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Brandenburgisches Ärzteblatt 1/1999 - qs- nrw

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Medizingeschichtesei Folge einer Götterstrafe oder Einwirkungmagischer Kräfte. Er vermutetdie Entstehung von Krankheiten innatürlichen Ursachen und erforschtsie.- Galen (130 - 210) entwickelt aufhippokratischer Grundlage ein Lehrgebäude,das für 1 300 Jahre dasDenken in der Medizin beherrschte.- In der Renaissance und Aufklärung(1500 - 1800) erwachten kritischesDenken und Forscherdrang. Es entwickeltensich Mathematik, Astronomie,Physik und Chemie (Newton, Kopernikus).Die Forschungsmethodikerweiterte sich, es wurde gemessenund die Dimension der Quantität indie bis dahin berücksichtigte Qualitäteinbezogen. Die Denkrichtung verlagertesich von der Finalität zur Kausalität.- Die Konzeption, die Medizin auf einenaturwissenschaftliche Basis zustellen, wird zu Beginn des 19. Jahrhundertsentworfen. Sie beherrscht100 Jahre später das Denken der Medizin.Naunyn (1905): Die Medizinwird (Natur-)Wissenschaft sein, odersie wird nicht sein. Sie zeitigt Erfolgein der zweiten Hälfte des Jahrhundertsin der operativen Medizin undin voller Breite im 20. Jahrhundert.Das Wissens- und Anwendungspotentialgliedert sich in immer neueFachgebiete. Derzeit sind in Deutschland41 Gebiete und 20 Schwerpunkteanerkannt. Das pharmazeutischeAngebot der Industrie, die Rote Liste,ist ein dickes, kaum noch überschaubaresLexikon.30 000 Diagnosen enthält der ICD,10 000 medizinische Fachzeitschriftenin aller Welt sind registriert und zitierfähig.Immer mehr Krankheiten werden behandelbardurch Operation, Medikationoder Bestrahlung. Dafür sind alleinin Deutschland rund 250 000Ärzte tätig, in 2 300 Krankenhäusernstehen 600 000 Betten, in denen jährlich15 Millionen Patienten behandeltwerden. 900 000 Schwestern undAngestellte sind allein in Krankenhäusernbeschäftigt. Medizintechnik undPharmaindustrie hängen von ihnenab. 9,5 % des Sozialprodukts betragendie Gesamtausgaben des Gesundheitswesensin Deutschland. DerGesundheitsmarkt ist ein wichtigerWirtschaftszweig geworden.Ist das Potential der naturwissenschaftlichfundierten Schulmedizin erschöpft?Keineswegs.- Die Molekularbiologie hat dieGenomaanalyse möglich gemacht.Die Steuerung unserer Lebensvorgängeliegt in der Genstruktur.Erbkrankheiten werdenlokalisiert. Die Gentechnikschneidet gezielt Steuersequenzenheraus und überträgt sie infremde Zellstrukturen. DieGentherapie steht vor der Tür.- Die Computerisierung hat nichtnur die Technik revolutioniert,auch in der medizinischen Forschungsind weitere Antworten zuerwarten.- Die Entwicklung in der Medizintechnikund pharmazeutischenIndustrie ist ungebrochen.Unter dem Eindruck solcher Perspektivenfällt es schwer, sich auchSchwächen einzugestehen. DochSchwächen hat die Schulmedizin,wenn man sie mit kritischen Augenbetrachtet.1. WuchtigkeitDie Komplexität des Gesundheitswesenswirkt auf den Nutzer unüberschaubarund überwältigend. Das betrifftnicht nur die Aufgliederung in 41Gebiete und 20 Schwerpunkte, dazutragen auch die gewaltigen Krankenhausbautenbei, die wie ein Labyrinthwirken.2. Arzt-Patienten-BeziehungZwischen Arzt und Patient schiebt sichdie moderne Technik. Der Befund istGesprächsgegenstand und wenigerdie seelische Not des Patienten.3. AngstverbreitungOperationen sind mit Komplikationsrisikenbehaftet. Medikamente besitzenNebenwirkungen. Über beidesmüssen die Patienten ausführlichstaufgeklärt werden, so verlangt es dasGesetz. Damit sollen sie ihr Selbstbestimmungsrechtwahrnehmen können.Es ist verwunderlich, daß nach erfolgterAufklärung, die oftmals einen Horrorkatalogerläutert, nicht mehr Patientendie Therapie ablehnen. DieseArt ist inhuman, angsterregend undkontraproduktiv. Nach der derzeitigenRechtslage jedoch nicht zu umgehen.So bleibt oft nur die Alternative,human, aber juristisch inkorrekt oderjuristisch korrekt und inhuman zuhandeln.4. BehandlungsnötigungAndererseits sieht sich der Arztgenötigt, Therapien durchzuführen,die zwar noch Restchancen bieten,insgesamt aber wenig sinnvoll sind.Seine Meinung und der mutmaßlicheWille des Patienten reichen nicht immeraus, sich im Falle der Nichtdurchführungvor dem Vorwurf der unterlassenenHilfeleistung zu schützen.Auch die Grenze der Behandlungspflichtkann inhuman sein. Das Patientenvermächtniszeugt davon.5. KompetenzbegrenzungDie naturwissenschaftlich fundierteMedizin hat ihre Stärke im Somatischen,wo materielle Prozesse ablaufen.Ihre Schwäche liegt dort, wo dieKrankheit psychisch oder im Wechselspielmit dem Körper psychosomatischbedingt