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Management für Fortge<strong>sch</strong>rittene Dirk Baecker Auf nach China Es ist ein bekanntes Phänomen, dass das Interesse der Praxis an der Systemtheorie antizykli<strong>sch</strong> zu jenem in der Wissen<strong>sch</strong>aft verläuft. Während man in der Wissen<strong>sch</strong>aft immer wieder in Situationen gerät, in denen man darauf hinweisen muss, dass es neben dem Erklä<strong>ru</strong>ngsprinzip der Kausalität und neben dem Nachweis statisti<strong>sch</strong>er Korrelationen von Daten Phänomene einer chaoti<strong>sch</strong>en Selbstorganisation gibt, denen man allenfalls mit dem Erklä<strong>ru</strong>ngsprinzip der Kommunikation und mit dem Nachweis nichtlinearer Rekursivität beikommt, ist das in der Praxis zwar nicht begrifflich, aber doch sachlich so selbstverständlich, dass man hier eher auf Ungeduld als auf paradigmati<strong>sch</strong>e Einwände stößt. Kein Politiker, Kirchenfürst, Unte<strong>rn</strong>ehmer, Fußballtrainer, Galerist, Intendant, General oder Oberarzt rechnet nicht längst mit einer Vielzahl unabhängiger Variablen, deren vertrackteste Eigen<strong>sch</strong>aft darin besteht, dass sie sich ihre Abhängigkeiten voneinander selber aussuchen. Sie kommunizieren untereinander, wie dies das Bild von den kommunizierenden Röhren so <strong>sch</strong>ön auf den Punkt bringt, ohne dass man eine Chance hätte, das kausal zu o<strong>rd</strong>nen oder statisti<strong>sch</strong> zu vereinheitlichen. Jeder gute Praktiker hat dafür längst ein Gefühl und verbittet sich eine Wissen<strong>sch</strong>aft, die ihm dies ve<strong>rn</strong>ebelt, ebenso wie eine Esoterik, die ihm sein Gefühl in ein Ge<strong>sch</strong>wätz verwandelt. Im Moment, so hat man den Eind<strong>ru</strong>ck, sind die Chinesen am Zug. Während die evidence-based Wissen<strong>sch</strong>aft in ihren double-blinded peerreviewed A-jou<strong>rn</strong>als im Westen bürokrati<strong>sch</strong>e Purzelbäume <strong>sch</strong>lägt, interes- Kolumne siert sich ein Teil der chinesi<strong>sch</strong>en Wissen<strong>sch</strong>aft aus durchaus prakti<strong>sch</strong>en Gründen für die Systemtheorie. Es geht um Bevölke<strong>ru</strong>ngsmigration, Staudammbau, Bewässe<strong>ru</strong>ngsanlagen, Wirt<strong>sch</strong>aftsplanung, urbanes Wachstum und ökologi<strong>sch</strong>e Probleme eines Ausmaßes, das den westlichen Beobachter <strong>sch</strong>windeln lässt. Die Chinesen entdecken das Verhältnis von Mikrodiversität und Selbstorganisation, dem Niklas Luhmann einen seiner letzten Artikel gewidmet hat und das den un<strong>ru</strong>higen Unterbau aller emergenten Phänomene am Beispiel der liberalen Individualisie<strong>ru</strong>ng präzise auf den Punkt bringt, 1 und versuchen herauszufinden, wieviel Un<strong>ru</strong>he erfo<strong>rd</strong>erlich und erträglich ist, um auf welchen Ebenen eine Emergenz zum Tragen zu bringen, die dann auch wieder mit der Planwirt<strong>sch</strong>aft kompatibel ist. Der Durchgriff auf das Individuum wi<strong>rd</strong> aufgegeben, weil man Anlass hat, die Umerziehung nicht mehr auf der G<strong>ru</strong>ppenebene, da war sich alle Welt noch Mitte des 20. Jahrhunderts erstaunlich einig (und Kurt Lewin ihr une<strong>rn</strong>annter Papst), sonde<strong>rn</strong> auf einer kollektiven Ebene, die mal den Namen des Schwarms, das ist die westliche Variante, mal den Namen der Masse, das ist die östliche Variante, trägt. 2 Aber was ist das für eine Masse und aus welchen Elementen besteht sie? Einer der systemi<strong>sch</strong>en Vo<strong>rd</strong>enker an der Akademie der Wissen<strong>sch</strong>aften in Peking, Wenyuan Niu, hat auf diese Frage auf der 1. Inte<strong>rn</strong>ationalen Konferenz für komplexe Wissen<strong>sch</strong>aften in Shanghai im Feb<strong>ru</strong>ar 2009 (die nächste ist für 2011 angekündigt) eine eigenwillige Antwort gegeben. Im An<strong>sch</strong>luss an Hermann Hakens Revue für postheroi<strong>sch</strong>es Management / Heft 7
Synergetik entwickelt er eine »social combustion theory«, die auszurechnen versucht, wieviel Verbrennung (combustion) sich ein System leisten kann und muss, um den entropi<strong>sch</strong>en Tendenzen, denen es unterliegt, einerseits nachzukommen, das ist thermodynami<strong>sch</strong> unvermeidlich, und andererseits gegenzusteue<strong>rn</strong>, um negentropi<strong>sch</strong> auch wieder O<strong>rd</strong>nung aufzubauen. 