Was ist noch interessant? - Bund der Heimatvertriebenen ev ...
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Herrschaft (vgl. 19; 15/16). Die Hochzeiten werden<br />
wohl nicht in aller Stille „gefeiert, wie Vermerke über<br />
Musikantengel<strong>der</strong> belegen“ (19; 16). Die üblicherweise<br />
dreimalige „Verkündigung“ in <strong>der</strong> Kirche wird<br />
– sicher aus Zeitgründen – nicht eingehalten. Außer<br />
diesen 750 künftigen Kolon<strong>ist</strong>en treffen in Büdingen<br />
<strong>noch</strong> viel mehr Ausreisewillige ein, so dass das<br />
Städtchen einem Heerlager geglichen haben muss.<br />
Selbst die Büdinger Bäcker bitten ihren Grafen um<br />
die Erlaubnis, mehr Mehl mahlen zu dürfen, „da nur<br />
so die große Zahl von Kolon<strong>ist</strong>en mit Brot versorgt<br />
werden könne“ (ebenda).<br />
Obwohl es in den einzelnen deutschen Kleinstaaten<br />
nicht erlaubt <strong>ist</strong>, ohne offizielle Ausreisepapiere nach<br />
Russland auszuwan<strong>der</strong>n, „gibt es Hinweise darauf,<br />
dass man es in Büdingen … nicht immer allzu genau<br />
nahm“ (19; 15). Des öfteren hätten sich Untertanen<br />
heimlich „nach Büdingen durchgeschlichen“ (ebenda),<br />
was auch in an<strong>der</strong>en Herrschaften geschieht.<br />
Wolga, Weimar, Weizenfeld<br />
Das veranlasst z. B. den „Chur-Rheinischen Creyß“<br />
und die „Chur-Pfältzische Regierung“ bereits im<br />
April bzw. Mai 1766 zu Gegenmaßnahmen mittels<br />
eines „Edicts“. Die „umherziehenden Unterhändler,<br />
Verführer“ (19; 8) sollen wegen ihres „Blend-Wercks“<br />
genauso unter Strafe gestellt werden wie „jene, so<br />
sich, …, heimlich fort zu machen, erfrechen“ (ebenda).<br />
Werbebüros müssen deshalb öfter verlegt werden,<br />
wie beispielsweise nach Tann in <strong>der</strong> Rhön. Es bilden<br />
sich jedoch trotzdem größere Sammelplätze für die<br />
Weiterreise <strong>der</strong> künftigen Kolon<strong>ist</strong>en heraus, wie<br />
Roßlau an <strong>der</strong> Elbe und eben Büdingen.<br />
Die privaten Werber, die für jede geworbene Familie<br />
o<strong>der</strong> vier Einzelpersonen Prämien erhalten und in<br />
Russland später Direktoren <strong>der</strong> künftigen Kolonien<br />
werden sollen, sind an höchsten Ausreisezahlen<br />
verständlicherweise äußerst interessiert (vgl. 19; 9).<br />
1.7 Reisebeschreibungen von Bernhard Ludwig von Plat(h)en,<br />
Johann Bapt<strong>ist</strong> Cataneo, Johann Philipp Balthasar Weber, Chr<strong>ist</strong>ian Gottlob Züge<br />
Wie verlief nun die „Reise“ vieler künftiger Kolon<strong>ist</strong>en?<br />
Eine mögliche Antwort lässt sich in alter russlanddeutscher<br />
Originalliteratur o<strong>der</strong> in Reisebeschreibungen<br />
finden.<br />
Der arbeitslose Offizier von Plat(h)en, wohl 1733 in<br />
Braunschweig geboren, fragt sich: „Ob ich mein<br />
Glück nicht könnt in Russland blühen sehen?“<br />
Er versucht tatsächlich sein Glück, startet mit vielen<br />
an<strong>der</strong>en per Schiff von Lübeck aus und hält seine<br />
Erlebnisse in <strong>der</strong> „Reise-Beschreibung <strong>der</strong> Kolon<strong>ist</strong>en,<br />
wie auch Lebensart <strong>der</strong> Rußen, von Offizier<br />
Blahten“ fest. (Für diesen Familiennamen gibt es<br />
verschiedene Schreibweisen.)<br />
Lassen wir ihn selbst „sprechen“:<br />
„Sechs Wochen mussten wir<br />
Die <strong>Was</strong>serfahrt ausstehen<br />
Angst, Elend, Hungersnoth<br />
Täglich vor Augen sehen<br />
Also daß wir zuletzt<br />
Salz-<strong>Was</strong>ser, schimmlich Brod<br />
Zur Lebens unterhalt<br />
Erhielten kaum zur Noth.“<br />
(33; 12)<br />
Nach diesem ersten Halt in <strong>der</strong> Nähe von Petersburg<br />
„thät ein je<strong>der</strong> nun mit Freud vom Schiffe gehen“,<br />
aber Plathen hat hier und auch bei vielen weiteren<br />
Zwischenstationen auf dem Landwege unter Geldnot<br />
zu leiden:<br />
„Mein Geldsack war betrübt und keiner wollt was<br />
geben“ (ebenda). In Nowgorod: „Hier spielte abermal<br />
mein Geldsack ein Pankrot“ (33; 13).<br />
Die Strapazen auf den Fußmärschen sind nicht geringer<br />
als auf den Schiffstransporten:<br />
„Zu Lande transportiren<br />
Hier wurden viele krank<br />
Und viele blieben todt<br />
Die Kin<strong>der</strong>lein voraus<br />
Die litten große Noth“ (ebenda).<br />
Nur die Hoffnung auf das in Deutschland Versprochene<br />
gibt dem jungen Offizier Plathen <strong>noch</strong> Kraft;<br />
er spricht an<strong>der</strong>en sogar Mut zu:<br />
„Man wird euch Örter zeigen<br />
Wo Korn und Mesler (=Mais) Feld<br />
Auch Äpfel, Quetschen, Feigen“ (33; 18).<br />
Doch in Saratow an <strong>der</strong> Wolga, am Ziel:<br />
„Nun wurden wir vertheilt<br />
Als wie in Noahs Kasten<br />
Wer nichts zu fressen hat<br />
Bereite sich zum Fasten“<br />
(33; 19).<br />
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