13.07.2015 Aufrufe

Dokument 2013 Erwachsen glauben

Dokument 2013 Erwachsen glauben

Dokument 2013 Erwachsen glauben

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>1<strong>Erwachsen</strong> GlaubenEin Glaubenskurs an sieben Abenden


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>2Inhaltsverzeichnis1 Erster Abend: Raus aus den Kinderschuhen des Glaubens ............................................................. 41.1 Einstimmung ............................................................................................................................ 41.2 Impuls ...................................................................................................................................... 51.2.1 Die Geschichte vom Peter Pan, oder: Warum ich nicht Kind bleiben kann .................... 51.2.2 Ein Blick auf den Kindheits<strong>glauben</strong> ................................................................................. 71.2.3 Was löst den Kindheits<strong>glauben</strong> ab? Fleisch! ................................................................... 91.3 Übung .................................................................................................................................... 111.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 121.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 132 Zweiter Abend: Die Säulen meines Glaubens ............................................................................... 142.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 142.2 Impuls .................................................................................................................................... 152.2.1 Beispiel Lateranbasilika: Die Säulenheiligen als Glaubenssäulen ................................. 152.2.2 Die fünf Säulen der eigenen Identität ........................................................................... 162.2.3 Die Säulen meines individuellen Glaubens ................................................................... 182.3 Übung .................................................................................................................................... 202.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 202.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 213 Dritter Abend: Vor der Gottesfrage .............................................................................................. 223.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 223.2 Impuls .................................................................................................................................... 223.2.1 Die Gottesfrage.............................................................................................................. 223.2.2 Einerseits Gottesbilder, andererseits Gotteserfahrungen ............................................ 253.2.3 Stationen im Labyrinth .................................................................................................. 303.3 Übung .................................................................................................................................... 313.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 313.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 324 Vierter Abend: Mich in Gott spiegeln ............................................................................................ 334.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 334.2 Impuls .................................................................................................................................... 344.2.1 Der Spiegel allgemein .................................................................................................... 344.2.2 Der Spiegel in der Spiritualität ....................................................................................... 374.2.3 Gott auf dem Grund meiner Seele ................................................................................ 394.3 Übung .................................................................................................................................... 414.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 42


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>34.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 425 Fünfter Abend: Die Stufen hinaufwachsen ................................................................................... 435.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 435.2 Impuls .................................................................................................................................... 435.2.1 Zielorientiertes Arbeiten an mir: Wo will ich hin? Wie hat Jakob das gemacht? ......... 445.2.2 Fowler und die Spiral Dynamics .................................................................................... 455.2.3 Von spirituellen Treppen und geistlichen Leitern ......................................................... 495.3 Übung .................................................................................................................................... 545.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 545.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 546 Sechster Abend: Das Kind ins Boot holen ..................................................................................... 566.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 566.2 Impuls .................................................................................................................................... 576.2.1 Jesus über die Kinder ..................................................................................................... 576.2.2 Das innere Kind kennen und heilen ............................................................................... 596.2.3 Kindlichkeit als spiritueller Weg .................................................................................... 626.3 Übung .................................................................................................................................... 646.4 Gruppenaustausch ................................................................................................................ 656.5 Schlussbetrachtung ............................................................................................................... 657 Siebter Abend: Gelassenheit, Stärke und Freude ......................................................................... 667.1 Einstimmung .......................................................................................................................... 667.2 Impuls .................................................................................................................................... 667.3 Gebet ..................................................................................................................................... 687.4 Ausklang mit Apero ............................................................................................................... 68


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>41 Erster Abend: Raus aus den Kinderschuhen des Glaubens1.1 EinstimmungVorstellungsrundeWir machen einen Glaubenskurs zum Thema „<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>“. Zum Einstieg in Glaubenskurs wieunser Thema möchte ich Sie einladen, dass Sie sich kurz vorstellen. Wir machen das mit den Bildern,die hier in der Mitte am Boden liegen. Ich möchte Sie also bitten, ein Bild aus der Mitte zu nehmen,das für Sie irgendetwas mit Glauben, Glaubenskurs oder „<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>“ zu tun hat. Wir stellenuns dann kurz vor mit unserem Namen und einem Kommentar, einem Statement, warum ich nundieses eine Bild für mich gewählt habe: „Ich bin N.N., und ich habe dieses Bild gewählt, weil es diesesund jenes ausdrückt, was für mich mit erwachsenem Glauben zu tun hat.“Einführung Glaubenskurs, Glossen zur MethodikWarum machen wir einen Glaubenskurs? Ich habe geraume Zeit behauptet, das sei einfach eineZukunftsfrage der Kirchen, dass Kirche als ein Ort erfahren wird, an dem ich den Glaubenkennenlernen und lernen kann. Lange Zeit waren Glaubenskurse eben etwas, das man in diversenspirituellen oder biblischen Gruppen durchführte oder zu dem man in ein Bildungshaus fuhr, aber dasprägte nicht das, was Christen vor Ort in ihrer Kirche tun. Die Zeit ändert sich momentan. Diekatholische Kirche hat ein Jahr des Glaubens ausgerufen, die evangelische Kirche hat ein gewaltigesProgramm unter dem Stichwort „Glaube am Montag“ ins Leben gerufen. Die evangelische Kirche -zumindest mal in Deutschland - spricht mittlerweile davon, dass Glaubenskurse nicht länger einMauerblümchendasein fristen sollen, sondern das ist Kernaufgabe der Gemeinde. Glaubenskursesollen helfen, sich Gott neu zu öffnen, mögen helfen, bewusster als Christ zu leben und eineErfahrung zu machen, dass es bereichernd ist den Glauben mit anderen zu teilen. In dem Punkt ist eseine Zukunftsfrage, dem Glauben auch und erst recht mit <strong>Erwachsen</strong>en in der Gemeinde der Pfarreieinen zentralen Ort zu geben.Eine Vorbemerkung zur Methodik möchte ich voranstellen: Was der Glaube ist, was er bedeutet, dasmögen wir niederschwellig begreifen. Vielen von uns ist das mehr oder weniger vom Kopf her klar,oder doch wenigstens so halbwegs verschwommen. Wir reden von Gott, vom Glauben, und dasdabei nicht immer alles klar und eindeutig sein kann, das ist hier eine Selbstverständlichkeit. Wirlernen aber am besten, wenn wir nicht nur vom Kopf her begreifen, sondern das auch tun. Darumhaben Gebete hier ihren Platz, denn das eine ist intellektuell zu verstehen, was ein Gebet ist, wie einGebet formuliert ist, wie ein Gebet bei Gott ankommt, das andere aber ist einfach zu beten. Darumhaben auch Lieder ihren Platz oder am Ende wohl auch ein eher geselliger Teil, weil das istgemeinsames Tun. Ich kann viel von kirchlicher Gemeinschaft reden, aber erfahren tue ichGemeinschaft eher, wenn wir etwas zusammen tun wie singen, trinken oder essen.Viele Glaubenskurse setzen auf Vorträge und Austauschrunden. Die Prozentangaben schwanken,aber in etwa geht man davon aus, dass wir nur 20 Prozent aufnehmen von dem, was wir nur hören -Referat oder Impuls. Wenn wir zum Hören auch noch etwas zu Sehen bekommen, dann können wirdiese schlappen 20 Prozent auf fast 50 Prozent anheben. Am besten lernen wir, wenn wir etwasselber sagen können - Austauschrunde - oder wenn wir etwas selber machen können - Übung. Dieswird von der Methodik von Glaubenskursen selten beherzigt. Darum möchte ich für diese Rundeeinmal etwas abändern, und zwar werde ich den Vortrag etwas kürzer halten, dafür aber eine kleineÜbung jeweils anleiten, die das Gehörte etwas mehr erdet. Ich muss irgendetwas tun, zum Beispielkönnte ich eine Abhandlung über einige Gebetshaltungen lesen und hören: über das Knien, über Sinn


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>5und Zweck von dem Stehen beim Gebet, über den Ausdruck der Demut bei der Prostratio, über dieinnere Konzentration beim Lotossitz, etc. Noch besser als ein Vortrag ist aber, wenn ich dies imAustausch selber ausdrücke, und nochmals besser, wenn ich diese Gebetshaltungen direktausprobiere und mit dem Wissen um deren Bedeutungen direkt auch eine Erfahrung verbinden kann.Lassen Sie sich also dort gelegentlich von einer Übung überraschen.Die einzelnen Abende dieses Glaubenskurses folgen also diesem Schema: Erstens gebe ich einImpulsreferat als Input, zweitens machen wir eine Übung, die uns helfen soll das Gehörte vom Kopfher auf die Füsse zu stellen, und drittens lade ich ein zu einer Austauschrunde. Das Ganze wirdgerahmt und immer wieder unterbrochen durch ein Lied oder ein Gebet.Einführung WörterbaumEine Sache möchte ich zu Beginn noch einführen, die uns auch anden kommenden Abenden begleiten wird. Es gibt immer wiedermal eine Frage, einen Kommentar, eine Stimmung, die wichtig ist,um aufgegriffen zu werden. Ich komme hierher mit dem ein oderanderen Anliegen oder einer Frage, auf die ich eine Antworterhoffe.Ich habe hier vorne einige Äste in eine Vase gestellt. Ich teile Ihneneinen kleinen Zettel und Stifte aus. Schreiben Sie bitte auf diesenZettel zunächst einmal nur ein Wort, das Sie in diesen Kurseinbringen wollen. Wir können uns später darin noch steigern,aber bleiben wir zunächst bei einem einzigen Wort. Diese Zettelrollen wir dann ein wenig und befestigen sie wie Blüten an diesenÄsten. Drücken Sie in einem Wort aus, was Sie mitbringen, was Sie momentan bewegt, was Siebeschäftigt.Damit soll deutlich werden, dass wir uns gegenseitig bereichern können. Ich soll und darf hier meineAnliegen einbringen, ich werde gehört. Von Woche zu Woche werde ich eingeladen, hier meine Blüteeinzubringen, damit ich ein Stück von mir selbst hier mit einbringe. Damit wird vermutlich etwasGemeinsames deutlich, dass diese Äste nicht kahl bleiben, wenn wir das Unsrige zusammenlegen.1.2 ImpulsIm folgenden Impuls möchte ich drei Anregungen geben. Zunächstgeht es darum, dass ich erwachsen werden muss, ich kann nichtKind bleiben, auch im Glauben - meist - nicht. Bevor wir uns abervom Kindheits<strong>glauben</strong> verabschieden, möchte ich erst einengenaueren Blick auf das werfen, was wir mit dem<strong>Erwachsen</strong>werden im Glauben eigentlich hinter uns lassen. Dannaber steht die zentrale Frage im Raum, was eigentlich kommt,wenn der Kindheitsglaube geht.1.2.1 Die Geschichte vom Peter Pan, oder: Warum ich nicht Kind bleiben kannVielen von uns ist die Geschichte vom Peter Pan bekannt. Es handelt sich dabei zunächst um einKinderbuch von James Barrie, das am Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde und am Endedes 20. Jahrhunderts vorwiegend über Filme oder Fernsehserien bekannt wurde. Diese Geschichtebeginnt so:


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>6„Alle Kinder, ausser einem, werden erwachsen. Sie erfahren bald, dass sie erwachsen werdenmüssen, und Wendy hat es so erfahren: Eines Tages, als sie zwei Jahre alt war, spielte sie imGarten, und sie pflückte eine Blume und rannte damit zu ihrer Mutter. Ich vermute, dass sieganz bezaubernd ausgesehen hat, denn Mrs. Darling griff sich ans Herz und rief: ‘Ach, warumkannst du nicht immer so bleiben!´ Mehr wurde zwischen ihnen über dieses Thema nichtgesprochen, aber seither wusste Wendy, dass sie erwachsen werden musste. Das weiss manimmer, wenn man erst mal zwei ist. Zwei ist der Anfang vom Ende.“ 1Für das Mädchen Wendy ist <strong>Erwachsen</strong>werden also einerseits eine unabänderliche Notwendigkeit,andererseits eine grosse Traurigkeit: das ist der Anfang vom Ende, das ist die Blume, die einmalgepflückt ihren Zauber verlieren wird, so zu Herzen gehend, dass wir uns an Herz greifen und mit vielWehmut ausrufen, dass wir vielleicht doch gerne Kind geblieben wären. <strong>Erwachsen</strong> zu werden istalso traurig und notwendig zugleich.Aber Wendy wird entführt von dem Jungen Peter Pan nach Niemalsland, wo die Kinder Kinderbleiben können. Die Figur des Peter Pan verkörpert die ganze Unschuld und Sorglosigkeit derKindheit. Peter hat viel Spass dran Abenteuer zu erleben oder doch wenigstens, sich diesevorzustellen und auszudenken. Er kennt weder die Sorge für echte Gefahren noch das Verständnisfür echtes Leid. Er kann sehr egoistische Verhaltensweisen an den Tag legen. Während alle Kinderaber diese Kindheits-Erfahrungswelt des Niemalslandes wieder verlassen müssen, wird Peter Pannicht erwachsen und verändert sich nicht. Bezeichnenderweise heisst es von Peter Pan, dass erimmer noch seine Milchzähne hat. Das <strong>Erwachsen</strong>sein heisst also oft, nicht mehr ganz unschuldig zusein, sondern verantwortlich zu werden, heisst auch, viele Sorgen mit sich herumzutragen, die michAbstand nehmen lassen zu manchen Abenteuern, Sorgen, die ich auch um andere habe.Seine ewige Kindheit hat einen hohen Preis. Peter Pan bewahrt seine Kindlichkeit dadurch, dass eralles Geschehene bald schnell vergisst. Dabei ist es ihm egal, ob es ihm selbst wichtig war. Er vergisstseinen Erzfeind, den Captain Hook, genauso wie die kleine Fee. Er freundet sich mit Wendy an, erlebttolle Abenteuer mit ihr, nur um sie wieder zu vergessen und in seiner Sorglosigkeit weiterleben zukönnen. Als er irgendwann einmal zu Wendy zurückkehrt, ist diese längst kein Kind mehr, sondernhat bereits Kinder. <strong>Erwachsen</strong>werden heisst eben oft auch eine Geschichte fortzusetzen, sich zuerinnern und mich von dem, was ich erlebt habe, prägen zu lassen.Das Niemalsland wird in diesem Kinderbuch beschrieben als eine Gedanken- und Phantasiewelt, inder ich als Kind unterwegs bin:„Ich weiss nicht, ob du je eine Karte vom Kopf eines Menschen gesehen hast. Doktorenzeichnen manchmal Karten von allen möglichen Körperteilen, und deine eigene Karte kannhöchst interessant sein, aber wehe, wenn sie versuchen, die Karte vom Kopf eines Kindeshinzukriegen, von Gedanken, die nicht nur verworren sind, sondern auch die ganze Zeitherumwandern. Das ergibt dann Zickzacklinien wie bei einer Fieberkurve, und die sind wieStrassen auf einer Insel; denn das Niemalsland ist immer mehr oder weniger eine Insel - miterstaunlichen Farbklecksen: mit Korallenriffen, mit verwegen aussehenden Schiffen aufhoher See, mit Wilden auf einsamen Lagerplätzen, mit Gnomen, die meist Schneider sind, mitHöhlen, durch die ein Fluss fliesst, (…). Das wäre eine einfache Karte, wenn es dabei bliebe.Aber da gibt es noch den ersten Schultag, Religion, Väter, den kleinen Teich, Handarbeiten,Mörder, Hinrichtungen, Verben mit dem Dativ, Schokoladenpudding, Hosenträger, bishundert zählen, die Belohnung für den Zahn, den man sich selbst gezogen hat, und soweiter.“ 21 James M. Barrie, Peter Pan, 7.2 James M. Barrie, Peter Pan, 13f.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>7Wenn ich versuche, den Kopf meiner Kindheit im Sinne eines solchen Niemalslandes zu zeichnen,dann werde ich womöglich sehr viel Ähnliches zeichnen. Die Kindheit hat ihre eigene Ordnung, unddie lässt sich nicht so einfach festnageln. Das ist eine wandernde Mischung aus sehr viel Phantasie(Farbkleckse, Schiffe, Gnome, Höhlen, etc.) und sehr vielen verschiedenstenErinnerungsbruchstücken (Dativ, Hosenträger, Zahn, etc.), die sich gerne einer höheren Logik odereiner systematischen Ordnung entziehen.Wir greifen das Niemalsland des Peter Pan auf, weil auch der Kindheitsglaube in meinempersönlichen Niemalsland meiner Kindheit angesiedelt ist. Dort sind auch sehr viel Phantasie und dieverschiedensten Erinnerungsbruchstücke mit dabei. Die ganze Unschuld und Sorglosigkeit findet sichim Kindheits<strong>glauben</strong> ja wieder, genauso wie der kindliche Egoismus und die kindliche Vergesslichkeit.Genauso wie wir aber diesen Kinderkopf in der Kindheit brauchen und viel Freude daran finden,genauso bleiben wir aber nicht diese Kindsköpfe, auch im Religiösen nicht. Das ist manchmal traurig,aber auch notwendig.Aber nicht nur das Verlassen des Niemalslandes ist notwendig, sondern auch diese kindliche Phasedurchlebt und erlebt zu haben, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Ich möchte das an dieser Stellenicht ausführen oder ausüben, aber dennoch als Anregung mit auf den Weg geben: Wie sieht dasNiemalsland meines Kindheits<strong>glauben</strong>s eigentlich aus? Setzen Sie sich getrost daheim mal in einerruhigen Minute hin und schreiben bzw. malen Sie das Niemalsland des eigenen Kindheits<strong>glauben</strong>s.Da sind ganz bestimmte Personen und Ereignisse, die eine Rolle gespielt haben, manches an Traumund Vision, die meine kindliche Naivität mir vorgezeichnet hat, manche Vorstellungen auch von Gott,Erlebnisse mit Gott, die mein Niemalsland ausmachen. Die Kunst dabei ist, diese wichtige Phase zudurchleben, zu würdigen, um sie schliesslich auch wieder zu verlassen. Der Vorteil des <strong>Erwachsen</strong>enwird schliesslich sein, dass er nicht wie Peter Pan alles schnell vergisst, sondern der <strong>Erwachsen</strong>e kannsich erinnern, um dann weiterzugehen.1.2.2 Ein Blick auf den Kindheits<strong>glauben</strong>Wir müssen auch im Glauben erwachsen werden, aber gegenüber den Kindern haben wir als<strong>Erwachsen</strong>e die Fähigkeit, uns zu erinnern. Im Folgenden stelle ich Ihnen einige typische Aussagenvon Kindern vor, wie sie über Gott oder den Himmel nachdenken, und ich kommentiere diese, umverschiedene typische Dinge des Kindheits<strong>glauben</strong>s herauszustellen. Vieles mag vielleicht aus dereigenen Kindheit gar oder von eigenen Kindern her bekannt sein, vieles davon mag uns zumSchmunzeln bringen, aber behalten wir im Hinterkopf, dass wir damit das religiöse Niemalslandeiniger Kinder anschauen, um schliesslich zu sehen, was wir in der Kindheit gelassen haben und oftnicht unsere erwachsene Art und Weise des Glaubens integriert haben. Ich stelle einige Statementsvon Kindern einer zweiten Klasse aus Hamburg vor: 3Mari, 8 Jahre, sagt:„Ich möchte Gott dafür danken, dass meine beste Freundin in Köln wohnt. Wenn ich diebesuche, freue ich mich immer total. Wenn sie hier leben würde, könnte ich mich gar nichtimmer wieder darauf so freuen. Gut ist auch, dass ich einen Schutzengel habe. Als ichgeboren wurde, hat der mir eine Strickleiter zum Himmel geknüpft. Wenn ich mal sterbe,kann ich so einfach raufklettern.“Mari verbindet ihren gewöhnlichen Alltag ganz selbstverständlich mit Gott, der das alles ja möglichmacht und dem ich darum für dies und das danke. Das ist ganz praktisch, konkret: Die Freundinwohnt da, ich freue mich. Diese Aussage von Mari tönt ja erst sehr vernünftig, aber dann bricht die3 Aus: Der Spiegel Wissen, Nr. 2 | <strong>2013</strong>, 130.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>8Phantasie hervor und sie redet davon, dass ihr Schutzengel bei ihrer Geburt eine Strickleiter geknüpfthat. Dieser Schutzengel hat eine echte Aufgabe. Faszinierend ist auch hier, dass Mari keine Angst vordem Tod formuliert, sondern sie hat sich eine Erklärung zurechtgelegt, wie das dann mal sein wird,und das genügt ihr für den Moment.Allaguié, 7 Jahre, sagt:„Gott ist ein bisschen durchsichtig. Und er sieht aus wie eine Mischung aus Weihnachtsmannund Nikolaus.“Für viele Kinder ist es sehr reizvoll, sich Gott irgendwie vorzustellen, weil es ja nicht geht, ihn sichvorzustellen. Etwas, das ich nicht mit den Augen sehen kann, reizt die kindliche Vorstellungskraftungemein. Daher kommt dieser Ausdruck, dass Gott ein bisschen durchsichtig sei. Das ist einzentraler Punkt auch für die heutige Kindertheologie: Die Gottesfrage wird hier sehr deutlich und inaller Klarheit aufgebraucht: Wie kann etwas aussehen, das ich nicht sehen kann? Zudem habenKinder weniger Probleme damit, die Figuren hinzuzunehmen, die sich in unserer Geisteskultur ebenanbieten, und damit sind wir schnell wieder beim bärtigen alten Mann. Wichtig ist dann nicht mehr,was das für eine Figur ist, die dann plötzlich doch mit Augen zu sehen ist, sondern was diese Persontut, nämlich Bonbons und Schokolade verteilen. Gott ist derjenige, der selten vorbeikommt, den ichaufgrund von seinem hohen Wiedererkennungsgrad aber trotzdem erkenne und dem ich daher auchvertraue wie alle anderen auch, und er ist einer, der mich überreich beschenkt.Layla, 7 Jahre, sagt:„Natürlich kommen auch Tiere in den Himmel. Für jede Art von Tier gibt es einen eigenen.Mein toter Hamster lebt jetzt zum Beispiel im Hamsterhimmel. Doof finde ich, dass er mirimmer noch nicht meinen Wunsch erfüllt hat, eine Sternschnuppe zu sehen. Sonst bin ich mitGott zufrieden.“Ähnlich wie die Frage nach der Unsichtbarkeit Gottes ist auch die Thematik rund um Tod und Sterbenetwas Typisches im Kindheits<strong>glauben</strong>. Häufig ist dabei in der Tat ein realer Tod der Auslöser, egal obes sich dabei um den Grossvater, den Nachbarn oder um ein Haustier handelt. Wir erahnen auch,dass Eltern hier schnell haben trösten wollen und vom Hamsterhimmel gesprochen haben. Aber dasKind merkt bereits, dass da etwas nicht richtig gelaufen ist, weil es hat seine Sternschnuppe nichtbekommen. Es zeigt sich hier auch gut diese ichzentrierte Sichtweise in der kindlichenWunscherfüllung: Du bist okay, solange ich bekomme, was ich will. Kinder bringen das manchmalwunderbar deutlich auf den Punkt.Arda, 8 Jahre, sagt:„Ob Gott ein Mädchen ist oder ein Junge, weiss man nicht so genau. Ich glaube ja eher: Er istein Junge. Weil es DER Gott heisst. Aber ich bin mir nicht sicher. Wenn ich ihn treffen würde,würde ich ihn das als Erstes fragen. Einen Engel habe ich schon mal getroffen, im Traum. Erwar gelb und hatte weisse, glänzende Flügel. Wir haben dann zusammen Fussball gespielt.Und weil man mit Flügeln viel schneller ist, hat er mir auch Flügel gezaubert. Das war toll.“Diese Bemerkung zeugt nicht nur von den ersten Grammatiklektionen, sondern auch von diesertypischen Mischung aus Erinnerungsbruchstücken und Phantasie, die ein Niemalsland ausmachen.Das Kind kann hier in der allergrössten Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit von Fussballspielenden Engeln berichten.Piet, 8 Jahre, sagt:„Ich war schon mal im Himmel. Im Traum. Da kam ein Engel, ich bin auf seinen Rückengeklettert, und wir sind einmal über alles drübergeflogen. Der Engel hat mir auch erklärt,dass sich im Himmel keiner streitet, sondern dass man alles verhandelt. Es ist da viel schönerals auf der Erde.“


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>9Wahrscheinlich hat dieser Junge einen <strong>Erwachsen</strong>en gefragt, was denn der Himmel ist, und dieAntwort war, dass der Himmel im Gegensatz zur Erde sehr schön und sehr friedlich ist. Faszinierendist, was der Junge daraus macht: wie mit einer Rakete fliegt er auf dem Rücken des Engels einmal hinund schaut sich alles an.Kinder können manchmal sehr direkt sehr existentielle Fragen zu Gott und Glaube stellen, und<strong>Erwachsen</strong>e sind dann schnell um die Antwort verlegen. Wenn ich bei Kindern aber nachfrage, undsie dann weiter beschreiben und erklären, dann wird schnell deutlich, wie zentral eigentlich dieseKinderfragen oft sind.Halten wir für den Moment zunächst einmal fest, dass der Kinderglaube häufig fünf Grundfragenstellt und meist auch beantwortet. Wenn wir jegliche Phantasie und Magie, jeglicheErinnerungsfetzen und das persönliche Erleben einmal wegnehmen, ergeben sich diese folgendenGrundfragen:• Wer bin ich und wer darf ich sein? - Die Frage nach mir selbst.• Warum musst du sterben? - Die Frage nach dem Sinn des Ganzen.• Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? - Die Frage nach Gott.• Warum soll ich andere gerecht behandeln? - Die Frage nach dem Grund ethischen Handelns• Warum <strong>glauben</strong> manche Kinder an Allah? - Die Frage nach der Religion der anderen.Dem können wir gleichsam fünf elementare Zusagen gegenüberstellen, die religiöse Erziehung undBegleitung bei Kindern anrührt. Das sind gleichsam die Zusprüche, die wir im Kindheits<strong>glauben</strong>oftmals verinnerlichen:• „Du bist besonders wertvoll!“• „Du bist einzigartig!“• „Du bist angenommen!“• „Du bist nicht verloren!“• „Du bist zur Freiheit befreit!“Wir können uns glücklich schätzen, wenn unsere religiöse Erziehung uns diese Grunderfahrungen haterfahrbar machen können, denn damit ist ein Grundvertrauen in das eigene Leben, zumMitmenschen und zu Gut im Werden. Was wir in diesen wenigen Aussagen vor uns haben, könnenwir die „Milch des Glaubens“ nennen.1.2.3 Was löst den Kindheits<strong>glauben</strong> ab? Fleisch!Zur Ablösung vom Kindheits<strong>glauben</strong>Die einen werden gerne belächelt: „Die <strong>glauben</strong> ja immer noch. Die sind immer noch in ihrer Kindheitsteckengeblieben!“ Die anderen lächeln zurück: „Die sind ja immer noch nicht aus demKindheits<strong>glauben</strong> ihrer Kindheit herausgekommen!“Jugendliche und <strong>Erwachsen</strong>e sehen die Welt anders als mit Kinderaugen. Manche scheinen für denKinder<strong>glauben</strong> anzunehmen, dass er geradlinig mit den körperlichen und seelischen Kräften reift. Daskann, ist aber sehr selten. Wenn der Kinder<strong>glauben</strong> nicht mehr trägt, wird er nicht selten abgelegtwie ein zu klein gewordenes Kleidungsstück. Wie rasch wird der Kinderglaube als löchrig wie einLumpen angesehen, weil er keine Antworten auf die neuen Fragen bietet; ein Windhauch genügtschliesslich, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Die Trümmer blieben liegen, Neuesentsteht auf der Baustelle nicht. Daran wird erkennbar, wie wichtig es ist, nicht nur in der


