B E R U F S - U N D G E S U N D H E I T S P O L I T I KDie Wendung desbiographischen Verlaufs nachschwerer Erkrankung *Mit jeder schweren Erkrankung tritt uns die grundsätzliche „Unvollendbarkeit undGebrochenheit“ menschlicher Existenz entgegen (Karl Jaspers 1965). Krankheit kanneinen bis dahin gültigen Lebensentwurf in Frage stellen oder sogar zerstören.Krankheit kann aber auch nach Viktor v. Weizsäcker (1955) dem bisherigen biographischenVerlauf eine Wendung geben und eine neue Entwicklung eröffnen. Lassen Siemich dies an einer kurzen Fallgeschichte verdeutlichen, bevor ich dann zu meinemThema komme.Von Ulrich RügerDie Krankengeschichte desjungen G.Ein junger Mann verlässt seine VaterstadtFrankfurt, um in Leipzig Rechtswissenschaftenzu studieren. Hätte er seinenNeigungen folgen dürfen, so wäre er nachGöttingen gegangen, um sich dort demStudium der Altertumswissenschaften zuwidmen. Nach den Wünschen des Vatersjedoch sollte er wie dieser an dessen alterUniversität Jura studieren, um später dieLaufbahn eines höheren Verwaltungsjuristeneinzuschlagen – das ursprünglicheZiel des Vaters, das dieser seinerzeit verfehlthatte.In seiner neuen Leipziger Umgebung fühltesich der junge Mann einsam und vonHeim weh geplagt. Erste Liebessehnsüchtezu der jungen Tochter seiner Wirtsleuteblieben unerfüllt. Zum Studieren kam erkaum. Er zog sich zunehmend zurück undentwickelte eine Vielzahl von Krankheitssymptomen:Verstopfungen, häufigeInfekte, eine Ge schwulst am Halse machteihm zu schaffen, und er litt unter häufigenZahn schmer zen, beständigem Husten,Arbeitsstörungen und hypochondrischenBefürchtungen. Verschiedene medizinischeBehandlungs maßnahmen wurden unternommenund unterschiedliche Expertisenüber seinen Krankheitszustand abgegeben.Sie reichten von einer vermutetensyphilitischen Infektion, dem Verdacht einerTuberkulose bis hin zu einer psychischenErkrankung. Der Patient selbst hattedas Gefühl, dass ihm „das Gehirn verdüstertund die Einge weide paralysiert“ seien.Während dieser Zeit schwankte er zwischenAusgelassen heit und tiefer Verstimmung,die in Selbst mordphantasienmündeten.Am Ende seiner dreijährigen Leipziger Zeitgeriet er wiederum in eine schwere Krise,die schließlich einen physischen Zu sammenbruchauslöste. Er erlitt einen Blutsturz,schwankte mehrere Tage zwischenLeben und Tod und kehrte – wie er vieleJahr zehnte später in seinen Lebenserinnerungenfeststellte – gleichsam als„Schiffbrüchiger“ in seine Vaterstadt zurück.Fast eineinhalb Jahre dauerte esnoch, bis er sich wieder erholt hatte undsich seine Befürchtungen verloren, dieSchwindsucht zu haben.Schließlich konnte er Ostern 1770 zumzweiten Mal sein Vaterhaus verlassen, umdas unterbrochene Studium in Straßburgzu beenden. Die dortigen eineinhalb Jahreerlebte er, wie keine andere Periode seinesLebens, als Neubeginn und widmete sichneben der zwangsläufigen Beschäftigungmit der Juristerei auch der Philosophie, derTheologie, den Naturwissenschaften undder Medizin.* Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vor trags auf der Jahrestagung des Berufsverbandes derFachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (BPM) am 16.11.2012 in BerlinSie werden inzwischen bemerkt haben,um wen es sich handelt: Es ist die Geschichtedes jungen Studenten JohannWolfgang Goethe (vgl. z. B. Boerner, 1964)und bei aller Vorsicht dürfen wir Folgendessicherlich feststellen: Die sehr zwiespältigeAkzeptanz des väterlichenLebens entwurfes – der Sohn sollte für denVater nicht Vollendetes in dessen Entwurferreichen! – ging der Erkrankung voraus.Die Krise nach dem dreijährigen Jurastudium– „zu der ihn keine innereRichtung drängte“ – war zugleich eineChance für die Auseinandersetzung