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Prof. Dr. Wolfgang Welsch Vorlesung: Mensch und Welt ...

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Also suche man keine Sicherheit <strong>und</strong> Beständigkeit. Immer täuscht die Vergänglichkeit der<br />

Erscheinungen unsere Vernunft, nichts kann das Endliche zwischen den beiden Unendlichen<br />

bannen, die es einschließen <strong>und</strong> es fliehen. Hat man das recht begriffen, so wird man sich, glaube<br />

ich, ruhig verhalten <strong>und</strong> jeder in der Lage, wohin ihn die Natur gestellt hat.<br />

Was zählt es, da diese Mitte, die uns zuteil geworden ist, immer gleich weit von den Extremen<br />

entfernt ist, ob ein anderer etwas mehr von den Dingen weiß? Tut er das, so sieht er sie aus etwas<br />

größerer Höhe, aber ist er nicht immer unendlich entfernt von der Grenze, <strong>und</strong> ist die Dauer<br />

unseres Lebens, wenn wir zehn Jahre länger leben, nicht gleichfalls unendlich entfernt von der<br />

Ewigkeit? Im Angesicht dieser Unendlichen sind alle Endlichen gleich, <strong>und</strong> ich sehe keinen<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb unsere Einbildung sich lieber diesem als jenem verbinden sollte. Nur der<br />

Vergleich zwischen uns <strong>und</strong> Endlichem macht uns Kummer.<br />

Würde der <strong>Mensch</strong> damit beginnen, sich selbst zu erforschen, würde er erfahren, wie unfähig er<br />

ist, über sich hinauszugelangen. Wie sollte es möglich sein, daß ein Teil das Ganze kenne? Aber<br />

vielleicht wird er beanspruchen, wenigstens die Teile zu kennen, die ein gemeinsames Maß mit<br />

ihm haben? Aber die Teile der <strong>Welt</strong> stehen alle derart in Zusammenhang, sind so miteinander<br />

verflochten, daß ich es für unmöglich halte, einen ohne den andern <strong>und</strong> ohne das Ganze zu<br />

verstehen. [...]<br />

Das aber, was unsere Unmacht, die Dinge zu begreifen, vollendet, ist, daß sie selbst einfach <strong>und</strong><br />

daß wir aus zwei wesensverschiedenen <strong>und</strong> gegensätzlichen Naturen zusammengesetzt sind: aus<br />

Seele <strong>und</strong> Körper. Denn es ist unmöglich, daß der Teil, der in uns denkt, anders als geistig sei,<br />

<strong>und</strong> wenn man behaupten wollte, wir wären schlechthin körperlich, so würde uns dies noch mehr<br />

vom Verstehen der Dinge entfernen, denn nichts ist unverständlicher als die Aussage, daß die<br />

Materie sich selbst erkenne, es ist uns nicht möglich zu begreifen, wie sie sich selbst erkennen<br />

könnte.<br />

Wären wir also rein stofflich, könnten wir gar nichts erkennen, sind wir aber aus Geist <strong>und</strong> Stoff<br />

zusammengesetzt, so können wir die reinen Dinge, seien sie geistig oder körperlich, nicht<br />

wahrhaft verstehen.<br />

Das ist der Gr<strong>und</strong>, daß fast alle Philosophen die Begriffe der Dinge durcheinanderwerfen <strong>und</strong><br />

entweder von den körperlichen Dingen wie von geistigen oder von geistigen wie von<br />

körperlichen Dingen sprechen. [...]<br />

Statt die Begriffe den reinen Dingen zu entnehmen, färben wir sie mit unsern Eigenschaften, <strong>und</strong><br />

wir prägen allen einfachen Dingen, über die wir nachdenken, unsere zusammengesetzte<br />

Wesenheit auf.<br />

Sollte man dann nicht glauben, wenn man bemerkt, daß wir alles aus Körper <strong>und</strong> Geist<br />

zusammensetzen, diese Mischung sei für uns leicht verständlich? Indessen ist sie das, was wir<br />

am wenigsten verstehen. Der <strong>Mensch</strong> ist sich selbst das rätselhafteste Ding der Natur, denn er<br />

kann nicht begreifen, was Körper <strong>und</strong> noch weniger, was Geist ist <strong>und</strong> am wenigsten von allem,<br />

wie ein Körper mit einem Geist vereint sein könne. Das ist der Gipfel aller Schwierigkeiten <strong>und</strong><br />

indessen ist es unser eigenes Wesen: Modus quo corporibus adhaerent spiritus comprehendi ab<br />

hominibus non potest, et hoc tamen homo est."<br />

Über die Religion <strong>und</strong> über einige andere Gegenstände (Pensées), ed. Wasmuth (Heidelberg: Lambert Schneider 1963), 41-50<br />

[ed. Brunschvicg Nr. 72, ed. Lafuma Nr. 199]

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