13.07.2015 Aufrufe

Titel - Berliner Ärzte

Titel - Berliner Ärzte

Titel - Berliner Ärzte

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

B E R U F S - U N D G E S U N D H E I T S P O L I T I KFoto: S. Rudat„Wenn man aber die Einbettung organischerErkrankungen in die äußere und innereLebensgeschichte erkundet, so istman erstaunt, wie oft Krankheit auf demGipfel einer dramatischen Zuspitzung auftritt,wie oft sie eine Katastrophe aufhältoder besiegelt, wie regelmäßig sie dembiographischen Verlauf eine neue Wendunggibt.“ (Gesammelte Schriften, BandVII, S. 380).Unter diesen drei Feststellungen wird inder Psychosomatischen Medizin die drittehäufig vernachlässigt und in der Organmedizinscheint sie eher ein Nebenaspektgeworden zu sein – allenfalls noch berücksichtigtunter der ICD-Diagnose An passungsstörung(F 43.2). Immerhin werdendamit Schwierigkeiten bei der Bewältigungschwerer und chronischer Erkrankungenerfasst und zunehmend auch alsbehandlungsrelevant berücksichtigt.Dagegen bleiben die unmittelbaren psychischenAuswirkungen eines akutenKrankheitsgeschehens oft unerkannt.Für die Organmedizin stehen zu demZeitpunkt oft eher handlungsorientierteAkutmaßnahmen im Vordergrund. Durchdie körperliche Erkrankung ausgelöste psychischeProzesse stoßen allenfalls dannauf Interesse, wenn sie notwendige medizinischeMaßnahmen erschweren.Umgekehrt sind Patienten vielfach nichtin der Lage, sich in einer Akutsituation zuWort zu melden, insbesondere wenn dieVigilanz eingeschränkt ist oder im Verlaufder Erkrankung sehr wechselt. Die im Patientenablaufenden psychischen Prozessewerden dann häufig im Nachhinein vomPatienten selbst als „Durcheinander“ verstandenund von den Behandelnden als„Durchgangssyndrom“ eingeordnet. Die indiesem Stadium stattfindenden innerenProzesse bleiben dabei vielfach unerkannt.Hier können uns wortmächtige Schriftstellerhelfen, für die ihre eigene ErkrankungAnlass zum Schreiben geworden ist.Die Erzählung „Leibhaftig“ von ChristaWolf (2002) und der autobiographischeBericht „Weiter leben“ von Ruth Klüger(1992) ermöglichen uns einen Zugang zuder inneren Welt einer Schwerkrankenbzw. eines Unfallopfers auf dem Weg zurGenesung.Septischer Krankheitsprozessals Ausgangspunkt einesbiographischen NeubeginnsIn der Erzählung „Leibhaftig“ von ChristaWolf (2002) erfahren wir – plastischer alses manche Patienten vermitteln können,in denen aber dieselben Prozesse stattfinden(!)– viel über den kontextuellen Umbaueiner Biographie – ausgelöst durch eineschwere lebensbedrohliche Erkrankung,die die Heldin der Erzählung einer existentiellenKrise aussetzt, die sie in der Endzeitder DDR in einem Zwischenreich vonLeben und Tod erleidet.Rezidivierende septische Fieberzuständemit zwischenzeitlicher normaler Vigilanzstoßen eine Auseinandersetzung mit dereigenen Lebensgeschichte an.In ihrem Bericht wechselt die Autorin zwischender Ich-Form und dem beschreibenden„Sie“, wodurch wir mit in ihre Derealisations- und Depersonalisationszuständehineingezogen werden.In diesem schwierigen Prozess standenihr <strong>Ärzte</strong> und Krankenschwestern – dasSchwesterliche spielte hier eine besondereRolle – zur Seite. Diese erhalten in demregressiven, leicht paranoid getöntenZustand der Patientin deutlich überakzentuierteZuschreibungen, die nicht immerunbedingt objektiv gerecht gewesen seindürften. Bei dieser Entwicklung werdenÄrztinnen/<strong>Ärzte</strong> und Krankenschwesternzu Begleitern, sie werden aber auch zuProjektionsfiguren innerer Repräsentanzenmit rasch wechselnder Bedeutung.Auf dem Weg der Genesung erfährt diePatientin vom Suizid einer ihr lange Zeitnahestehenden Person – man könnte sagenvom Tod ihres Alter Ego – einemRepräsentanten ihres früheren Lebenskontextes.Am Ende verlässt sie die Weltder Klinik als eine andere.Schädel-Hirn-Trauma alsAusgangspunkt einesbiographischen NeubeginnsAuch akute Unfallereignisse geben oftdem biographischen Verlauf eine neueWendung. Oft wird dies auf bleibendeUnfallschäden und damit verbundeneAnpassungsprobleme zurückgeführt.Weniger beachtet werden die innerenProzesse, die sich nach einem solchenEreignis und während der Genesung einesPatienten abspielen. Die amerikanischeGermanistikprofessorin Ruth Klüger schildertdies sehr plastisch in ihrem autobiographischenBericht „Weiter leben – eineJugend“ (1992). Als Gastprofessorin inGöttingen erlitt sie dort 1988 einen schwerenVerkehrsunfall mit Schädelhirntrauma.Nach der Schilderung der Autorin dürftees sich bei zunächst erhaltenem Bewusstseinund dann allmählicher Eintrübung umein subdurales Hämatom gehandelt haben.Ruth Klüger beschreibt den Zustand desspäteren Auftauchens aus der Bewusstlosigkeitbei noch partieller Eintrübungmit noch deutlicher Sprachstörung, insbesondereeiner Wortfindungsstörung sowieeiner Sprach-Interaktionsstörung.Während der längeren Genesungszeitschreibt sie dann ihr Erinnerungsbuch,das vier Jahre nach dem Unfallereignis erscheintund ein Welterfolg geworden ist.Das Buch hat Klüger den „GöttingerFreunden“ gewidmet, die sie bei ihremGenesungsprozess begleitet haben.Die 1931 in Wien geborene Autorin schildertin ihrem Erinnerungsbuch die bis zudem Unfallereignis eingemauerte Erinnerungan ihr Schicksal als heranwachsendesjüdisches Kind in den KonzentrationslagernTheresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen. Ein Jahr nachdem Unfall tauchen Erinnerungsbilder anden Unfall auf, der sich ausgerechnet aufder Göttinger Jüdenstraße ereignet hatte.Der junge Fahrradfahrer „kommt geradeauf mich zu, schwenkt nicht, macht keinenBogen, im letzten Bruchteil einer Sekundespringe ich automatisch nach links, erauch nach links, in dieselbe Richtung, ichmeine, er verfolgt mich, will mich niederfahren,helle Verzweiflung, Licht imDunkel, seine Lampe, Metall wie Scheinwerferüber Stacheldraht …“. Sie wehrtsich in Panik gegen den „Angreifer“, stütztsich deshalb beim Sturz nicht ab und fälltauf den Kopf. Mit dem Bild „Scheinwerferüber Stacheldraht“ aktualisieren sich dieBERLINER ÄRZTE 9/2013 S. 24

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!