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>10körperlichen und seelischen Entwicklung voranzuschreiten, sondern auch im Glauben zu wachsen.Man spricht deshalb sehr anschaulich von einer "geistlichen Biographie", analog zum Wachstum derLebenserfahrung. Wachstum im Glauben meint, dass sich die Beziehung zu Gott verändern kann undmuss, weil jeder Mensch sich verändert.Paulus an die Korinther: Milch & FleischDer Apostel Paulus musste einmal den Christen in Korinth ins Gewissen reden und sprach daher vonder Milch des Glaubens und vom festen Fleisch. Dabei erinnert er an seinen ersten Besuch bei ihnen,wie er sie anfangs zum Glauben gewann, und er erinnert auch daran, dass sie angesichts ihrergegenwärtigen Probleme scheinbar dort stehengeblieben sind:„Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden wie zu geisterfüllten Menschen, sondern nurwie zu fleischlich gesinnten, wie zu Unmündigen in Christus. Milch gab ich euch zu trinken,nicht feste Speise, denn ihr konntet sie noch nicht vertragen. Ja, auch jetzt könnt ihr’s nochnicht, denn ihr seid noch fleischlich. Wo nämlich Eifersucht und Streit herrschen, seid ihr danicht fleischlich und lebt nach Menschenweise?“ (1 Kor 3,1-5a)Ich möchte anhand dieser Bibelstelle ein paar Punkte nennen, die dazugehören, wo derKindheitsglaube aufhört und ein <strong>Erwachsen</strong>englaube beginnt:• Paulus weiss darum, dass er reden und verkünden muss nach dem jeweiligenFassungsvermögen. Zu einem Kind wie einem erwachsenen Neubekehrten muss er andersreden wie zu denen, die schon länger im Glauben bewandert und im Glauben bereitsgewachsen sind. Das ist eigentlich selbstverständlich. Auch Paulus muss zunächst mit demArbeiten, was eben möglich ist.• Paulus sagt, dass sie die feste Speise des Glaubens noch nicht vertragen konnten. Wir könnendies gut verknüpfen mit den Zusprüchen, die der Kinderglaube uns bietet: Du bist gut, du bisteinmalig, du bist geliebt, du bist frei. Diese Milch muss ich auch erst trinken. Ich muss michauch anfangs erst einmal in einen Glauben eingewöhnen, muss Grund unter die Füssebekommen. Ich muss mich ein wenig erst in einem Glauben beheimaten, vielleicht sogar einwenig verlieben, bevor ich bereit bin für weiteres Wachstum. Wenn ich sage: „Ja, du bistzwar gut, aber die Fähigkeit zur Sünde und zu viel Übel liegt in dir!“, oder „Ja, bist einmaligfür Gott, genauso wie es alle Menschen auf diesem Planeten und zu allen Zeiten sind, das istnicht ganz so besonders.“, oder „Ja, du bist von Gott geliebt, aber du sollst ihn auch liebenund dich anstrengen.“, dann höre ich doch nur noch das, was nach dem „aber“ folgt, undüberhöre, was die Grundaussage davor ist.• Das Problem liegt nun nicht darin, dass der Glaube nur Milch zu bieten hätte. Verhängnisvollist es allerdings, wenn die kirchliche Verkündigung den Versuch unternimmt, denKinder<strong>glauben</strong> für das <strong>Erwachsen</strong>enalter einzufrieren oder aber aus Misstrauen einWachstum im Glauben erst gar nicht gesucht wird. Es schadet dem Glauben keineswegs,wenn in Jugendlichen und <strong>Erwachsen</strong>en Fragen aufbrechen; jede Antwort, die aus einerfruchtbaren Auseinandersetzung mit Gott resultiert, stellt ein Stück gewachsenen Glaubensdar. Entscheidend ist: Gott kann uns wie kein anderer Antworten auf unsere Fragen geben.• Paulus unterscheidet die Weise der Menschen und die Weise Gottes. Als erwachsener Christwende ich einen anderen Massstab an. Nehmen wir als Beispiel das Gebet: Als Kind bete ichund hoffe, dass ich von Gott bekomme, was ich für mich will, zum Beispiel eineSternschnuppe. Das ist ganz menschlich, ganz normal. Dieser Glaube, das Gott so viel fürmich tut, bricht, sobald ein Kind später die Erfahrung macht, dass viele Gebete vielleichtgehört, aber nicht erhört werden, besonders in den Erfahrungen auch von Krankheit undTod. Die Weise des Menschen ist dann zu sagen, dass Gebet nicht funktioniert. Die WeiseGott wäre aber zu sagen, dass Gebet nicht nur meinen Willen kennt, sondern mein Hören aufGottes Willen meint.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>11• Paulus beschimpft die Korinther, sie seien noch Unmündige in Christus. <strong>Erwachsen</strong>werden imGlauben heisst dann aber, dass ich ein Mündiger in Christus sein soll und sein kann. Mündigzu sein heisst aber doch, einen guten Selbststand zu gewinnen, heisst selber für sicheintreten und reden zu können. Dazu gehören aber doch auch eigenes Wissen, eigeneErfahrungen, eigene Entscheidungen, eigene Verantwortung. Das ist das erklärte Ziel desgeistlichen Wachstums.• Paulus will auch Taten sehen. Er sagt ja den Korinthern, sie seien immer noch wie Kinder,wenn es unter ihnen Eifersucht und Streit gibt. Zum erwachsenen Glauben gehört demnach,dass ich gegenüber den negativen menschlichen Gefühlen einen positiven Umgang durchJesus Christus gefunden habe. Und das habe ich auch zu verantworten.Damit haben wir bereits eine ganze Reihe von Punkten zusammengetragen, die uns eine Ahnungdavon geben, was den Kindheits<strong>glauben</strong> ablöst.KonkretBevor wir uns eine kleine Übung gönnen, möchte ich von dem bisher Gesagten einige Punkteableiten, die uns konkret im Glaubensalltag Hinweise sein können.• Oftmals beschäftigt uns die Glaubensentwicklung bei Kindern und erst recht beiJugendlichen, wenn diese nicht in den Gottesdienst (mehr) kommen. Wie nehme ich daswahr, als ob diese ihren Glauben verlieren oder als ob ihr Glaube sich - notwendig -verändert?• In Diskussionen um Kirchenkrise oder Gotteskrise oder Glaubenskrise taucht selten die Frageauf, was denn nun wirklich zum Wort Jesu oder zum Herz der Kirche gehört, oder was nurzeitliches Beiwerk ist. Beispiele aus solchen Debatten tun gut, sie darauf zu prüfen, ob diesnun Glaubensfundament ist oder bloss Beiwerk.• Wenn ich bemerke, dass mein Glaube sich verändert, dann ist das manchmal nicht nur einenotwendige Veränderung, sondern womöglich auch eine, die Gott mir schickt. Vielleichtschickt mir Gott manchmal einen Sturm. Ein reifer Glaube ist eben auch ein krisenfester undgelassener Glaube.1.3 ÜbungZitate-DialogeIch wähle ein bestimmtes Zitate aus der Mitte, die alle irgendwie das <strong>Erwachsen</strong>werden und<strong>Erwachsen</strong>sein kommentieren, mal ganz allgemein, mal sehr religiös. Ich möchte Sie bitten ein Zitatzu nehmen, damit im Raum herumzugehen und sich eine GesprächsparterIn zu suchen, mit der Siesich über Ihr ausgesuchtes Zitat austauschen, und natürlich auch hören, welcher Spruch von derjeweiligen GesprächsparterIn ausgesucht wurde. Halten wir das kurz! Das gibt uns die Möglichkeit,nochmals ein anderes Zitat zu suchen, und mich darüber mit jemand anderem zu unterhalten, mitdem ich vielleicht ohnehin schon längst habe mich austauschen wollen.• „<strong>Erwachsen</strong> sein ist irgendwie cool. Als <strong>Erwachsen</strong>er kann man alles selbst entscheiden. Manmuss nicht mehr fragen, nicht mehr auf seine Eltern hören.“• „Wenn man seine Eltern und viele andere <strong>Erwachsen</strong>e beobachtet, dann scheint ihnen ihrLeben nicht besonders viel Spass zu machen.“• „<strong>Erwachsen</strong> sein, das heisst, arbeiten gehen. Es gibt zwar Urlaub, aber der ist viel kürzer alsdie Ferien. Die Tage sehen eigentlich immer gleich aus: Aufstehen, Frühstück, dann zurArbeit. Nach der Arbeit essen. Dann Hausaufgaben-Kontrolle, dann fernsehen undirgendwann ab ins Bett. Am Wochenende stehen Aufräumen, Waschen und Putzen auf dem


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>12Programm. Manchmal auch ein Ausflug, oder Leute kommen zu Besuch, oder man ist selbstirgendwo eingeladen. So geht das, Jahr für Jahr, immer derselbe Trott.“• „<strong>Erwachsen</strong>e erzählen gern, wie viel Spass sie hatten, als sie noch jung waren. Was sie allesvorhatten, was für verrückte Sachen sie gemacht haben…! Jetzt ist ihr Leben so eingefahren,sie ändern sich nicht mehr, sie haben keine Träume mehr.“• „<strong>Erwachsen</strong>e sind oft genervt. Sie sehen vieles furchtbar eng. Immer wieder gibt´s Streit. Siestreiten nicht nur mit ihren Kindern, sie streiten auch untereinander!“• „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als <strong>Erwachsen</strong>er einer zubleiben.“ Pablo Picasso• "Es kommt fast für jeden Menschen der Augenblick, wo die überkommene und angelernteReligion von ihm abfällt wie der Mörtel von der Wand. Erziehung, Haus und Familie,religiöses Milieu, alles kann nichts helfen, denn es muss so kommen, damit der Mensch erselbst wird". Albert Schweitzer• „Die Kinder, die das Leben spielen, erfassen seine wahren Gesetze und Beziehungen richtigerals die <strong>Erwachsen</strong>en, die nicht fertigbringen, es würdig zu leben, sich aber durch Erfahrung,das heiss: das Fehlschlagen ihrer Pläne, für weiser halten.“ Henry David Thoreau• „Und wenn du etwas bedauerst, bist du genau so töricht wie einer, der bedauert, dass ernicht in einem anderen Zeitalter geboren wurde, oder der noch Kind sein möchte, währender doch schon erwachsen ist, oder der lieber in einem anderen Land lebte, und der dieVerzweiflung, die ihn ständig begleitet, mit solch albernen Träumereien nährt.“ Antoine deSaint-Exupéry• „Zum <strong>Erwachsen</strong>werden gehört die Erkenntnis, dass wir unsere eigene Realität erschaffen.Wir mögen unsere Lebensumstände nicht bestimmen können, doch wir haben die Macht zuentscheiden, wie wir mit ihnen umgehen. Irgendetwas geht immer schief, doch was zählt, ist,wie wir damit klarkommen.“ Gabrielle Roth• „Das Selbst des Menschen ist das Pferd. Das Ich der Reiter. Um seinen Weg im Leben zugehen, muss der Reiter die Signale des Pferdes wahrnehmen und die Zügel fest in der Handführen. Solange das Kind klein ist, hältst du die Zügel in der Hand und nimmst die Signale desKindes wahr, bis es selber stark genug ist, die Zügel in der Hand zu führen und aus eigenerKraft seinen Lebensweg zu vollenden.“ Sigrid Leo• „Habe Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen.“ Immanuel Kant• „Kinder sind Raupen und <strong>Erwachsen</strong>e sind Schmetterlinge. Und kein Schmetterling erinnertsich mehr daran, wie es sich anfühlte, eine Raupe zu sein.“ Erich Kästner• „Mit der Religion ist es wie mit der Kindheit. Man muss darüber hinauswachsen.“ ChristophTürcke• „An einen allweisen Weltschöpfer <strong>glauben</strong>, der sein Gesetz, seinen Sohn oder seinenPropheten zu unser aller Bestem gesandt habe, ist eine grosse Kinderei.“ Christoph Türcke1.4 GruppenaustauschIch möchte einige Hinweise zu der Zeit in den Gruppen geben.• Alles ist freiwillig. Es muss niemand etwas sagen.• Sinn der Gruppe ist der Austausch. Also keine Diskussionen, sondern miteinander teilen, wasuns bewegt. Im Austausch erfahren wir Solidarität, die gegenseitig ermutigt und stützt: „Was,dir geht es auch so?“• Wir geben niemandem Ratschläge: „Du musst es nur so und so machen.» Wir könnenhöchstens sagen: «Ich habe dies so erfahren…“• Was in den Gruppen ausgetauscht wird, tragen wir nicht nach aussen.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>13• Es besteht auch die Möglichkeit in Stille nach draussen zu gehen oder einfach hier im Raumzu bleiben. Sie können gerne auch die anwesenden Seelsorger ansprechen, denn dafür sindwir ja da.Und ich gebe Ihnen ein paar Fragen als Hilfestellung mit auf Ihren Weg in die Austauschrunde:• Vorstellen & Erwartungen: Warum bin ich gekommen? Was hat mich im Vorfeldangesprochen?• Was hat mich heute im Referat angesprochen?• Wie wirkt auf mich der Austausch über verschiedene Facetten von <strong>Erwachsen</strong>werden?• Was ist für mich der Bereich im Glauben, wo ich meine am ehesten erwachsen werden zukönnen, zu müssen, zu wollen?• Welche Fragen bleiben für mich offen?1.5 SchlussbetrachtungIch lade ein zu einer Schlussbetrachtung, die ich dann mit einem Gebet abschliessen werde.Als Schlussbetrachtung möchte ich dazu einladen, dass wir einmal unsere Schuhe betrachten. Wirtragen in der Regel alle Schuhe, die passen. Vielleicht mussten wir uns vor vielen Jahren mal vonKinderschuhen trennen, die wir einen ganzen Sommer über immer getragen haben, aber selten hieltein Kinderschuh länger als ein Jahr, weil die Füsse einfach wachsen. Manchmal war ich traurigdarüber, dass ein liebgewonnen Schuhpaar nicht mehr passte, manchmal überwog die Freude auf einpaar neue, passende neue Schuhe. Dieses Wachstum war notwendig. Heute sind meine Füsse grossund ausgewachsen. Ich bin mit meinen Schuhen mündig geworden: ich habe sie nicht übernommen,ich habe sie mir verdient, dafür gearbeitet, ich habe sie mir ausgesucht und bezahlt. Es kommendiese Wege, nach denen ich meine Schuhe mal wieder etwas putzen und pflegen muss. Auf manchenWegen leidet das Leder, hier und da geht eine Schramme nicht mehr weg, und die Sohle spiegeltmeine rauhen Wege wieder. Manche Schuhe im Schrank erzählen noch heute Geschichten. So ergehtes auch mit unserem Glauben an Gott.Guter Gott,danke, dass wir als Kinder Kinderschuhe trugen und als <strong>Erwachsen</strong>e die Schuhe, die unseren Füssenpassen und uns gefallen. Danke, Gott, dass Du das Wachstum geschenkt hast, dass Du unserWachstum fest in unsere Natur wie in unseren Geist hineingelegt hast.Hilf uns, als geisterfüllte Menschen zu leben, als Mündige in Jesus Christus. Lass uns Deine festeSpeise vertragen, und gib, dass wir alles, was von Dir kommt, auch vertragen und so verdauenkönnen, dass wir wahrlich geistlich wachsen können.Amen.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>142 Zweiter Abend: Die Säulen meines Glaubens2.1 EinstimmungWir überschreiben den heutigen Abend mit dem Titel „Die Säulen meines Glaubens“. Wenn ich dieBibel aufschlage, dann tauchen dort manchmal Drohworte gegen die ungerechten Reichen undMächtigen auf, dass ihre Säulen wanken werden, dass kein Stein auf dem andern bleibt, weil sie ihrMass nicht an Gottes Ordnung genommen haben. Viel öfters spricht die Bibel aber von den Säulen,auf denen Gott die Erde fest gegründet hat. Die Bibel besingt die Schöpfung Gottes, so etwa in Psalm104:Lobe den Herrn, meine Seele! /Herr, mein Gott, wie gross bist du! / Du bist mit Hoheit und Pracht bekleidet.Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid, / du spannst den Himmel aus wie ein Zelt.Du machst dir die Winde zu Boten / und lodernde Feuer zu deinen Dienern.Du hast die Erde auf Pfeiler gegründet; / in alle Ewigkeit wird sie nicht wanken.Einst hat die Urflut sie bedeckt wie ein Kleid, / die Wasser standen über den Bergen.Sie wichen vor deinem Drohen zurück, / sie flohen vor der Stimme deines Donners.Da erhoben sich Berge und senkten sich Täler / an den Ort, den du für sie bestimmt hast.Du lässt die Quellen hervorsprudeln in den Tälern, / sie eilen zwischen den Bergen dahin.Allen Tieren des Feldes spenden sie Trank, / die Wildesel stillen ihren Durst daraus.An den Ufern wohnen die Vögel des Himmels, / aus den Zweigen erklingt ihr Gesang.Du tränkst die Berge aus deinen Kammern, / aus deinen Wolken wird die Erde satt.Die Bäume des Herrn trinken sich satt, / die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat.In ihnen bauen die Vögel ihr Nest, / auf den Zypressen nistet der Storch.Du hast den Mond gemacht als Mass für die Zeiten, / die Sonne weiss, wann sie untergeht.Du sendest Finsternis und es wird Nacht, / dann regen sich alle Tiere des Waldes.Herr, wie zahlreich sind deine Werke! / Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, / die Erde istvoll von deinen Geschöpfen.Nun werden Sie sich wundern, warum ich so lang aus Psalm 104 zitiere, statt mich auf den einen Versmit den Pfeilern oder Säulen zu stürzen. Es gibt immer noch Menschen, die die Bildsprache und dieMelodie dieser Texte gründlich missverstehen, und dann etwa sagen, dieser Text habe sich erledigt,weil weder Astronomie noch Geografie bislang diese Säulen in der Erde hat entdecken können. Wennich ein wenig um meinen einen Vers herumlese, dann fühle ich mich nicht nur sehr stark an dieAufzählungen von Pflanzen und Tieren und Himmelsgestirnen aus dem Schöpfungsbericht der Bibelerinnert, sondern Gott wird gelobt, weil er wie ein Gärtner die Welt pflanzt, weil er für sie sorgt, weiler alles in eine gute Ordnung gebracht hat. Der Schöpfung liegt eine göttliche Weisheit zugrunde. DieWelt ist zahlreich, und das ist ein Zeichen von grosser Fülle. Gott ist hier der vorausschauende,sorgende, übermächtige Vater des ganzen Kosmos. Die Säulen haben in dieser Beschreibung derSchöpfung immer die besondere Funktion, dass sie uns sagen sollen, dass Gott uns Sicherheit undBestand gibt. Zu sagen „Du hast die Erde auf Pfeiler gegründet; in alle Ewigkeit wird sie nichtwanken.“ könnten wir in eher heutiger Ausdrucksweise umformulieren und sagen: „Gott, du hastunsere Welt als Ort von Sicherheit und Beständigkeit begründet und willst dies fortsetzen, bis alles inDir seine letzte Bestimmung erfährt, um in Dir vollends geborgen zu sein.“Bevor ich aber das Thema verfehle, schränken wir ein. Es geht uns um die Säulen meines Glaubens.Aber so wie es in meinem Leben und auch in meinem Glauben viele Werke und zuweilen auch etwasWeisheit gibt, wo manche Pflanzen wachsen und manche Tiere fressen, dann kennt mein Glaube


