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A U F N U L L N I V E A U - Stadtgespräche Rostock

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REZENSIONEN: GEHÖRTESHundert Jahre IgnoranzVON CORNELIA MANNEWITZWieder ist ein Jahr vorbei. Die Saison amVolkstheater hat gut wieder angefangen; dieKunst hat – ganz abgesehen von den Inhalten:Justizmisere, Machtmissbrauch, „Clash of cultures“– uns schon manche ästhetische Zumutungbeschert: einen „Krug“, der fast nichtmehr zerbrechen muss, so expressionistisch ister; Ophelias Perückenteile, die, unter die nakktenAchseln geklemmt, erheblich mehr anAtem rauben als der ausführlich zelebrierteGeschlechtsakt des Königspaars, und einenHamlet, von dem ein Rezensent schrieb, er seiRock’n’Roll; eine Kolonialromanze, dereneklatante Herausforderungen an politischesDenken, guten Geschmack und Bühnentechnikmit so unbeirrter Hand in Szene gesetztsind, dass selbst der bissigste Stadttheaterzerstöreres schafft, seine Spitzen in einer vergleichsweisemoderaten Kritik zu begraben.Kreativität lässt sich eben nicht bändigen.Aber keine Angst - die größten Zumutungenkommen immer noch von den Kreativitätsverstehern:Ende Oktober, eine Veranstaltung der PhilharmonischenGesellschaft mit dem GMD.Die Rede kommt auf den Theaterneubau.2006 war auch Schostakowitschs hundertsterGeburtstag. Das mag ein führendes Mitgliedeines <strong>Rostock</strong>er Wirtschafts-Verbandes undMitglied des Beirats des Theaterfördervereinsdazu angeregt haben, folgendermaßen zu argumentieren:Man müsse sich darüber klarsein, dass ein Theaterneubau in absehbarerZeit nicht kommen werde. Es sei ja auch zumBeispiel kontraproduktiv, künstlerisches EngagementJugendlicher dadurch zu bremsen,dass man ihnen sage, erst müsse ein neuesTheater her, dann könnten sie anfangen.Kunst, und sogar besonders gute, könne auchunter widrigen Umständen entstehen. Mandenke an Schostakowitsch in Leningrad.Leningrad? Schostakowitschs Siebente Sinfoniewurde in Leningrad zum ersten Mal am 9.August 1942 gespielt; die Blockade bestandseit genau elf Monaten. Uraufgeführt in Kuibyschew,war sie bereits durch die Konzertsälevon Moskau, London, Taschkent, Nowosibirskund New York gegangen. In Leningradging das nicht. Das Leningrader Rundfunkorchesterwurde erst seit Februar neu zusammengestellt.Karl Eliasberg, der designierteDirigent, war auf einem Kinderschlitten insKrankenhaus gezogen worden. Er litt an Dystrophie2. Grades. Ab April wurde zusammengeprobt, aber erst als Musiker von der Frontdie ihren Instrumenten nicht mehr gewachsenenBläser ablösten und die OrchestermitgliederZutritt zur Kantine des Stadtsowjets erhielten,gingen die Unterbrechungen durchOhnmachtsanfälle zurück. Schostakowitschwar im Oktober 1941 evakuiert worden. InLeningrad konnte er nicht mehr komponieren.Die Elite wurde aufgespart. Sein Foto alsfreiwilliger Feuerwehrmann auf dem Dach desKonservatoriums soll gestellt gewesen sein. Esging durch die Zeitungen im In- und Auslandals Zeichen, dass Leningrad noch widerstand.Frauen und Jugendliche banden sich in denFabriken an den Maschinen fest; auch dieMakkaronifabrik produzierte Schießpulver,die Brauerei „Rotes Bayern“ Bomben.Der Erste Sekretär des Gebietsparteikomitees,Kulturspezialist Andrej Shdanow, der Schostakowitschnach dem Krieg um seine Lehrämterbrachte, unterstützte den Plan, denDeutschen im Falle der Eroberung Leningradsverbrannte Erde zu hinterlassen: 325 TonnenSprengstoff waren unter Fabriken, Infrastruktureinrichtungenund strategisch wichtigenGebäuden deponiert. Im Rundfunksenderwurde für das Mikrofon ein Holzgestell gebaut,auf das sich die Sprecher stützen konnten.Am 10. Dezember hatte man im Vortragssaalder Eremitage den 500. Geburtstagdes usbekischen Dichters und Gelehrten AlischerNawoi gefeiert und den täglichen Alarmignoriert. Im Februar erarbeiteten Architektenim Keller des Gebäudes, dem sogenannten„Bunker Nr. 3“, einen Plan zur Neugestaltungder Stadt. Die Tausende Arten zählendePflanzensamenbank im Institut des GenetikersNikolai Wawilow blieb unberührt.Zu Hause rissen die Menschen die Tapetenvon den Wänden und kochten den anhaftendenKleister heraus. Die seuchenbringendenRatten wurden nicht mehr vergiftet, weil manwusste, dass die Leningrader auch sie aßen,wenn sie sie noch zu fangen bekamen; einzelneExemplare wurden mit für Menschen ungefährlichemRattentyphus infiziert und wiederin ihre Populationen entlassen. Man kenntdie schon im Dezember 1941 entgleisendenSchriftzüge im exakt geführten Tagebuch des16-jährigen Jura Rjabinkin an Stellen, wo erdavon schrieb, wie er zu Hause Brotkrumenstahl und seiner kleinen Schwester die Kinderkarteneidete, auf die es Kekse gab, und wiesehr er leben wollte; seine Mutter konnte kurzdarauf nur sie in den Zug setzen und kamnicht mehr heraus, als er anfuhr – Jura hattenicht mehr gehen, und sie hatte nicht beidetransportieren können. Man weiß auch, dassTanja Sawitschewa, die bis Mai 1942 den Todihrer gesamten Familie protokollierte, bevorsie gefunden wurde, noch nach zwei Jahrenärztlicher Behandlung starb. Im Juni hatte esin Leningrad nur noch 56 standrechtliche Erschießungenwegen Kannibalismus gegeben.Im Februar noch 612.Die Philharmonie war am 9. August hell erleuchtet.Es gab wieder Strom, seit April fuhrendie Straßenbahnen. Gleichzeitig erklangdie Sinfonie im Radio. Es war einer der Tage,die für die Einnahme Leningrads geplant gewesenwaren. Die Artillerie am Stadtrand –der Frontlinie – belegte die Invasoren an diesemTag mit Dauerfeuer. Kein einziges Flugzeugzeigte sich am 9. August 1942 am Himmelüber Leningrad. Auf den Tag genau 33Jahre später ist Schostakowitsch gestorben:Leningrader, Musikwissenschaftler, Komponist,„Formalist“, der nach eigenem Bekundensein Leben lang auf seine Exekution wartete,aber, falls man ihm nur die Hände abhackenwürde, die Feder mit den Zähnen halten wollte,sein Leben lang sowjetischer Patriot, Funktionär,Schachspieler, unbeirrbarer Gentleman.Im September 1906 war er geboren.Hundert Jahre Schostakowitsch. Sto lat.Herr. Was wird Ihnen fehlen, wenn in <strong>Rostock</strong>ein neues Theater gebaut wird? ¬30

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