3 Entropie, so Niu, entsteht aus der Ansammlung von mikrokosmi<strong>sch</strong>en Elementarpartikeln, auch »Individuen« genannt, deren soziale Energie genutzt wi<strong>rd</strong>, indem sie verbraucht wi<strong>rd</strong>. Dabei kann eine »soziale Temperatur« entstehen, deren inhärente Uno<strong>rd</strong>nung die Möglichkeit der Akkumulation von Energie übe<strong>rste</strong>igt. Dann hilft nur, so erfährt man aus einem weiteren Artikel Nius mit einigen seiner Mitarbeiter, 4 rechtzeitig auf eine öffentliche Meinung zu achten, die selbst nichts anderes als Brennmaterial sei, deren Infektionsprozesse jedoch durch Meinungsführer kontrolliert we<strong>rd</strong>en können. Max Weber hatte auf das Ingenium einer chinesi<strong>sch</strong>en Politik, die am Lächeln der Mandarine ablas, ob sich die Gesell<strong>sch</strong>aft im harmoni<strong>sch</strong>en Gleichgewicht befindet oder nicht, bereits hingewiesen. 5 Schon damals war der Konfuzianismus, den man heute als Religion interpretiert, eine Gegenmaßnahme zu jeder Religion, die etwas mit Ekstase, Askese oder auch nur Kontemplation zu tun hatte. Stattdessen ging es um Verwaltung und Erziehung, mit der Pointe, dass die Erziehung im Medium einer durch ständige Prügelei erzeugten Verbieste<strong>ru</strong>ng (meng) stattfand und man sich nur daraus die Entstehung jener »Güte« vo<strong>rste</strong>llen konnte, die ..... Die Chinesen versuchen herauszufinden, wie viel Un<strong>ru</strong>he erfo<strong>rd</strong>erlich und erträglich ist. <strong>sch</strong>ließlich mit allem einverstanden war, was sich die Verwaltung ausdachte, solange die Harmonie des Ganzen, abzulesen am Lächeln der Mandarine, gegeben war. Und die Mandarine, ein typi<strong>sch</strong>er Fall von »Mittelstufendasein« 6 , lächelten nur, wenn weder der D<strong>ru</strong>ck von oben zu groß noch die Unzufriedenheit von unten zu stark war. Wer sind in den un<strong>ru</strong>higen Zeiten der aktuellen Krise im Westen unsere Mandarine, an deren Befinden wir ablesen könnten, wie es um uns steht? Was also wi<strong>rd</strong> in China verbrannt? Und wie wi<strong>rd</strong> das Feuer gebändigt? Gerald Midgley und Jennifer Wilby aus der angelsächsichen Schule des Critical Systems Thinking (C. West Churchman, Peter Checkland, Russell L. Ackoff und andere) haben vor einigen Jahren ein Themenheft der Zeit<strong>sch</strong>rift Systems Practice and Action Research (13. Jahrgang, Heft 1) der Rezeption der Systemtheorie in China gewidmet und festgestellt, dass der Konfuzianismus bereits wesentliche Elemente eines systemi<strong>sch</strong>en Denkens vor allem dann, wenn es prakti<strong>sch</strong>en Ansprüchen genügen soll, enthält. Jifa Gu und Zhichang Zhu vom Institut für Systemwissen<strong>sch</strong>aften der chinesi<strong>sch</strong>en Akademie der Wissen<strong>sch</strong>aften erläute<strong>rn</strong> in diesem Themenheft, dass der Konfuzianismus von exakt jenen Bedingungen der Harmonie in differenzierten Systemen handelt, von denen die Systemtheorie ebenfalls spricht. 7 Diese Bedingungen sind denkbar ansp<strong>ru</strong>chs- voll. Harmonie stellt sich nicht von selber her. Objektive Existenz (wu), subjektive Modellie<strong>ru</strong>ng (shi) und men<strong>sch</strong>liche Beziehungen (ren) müssten auf eine Art und Weise miteinander abgestimmt we<strong>rd</strong>en, die man nur ve<strong>rste</strong>hen kann, wenn man berücksichtigt, dass alle drei Elemente sowohl Ansprüche aneinander stellen als auch Abstand voneinander halten. Deshalb ist die Differenzie<strong>ru</strong>ng (li) der für alles andere ent<strong>sch</strong>eidende Punkt. Taoismus, Buddhismus und 1 Siehe Niklas Luhmann, Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus, in: Soziale Systeme 3, Heft 1 (1997), S. 23-32. 2 Siehe zu beidem: Philip Ball, Critical Mass: How One Thing Leads to Another, Being an Enquiry into the Interplay of Chance and Necessity in the Way that Human Culture, Customs, Institutions, Cooperation and Conflict Arise, London: Arrow Books, 2004. 3 Siehe Wenjuan Niu, Social Combustion Theory: Dynamics of Social System Deterioration, in: Jie Zhou (Hrsg.), Complex Sciences, Bd. 5, Berlin: Springer, 2009, S. 2293-2299. 4 Siehe Yijun Liu, Wenyuan Niu und Jifa Gu, Study on Public Opinion Based on Social Physics, in: Yong Shi et al. (Hrsg.), Cutting- Edge Research Topics on Multiple Criteria Decision Making: 20th Inte<strong>rn</strong>ational Conference, MCDM 2009 Chengdu/Jiuzhaigou, China, June 21-26, 2009, Berlin: Springer, 2009, S. 318-324. 5 Siehe Max Weber, Die Wirt<strong>sch</strong>aftsethik der Weltreligionen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Nachd<strong>ru</strong>ck Tübingen: Mohr, 1988, S. 237-574, hier insbes. S. 430 ff. 6 Mit dem Begriff von Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation [1964], 4. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1995. 7 Siehe Jifa Gu und Zhichang Zhu, Knowing Wuli, Sensing Shili, Caring for Renli: Methodology of the WSR Approach, in: Systems Practice and Action Research 13, Heft 1 (2000), S. 11-20. Kolumne Revue für postheroi<strong>sch</strong>es Management / Heft 7
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