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>15auch Säulen, auf denen er gegründet ist. Wir wollen also die Frage stellen, was das für Säulen sind,auf dem all das andere in Sicherheit und Beständigkeit ruhen kann.2.2 ImpulsIch möchte als Impuls drei Beispiele von Säulen geben, zunächst die Rede von den Säulenheiligen,dann möchte ich auf Säulen der Identität zu sprechen kommen, und schliesslich einige Beispieleanbieten, was Säulen meines eigenen individuellen Glaubens sein können.2.2.1 Beispiel Lateranbasilika: Die Säulenheiligen als GlaubenssäulenUnter Säulenheiligen verstehen wir in der Regel eingestaubteStatuen, die irgendetwas im Arm halten, aber uns selten dazueinladen, nach oben zu schauen. Ich versuche die Säulenheiligenetwas zu rehabilitieren. Denn Säulenheilige sind Symbole dafür,was diese Säulen tragen: So wie so manche Säule einenKirchenraum trägt, so tragen die Heiligen die Gemeinschaft derGläubigen. Mir ist das erst recht nachgegangen, als ich vor vielenJahren einmal in Rom zu Besuch war und Gelegenheit fand, dieLateranbasilika zu besuchen. Ich erlaube mir also einen kleinen touristischen Exkurs.Die Lateranbasilika wird als „mater et caput“ - Mutter und Haupt aller Kirchen Roms und der Erde,zumal sie eigentlich die Vorgängerin von der Peterskirche, dem Vatikan gewesen ist. Sie wurde um320 von Papst Silvester I dem Heiligen Erlöser geweiht. Im 9 Jahrhundert wurde die Laternabasilikazusätzlich Johannes dem Täufer geweiht, und im 12. Jahrhundert wurde Johannes Evangelistzugefügt, weswegen der komplette Name „Arcibasilica del Santissimo Salvatore e Santi GiovanniBattista ed Evangelista in Laterano“ ist. Hier kommen also eine ganze Reihe von Heiligen zusammen.San Giovanni in Laterano ist eine der vier römischen Papstkirchen (neben Petersdom, Santa MariaMaggiore, San Paolo Fuori Mura) und Sitz des Bischofs von Rom, der gleichzeitig Papst ist.Während der Kaiserzeit von Kaiser Konstantin I. (306 bis 337) liess dieser eine grosse Basilika auf demPlatz des heutigen Lateran an der Aurelianischen Stadtmauer errichten. Der Lateran wurde seitdemzum offiziellen Sitz der Päpste. Im 14 Jahrhundert wurde der Heilige Stuhl nach Avignon verlegt undder Lateran wurde verlassen. Mit der Wahl des Papstes Gregorius XI im Jahr 1378 wurde der HeiligeStuhl nach Rom zurückgeholt. Da sich der Lateran inzwischen in schlechtem Zustand präsentiert,bevorzugten die Päpste ab jetzt den Vatikan als Wohnsitz. Bei dem 315 von Kaiser Konstantingebauten Baptisterium handelt sich um die wohl älteste Taufkapelle, von der noch Reste antikerMosaike und antike Säulen aus ägyptischem Porphyr vorhanden sind. Wir rühren hier also an einaltes Stück der Kirchengeschichte heran.Die Säulen wurden in der Lateranbasilika mit grossen Statuen der zwölf Apostel verziert. Bei meinemdamaligen Besuch ist es mir aufgegangen, was das eigentlich bedeutet, in dieser Glaubenstradition zustehen. Wir stehen in der Tradition der Apostel. Die Symbolik des Lateran will gerade diesausdrücken. Die Apostel sind die Säulen unserer Kirche, unseres Glaubens. Darauf kann ich michverlassen, diese Säulen des Glaubens werden nicht wanken. Sicherlich, die ein oder andere Säule istnicht immer ganz sicher, aber halten wir diesen Gesamteindruck fest. Das ist die allgemeine,objektive Seite des Glaubens.Von dieser Tradition der Apostel als Säulenheiligen rühren übrigens noch heute in den katholischenKirchen die Apostelkerzen her. An den Hochfesten ist es in der Regel üblich, diese zwölf Kerzenanzuzünden, die an die Säulen oder den Aussenmauern der Kirche die Wände zieren. Das ist die


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>16gleiche Aussage: Wir als grosse Gemeinschaft der Gläubigen in aller Welt und in aller Zeit haben eingemeinsames Dach über dem Kopf, und das wird getragen von diesen apostolischen Pfeilern.2.2.2 Die fünf Säulen der eigenen IdentitätIch mache einen starken Themenwechsel. Nachdem wir uns dieSäulen der Kirche angeschaut haben, wechsel ich jetzt hinüber zueinem Modell, was denn die Säulen von mir und meiner Identitätsind. Nachher werde ich versuchen diese beiden Bereichemiteinander zu verknüpfen.Es gibt wohl viele Denkmodelle, wie sich die Identität des Menschen konstruiert. Unter Identitätversteht man die Einzigartigkeit eines Lebewesens, insbesondere eines Menschen. Identität ist dieeinzigartige Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, das wer bin ich, auf wen beziehe ich mich, werbezieht sich auf mich, worüber definiere ich mich und was macht mich aus. Identität ist einlebenslanger Prozess und zeigt sich im Auftreten, Mimik, Gestik, Spreche und körperlichen Stärkenund Schwächen und natürlich im inneren Bild / Selbstbild, Selbstgefühl und Glauben an sich.Identität entwickelt und verändert sich im Lebensverlauf (Identitätsentwicklung, Identitätskrisen).Dabei werden ständig Informationen aus dem Leib-Selbst (Identifikation = "Wie sehe ich michselbst?") und der Umwelt (Identifizierung= "Wie werde ich von meinen Mitmenschen gesehen ?")bewertet und übernommen oder zurückgewiesen. Identität ist daher einerseits ein zeitlichüberdauerndes Konzept, das sich andererseits aber lebenslang in Entwicklung und Veränderungbefindet.Ich möchte Ihnen in groben Zügen das Identitätsmodell von Petzold aus der integrativen Therapievorstellen, denn dort haben wir sie wieder, unsere Säulen. Er benennt fünf Säulen, welche dieIdentität eines Menschen bauen, stützen und tragen - und manchmal eben auch nicht. Dieses Modellkommt zum Teil auch in psychotherapeutischer Arbeit zum Tragen, aber auch in der Medizin, in derSozialarbeit, in der Sozialpädagogik. Damit diese Arbeit ganzheitlich den Menschen in all seinenBereichen bezieht, müssen diese fünf Säulen in die Arbeit am Menschen einbezogen werden.Interventionen alleine in Bezug auf die Säule Leib / Leiblichkeit greifen meist zu kurz (wie natürlichauch einseitiges Intervenieren in anderen Säulen, z.B. jemandem der Schulden hat einfach ohneAbklärung in den anderen Säulen einen Kleinkredit geben... / siehe Beispiele), weil sie dieLebensrealität (und Konflikte, Leiden und Chancen) aus den anderen Säulen nicht beachten undeinbeziehen.• Leib / Leiblichkeit (Säule 1): Mein Leib als Gefäss, das ich bin - in dem ich lebe - meineGesundheit, meine Beweglichkeit, mein Wohlbefinden, meine Sexualität, meineBelastungsfähigkeit, meine Psyche, meine Gefühle, meine Lüste, meine Sehnsüchte,Glaubenssysteme, und Träume ... (Meine medizinische Gesundheit, meine Psyche, meineKondition und Fitness, meine Ausstrahlung, etc.). In diesen Bereich gehört alles, was mitmeinem Leib zu tun hat, "in mir drin" ist, mit seiner Gesundheit, seinem Kranksein, seinerLeistungsfähigkeit, seinem Aussehen, mit der Art und Weise, wie sich der Mensch mag und"in seiner Haut" wohl oder eben auch unwohl fühlt. Auch wie der Mensch von anderen inseiner Leiblichkeit wahrgenommen wird, ob sie ihn anziehend finden oder ablehnen, schönfinden oder hässlich, als gesund und vital oder als krank und gebrechlich erleben, etc.• soziales Netzwerk / soziale Bezüge (Säule 2): Mein soziales Netzwerk, meine Freunde,Familie, Arbeitsplatz, Beziehungen, Ehe, Freizeitgestaltung, Verein ... Persönlichkeit undIdentität werden nachhaltig bestimmt von den sozialen Beziehungen, dem sozialenNetzwerk, also den Menschen, die für jemanden wichtig sind, mit denen er zusammen lebt


