Was ist noch interessant? - Bund der Heimatvertriebenen ev ...
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1.4 „Der grauschwarz-bunte Vogel“ – ein Gleichnis<br />
Ein großes Tier: mächtige dunkel schimmernde<br />
Schwingen, weit ausgebreitet, zum Start bereit.<br />
Aber:<br />
Der Vogel fühlt sich schwach: Die Nahrung <strong>ist</strong> knapp<br />
und Fallensteller jagen ihn und seine Brut. Er liebt<br />
seinen hiesigen, heimatlichen Horst. Doch <strong>der</strong> Hunger<br />
und die Gefahr hier sind zu groß. Wird er mit<br />
den Jungvögeln über den Rhein, gar bis zur Donau<br />
fliegen können? Dort soll das Leben <strong>der</strong> Tiere leichter<br />
sein. Werden ihn an<strong>der</strong>e Vögel begleiten?<br />
Am Uferrand sitzen Kin<strong>der</strong> und beobachten das Tier.<br />
Ihnen scheint <strong>der</strong> Vogel traurig zu sein. Sie meinen,<br />
er wolle sie fragen, was er tun solle.<br />
Da flüstert Johannes: „Wie unser Vater, <strong>der</strong> sitzt ganz<br />
krumm am Tisch und fragt immerzu, ob wir ziehen<br />
o<strong>der</strong> bleiben.“´<br />
Die an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> wissen, worüber Johannes<br />
spricht. Im Dorf herrscht schon seit längerem große<br />
Unruhe, als ein frem<strong>der</strong> Mann hier aufgetaucht<br />
war. Mehrere Familien haben erst kürzlich – wie es<br />
heißt, für immer – mit Pferdewagen Schwaiblingen<br />
verlassen. Sogar <strong>der</strong> Schuster mit 8 Kin<strong>der</strong>n und<br />
seinen Eltern! Sie wollen angeblich alle erst in eine<br />
große Stadt, nach Ulm, und von da nach Neu-Russland.<br />
Da soll es endlich mehr zu essen geben. Und<br />
die armen Leute wären <strong>der</strong> Herrschaft gegenüber<br />
ihre Schulden los, die sie sowieso nie bezahlen<br />
könnten.<br />
Die Nachbarskin<strong>der</strong> haben vor einigen Tagen mit<br />
den kleinen Schustern <strong>noch</strong> hier am Ufer gesessen.<br />
Die haben aber nichts verraten. Es heißt, man dürfe<br />
sein Heimatdorf jetzt nicht mehr verlassen, Seine<br />
Durchlaucht habe es bei strenger Strafe verboten.<br />
Alles muss nun heimlich geschehen. Deshalb auch<br />
hat Johannes geflüstert und hält sich jetzt erschrocken<br />
den Mund zu. Seine ältere Schwester sieht ihn<br />
strafend an.<br />
Trotzdem gibt es plötzlich ein reges Getuschel, wer<br />
wohl als nächster wegginge, warum so viel „gegreint“<br />
würde, woher die Leute den Weg wüssten und was<br />
das überhaupt bedeuten würde: „Neu-Russland“?<br />
Zwei <strong>der</strong> kleineren Mädchen, zwei Schwestern, wollen<br />
auf keinen Fall weg. Ihre Mutter sei doch krank,<br />
und die Großmutter wäre dann ganz allein.<br />
Ernst, <strong>der</strong> Älteste hier in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>gruppe, meint<br />
etwas forsch: „In Neu-Russland <strong>ist</strong> alles besser. Eure<br />
Mutter wird da wie<strong>der</strong> gesund und Ihr habt alle genug<br />
zu essen. Ihr bekommt ein schönes Haus und<br />
Wolga, Weimar, Weizenfeld<br />
auch einen Acker. Ich hab´ ´gedenkt´, dass ich, wenn<br />
ich groß bin, auch weggehe. Soldat will ich nämlich<br />
später nicht werden und dort, da drüben, braucht<br />
´mer´ das auch nicht. Und Ulm will ich sehen und<br />
dann endlich mit einem Schiff fahren.“<br />
Erschrocken, erstaunt, zweifelnd, bewun<strong>der</strong>nd<br />
sehen ihn die an<strong>der</strong>en an. Sie alle haben nicht bemerkt:<br />
Der große traurige grauschwarze Vogel mit<br />
seinen bunten Fe<strong>der</strong>n <strong>ist</strong> nicht mehr zu sehen. Wie<br />
wird er sich wohl entschieden haben? (vgl. 75)<br />
Die Kin<strong>der</strong>, ihre Eltern und die Dorfbewohner wissen<br />
aber sicher nichts von folgendem Brief des Bauern<br />
Johann Peter von <strong>der</strong> Haid aus Schwickartshausen<br />
an den Landgrafen von Hessen:<br />
„So wahr wir uns beeifern, die herrschaftlichen Gel<strong>der</strong><br />
richtig abzutragen, und uns von an<strong>der</strong>en Schulden zu<br />
entledigen, so wenig sind wir imstande gewesen, diesen<br />
Vorsatz zu erfüllen, son<strong>der</strong>n wir sind und kommen<br />
von Tag zu Tag tiefer hinein, so daß wir <strong>der</strong>malen kein<br />
Mittel mehr vor uns sehen, uns ferner zu ernähren, als<br />
wenn wir mit nach den russischen Reichen ziehen“<br />
(41).<br />
Insgesamt fassten viele Menschen den sicher me<strong>ist</strong><br />
schweren Entschluss, ihre Heimat zu verlassen. Dafür<br />
waren häufig verschiedene Gründe ausschlaggebend:<br />
Sie fühlten sich durch die eigenen Regierungen, <strong>der</strong>en<br />
äußerst strenge Verwaltung unterdrückt.<br />
Sie konnten ihre Religion in den einzelnen Kleinstaaten<br />
nicht frei wählen.<br />
Sie litten unter den Folgen <strong>der</strong> Leibeigenschaft und<br />
des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763).<br />
Sie befürchteten, dass ihre Söhne als künftige Soldaten<br />
von ihrem jeweiligen Landesherrn an fremde<br />
Mächte verkauft werden.<br />
Sie hatten Hunger wegen Missernten, wegen verwüsteter<br />
Fel<strong>der</strong> und wegen Landmangels überhaupt.<br />
Sie wurden wegen <strong>der</strong> ihnen aufgezwungenen<br />
Steuern, ihrer wirtschaftlichen Not, zum Teil aus <strong>der</strong><br />
herrschenden Arbeitslosigkeit resultierend, durch<br />
Schulden, die sie nicht zurückzahlen konnten, zusätzlich<br />
in Abhängigkeit gebracht. Sie glaubten<br />
den Versprechungen <strong>der</strong> Werber („Lokatoren“), die<br />
ihnen ein menschenwürdiges Leben, frei von Hunger,<br />
Schulden und Militärdienst, sowie weitere Privilegien<br />
in den „russischen Reichen“ zusicherten (vgl.<br />
Abschnitt 1.3).<br />
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