ist. Immer wieder habenweitsichtige Ärzte die Ganzheitsmedizinangemahnt: Martini, Siebeck,Jores, Hoff.Streß, Lärm, Umwelt, Angst, Lebensweise,Zivilisation, Verarbeitungsstrategiensind als Einflußfaktoren aufden Organisamus nicht mit dem Zentimeter-Gramm-Systemzu erfassen.Hier liegt eine Schwäche der Schulmedizin,da die Heilkunst auf die naturwissenschaftlicheBasis reduziert istund Philosophie, Religion und Kulturnicht mehr zum Tragen kommen.Dann erscheinen Ärzte als Macher,denen der seelische Komplementäranteilfehlt, sie werden alsozum Mediziner.6. Mangelnde EffizienzEs kommen Zweifel an der Effizienzdes modernen Gesundheitswesens,das sich fast nur noch um Krankekümmert. Wie erklärt es sich, daß dieMenschen in Griechenland mit Ausgabenfür das Gesundheitswesen von5,2 % des Bruttosozialprodukts diegleiche durchschnittliche Lebenserwartungbesitzen (Frauen 79, Männer74) wie die US-Amerikaner(79:72), die 14,3 % ausgeben. DiesesGeld geht fast ausnahmslos in Diagnostikund Therapie, kaum etwas indie Prophylaxe, wobei ich nicht dieFrüherkennung meine, mit der esauch nicht weit her ist. Bringt vielleichtdas, was Hippokrates, Galen, Hufelandmit ihrer Diätetik im umfassendenSinne gelehrt haben, nämlich Lebenskunst,mehr als High-Tech-Medizin?Wir haben eine überwältigendeKrankheitslehre, es fehlt aber die Gesundheitslehre.Hier könnte die Naturheilkundeein brachliegendes Feldkultivieren.7. Globale BegrenztheitDas Gesundheitswesen der modernenIndustrieländer ist auf die Entwicklungsländernicht übertragbar. Dortkonzentrieren sich die Prioritäten aufdie Sicherung der Ernährung, Bereitstellungvon sauberem Trinkwasser,Familienplanung, Impfungen undschließlich und letztlich auch Therapievon Krankheiten.Verhältnis der Schulmedizin zurNaturheilkunde und zu alternativenVerfahrenAußer den genannten Schwächen derSchulmedizin gibt es das grundsätzlicheDefizit in der Anleitung zur gesundenLebensführung, dem Fehleneiner Gesundheitslehre. Das Wissendarum war zu allen Zeiten vorhanden,wie aus den „res non naturales“des Galen bis zur Makrobiotik Hufelandszu ersehen.Es wurde unter dem Eindruck der Erfolgeder Schulmedizin zurückgedrängtund von der medizinischenForschung vernachlässigt.In der Naturheilkundeist davon auch heutenoch vieles erhalten. An die fünf Säulender Kneippschen Therapie sei erinnert:Hydro-, Bewegungs-, Phyto-,Ernährungs- und Ordnungstherapie,eine an der Naturheilkunde orientierteHygiene.Dem Kur- und Bäderwesen könnte eineneue Perspektive gegeben werden,vor allem wenn es gelingt, das dortTrainierte in den täglichen Lebensrhythmuszu integrieren.Es besteht bei der rational ausgerichtetenSchulmedizin durchaus die Einsicht,daß ihre Grundlagen den Erlebnis-und Erkenntnishorizont begrenzen.So bedarf der Verstand der Ergänzungdurch das Gefühl, die wissenschaftlicheWertung des moralischenGegenpols, es braucht die Erkenntnisdas Bekenntnis, und es gibtdie Einsicht, daß die Heilung desMenschen noch nicht sein Heil bedeutet.In diesem Sinne kann eine alternativeWissenschaft die kartesische Wissenschafthumanisieren (Büring).Die Naturheilkunde sollte nicht längerein Stiefkind der Schulmedizin sein,sondern zu einer gleichwertig akzeptiertenLehre entwickelt werden.Anders verhält es sich mit einer Reihevon alternativen Verfahren, selbstwenn sie so verbreitet und altehrwürdigsind wie Akupunktur und Homöopathie.Sie sind mit gesicherten naturwissenschaftlichenErkenntnissennicht vereinbar, widersprechen derLogik und dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Heilverfahren jeglicher Artmüssen sich wissenschaftlichen Prüfungenunterziehen und ihre Wirkungunter Beweis stellen. Auch keine nochso starke Gläubigkeit an ein Heilverfahrenkann diesen Prüfnachweis ersetzen.Für die Koexistenz alternativer Verfahrenmit der Schulmedizin möchteich drei Kriterien nennen:1. Die Methode sollte sicher erkanntemWissen nicht widersprechen.2. Sie sollte, wenn schon in der Wirkungnicht nachprüfbar, so dochzumindest dem Grundsatz des„Nil nocere“ entsprechen.3. Lebensbedrohliche Krankheitsbilder,Tumorerkrankungen und organischeKrankheiten sind derBehandlung durch die Schulmedizinvorzubehalten.Die Sehnsucht der Patienten nach derheilsamen Wirkung der Natur undnach einfachen Lösungen mit ungefährlichenMitteln wird nicht aussterbenund um so begehrter sein, jekomplizierter die Schulmedizin erscheint.Literatur beim Verfasser:Dr. sc. med. J. HorntrichCarl-Thiem-Klinikum CottbusThiemstraße 11103048 Cottbus<strong>Brandenburgisches</strong> Ärzteblatt 1/99 • 9. Jahrgang27

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