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>17und arbeitet, auf die er sich verlassen kann und denen er etwas bedeutet. Aber es gehörenauch Leute zum sozialen Netzwerk, die ihm nicht wohlgesonnen sind, feindseliggegenüberstehen oder auch schaden.• Arbeit und Leistung (Säule 3): Tätigkeiten, Arbeit, mein "Tätig-sein", mit der ich michidentifiziere und mit der ich identifiziert werde (wichtig ist hier auch die allgemein gehalteneFormulierung "Tätig-Sein", denn auch Erwerbslose, RentnerInnen und invalide /berufsunfähige habe sehr wohl Chance, tätig zu sein oder wieder tätig zu werden...). Einweiterer Bereich der Identität kann unter die Überschrift "Arbeit, Leistung, "tätig sein""gestellt werden. Arbeitsleistungen, Arbeitszufriedenheit, Erfolgserlebnisse, Freude an dereigenen Leistung, aber auch entfremdete Arbeit, Arbeitsüberlastung, überfordernde sowieerfüllte oder fehlende Leistungsansprüche bestimmen die Identität nachhaltig.• materielle Sicherheit (Säule 4): Die Identität wird weiterhin beeinflusst von den materiellenSicherheiten, dem Einkommen, Geld, materielles wie Nahrung, Kleidung, Lebensbedarf,Weiterbildungsmöglichkeiten, den Dingen, die jemand besitzt, seiner Wohnung oder Haus,aber auch dem ökologischen Raum, dem er sich zugehörig fühlt, dem Stadtteil in dem er sichbeheimatet fühlt oder wo er ein Fremder ist. Fehlende materielle Sicherheiten belasten dasIdentitätserleben schwer. Geld, materielles wie Nahrung, Kleidung, Lebensbedarf,Weiterbildungsmöglichkeiten.• Werte & Normen (Säule 5): Moral, Ethik, Religion, Liebe, Hoffnungen, Traditionen, Glauben,Sinnfragen (gesellschaftliche und persönliche und ihr Verhältnis zueinander). PersönlichenWerte und Normen, sie sind der fünfte Bereich, welcher meine Persönlichkeit und Identitätträgt. Das, was jemand für richtig hält, von dem er überzeugt ist, wofür er eintritt und vondem er glaubt, dass es auch für andere Menschen wichtig sei. Das können religiöse oderpolitische Überzeugungen sein, die "persönliche Lebensphilosophie", wichtigeGrundprinzipien.Zur Identitätskrise kann es kommen, wenn eine oder mehrere Säulen "wegbrechen" oder sichplötzlich stark verändern und die anderen Säulen die Identität nicht ausreichend stabilisierenkönnen. Einbezug dieser Säulen in die psychotherapeutische Arbeit heisst: Psychotherapie ist nichteinfach Arbeit an der Psyche, sondern ganzheitliche Wegbegleitung unter Berücksichtigung despersönlichen Beziehungskontextes, des Arbeits- und Leistungskontextes / -situation, der materiellenSituation, Wertefragen / -konflikten, etc. Medizin und Psychotherapie, welche diese Säulen nichtbeachten, sind nicht ganzheitlich und greifen in aller Regel zu kurz.Der springende Punkt für uns ist ein doppelter: Einerseits haben wir mit den fünf Säulen der Identitätein Modell vor uns, ein Schema, an dem ich mich einschätzen kann, mit dem ich mich abschätzenkann, wo ich Stärken und Schwächen sehe, andererseits hilft dieses Modell, wenn in diesem Sinn maleine Säule wegbricht, zu sehen, dass meine ganze Person nicht nur auf einer Säule ruht. Wenn icharbeitslos werde, dann habe ich eben keine Arbeit, aber das ist nur ein bestimmter Lebensbereich,und ich werde die Zeit der Arbeitslosigkeit wahrscheinlich besser bewältigen, wenn ich mich auf dieanderen vier Säulen abstützen kann. Wenn ich krank werde und mein Körper einfach nicht mehr sobelastbar ist, dann werden vielleicht andere Säulen wie die Arbeit wichtig, so dass ich in meinerBerufsroutine bleibe, oder auch die Beziehungen werden wichtiger und gleichen aus. Eine reife,erwachsene Identität zu erlangen heisst hier, dass mich gleichsam nichts so schnell umhaut, saloppgesprochen. <strong>Erwachsen</strong> bin ich, wenn ich in meiner Identität sicher bin und einen festen Selbststanderlangt habe.Dieses Modell können wir ein wenig für unsere Zwecke abändern. Wir können das auf die Symbolikder Lateranbasilika beziehen: Jesus Christus hat seine Kirche auf zwölf Säulen gebaut, weil mancheSäulen nicht immer so belastbar waren und das Haus ja trotzdem zum Stehen kommen soll. Die SäulePetrus war nicht immer so ganz verlässlich, manchmal sogar eher zu ängstlich. Die Säule Judas istsogar mal ganz herausgebrochen und musste ersetzt werden. Die Säule Thomas war anfangs etwaszögerlich, hat sich dann aber sehr gut gemacht. Wir können dieses Säulenmodell auch sehr gut


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>18anwenden auf das eigene Glaubensleben: Was sind die Säulen, auf denen mein eigener Glaubeeigentlich ruht? Dem wollen wir weiter nachgehen. Was die Säulenheiligen an allgemeiner kirchlicherIdentität aufrufen, kann ich für mich in meiner individuellen religiösen Identität zu benennenversuchen. Was die Säulen nach Petzold für meine individuelle Identität beschreiben, kann ich aufden Bereich meiner individuellen Religiosität auf festen Grund zu stellen.2.2.3 Die Säulen meines individuellen GlaubensMit Blick auf die Säulen meines individuellen Glaubens möchte ich erst eine Begründung liefern,warum das für meinen Glauben so wichtig ist, dann nenne ich einen Haufen von Beispielen undschliesse mit der Betrachtung einer Bibelstelle.Christopherus und der MönchVielleicht müssen wir uns erst vergewissern, warum wir uns nachden Säulen meines eigenen Glaubens vergewissern wollen. Wirkönnten ja auch im Sinne der Säulenheiligen in der Lateranbasilikasagen, dass die Lehre der Apostel genügt. Aber ich meine, dabeiwird leicht Weg und Ziel verwechselt: ich muss schauen, wo ichjetzt im Moment stehe, und das ist der Beginn meines Weges, undvon dort mag ich mich fragen, wie ich weiterkomme, undwomöglich trägt mich der Glaube dann schliesslich so, wie er dieHeiligen und die Apostel trägt. Ich möchte darum lieber ein Beispiel aufgreifen, dass wir eigentlichalle kennen und wobei wir doch eins vergessen. Wir kennen alle in groben Zügen die Geschichte desheiligen Christopherus, der als grosser starker Mann nur dem Grössten dienen will, und der ersteinem König, dann dem Teufel, schliesslich Gott dienen will. Aber wie ich Gott dienen kann, ist ihm jaerst überhaupt nicht klar.Wenn wir uns die Geschichte vom Christopherus vergegenwärtigen, vergessen wir oft, was derMönch Christopherus rät. Der Mönch gibt ihm nämlich drei Ratschläge, von denen Christopherus erstden dritten annehmen kann. Der erste Rat des Mönches ist, wenn er Gott finden wolle, dann müsseer beten. Christopherus sagt: „Das kann ich nicht.“ Ich habe mich immer gewundert, warum derMönch ihm dazu nicht das ein oder andere sagt, aber Christopherus soll ja einen Weg beginnen mitetwas, das er bereits kann und so soll er seinen Weg zu Gott beginnen. Der zweite Rat des Mönchesist, wenn Christopherus Gott finden und dienen wolle, dann solle er fasten. Christopherus sagt: „Daskann ich nicht.“ Erst dann rät ihm der Mönch, er soll doch den Weg der Nächstenliebe beschreitenund dort am Fluss helfen, weil er dank seiner Grösse so gut durch den Fluss kommt und weil er dankseiner Kraft andere Menschen tragen kann.Das ist die besondere, persönliche, subjektive Seite meines Glaubens. Diese Individualisierung desGlaubens braucht es ja auch. Tue nur das, was du auch kannst! Manchmal tut es wohl gut, das einoder andere auch einmal auszuprobieren! Diese anfängliche Bestandsaufnahme tut ausgesprochengut. Worauf ruht mein Glaube hier und jetzt? Womöglich stelle ich fest, dass weder Beten und damitmeine Beziehung zu Gott mich sonderlich tragen noch Fasten mir etwas helfen. Aber welche Säulentragen mich dann.Dem Christopherus wünschen wir natürlich, dass sowohl Gebet und Fasten ihm auch irgendwann zueiner Säule im Glaubensleben werden. Auch hier gilt: Krisenfest werde ich durch mehrere Säulen! Beiihm hat allerdings dieses eine Fundament seines Glaubens auch schon genügt. Das hat ihn schongenügend getragen. Was aber ist hier die Basis, die ihn nach Gott suchen lässt? Der eigene Stolz aufseine Stärke, seine spirituelle Suche nach dem Grössten, sein Mitgefühl für Menschen in Not? Auch


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>19bei Christopherus werden wir ein religiöses Wachstum ausmachen können, werden mehrere Säulensehen können, die sein Glaubensleben und seinen Weg der Nächstenliebe tragen.Beispiele für individuelle Säulen meines ChristentumsIch möchte nun eine ganz lange Liste anbieten von Sachverhalten, die mein Glaubensleben stützenkönnen:• die Tradition der Apostel• die Bibel• das Gebet• der Gottesdienst• Bilder, wie etwa das Bild vom Zachäus (Kees de Cort) für mich lange Zeit wichtig war• bestimmte Erlebnisse, wie etwa jene Osternacht, in der ich mich entschied die Theologie inAngriff zu nehmen• bestimmte Erinnerungen, wie zum Beispiel die dass ein Gross- oder Urgrossonkel einmalplötzlich gesund wurde, während seine Frau gerade wegen diesem Anliegen in einerWallfahrtskirche für ihn betete - das prägt Generationen!• Gott• Jesus Christus• Papst• Pilgern, zum Beispiel auf dem JakobswegBeachten wir auch, dass es manchmal Säulen gibt, die eigentlich tragen sollten, aber nichts aushalten(u.a. viele Enttäuschungen über die Kirche mit ihren Missbrauchsskandalen oder der Geldwäsche derVatikanbank). Dann ist das nach wie vor meine Säule für meinen Glauben, aber leider trägt sie imMoment nicht, und dann muss ich sehen, dass mein Gewicht trotzdem getragen wird.Das Haus auf dem FelsenIch habe jetzt eine Vielzahl von Beispielen genannt, was für mich persönlich zu den Säulen meinesindividuellen, religiösen Glaubens gehören kann. In der Bibel hören wir von Säulen eigentlich nur,wenn es heisst, Gott habe die Erde auf Säulen gestellt und ihr somit einen festen Grund gegeben,dass die Erde nicht wankt. Jesus hingegen benutzt weniger die Säulen, aber wohl das Fundament, aufdem Haus steht oder die Pflanze, aus der Gutes hervorgeht:„Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte hervorbringt, noch einen schlechtenBaum, der gute Früchte hervorbringt. Jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: Von denDisteln pflückt man keine Feigen und vom Dornstrauch erntet man keine Trauben. Ein guterMensch bringt Gutes hervor, weil in seinem Herzen Gutes ist; und ein böser Mensch bringtBöses hervor, weil in seinem Herzen Böses ist. Wovon das Herz voll ist, davon spricht derMund. Was sagt ihr zu mir: Herr! Herr!, und tut nicht, was ich sage?Ich will euch zeigen, wem ein Mensch gleicht, der zu mir kommt und meine Worte hört unddanach handelt. Er ist wie ein Mann, der ein Haus baute und dabei die Erde tief aushob unddas Fundament auf einen Felsen stellte. Als nun ein Hochwasser kam und die Flutwelle gegendas Haus prallte, konnte sie es nicht erschüttern, weil es gut gebaut war. Wer aber hört undnicht danach handelt, ist wie ein Mann, der sein Haus ohne Fundament auf die Erde baute.Die Flutwelle prallte dagegen, das Haus stürzte sofort in sich zusammen und wurde völligzerstört.“ (Lk 6,43-49)Ich möchte anhand dieser Bibelstelle ein paar Punkte nennen, die dazugehören, wenn ich so sehr imGlauben wachsen möchte, dass ich auf guter und reifer Basis dastehe: Wie komme ich dahin,meinem Glauben ein erwachsenes Fundament zu geben?