mitseinem bisherigen, vom Vater bestimmtenLebensentwurf. Bei dieser Auseinandersetzungwar ihm sein behandelnder ArztJohann Friedrich Metz Freund und väterlichesVorbild zugleich. Er eröffnete ihm dasInteresse für neue Perspektiven: Für diehistorische Gestalt des Paracelsus sowiefür Medizin und Naturphilosophie.Mit der Aufnahme des Studiums in Straßburgsprengte der junge Goethe den väterlichenHorizont und Entwurf – auchwenn er dann bereits sechs Jahre späterbis zu seinem Lebensende als Verwaltungsjurist in Weimar sein Brot verdienteund damit, so könnten wir es sehen, dieväterliche Linie wieder aufgenommen hat.Er tat dies aber in einer völlig anderenForm! Er hatte seinen eigenen Lebensentwurfgefunden – auch wenn sein späteresLeben nicht frei von Krisen blieb.Diese Krankengeschichte zeigt uns aberauch: Es ist müßig zu erörtern, ob das ungeliebteStudium Goethe krank gemachthat oder seine körperliche ErkrankungKrise und Chance zu einer Neuorientierungwurden – bei der ihm dann sein Arzt behilflichwar. Vielmehr dürfte es sich hierum einen interdependenten Prozess handeln,bei dem weniger ein kausales Erklären,sondern eher ein biographischesVerstehen angezeigt ist.Viktor von Weizsäcker war es, der die biographischeMethode als Zugang zur subjektivenSeite des Patienten in die Medizinin den 20er Jahren des letzten Jahrhundertseingeführt hat und so zum Begründerder anthropologischen Medizin wurde.Vor dem Hintergrund seiner langjährigenklinischen Erfahrung stellte er damals fest:BERLINER ÄRZTE 9/2013 S. 23
B E R U F S - U N D G E S U N D H E I T S P O L I T I KFoto: S. Rudat„Wenn man aber die Einbettung organischerErkrankungen in die äußere und innereLebensgeschichte erkundet, so istman erstaunt, wie oft Krankheit auf demGipfel einer dramatischen Zuspitzung auftritt,wie oft sie eine Katastrophe aufhältoder besiegelt, wie regelmäßig sie dembiographischen Verlauf eine neue Wendunggibt.“ (Gesammelte Schriften, BandVII, S. 380).Unter diesen drei Feststellungen wird inder Psychosomatischen Medizin die drittehäufig vernachlässigt und in der Organmedizinscheint sie eher ein Nebenaspektgeworden zu sein – allenfalls noch berücksichtigtunter der ICD-Diagnose An passungsstörung(F 43.2). Immerhin werdendamit Schwierigkeiten bei der Bewältigungschwerer und chronischer Erkrankungenerfasst und zunehmend auch alsbehandlungsrelevant berücksichtigt.Dagegen bleiben die unmittelbaren psychischenAuswirkungen eines akutenKrankheitsgeschehens oft unerkannt.Für die Organmedizin stehen zu demZeitpunkt oft eher handlungsorientierteAkutmaßnahmen im Vordergrund. Durchdie körperliche Erkrankung ausgelöste psychischeProzesse stoßen allenfalls dannauf Interesse, wenn sie notwendige medizinischeMaßnahmen erschweren.Umgekehrt sind Patienten vielfach nichtin der Lage, sich in einer Akutsituation zuWort zu melden, insbesondere wenn dieVigilanz eingeschränkt ist oder im Verlaufder Erkrankung sehr wechselt. Die im Patientenablaufenden psychischen Prozessewerden dann häufig im Nachhinein vomPatienten selbst als „Durcheinander“ verstandenund von den Behandelnden als„Durchgangssyndrom“ eingeordnet. Die indiesem Stadium stattfindenden innerenProzesse bleiben dabei vielfach unerkannt.Hier können uns wortmächtige Schriftstellerhelfen, für die ihre eigene ErkrankungAnlass zum Schreiben geworden ist.Die Erzählung „Leibhaftig“ von ChristaWolf (2002) und der autobiographischeBericht „Weiter leben“ von Ruth Klüger(1992) ermöglichen uns einen Zugang zuder inneren Welt einer Schwerkrankenbzw. eines Unfallopfers auf dem Weg zurGenesung.Septischer Krankheitsprozessals Ausgangspunkt einesbiographischen NeubeginnsIn der Erzählung „Leibhaftig“ von ChristaWolf (2002) erfahren wir – plastischer alses manche Patienten vermitteln können,in denen aber dieselben Prozesse stattfinden(!)