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Titel - Berliner Ärzte

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B E R U F S - U N D G E S U N D H E I T S P O L I T I KErinnerungen an eine über vier Jahrzehntezurückliegende Zeit als Verfolgte desNaziregimes. Mit der Rück-Eroberung ihrernarrativen Kohärenz wurde dann, wieRuth Klüger schreibt, die verschütteteEuropäerin in ihr wieder lebendig, die sichhinter der Amerikanerin, die sie gewordenwar, versteckt hatte.Dieser Prozess scheint bereits währendder stationären Akutbehandlung begonnenzu haben, in einem Zustand nochhirnorganisch bedingter Eintrübung, aberschon beginnender, noch inkohärenterbiographischer Erinnerung. „Es war, alshätten Einbrecher alles durcheinandergeworfen,die sorgfältig verpackten altenPapiere aus hinterster Ecke hervorgeholt,sie dann aus Wut, weil sie unbrauchbarund wertlos waren, im Haus verstreut, alleSchubladen aufgerissen, Kleider zerschnitten… und die Schränke sperrangelweitoffen; und uralte Gegenstände, vondenen man glaubt, man hätte sie längstin den Müll geworfen, wieder ans Tageslichtgezerrt. … Nach und nach merktman, dass in dem anscheinend heillosenChaos mehr vom eigenen Ich steckt als inden früheren, scheinbar geordnetenVerhältnissen.“ (S 276) – eine sehr anschaulicheBeschreibung des rückläufigen„Durchgangssyndroms“, aber auch einsehr plastisches Bild für den Verlust desbisherigen Lebenskontextes!Psychische Prozesse in einemexistentiellen GrenzzustandAusgangspunkt und Verlauf der zwei autobiographischen„Krankengeschichten“sind sehr unterschiedlich. Das Gemeinsameist der existentielle Grenzzustand.Dabei geht es nicht um eine äußereBedrohung, sondern um den drohendenVerlust vital notwendiger Körperfunktionen.Dies scheint auf der psychischenEbene zu einer starken Regression von Ich-Funktionen zu führen. Unreife Abwehrmechanismenwerden wirksam undschützen so vor dem kompletten Ich-Verlust. Eine mehr oder weniger starkeparanoische Reaktion scheint in beidenFällen zeitweilig vorgelegen zu habenund erhält – wenn auch auf „primitivem“Niveau – eine basale Beziehung zur Umwelt.Angedeutete Spaltungsvorgängeund Projektionen dürften darüber hinausüber die damit verbundenen aggressivenAffekte vor Selbstaufgabe schützen.Man könnte von einer „Regression imSinne des Überlebens“ sprechen. DieserZustand scheint auch zu einer assoziativenLockerung von Erinnerung zu führen, möglicherweiseauch mit einer Neuvernetzungder entsprechenden Bruchstücke in andererGestalt. Eigentlich längst Gelöschteskommt auf der Festplatte wieder zumVorschein, wie Ruth Klüger es sehr plastischbeschreibt (S. 271). Das Wiederauftauchenaus diesem Zustand erlaubt danneinen Neubeginn.Der heute häufig als obsolet betrachteteBegriff „Durchgangssyndrom“, unter demin diesem Krankheitsstadium beobachtbarenkörperlichen und psychischen Phänomenefrüher zusammengefasst wordensind, hat damit auch eine gewisse metaphorischeBedeutung. Falls die körperlicheErkrankung nicht zum Tode führt, wird ein„Durchgang“ ermöglicht zu einer Wendungdes biographischen Verlaufs imSinne von Viktor v. Weizsäcker.„Regression im Sinne des Überlebens“wird zu „Regression im Sinne des Ichs“ inder Sprache von Michael Balint (1968).Folgerungen für die akuteBehandlungssituation* Auf den sehr lesenswerten Erfahrungsbericht„Herzwechsel“ des Autors kann hier ausPlatzgründen nicht weiter eingegangen werden.Die beiden Fallbeispiele sollten nicht zueiner Idealisierung entsprechenderKrankheitsverläufe verführen. Zu Rechtkennzeichnet der Kunsthistoriker PeterCornelius Claussen das von ihm selbstnach einer Herztransplantation erlebte deliranteZustandsbild als „die Hölle“*. Undnicht selten gehen ungünstige Verläufe ineine (allerdings meist reversible) posttraumatischeBelastungsstörung über.Günstige Präventionsmaßnahmen scheinenhier neben einer gegebenenfalls neuroleptischenMedikation insbesondere folgendezu sein: Die Beziehung zum Patientennicht abreißen lassen, den Patientenimmer wieder über seine Situation informieren,ihn halten und beruhigen sowieeigene Hektik vermeiden. Dazu gehörtauch zu akzeptieren, dass der Patient temporärin zwei Welten lebt und dass diesauch zunächst nicht korrigierbar ist. Einesolche Haltung dürfte am ehesten dazubeitragen, das Risiko eines ungünstigenVerlaufs zu verringern und eine restituioad integrum zu fördern – den Menschennicht nur am Leben, sondern auch imLeben zu halten. Im günstigen Fall kann esdann auch zu einer glücklichen Wendungdes biographischen Verlaufs mit einemNeubeginn kommen.Literaturhinweis:Ulrich Rüger (2009) Krankengeschichteund Lebensgeschichte – die biographischeDimension im Menschenbild der Medizin.Universitätsverlag Göttingen.Zitierte und weiterführende Literatur istdort aufgeführt.Verfasser:Prof. Dr. med. Ulrich RügerMittelbergring 5937085 Göttingen(1986-2007 Direktor der Abteilung Psychosomatikund Psychotherapie an der Medizinischen Fakultätder Georg-August-Universität Göttingen)Zusammenfassung:Schwere körperliche Erkrankungenführen häufig zu einer Wendung imbiographischen Verlauf. Die durcheine akute lebensbedrohlicheErkrankung ausgelösten psychischenProzesse werden allerdings meist nursoweit beachtet, wie sie notwendigemedizinische Maßnahmen erschweren.Ihre Eigen dynamik und derenBedeutung für die spätere Entwicklungbleiben oft unberücksichtigt.Anhand zweier autobiographischerErfahrungsberichte (Sep tischerKrankheitsprozess und Schädel-Hirn-Trauma) werden innerpsychischeProzesse dargestellt, die sich im Verlaufvon Krankheit und Heilungsprozessabspielen. Deren unterschätzteBedeu tung für eine Wendung imbiographischen Verlauf wird hervorgehoben.BERLINER ÄRZTE 9/2013 S. 25

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