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>20• Wenn ich mir diese Bibelstelle anschaue auf den ersten Blick und mir die Frage stelle, wie ichein festes Fundament für meinen Glauben bekomme, dann lautet die erste klare Antwort: Ichtue einfach das, was Jesus sagt. Ich halte mich an sein Wort. Dieser Eindruck ist besondersstark, wenn wir das Bild vom Haus auf dem Felsen für sich einmal nehmen.• Wenn wir diese Bibelstelle in ihrem Kontext belassen, dann geht es plötzlich nicht mehr blossdarum zu tun, was Jesus eben sagt, sondern auch darum, wovon mein Herz voll ist. Danngeht es nicht länger, dass ich unter dem Eindruck, ein Wort Jesu umzusetzen, irgendetwastue und damit aktivistisch losagiere, sondern das Hören auf Jesu Wort meint hieroffensichtlich auch eine Herzensbildung. Es braucht dieses Fundament in meinem Inneren,im Kern meiner Persönlichkeit, und daraus kann ich dann handeln. Wir könnten nun sagen,gut, dann haben wir gleichsam ja zwei Fundamente, zwei Säule, einmal die Worte Jesu, dannaber auch das eigene Herz. Aber gerade diese Trennung zieht dieser Text Jesu eben nicht.Das Wort, das Jesus spricht, ist eben das überfliessende Herz.• Die Aussagerichtung dieses Textes will allerdings weniger die Fundamente benennen alssagen, dass das Innere wie das Äussere eben zusammengehören, dass Herz und Handeln miteiner Sprache sprechen müssen, sonst kann nichts Gutes dabei herauskommen. Fundamentoder Säule werden eben gesetzt, damit ich darauf sicher aufbauen kann. Mit Blick auf denGlauben frage ich mich dann also auch, was ist für mich Grundlage und was ist der Bauobendrüber? Ist zum Beispiel das Almosengeben eine Säule meines Glaubens, oder eheretwas, das ich aufgrund einer guten Grundlage wie zum Beispiel dem Wert der Nächstenliebetue?• Schliesslich spricht der Text Jesu auch von Hochwasser und Flutwelle. Wir spüren häufig ebenerst richtig, was uns eine gute, feste Grundlage gibt, wenn der Sturm auch mal ordentlich anden Grundfesten rüttelt und manches Angeklebte herunterfällt. Wenn ich also für mich dieFrage nach den Grundsäulen meines Glaubens stelle, dann sind die Erlebnisse, wo meinGlaube mal so richtig durchgerüttelt wurde, ein starker Hinweis.Konkret• Säulenheilige: Wo schaue ich hinauf? Wo will ich in?• Meine religiöse Identität: Werte, aber auch Inhalt, Praxis, Gemeinschaft.• Nicht nur Säulen und Fundament, sondern was wird dort gebaut, und vor allem: wer baut?2.3 ÜbungIch möchte dazu einladen, dass sich jeder ein Blatt als Unterlageund ein paar Einheiten Knete/Ton nimmt. Knete Deinepersönlichen Glaubenssäulen. Eine wichtige Säule kannst Duvielleicht besonders dick und gross gestalten, eine Säule, die inDeinem Glaubensleben momentan etwas wächst, vielleicht alsPflanze gestalten.2.4 GruppenaustauschNacheinander ziehen wir die Säulenensembles in die Mitte, und ohne Vorbemerkung sammeln wirEindrücke, d.h. es soll eben nicht vorher gesagt werden, diese Säule bedeutet dies oder das, sonderndie Rückmeldungen sollen die Gesamteindrücke formulieren. Zum Abschluss kann man dannaufschlüsseln, was man sich jeweils dabei gedacht hat.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>212.5 SchlussbetrachtungIch möchte als Schlussbetrachtung noch einmal auf Psalm 104 zu sprechen kommen. Ich lese denText noch einmal vor, und denken wir dabei nicht an die Erschaffung der Welt, an Gottes schöneSchöpfung, sondern denken wir an den je eigenen Glauben: Dort gibt es nicht nur die Säulen, aufdenen alles ruht, sondern gewinnen wir auch den Blick auf all das, was getragen wird und Fruchtbringt.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>223 Dritter Abend: Vor der Gottesfrage3.1 EinstimmungIch werfe bereits einen kleinen Blick zurück. Wir haben gehört über die Notwendigkeit undTraurigkeit, den Kindheits<strong>glauben</strong> zu verabschieden und über verschiedene Bedeutungen, die fürmich ein erwachsener Glaube haben kann. In einem zweiten Schritt haben wir uns den Säulen meineseigenen Glaubens zugewandt. Uns mag es in dieser Runde erfreut und überrascht haben, wieunterschiedlich das von einem zum anderen ausgesehen hat, aber auch wie manche Dinge immerwieder kommen. Da tauchen vielleicht nicht die Säulenheiligen und die Apostel in erster Linie auf,aber doch so zentrale Bereiche unserer Glaubenspraxis wie Gebet und Gottesdienst, Gottes- undNächstenliebe. Ein gesunder, fester Selbststand im eigenen Glauben will gut abgestützt sein. EineKenntnis der Säulen, auf denen mein persönlicher Glaube ruht, macht mich im Glauben wetterfestund modeunabhängig. Ich werde sicher und gelassen. Das ist ein Blick zunächst auf meinen Glauben.Mit dem heutigen Abend ändern wir die Blickrichtung und werfen unseren Blick auf Gott. Ein Pfarreraus Eisingen, Ralf Krust, hat einmal gesagt: „Glauben heisst, von mir wegschauen und auf Gottschauen und ihn ernst nehmen. Dieser Blick- und Gesinnungswandel hilft mir dabei, dass ich Gottund sein Wirken erkenne.“ Diesen Perspektivenwechsel wollen wir heute im Vergleich zum vorigenAbend vollziehen. Welchen Bezug habe ich als <strong>Erwachsen</strong>er zu Gott? Ich darf daran erinnern, dass wirbereits einen Blick auf den Kindheits<strong>glauben</strong> geworfen haben. Wir haben bereits gesehen, wievertrauensvoll, wie herzlich, wie phantasievoll und auch wie naiv wir als Kinder uns Gott vorstellen.Wir wissen auch darum, wie das Bild, das wir als Kinder uns von Gott gemacht haben, sich durch das<strong>Erwachsen</strong>werden stark verändern kann, wenn es sich nicht gar auflöst. Wo stehe ich also als<strong>Erwachsen</strong>er zu Gott? Wie stehe ich da gegenüber Gott? Darum geht es uns heute.3.2 ImpulsEs geht uns heute Abend um Gott. Wir fragen nach Gott. Wir suchen ihn. Das ist wohl unsere zentraleFrage, nichts ist so wichtig in meinem Glauben wie Gott. Wir mögen in unserer religiösen Praxis dieseFrage nicht immer in unseren Gesprächen, in unserem Reden so ganz ins Zentrum stellen. Aber ichvermute wohl richtig, wenn diese grundlegende Frage nach Gott in unserem Denken und Meinen, inunseren Gefühlen und Intuitionen zutiefst tief geht. Um unser Fragen und Suchen ein weniganzufeuern möchte ich zunächst auf die Gottesfrage selbst eingehen, dann von dieser Kopfarbeiteher dahin kommen, wie uns die Gottesbilder und Gotteserfahrungen prägen, um schliesslich auf daszu kommen, was bereits vor uns liegt: das Labyrinth.3.2.1 Die GottesfrageIch spreche zunächst den Kopf an und stelle nun drei Texte von berühmten Leuten vor, die unsImpulse geben, über Gott nachzudenken.Der andere Gott bei Tolstoi„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist unddass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht allen so.Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>23Wenn du nicht mehr an Gott glaubst, an den du früher glaubtest, so rührt das daher, dass indeinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich bemühen, besser zu begreifen, wasdu Gott nennst.Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott zu <strong>glauben</strong> aufhört, so heißt das nicht, dass eskeinen Gott gibt, sondern nur, dass er nicht aus Holz ist.“Gott ist anders wie ich gedacht habe und erst recht, wie ich als Kind Gott gedacht habe, aber nur weiler anders ist, heisst das nicht, dass er nicht ist. Denke ich Gott anders, immer wieder anders, werdeich womöglich irgendwann ins Schwarze treffen.Tolstoi bleibt hier sehr skeptisch gegenüber dem Atheismus. Viele berühmte Atheisten waren jaeinmal gut gläubig, und haben irgendwann im Laufe ihres Lebens eine Enttäuschung an Gott erlebt,und dann haben sie das Projekt der Gottessuche beendet und allgemein für nichtig erklärt. Das istsehr gut bei den französischen Existentialisten zu beobachten. Sartre bekommt einen Gottvorgestellt, der eher wie ein grosser Chef agiert, der belohnt und bestraft, und wir sind die Masse derArbeiter, denen er gelegentlich auf die Schulter klopft, und diesen Gott stellt Sartre getrost zur Seite.Camus vertieft sich so stark in die Absurdität des menschlichen Lebens, dass er darin keinen Sinn undkeine Bedeutung und somit auch erst recht keinen Gott erkennen kann, und darum muss er sich mitdem schönen Leben an sich begnügen, nicht weil es Gott aber nicht gibt, sondern weil er sich einenGott im Absurden nicht denken kann. Simone de Beauvoir wollte einen Gott nicht wollen, der ihrjede irdische Freude nimmt, und wir fragen uns heute mit Recht, warum manch schlechterReligionslehrer oder Pfarrer so gute Atheisten hat hervorbringen können. Karl Rahner sagt einmallapidar, dass es - Gott sei Dank - den Gott, den viele Atheisten ablehnen, nicht gibt.Tolstoi sagt es so schön, dass mit manchen Gottesvorstellungen, mit manchem Gottes<strong>glauben</strong> etwasverkehrt sein kann. Im Sinne einer gesunden Fehlerkultur sind das Chancen, besser und tiefer nachGott zu fragen. <strong>Erwachsen</strong> sein im Glauben heisst für uns, die Gottesfrage nicht mit dem Ausgang derKindheit zu beenden, sondern die Aufgabe, mich mehr zu bemühen, besser zu begreifen, was ichGott nenne. Tolstoi sagt uns also, die Flinte der Gottesfrage nicht zu früh ins Korn zu werfen.Der dunkle Gott bei RilkeDie Gottesfrage taucht immer wieder unter anderen Vorzeichen in Kunst und Musik, Literatur undeben auch der Lyrik auf. Dort ist die Frage nach Gott nie zu den Akten gelegt worden. Wie vorsichtigund wie anders sich dort die Gottesfrage stellt, möchte ich an dem Dichter Rainer Maria Rilkedeutlich machen:"Ich habe viele Brüder in SutanenIm Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen,und träume oft von jungen Tizianen,durch die der Gott in Gluten geht.Doch wie ich mich auch in mich selber neige:Mein Gott ist dunkel und wie ein GewebeVon hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweigetief unten ruhn und nur im Winde winken."Für Rilke ist Gott ein dunkler Gott. Wir lassen Gott los, wenn es um uns dunkel wird, aber geradedann dämmern Gottes kommende Konturen. Gott ist für Rilke ein dunkles Netz, in dem sich unsereGefühle verfangen, ein Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, ein Lied, das wir mit jedem


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>24Schweigen sangen. Gott ist hier nicht der Gott des hellen Tages, sondern derjenige, mit dem ichschweigend durch die Nacht gehe. Gott ist der Schatz, den ich in tiefen Nächten auszugraben michbemühe.<strong>Erwachsen</strong> sein im Glauben heisst auch, Gott in den Dunkelheiten zu erahnen. Die Dichter undbesonders Rilke weisen oft darauf hin, dass Gott mir nahe kommen mag, wenn ich auf mich selbstzurückgeworfen bin, und dass Gott mir oftmals verworren und obskur und tief versteckt vorkommenwird. Rilke sagt uns also, dass Gott weniger der ist, den wir uns vorstellen, sondern oftmals eher dasdunkle, wärmende Wurzelwerk, in dem die Tiefe meiner Seele ihre Nahrung bekommt.Der hypothetisch ausgeklammerte Gott bei BenediktWer heute auf die Gottesfrage eingeht, kommt eigentlich nicht darum herum, auf Papst Benedikteinzugehen, weil er wohl wie kein anderer in unserer Zeit die Wichtigkeit und die Bedeutung derGottesfrage vorangestellt hat. Und nochmals anders als Tolstoi und die Dichter hat er die Gottesfrageim Diskurs der Wissenschaften und auf dem Hof der Vernunft gestellt:„Und Gott? Die Frage nach ihm erscheint nie dringend. Unsere Zeit ist schon angefüllt. Aberdie Dinge gehen noch tiefer. Hat Gott eigentlich Platz in unserem Denken? Die Methodenunseres Denkens sind so angelegt, dass es ihn eigentlich nicht geben darf. Auch wenn eranzuklopfen scheint an die Tür unseres Denkens, muss er weg-erklärt werden. Das Denkenmuss, um als ernstlich zu gelten, so angelegt werden, dass die ‚Hypothese Gott‘ überflüssigwird. Es gibt keinen Platz für ihn. Auch in unserem Fühlen und Wollen ist kein Raum für ihnda. Wir wollen uns selbst. Wir wollen das Handgreifliche, das fassbare Glück, den Erfolgunserer eigenen Pläne und Absichten. Wir sind mit uns selbst vollgestellt, so dass kein Raumfür Gott bleibt. Und deshalb gibt es auch keinen Raum für die anderen, für die Kinder, für dieArmen und Fremden.“ 4Wir haben bei der Gottesfrage in unserer Gegenwart also einRaumproblem. Der Raum wird hier umrissen als ein Raum unseresDenkens, aber auch unseres Fühlens, ein Raum unseres Wollensund unserer Zeit. Verschiedene Dinge stellen uns diesen Raum vollund beanspruchen je ihren Platz:• Da ist die Suche nach unserem Glück, und erst recht, wenn nicht Gott der Schmid meinesGlückes sein kann oder sein soll, dann erscheint uns das Glück oft machbarer, weil ich selbstdafür Sorge trage, aber es erscheint mir auch als eine Art von Lebenssinn, als Lebenszielselbst.• Ich habe Pläne, ich will etwas erreichen in der Zukunft. Ich mache mir Vorstellungen, wie esmal werden soll, einige Pläne gestalte und entwickle ich, andere verwerfe ich wieder, weil dieRessourcen nicht ausreichen oder der Geschmack sich ändert.• Erfolg ist in unseren Tagen oft ein Wert an sich. Das spiegelt sich nicht nur in unserenBestrebungen wieder, sondern oft auch in unseren Bewertungen.• Absichten hegen wir und pflegen wir, mal weniger bewusst, mal sehr deutlich undausgesprochen. Ich habe in meinem Handeln, aber auch in meinem Denken oft bestimmteIntentionen, wo ich den Weg nach dem ausgewählten Ziel gestalte und entsprechendstrategisch vorgehe. Wenn ich die Absicht habe, durch meinen Besitz glücklich zu werden,dann habe ich wenig Platz für manche Absichten, die Jesus ausspricht.• Handgreifliches ist das, was ich mit der Hand ergreifen kann, was ich in der Hand haltenkann. Wir reagieren ja schnell so, dass wir sagen, etwas hätte weder Hand noch Fuss, wennich etwas nicht sofort verstehe, wenn etwas zu versponnen oder verworren daherkommt.4 Predigt von Papst Benedikt XVI. am 24. Dezember 2012, Christmette.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>25Wenn eine Idee nicht sinnlich zu erfassen ist, dann ist das eine schlechte Idee. Wo derpraktische Nutzen nicht auf der Hand liegt, gibt es scheinbar keinen. Wir lieben dasHandgreifliche, das Offensichtliche, das Einfache.• Mit den Methoden kommen wir in diesem Raum zu den Methoden der Wissenschaft, zu denMethoden unseres menschlichen Denkens, zu den Werkzeugen der Vernunft. Und geradevon dieser Zeit kommt es heutzutage oftmals zu etwas, was wir das „Parkplatzverbot fürGottesfragen“ nennen können: Manche Methode sagen, das Gott hier kein Thema ist undkeins sein soll. Gerade in diesem Punkt legt Papst Benedikt den Finger in die Wunde: DieHypothese Gott mag ja steil, verworren und schwierig sein, aber darf aus wissenschaftlichenGründen kein Grund sein, diese nicht zu stellen. Sonst würde sich die Wissenschaft ja auchselbst widersprechen, wenn nicht sein kann, was nicht sein darf.• Und Papst Benedikt warnt hier auch: Weil wir dieses Raumproblem haben, vergessen wir dieHilfsbedürftigen, und unterschwellig müssen wir uns fragen lassen, wie gut wir unserenEgoismus organisiert haben: „Wir wollen uns selbst.“Wenn das nun unsere Situation ist, dann gibt es eigentlich zwei Möglichkeiten, dies zu ändern.Sicherlich muss das Denkverbot aufgehoben werden. Und dann muss ich entweder aufräumen undetwas von meinen Absichten, etwas von meinen Plänen, viel von meinem Ego zur Seite stellen undeinen Freiraum schaffen, oder ich muss den Raum vergrössern, mehr denken, mehr fühlen, mehrwollen, mehr Zeit einsetzen. Dafür ist Papst Benedikt sehr gut, dass ich mir die Frage stelle, ob ich dieFrage nach Gott nicht oft ausklammere. Vielleicht ist das nicht viel auf einmal, aber diesesEingeständnis bringt mein Bewusstsein ein Stück weiter und ermöglicht mir vielleicht auch wiederneu den Schritt, etwas Platz für mein Fragen nach Gott zu schaffen, sobald das Parkplatzverbotaufgehoben ist.Tolstoi macht uns Mut weiterzusuchen und weiter zu fragen nach Gott, weil wir vielleicht nur einenFehler gemacht haben und uns nicht darum in Enttäuschung verstecken müssen. Rilke zeigt uns dieWege der Poetik, des Künstlerischen, wo Gott immer wieder ans als Frage auftaucht und uns oft aufuns selbst bringt. Papst Benedikt bringt diese Frage nach Gott auf dem Hof der Vernunft wieder starkzur Geltung.3.2.2 Einerseits Gottesbilder, andererseits GotteserfahrungenWenn wir die Frage nach Gott stellen, dann wird dieser Raum zunächst damit gefüllt, indem wirbestimmte Ideen, Vorstellungen oder Bilder uns von Gott machen. Gott ist gütig, barmherzig, Gott istein guter Vater, der Schöpfer, Gott ist Jesus Christus, Gottessohn. Gott ist Geist. Gott ist Liebe. Gottist Wahrheit. Wir suchen Gott zu fassen. Darum sagt Rilke einmal zu Gott:„Alle, welche dich suchen, versuchen dich.Und die, so dich finden, binden dichan Bild und Gebärde.“Wir wenden uns also zunächst den Gottesbildern, Gottesvorstellungen, Gottesideen zu. Ich will esdabei bewenden lassen, nur das ein oder andere Beispiel zu nennen und vielmehr die Funktion vonGottesbildern in unserem Glauben anzusprechen. Hier tönt schon an, dass das immer auch ein StückVersuchung ist. Darum folgt diesem ein zweiter Vers:„Ich aber will dich begreifenwie dich die Erde begreift;mit meinem Reifenreiftdein Reich….“


