Geschichtlicher Anfang„In der Zeit, nicht im Zeitgeist“Dr. Raban Tilmann, ehemaliger Dompfarrer und Stadtdekan in Frankfurt,im Gespräch über Bruder Wendelin.Dr. Raban Tilmann über die Anfänge und dieWirkung des <strong>Franziskustreff</strong>su Dr. Raban Tilmann: Bevor wir mit dem Interviewbeginnen, möchte zunächst ich als Befragter eineFrage in den Raum stellen: Auf einer tieferen Ebenekönnte man sich fragen, ob Bruder Wendelin mitseiner Obdachloseninitiative überhaupt in diese Gesellschafthineingepasst hat. Es gibt ein heimlichesDogma unseres Zeitgeistes, das heißt: Für solcheMenschen, Obdachlose, interessiert man sich nicht.Die bleiben am Rande liegen, da geht man vorbei,gibt vielleicht noch eine Spende, aber wirkliches Interessedaran, dass das Menschen sind, das hat mannicht. Gerade in Frankfurt ist das Leistungs- und Erfolgsdenkenganz dominant, so dass Leute, die danicht mithalten können – oder es auch nicht wollen,völlig draußen sind. Da ist Bruder Wendelin mit seinemHabit (Kutte), wenn er sich auf der Zeil bewegte,nicht nur ein Symbol gewesen, sondern auch einWiderspruchssignal, bei dem andere vielleicht auchnur im Vorübergehen sagten „Dass es sowas gibt.“Das wurde dann vielleicht exotisch genommen wegender Kutte. Bruder Wendelin hat unserer Leistungsgesellschaftvorgelebt, dass man mit solchenLeuten positiv umgeht.Frankfurt City ist der Kern unserer Finanz- und Leistungsgesellschaft,hier kulminiert dieses Leistungsdenken,das ja immer mit einer Bewertung des Menschenverbunden ist. Wer mithalten kann, ist drinund geschätzt und steigt auf, so weit es eben geht.Wer aber von vornherein nicht mithalten kann odernicht mithalten will – es wird ja bei den Obdachlosenoft übersehen, dass sie dieses Leistungsdenkennicht wollen – dessen Menschenwürde wird entwertet.Das ist eine logische Konsequenz dieser Art, eineLeistungsgesellschaft aufzubauen. Bruder Wendelinmit seiner Kutte in dieser City lebte anders,dachte anders, handelte anders und zeigte die Widersprüchedes Lebens. Erstaunlich ist auch heute,dass die Menschen, die sich Tag für Tag am Liebfrauenklostervorbei zum Römer bewegen, diesen Widerspruchannehmen. Bruder Wendelin war wieauch Pater Amandus mit seinem Bart völlig exotisch,völlig draußen und anders. Diese Andersartigkeitwurde geschätzt. Die Kapuziner sind ein Teil der Gesellschaftin ihrem Widerspruch.Ist das ein Widerspruch auf zwei Ebenen? In dieserGesellschaft passt es nicht in das gewohnte äußereBild, und es ist außerdem ein Kontra zur Konzeptiondieser Gesellschaft?Würde die Leistungsgesellschaft logisch denken,würde sie sich der Obdachlosen, die ja oft sichtbar inden Vorräumen und Eingängen zu Geschäften liegen,annehmen. Die vermeintliche Logik dieser Leistungsgesellschaftführt jedoch nicht nur dazu, dieseMenschen zu entwerten, sondern sie als Störendezu beseitigen. Die frühere Obdachlosenarbeit derStadt sah das Elend und versuchte es dann eher miteiner Symptombehandlung. Bruder Wendelin undPater Amandus sind für mich Symbole für die ganzeStadtkirche Frankfurt, für die heutige Öffentlichkeit,in der die Obdachlosenarbeit seit Jahren lebt.Ist der <strong>Franziskustreff</strong> so etwas wie satt sein undgleichzeitig hungrig werden nach Veränderung,nach sozialer Integration?Alles muss vom Obdachlosen selbst ausgehen. Erwird nicht vereinnahmt, sondern respektiert. Es istähnlich wie die Elisabeth-Straßenambulanz beiFrost. Keiner wird gezwungen. Der Einsatz der Sozialhilfehört da auf, wo es ein Mensch nicht will.14FRANZISKUSTREFF JAHRESBRIEF <strong>2012</strong>.<strong>2013</strong>
Geschichtlicher AnfangWelches Umdenken müsste in der Gesellschaftstattfinden?In Frankfurt ist die Frage nach der Obdachlosenfürsorgebeantwortet. Das können wir mutig sagen. Geradein meiner Zeit als Caritas-Vorsitzender habe icherlebt, wie sehr auf die Obdachlosenarbeit geachtetwurde. Es geht aber nur mit vereinten Kräften und inder Weise, dass dem Betroffenen dabei geholfenwird, sich selbst zu helfen. Hilfe zur Selbsthilfe isthier das Stichwort. Um hier eine Kleinigkeit zu nennen:Ich habe immer wieder darüber gestaunt, dassBruder Wendelin für sein ObdachlosenfrühstückEigenbeiträge verlangt hat. Dahinter steckt ein Hilfekonzeptvor allem im Hinblick auf den Erhalt derSelbstachtung und der Würde dieser Menschen. Sofühlen sie sich nicht zu 100 % ins Schlepptau der Gesellschaftgenommen. Bruder Wendelin hat eineschwierige Frage gültig beantwortet: „Was heißt eigentlichhelfen?“ Da muss der Helfer viel Kreativitätund Phantasie aufbringen.Selbstachtung erhalten”Braucht es zum Helfen nicht immer zuerst einenAuftrag?Die Motivation zum Helfen liegt ja eher auf der Seitedes Helfenden. Für Bruder Wendelin gehörte dasHelfen zu seinem christlichen Glauben dazu. Es warja bei ihm nicht nur das Soziale, sondern der Glaubean sich.Wie können jene Menschen,die nicht den Zugang zu Obdachlosenhaben, zu demWort kommen: „Was ihr denGeringsten unter euch getanhabt ...?“Ein Motiv, das in unsere Gesellschafthineinpasst, könntelauten: „Kann mir ja auchpassieren. So ein Schicksalkann jeden treffen.“ Damit istder Obdachlose nicht ganzdraußen, nicht ganz fremd.Hier kommt dann die Solidaritätins Spiel. Ich helfe jetztmit dem, was mir möglich ist.Die Firmen, die Bruder Wendelin unterstützt haben,die haben nicht nur Überschussware gegeben, sondernauch erstklassige Ware, die regelmäßig abgeholtwurde.Bruder Wendelin hat die Obdachlosenhilfe zurInstitution gemacht. Was hat das auf der menschlichenEbene bedeutet?Seine wahre Motivation steckt im Matthäus-Evangelium25: „Ich war nackt, und du hast mich bekleidet.Ich war obdachlos, und du hast mich aufgesucht.“Das ist die Motivation christlicher Art. BruderWendelin erklärte sich gar nicht, er tat es, unddamit trat er in die Öffentlichkeit der Stadt. Ob jetztandere Menschen in diesem Tun eine VerkündigungFRANZISKUSTREFF JAHRESBRIEF <strong>2012</strong>.<strong>2013</strong>15