr Beheimatete, die<br />
sich an ihrer Region „abarbeiten“,<br />
wie es Autor Michael Gierke charakterisiert,<br />
der für ein Ende 2010 mit<br />
der dfi –dokumentarfilminitiative im<br />
Filmbüro NW geplantes Buchpro-<br />
jekt über Dokumentarfilme im Ruhrgebiet<br />
auch der Frage nachgeht, ob<br />
Dokumentarfilmer aus dem Ruhrpott<br />
einen speziellen Blick haben.<br />
Das Klischee „Strukturwandel“ machen<br />
sie „im Detail deutlich an der<br />
Veränderung von Lebenswelten<br />
konkreter Menschen“, so Gierke.<br />
Der Essener Rainer Komers beispielsweise hat<br />
Jahrzehnte lang das Ruhrgebiet gefilmt. Zusammen<br />
mit Klaus Helle drehte er 1989 die bekannte Doku<br />
„Erinnerung an Rheinhausen“. Auch wenn ein<br />
Regisseur wie Komers in Jemen und Japan filmt,<br />
„sieht sein Blick Dinge, die bei anderen Leuten nicht<br />
im Film auftauchen“.<br />
Dieser im Ruhrgebiet besonders sozialisierte<br />
Blick auf die Welt habe eine ganz besondere Aufmerksamkeit<br />
für den Alltag von Menschen, für eine<br />
Fußgängerzone oder einen Kleingarten, fasst<br />
Gierke zusammen.<br />
Auch der in Unna geborene Absolvent der<br />
Fachhochschule für Design Dortmund Frank Wierke<br />
dreht mit ganz eigenen Ansätzen, diesmal in der<br />
Welt der Literatur. Allerdings sieht Gierke auch, dass<br />
im Gegensatz zu den älteren Dokumentarfilmern,<br />
die „in einer speziellen Zeit groß geworden sind und<br />
für die das Ruhrgebiet eine Art Lebenshaltung sei“,<br />
von Ausnahmen wie Frank Wierke abgesehen, das<br />
Ruhrgebiet nur noch ein Thema von vielen ist, das<br />
deshalb eher oberflächlich betrachtet wird.<br />
Doch das Filmschaffen im Ruhrgebiet dürfe auf<br />
keinen Fall aus dem Blick geraten, schon weil das,<br />
was diese Filmemacher aufgenommen haben, ein<br />
„gewaltiges Archiv dessen sei, was teilweise schon<br />
verschwunden ist“. Da passt es, dass die dfi eine<br />
Förderung für eine große Ruhrgebiets-Filmreihe beantragte,<br />
die sechs Jahre nach dem umfassenden<br />
Symposium „Endlich so wie überall?! Neue dokumentarische<br />
Bilder des Ruhrgebiets“ die wichtigsten<br />
Dokumentationen der letzten Jahrzehnte zusammen<br />
mit neueren Entwicklungen vorstellen soll.<br />
Auch beim anderen großen Thema des Ruhrgebiets,<br />
der Einwanderung gibt es Veränderungen.<br />
Nach vielen Immigranten-Geschichten – die auch<br />
in Spielfilmen wie „Solino“ von Fatih Akin auftauchen<br />
– stellt Gaby Hinderberger, vom Bochumer<br />
Festival „Blicke aus dem Ruhrgebiet”, eine „Verlängerung<br />
der Immigrationsgeschichte in die ursprünglichen<br />
Heimatländer“ fest. Im Ruhrgebiet aufgewachsene<br />
Filmemacher reisen mit der Kamera in<br />
die Heimatländer ihrer Eltern.<br />
Ruhr.2010 als Kulturhauptstadt wird die Scheinwerfer<br />
kurzzeitig auf die Region richten. Aber vor<br />
allem weil sich die Menschen immer noch an dem<br />
leicht gesagten und schwer gelebten Strukturwandel<br />
„abarbeiten“, bleibt das Ruhrgebiet als Drehort<br />
und als Schule des Blicks erhalten. Darum, dass<br />
es in den nächsten Generationen weiter gehen<br />
wird, kümmert sich auch das Festival „doxs!”, das<br />
vom 3. bis 8. November 2009 während der Duisburger<br />
Filmwoche schon in der achten Ausgabe mit<br />
einem internationalen Dokumentarfilmprogramm<br />
für Kinder und Jugendliche für Nachwuchs sorgt.<br />
Schwerpunkt – newsletter 6/2009 21