– viel über den kontextuellen Umbaueiner Biographie – ausgelöst durch eineschwere lebensbedrohliche Erkrankung,die die Heldin der Erzählung einer existentiellenKrise aussetzt, die sie in der Endzeitder DDR in einem Zwischenreich vonLeben und Tod erleidet.Rezidivierende septische Fieberzuständemit zwischenzeitlicher normaler Vigilanzstoßen eine Auseinandersetzung mit dereigenen Lebensgeschichte an.In ihrem Bericht wechselt die Autorin zwischender Ich-Form und dem beschreibenden„Sie“, wodurch wir mit in ihre Derealisations- und Depersonalisationszuständehineingezogen werden.In diesem schwierigen Prozess standenihr <strong>Ärzte</strong> und Krankenschwestern – dasSchwesterliche spielte hier eine besondereRolle – zur Seite. Diese erhalten in demregressiven, leicht paranoid getöntenZustand der Patientin deutlich überakzentuierteZuschreibungen, die nicht immerunbedingt objektiv gerecht gewesen seindürften. Bei dieser Entwicklung werdenÄrztinnen/<strong>Ärzte</strong> und Krankenschwesternzu Begleitern, sie werden aber auch zuProjektionsfiguren innerer Repräsentanzenmit rasch wechselnder Bedeutung.Auf dem Weg der Genesung erfährt diePatientin vom Suizid einer ihr lange Zeitnahestehenden Person – man könnte sagenvom Tod ihres Alter Ego – einemRepräsentanten ihres früheren Lebenskontextes.Am Ende verlässt sie die Weltder Klinik als eine andere.Schädel-Hirn-Trauma alsAusgangspunkt einesbiographischen NeubeginnsAuch akute Unfallereignisse geben oftdem biographischen Verlauf eine neueWendung. Oft wird dies auf bleibendeUnfallschäden und damit verbundeneAnpassungsprobleme zurückgeführt.Weniger beachtet werden die innerenProzesse, die sich nach einem solchenEreignis und während der Genesung einesPatienten abspielen. Die amerikanischeGermanistikprofessorin Ruth Klüger schildertdies sehr plastisch in ihrem autobiographischenBericht „Weiter leben – eineJugend“ (1992). Als Gastprofessorin inGöttingen erlitt sie dort 1988 einen schwerenVerkehrsunfall mit Schädelhirntrauma.Nach der Schilderung der Autorin dürftees sich bei zunächst erhaltenem Bewusstseinund dann allmählicher Eintrübung umein subdurales Hämatom gehandelt haben.Ruth Klüger beschreibt den Zustand desspäteren Auftauchens aus der Bewusstlosigkeitbei noch partieller Eintrübungmit noch deutlicher Sprachstörung, insbesondereeiner Wortfindungsstörung sowieeiner Sprach-Interaktionsstörung.Während der längeren Genesungszeitschreibt sie dann ihr Erinnerungsbuch,das vier Jahre nach dem Unfallereignis erscheintund ein Welterfolg geworden ist.Das Buch hat Klüger den „GöttingerFreunden“ gewidmet, die sie bei ihremGenesungsprozess begleitet haben.Die 1931 in Wien geborene Autorin schildertin ihrem Erinnerungsbuch die bis zudem Unfallereignis eingemauerte Erinnerungan ihr Schicksal als heranwachsendesjüdisches Kind in den KonzentrationslagernTheresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen. Ein Jahr nachdem Unfall tauchen Erinnerungsbilder anden Unfall auf, der sich ausgerechnet aufder Göttinger Jüdenstraße ereignet hatte.Der junge Fahrradfahrer „kommt geradeauf mich zu, schwenkt nicht, macht keinenBogen, im letzten Bruchteil einer Sekundespringe ich automatisch nach links, erauch nach links, in dieselbe Richtung, ichmeine, er verfolgt mich, will mich niederfahren,helle Verzweiflung, Licht imDunkel, seine Lampe, Metall wie Scheinwerferüber Stacheldraht …“. Sie wehrtsich in Panik gegen den „Angreifer“, stütztsich deshalb beim Sturz nicht ab und fälltauf den Kopf. Mit dem Bild „Scheinwerferüber Stacheldraht“ aktualisieren sich dieBERLINER ÄRZTE 9/2013 S. 24