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>26BilderUrsprünglich waren die Gottesbilder die Bilder und Statuen, die in der frühen Antike im Tempel oderim Hausschrein standen und dort waren, was sie repräsentierten. Ihnen galt darum unmittelbar einekultische oder gottesdienstliche Verehrung. Gegen diese Kultgegenstände der vielen einzelnenAhnengötter oder Naturgötter wendet sich das biblische Bilderverbot in den Zehn Geboten:„Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel,noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist; dusollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen; denn ich, der Herr, dein Gott, bin eineifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht anden Kindern derer, die mich hassen, der aber Gnade übt bis ins tausendste Geschlecht an denKindern derer, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (Ex 20, 4-6)Was uns die Bibel direkt als Bild Gottes dennoch anbietet, ist der Mensch, der in der Genesis als BildGottes vorgestellt und vorgesehen ist, und Jesus Christus, der im Kolosserbrief als sichtbares Bild desunsichtbares Gottes beschrieben wird. Über die Jahrhunderte hat die christliche Kunst hier immermehr Dämme eingerissen und das Bilderverbot immer weiter verwässert. Die Bilder erschienen alshilfreiche und pädagogische Hilfskonstrukte, die uns wenigstens doch eine Ahnung von Gottvermitteln. Die mittelalterliche Theologie hat zu deren Rechtfertigung immer wieder verschiedeneBilder-Theorien entworfen, etwa ist der Mensch ein Bild Gottes, dem keine kultische Verehrungzukommen kann, aber Jesus Christus als Bild Gottes erscheint uns verehrungswürdig. Diemittelalterliche Theologie hat also gegenüber der Kunst immer wieder versucht, die Bilderflut starkeinzuschränken, und Mittel entwickelt, die Gefahren zu minimieren, sprich unentwegt zu betonen,dass ein Bild immer nur ein Bild ist und nur entfernt fähig, uns eine Ahnung von Gott zu vermitteln.Ob das in der Volksfrömmigkeit und der Spiritualität immer auch so verstanden wurde, bleibt zubezweifeln.Die Reformation hat darum die Bilder aus den Kirchen verbannt, auch in der Hoffnung, sie aus denKöpfen der Gläubigen verbannen zu können. Das hat zuvor auch schon der Philosoph Maimonidesunterstrichen, dass nämlich das biblische Bilderverbot sich nicht nur auf die Götzenbilder bezieht,sondern eben auch auf deren Wesen und Essenz, also geistige Gottesbilder. Im Gegenzug hat diekatholische Kirche dann Gott in jeglicher Weise gemalt, als hätte es nie ein Bilderverbot gegeben.Dadurch ist die Bilderflut in der Kirche leider auch eine konfessionelle Demarkationslinie geworden.Aber die interessantere Frage ist nicht die der Kunst und noch nicht einmal der Rechtgläubigkeit,sondern, ob wir überhaupt ohne Bilder denken können. Das wäre eher eine psychologische Frage.Religionspsychologen halten es oft für unmöglich, an einen Gott zu <strong>glauben</strong>, ohne sich ein Bild vonihm zu machen. Der Mensch ist gezwungen, sich Bilder zu machen. Ohne Bilder kann er nicht denken.Wir müssen in Bildern denken, um etwas zu begreifen und in unser Bewusstsein aufnehmen zukönnen. Analogien und Vergleiche sind die wichtigsten Instrumente unseres Lernens. Als Kinderkönnen wir nur durch Beobachten und Vergleichen die Welt erfassen und ihre Ereignisse einordnen.Somit geraten Gläubige in eine Falle, wenn sie versuchen, sich kein Gottesbild zu machen. Wer Gottdenkt, macht sich ein Bild von ihm. Wem es gelingt, kein Bild von Gott zu machen, verdrängt ihn ausseinem Bewusstsein.Wenn uns also die Religionspsychologen sagen, dass im frühen Kindesalter häufig die Eltern dasGottesbild eines Kind sehr stark prägen, dann ist das zunächst ganz normal und keinesfalls einSakrileg. Wir können die Dinge in der Welt - ob Eltern oder nicht - nutzen, um unsere Gottesbilder zumalen und einige Schritte auf ihn hin zu gehen, solange wir diese nicht kultisch verehren und solangewir wissen, dass es sehr wenig ist, was diese uns über Gott sagen können.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>27Das sagen übrigens die 24 Philosophen, die sich im Mittelalter daran machten, Gott auf den Begriff zubringen so aus:„Gott ist das, was der Geist nur im Nichtwissen weiss.“ 5Das Bild, auch wenn es Gott darzustellen versucht, zeigt mir mehr noch als es darstellt, was Gottnicht ist, und gerade dadurch erfahre ich viel darüber, was Gott ist. Die gleichen Denker habenübrigens ein Gottesbild gedacht, dass deutlich zeigt, wie wenig wir uns eigentlich vorstellen können,und sei es noch so geistig. Sie definieren Gott so:„Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.“So über Gott zu denken bringt uns der Naturphilosophie und der Kosmologie nahe, liefert vieleAnknüpfungspunkte, aber es erinnert uns auch stark daran, wie beschränkt unsere Bilder von Gottsind.Die Bilder mögen in unserem Kindheits<strong>glauben</strong> sehr wichtig gewesen sein. Sie mögen sichvergeistigen und andere verstandesmässige Dimensionen mit dem zunehmenden Alter angenommenhaben. Aber es tut und bleibt gut zu erinnern, dass all die Bilder nur Analogie sind, die nur uns eineschwache Ahnung vermitteln können, aber immerhin uns eine Prägung geben, die unseren<strong>Erwachsen</strong>en<strong>glauben</strong> auch Gestalt geben können. Wir brauchen und gebrauchen die Bilder von Gott,aber wir tun gut daran, uns nicht an ihnen aufzuhängen, weil wir sonst das Wesentliche verpassen.ErfahrungenDie Bibel ist eher bilderfeindlich, aber wie beschreibt sie Gott? Sie beschreibt Gott mit Namen: derRetter, der Löser, der Schöpfer, der Anfang, Geist, Wahrheit, Leben. Die Bibel gibt Gott Namen, dieausdrücken, was Gott tut, wie Gott am Menschen handelt. Die Bibel bemüht sich nicht gross umgeistige Bilder, um Definition von Gottes Sein und Wesen. Das bleibt die Aufgabe der Philosophen.Die Bibel erzählt einfach, wie Gott handelt, sie erzählt, welche Erfahrungen Menschen mit Gottmachen, sie erzählt Geschichte mit Gott. Häufige Gottesbeschreibungen in der Bibel sind: „Ich bindein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat.“ Gott ist der, der diese Befreiungstat getan hat.Er definiert sich durch sein Handeln. Oder häufig ist er der, der eine Geschichte begründet: „Ich binder eine Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“ Das sind Menschen, die ihre Erfahrungen mitGott gemacht haben. Wenn Rilke sagt, er will Gott begreifen, wie die Erde ihn begreift, dann könnenwir sagen: Ich kann Gott ja nur begreifen oder Gott nahe kommen, in dem ich eine Erfahrung mache,denn das ist die Art und Weise, wie wir Erdenmenschen Gott überhaupt begreifen können. Undindem ich an diesen Erfahrungen wachse, erwachsen werde im Glauben, wächst mir etwas zu,wächst Gottes Reich.Die Bibel beschreibt Gott in Geschichten, die Menschen erlebthaben. Ich muss nur auf die Emmausgeschichte verweisen, umanzudeuten, wie unterschiedlich diese Erfahrungen sind. ZweiJünger gehen nach Jesu Tod und sogar nach den ersten Berichtenseiner Auferstehung von Jerusalem weg. Das ging ihnen wohl zunah. Sie entfernen sich von dem Ort, wo sie Gott hätten vermutenmüssen. Jesus stösst unerkannterweise zu ihnen, sie reden überdas, was über Jesu Tod und Jesu leeres Grab, und Jesus legt ihnendar, wie die Bibel all das belegt, wie Gott das geplant hatte. Sie sagen hinterher: „Brannte uns nichtdas Herz?“ Fast immer geht es bei Gotteserfahrungen um das Herz! Nachher kehren sie ein, Jesus5 Kurt Flasch (ed.), Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, 70.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>28bricht mit ihnen das Brot und verschwindet plötzlich, wobei ihnen die Augen aufgehen.Gotteserfahrungen sind fast immer Erfahrungen, wo ich anfangs nicht klar gesehen habe, es warirgendwas und ich konnte es nicht recht sagen, und plötzlich löst sich dieser Knoten und ich sehe klar.Das Aha-Erlebnis, die Einsicht kommt mit einem Schlag. Die Emmausjünger dürfen das mit Herz undAugen erfahren.Vielleicht reden wir so gerne von Gottesbildern, weil wir uns oftmals nicht trauen, von Erfahrungenzu reden. Welche Erfahrung habe ich mit Gott in meinem Leben bereits gemacht? Vielleicht will Gottmir durch dieses Handeln an mir sein „Bild“ von sich mitgeben. Und selbst wenn ich keineGotteserfahrung mein eigen nennen kann, keine Ahnung und keine Intuition von seiner Gegenwart,dann kann ich mich immer noch von den Anregungen anderer anregen lassen. Wenn Gott mir nichtanwesend ist, dann schaue ich, wo er als anwesend erlebt wird, und eventuell schaue ich mir was ab.Wenn Gott mir gegenüber schweigt, dann höre ich dahin, wo er als hörend erlebt werde, undgegebenenfalls rede ich im Gebet so lange, bis mir sein Schweigen antwortet. Darum möchte icheinige Beispiele von Gotteserfahrungen erzählen. Manchmal sind das solche typischen Erfahrungen,dass jemand sagt:„Ich habe eine gefährliche Situation erlebt, in der ich mir sicher war, dass Gott mich behütethat. Damals habe ich gesagt: Ich kann Gott nicht beweisen, aber ich habe ihn erlebt.“Oder erinnern wir uns an den Mathematiker Blaise Pascal. Er galtals einer der hellsten Köpfe im 17. Jahrhundert und wir verdankenihm die Grundlagen zur Erfindung von Rechenmaschinen. Er sieht,wie Gott sich durch die Bibel und in Jesus Christus zeigt,andererseits lässt sich dieser Gott einfach nicht beschreiben. AberPascal war davon überzeugt, dass dieser Gott zu finden ist und sichfinden lässt – vor allem von denen, die zutiefst nach ihm suchen. Ererkannte, „dass Gott in der Kirche sichtbare Zeichen aufgestellthat, um sich denen zu offenbaren, die ihn aufrichtig suchen, dannaber, dass er diese nichtsdestoweniger so verborgen hat, dass er nur von denen bemerkt wird, dieihn mit ihrem ganzen Herzen suchen.“ Pascal konnte sogar den Tag sagen, an dem er sich Gott neuzuwendete. Als er starb, fand man in seiner Kleidung einen Zettel eingenäht. Darauf stand: „Zurückzu Gott“ und das Datum seines Tages, an dem er Gott begegnete: der 23. November 1654. Manmunkelt, er hätte einen Unfall mit seiner Kutsche gehabt. Wenn ich nun einen Tag benennen könnte,wo ich sagen kann, das ist der Tag, an dem ich Gott erfahren habe, welchen Tag würde ich nennen?Oder nehmen wir den Schiffskapitän John Newton, im England des18. Jahrhunderts. Die Mutter verstarb, als er elf war, der Vaternahm ihn mit auf seine Seefahrten. John Newton machte vielBlödsinn, viel Unmoralisches und viel Kriminelles mit, so dass ererst ins Gefängnis und später sich irgendwann als Sklavenhändlerin Afrika widerfand. Irgendwann gewann er den Spitznamen „DerGotteslästerer“. Er arbeitet sich schliesslich zum Kapitän hoch. Erwar unter der Mannschaft bekannt für seine Brutalität.Im Januar 1748 machte er eine längere Schiffsfahrt über Neufundland nach England. In der Nachtbrach ein so fürchterlicher Sturm los, dass die Lebensmittel über Bord gingen und das Schiff vollWasser lief. John Newton sah keine Hoffnung mehr und schrie in diese aussichtlose Lage hinein:„Herr, hab Erbarmen mit uns!“, und zu sich selbst fügte er hinzu: „Was für ein Erbarmen kann esdenn für mich geben?“ Das wurde zu dem Wendepunkt in seinem Leben, weil er die Rettung vonSchiff und Mannschaft diesem Gebet zuschrieb. Wir kennen ihn heute noch nicht nur als späterenKämpfer gegen die Sklaverei, u.a. gab er einen entscheidenden Anstoss zur Abschaffung desSklavenhandels in England durch sein Eintreten im Londoner Unterhaus. Wir kennen ihn vorwiegend


