6 Jugendbewegte Tatgesinnung (vgl. I/3.2.2.5)
6 Jugendbewegte Tatgesinnung (vgl. I/3.2.2.5)
6 Jugendbewegte Tatgesinnung (vgl. I/3.2.2.5)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Im Jahr des Meissner-Treffens (1913) erscheint keineswegs zufällig das Gedicht des<br />
23-jährigen Expressionisten, Ernst Lotz: "Aufbruch der Jugend": 581<br />
"Also zu neuen Tagen erstarkt wir spannen die Arme<br />
Unbegreiflichen Lachens erschüttert, wie Kraft, die sich staut."<br />
Diese expressionistische Tat drängt nach außen und hinein in die Gesellschaft und<br />
eröffnet damit schon die zweite Entwicklungsstufe des Tat-Begriffs: die gestaltende<br />
(auch schöpferische) Tat. Auf die enge Beziehung zwischen lebensideologischem<br />
Vitalismus und dem Phänomen der Jugendlichkeit wurde in dieser Untersuchung<br />
wiederholt hingewiesen (z.B. Zeitschrift "Leben" umbenannt in "Jugend"). ‘Tatendrang’<br />
oder gar ‘Tatendurst’ (also èlan vital) wurde als Privileg der Jugend<br />
betrachtet, während kontemplative Besinnlichkeit dem gealterten Individuum zugemessen<br />
wurde. Ein "Neutöner"-Kanon, vermutlich aus dem Milieu der Jugend-<br />
Musikbewegung, macht dies augenfällig. Er besteht fast nur aus den Reim-Vokabeln<br />
"jung" und "Schwung" (élan!), die nicht nur mehrfach hintereinander gesungen werden<br />
("jung, jung – Schwung, Schwung"), sondern durch die kanon-typische Überlagerung<br />
vielfältig kumuliert werden, so dass beim Singen eine gebetsähnliche, beschwörende<br />
Atmosphäre entsteht, von der wiederum ‘Begeisterung’ausgehen soll.<br />
Für den eskapistischen Tatbegriff der frühen Jugendbewegung typisch ist allerdings<br />
die ‘Tat-Sache’, dass, von der Tätigkeit des Wanderns abgesehen, weitergehende<br />
gesellschaftlich relevante Taten zunächst weder erwünscht, noch beabsichtigt waren;<br />
derartige Tatenziele stellten sich erst im Lauf der Ideologisierung in Richtung ‘Sachlichkeit’<br />
ein. Ausnahme: die Arbeiter-Jugendbewegung, von der die Älteren-Partei<br />
von deren Gründung an (bald nach der Jahrhundertwende) die gesellschaftsverändernde<br />
politische Tat verlangte, was sich auch in entsprechenden Liedern niederschlug.<br />
Für die bürgerliche Jugendbewegung stellt demgegenüber die ‘Tat’ eine<br />
privilegierte Form der Lebenserkenntnis dar (<strong>vgl</strong>. heute: learning by doing): Nur im<br />
Agens könne man das Geheimnis des eigenen Wesens erfahren – ‘erleben’. Deshalb<br />
macht der von Dilthey eingeführte Begriff "Erlebnis" zuerst in Wandervogel-Kreisen<br />
Karriere. Passiver (paradoxer) und aktiver Tatbegriff bilden zunächst eine ‘organische’<br />
Einheit, die sich im dialektischen Verhältnis von Tod und Wiedergeburt<br />
fortsetzt. Dieser paradoxe kontemplative Aktivismus lässt sich gerade bei solchen<br />
581 in: Die Menschheitsdämmerung, 1920/1988, S. 225<br />
370