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>29durch das Lied „Amazing grace“, die gerade diese Erfahrung des Erbarmens auf hoher Seewiedergibt:Amazing grace, how sweet the sound,That saved a wretch like me!I once was lost, but now I am found,Was blind, but now I see.Grosse Gnade, wie süss der Klang,Die einen armen Sünder wie mich rettete!Ich war einst verloren,aber nun bin ich gefunden,War blind, aber nun sehe ich.Das Faszinierende an dieser Geschichte ist, dass diese Gotteserfahrung so überraschend kommt. SeinKurswechsel vollzieht sich ohne Vorwarnung. Wenn ich nun etwas benennen könnte, was michgegenüber Gott überrascht hat, was würde ich sagen? Gibt es diese Momente, die eine Veränderungin mir erzeugt haben, die etwas ausgelöst haben, die sich aber auch nicht angekündigt haben?Ich möchte nicht nur Beispiele nennen, wo irgendjemand aus einerNotsituation gerettet wurde, ob es nun Pascals Kutsche war oderNewtons Schiff. Darum möchte ich André Frossard nennen, einFranzose, der in einem Umfeld ohne Gott aufwuchs, später alsMinister in die Politik ging. Ähnlich wie bei John Newton ist erjemand, der eigentlich gegenüber Gott ganz weit aussen am Randsteht.Ganz zufällig, weil er auf einen Freund wartet, ging er 1935 als 20jähriger in eine kleine Kirche inParis, wo er eine Gottesbegegnung hatte, die so intensiv war, dass er selbst bei späterenSchicksalsschlägen (wie dem Tod seiner beiden Kinder) nicht mehr möglich war, an der ExistenzGottes auch nur den leisesten Zweifel zu hegen. Als Frossard die Kirche betrat, hörte er, wie er späterberichtete, als spräche jemand leise zu ihm die Worte „geistliches Leben“. Daraufhin stürzte nachseiner Beschreibung wie eine Lawine der Himmel auf ihn zu, und eine Freude überwältigte ihn. Dasist keine Notsituation, aber eine komplette Überraschung, wo er selbst eine solche Ergriffenheit undSicherheit beschreibt, und er schreibt das letztlich dem Zufall, eher noch der Vorsehung Gottes zu. Erbeschreibt das so:„Ich bin ihm begegnet. Ich bin ihm unvermutet begegnet - durch Zufall würde ich sagen,wenn bei einer Begegnung solcher Art überhaupt der Zufall im Spiel sein könnte. - mit demStaunen, das etwa ein Mensch empfinden würde, der in Paris bei einer Strassenkreuzungein unendliches Meer vor sich ausgebreitet und Wellen die Häuser umspülen sähe. Es war einAugenblick der Verblüffung, der noch andauert. Ich habe mich niemals an die Existenz Gottesgewöhnt.“ 6In diesem Text tauchen verschiedene Motive auf, die oft typisch sind bei solchen Erfahrungen: Zufallund Vorsehung spielen eine Rolle, die Überraschung und das Staunen, die Situation irgendwo ineinem ganz normalen Umfeld, die Weite eines Augenblicks in dieser Begegnung und schliesslich nochdiese lang andauernde Wirkung, die eine solche Erfahrung mit Gott hinterlassen kann.Ich möchte nicht sagen, dass Gotteserfahrungen immer so laufen, aber diese machen uns Mut, dieAugen und das Herz offen zu halten, egal ob ich irgendwo am Rand des Glaubens stehe, ob ichirgendwo unterwegs bin, ob ich einen Wendepunkt im Leben erlebe oder ob ich mich plötzlich in derNähe Gottes wiederfinde. Ich mag nun die Gottesbilder nicht gegen die Gotteserfahrungenausspielen, es wird wohl beides brauchen und sie bedingen sich ja auch gegenseitig, aber wenn ichdie Wahl hätte zwischen einem Gottesbild, das meine Augen anspricht und meinen Geist Gott6 André Frossard, Gott existiert. Ich bin ihm begegnet.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>30begreifen lässt, und einer Gotteserfahrung, die mir die Grösse und Weite seines Erbarmens vorAugen führt und ins Herz legt, dann wähle ich wahrscheinlich eher die Erfahrung als das Bild.3.2.3 Stationen im LabyrinthRilke sagt einmal mit Blick auf Gott:„Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit und, weil ihn lange keiner ging, verweht.“Das passt sehr gut zum Labyrinth: ein furchtbar langer Weg, undwenn auch nicht zugedeckt und verweht, so sieht man doch nichtwirklich hindurch. Vielen mag das Labyrinth in der Kathedrale vonChartres bekannt sein. Es ist in der Kirche im Boden eingelassen.Man sagt, dass zu früherer Zeit die Mönche im Gebet den Weg imLabyrinth nachgegangen sind, so wie viele Menschen es heute alsTouristen tun. Das Labyrinth ist Sinnbild für die verschlungenenWege des Menschen zu seiner Mitte. An manchen Stellen meintman, dieser Mitte schon ganz nahe zu sein – da wendet sich derWeg plötzlich wieder in die andere Richtung und führt weg von Ziel. Umkehren? Eine Abzweigungübersehen? Aber es gab doch keine! Aufgeben, weil man offensichtlich nie zum Ziel kommt? Nein,weitermachen – und dann plötzlich, unerwartet, nach einer Wendung in der Mitte stehen. Wenndieses Labyrinth in einer Kirche zu finden ist, dann wundern wir uns nicht, wenn die Mitte Gottsymbolisiert. Ich möchte vier Stationen in so einem Labyrinth ansprechen und deuten, was sie unsüber Gott sagen können.• Am Rand: Es mag mir manchmal so vorkommen, als stände ich irgendwo am Rand und Gottwäre weit weg. Ich habe vielleicht den Eindruck, er interessiert sich gar nicht für mich.Womöglich habe ich an diesem Ort die Gottesfrage bereits drangegeben, weil ich keinenEingang, keinen Zugang dazu finde. Was kann ich hier noch von Gott erhoffen? Wir haben dieFrage von John Newman noch im Ohr. Häufig finde ich mich in dieser Position wieder, wennich gar nicht mehr zu hoffen wage, in meinem Glauben könnte etwas wachsen oder Gottkönne mir irgendwie auch nur nahe kommen. Ganz draussen führt kein Weg vorwärts. Voreiniger Zeit hat mir jemand gesagt, in Sachen Glaube stände er auf stand-bye. Das betrifftviele von uns heute. Aber gerade an diesen Rändern erlebe ich ja mit Gott doch auch diegrössten Überraschungen. Wir denken Gott immer in der Mitte des Labyrinths unsersLebens, aber erfahren lässt er sich gern an den Rändern.• Im Gang: Manchmal komme ich mir im Glauben vor wie in einem langen Gang, ich kann weitvoraussehen, was kommt, und der Glaube läuft ordentlich seinen Weg. Ich habe fast eherden Eindruck, ich laufe und laufe und komme nicht wirklich irgendwo an. Alles geht langsamso weiter. Ich habe vorhin den Weg der Emmausjünger erwähnt. Das ist auch so ein langerWeg, auf dem Jesus den beiden alles aus der Schrift erläutert. Das dauert lange. Wenn ichmich in Gottesbilder vergrabe und mein Denken bemühe, wenn ich Gott versuchen zuerfassen und auch nur annähernd zu begreifen, dann kann ich mich häufig auf so einem Wegfühlen, der scheinbar kein Ende nimmt. Das Schöne an diesen Wegstrecken ist, dass ich denEindruck habe, immer weiter zu kommen. Ich merke, dass ich einiges auf meinemGlaubensweg hinter mich bringe und mich daher dem Ziel ja nähere. Aber das Ganze dauertauch. Hier spreche ich mit Rilke: „Der Weg ist furchbar weit.“• In der Kurve: Wie im richtigen Leben so erleben wir im richtigen Glauben auchWendepunkte. Das kann unsere Gottesvorstellung betreffen. Ich erinnere an den anderenGott bei Tolstoi: Ich habe mir Gott so hölzern vorgestellt und irgendwann laufe ich auf diese


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>31Wand zu und muss einräumen, dass meine Vorstellung von Gott etwas verkehrt. Aber ichbleibe nicht einfach stehen, ich laufe auch nicht raus, ich wende mich einmal, drehe mich imKreis und sehe, dass auf der einen Seite der Weg in eine andere Richtung weitergeht. Dortgeht mein Fragen nach Gott weiter. Ich erinnere auch an Menschen wie John Newton oderAndré Frossard, die aus einer Not heraus oder aus „Zufall“ einen Wendepunkt in ihremGlaubensleben erfuhren. Ich merke, dass ich verunsichert bin, ob ich hier wirklich richtig bin,ob ich etwas übersehen habe. Ich werde herausgefordert.• In der Mitte: Wie ist es, in die Mitte zu Gott zu treten? Wie ist es, Gott als so nah zu erleben?Wenn ich Gott so nah spüre, wenn ich mir in diesem Moment seiner Gegenwart gewiss seinkann, dann kann mich ein Staunen überkommen. Langsam wandelt sich meineÜberraschung, nach der letzten Kurve plötzlich und endlich dieses Ziel erreicht zu haben inDankbarkeit um. An dieser Stelle geht mir das Herz auf, und ich erahne, wie weit Gott ist. Ichbin sicher, die Evidenz von Gott steht mir vor Augen. Eine Freude zieht bei mir ein, so dass ichähnlich den Emmausjüngern mir sage: „Mir brennt das Herz, es brannte mir schon die ganzeZeit!“ Ist mir klar, dass Gott seinen Mittelpunkt überall hat, und nicht nur in der Mitte?KonkretBevor wir in diesem Sinne eine Übung angehen, fasse ich kurz und knapp einige Punkte des bisherGesagten zusammen:• Wo stellt sich mir die Gottesfrage? Habe ich unterwegs abgebrochen oder geht das weiter?Stellt sich mir die Frage eher im Bereich von Kunst-Musik-Literatur-Träume, oder eher imBereich von Wissenschaft-Vernunft-Denken?• Gottesbilder und Gotteserfahrung sind zwei verschiedene Schuhe, die sehr gutzusammenpassen.• Die Frage zu stellen, ein Bild zu finden, eine Erfahrung zu machen - all das kann an sehrunterschiedlichen Lebenspunkten in meinem Leben auftauchen.3.3 ÜbungWir haben einiges davon gehört, was es heisst nach Gott zu fragen. Ich möchte einladen, dass wirGott einfach um eine Antwort bitten. Wir machen das folgendermassen:• Gehen Sie an jeden dieser vier Orte: an den Rand, auf die lange Bahn, in eine Kurve und indie Mitte!• Bleiben Sie einen Moment dort an diesen vier Stationen und überlegen sich, ob Sie dieseSituation in Ihrem Leben kennen. Vielleicht können Sie sagen: Ja, am 23. März im Jahre 2003war ich genau in dieser Situation. Fühlen Sie sich einen Moment in diese Situation ein!• Überlegen Sie, was Gott Ihnen auf die Ihre Frage nach Gott antwortet!Zur Verdeutlichung: Die Aufgabe besteht nicht darin, ein ganzes Labyrinth abzulaufen, langsam, hierund da stehen zu bleiben und in sich selbst hineinzuhorchen. Es geht gar nicht um Sie! Sie bringensich nur ein, um sich in die jeweilige Situation einzufühlen und deswegen überlegen Sie, ob und wound wie Sie diese Situation kennen. Jetzt geht es einfach nur darum, dass Gott mir eine Antwort gibt,die ich ihm diesmal in den Mund legen darf.3.4 Gruppenaustausch


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>323.5 SchlussbetrachtungWir haben versucht Gott unseren Mund zu leihen. Wir haben uns überlegt, was Gott wohl zu unssagt, wo immer wir auch stehen mit unseren Gottesfragen, mit unseren Gottesbildern, mit unserenGotteserfahrungen. Gott spricht vielfach und zahlreich zu uns, in unzähligen Stimmen, ob wir ihnhören oder nicht. Gott schweigt für uns, ob wir seiner Stille trauen oder auch nicht. Aber immerzudürfen wir von ihm ein Segenswort erwarten. Was immer Gott uns auch sagt, es mündet in einenSegen aus:Der Herr segne uns und behüte uns. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns und sei unsgnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über uns und gebe uns Frieden. Das gewähre uns der guteGott, + der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>334 Vierter Abend: Mich in Gott spiegeln4.1 EinstimmungWie kann ich mich in Gott spiegeln, und was sehe ich in ihm, in mir, im Spiegel meiner Selbst oderseiner Göttlichkeit? Dieser Frage möchten wir am heutigen Abend nachgehen und verknüpfen damitzwei Dinge. Denn zuletzt haben wir den Blick auf Gott gewandt, unser Ohr in seine Richtung geneigtund gefragt, was Gott uns an den verschiedenen Situationen und Positionen meines Lebens- undGlaubensweges mir sagen will. Und zuvor haben wir den Blick auf uns selbst gewandt, worauf ichreligiös ruhe, was meine Säulen des Glaubens sind. Wir versuchen also, meine Perspektivenzusammen zu holen und dazu brauchen wir einen Spiegel.Zur Einstimmung möchte ich zum wiederholten Male Rilke hervorholen. Ich lese ein Gedicht von ihmzunächst einmal ganz vor und deute es dann um, biege es zurecht für unser Interesse, zu sehen, wases heisst, erwachsen zu <strong>glauben</strong>.RilkeIch will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,und will niemals blind sein oder zu altum dein schweres schwankendes Bild zu halten.Ich will mich entfalten.Nirgends will ich gebogen bleiben,denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.Und ich will meinen Sinnwahr vor dir. Ich will mich beschreibenwie ein Bild das ich sah,lange und nah,wie ein Wort, das ich begriff,wie meinen täglichen Krug.Ich möchte diese Zeilen etwas umbiegen für unsere Interessen:• „Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt, und will niemals blind sein oder zu alt umdein schweres schwankendes Bild zu halten.“ - Ich frage mich, wer der Adressat dieser Zeilenist: Schaue ich mich selbst an in einem Spiegel und sehe mich, mit dem Vorsatz, meinenAnblick immer zu tragen und zu erhalten? Oder ist es ein anderer Mensch, vielleicht einermeiner Nächsten, mit dem ich mein Leben teile? Wir kennen diese Effekte, dass Menschenim engsten Umkreis oftmals wie ein Spiegel funktionieren können. Meine Kinder halten mirmein schweres schwankendes Bild oft genug vor die eigenen Augen. Oder spreche ich dieseZeile wie ein Gebet an Gott, von dem ich nur ein so schweres wie schwankendes Bilderhalten kann, und für den ich niemals blind und niemals zu alt bin?• Ich will mich entfalten. - Wenn ich erwachsen werde, wenn ich wachsen und reifen will, dannheisst das ja immer, dass ich etwas aus mir heraus entwickle, kaum, dass ich etwas vonaussen mir überstülpe oder kopiere. Darum ist auch geistliches Wachstum immer eine Formvon Selbstentfaltung, um das aus mir herauszuholen, was Gott dort hineingelegt hat.• Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. - Das istein guter Vorsatz, dass ich so wahr und ehrlich mit mir selbst sein will, so transparent, dassich alles offen lege. In der Regel löst das eher grosse versteckte Befürchtungen aus. Aber dasPositive sticht auch hier heraus: ich habe Stellen in meiner Seele oder Psyche, wo ich


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>34gebogen bin, und ich werde auch geborgen und innerlich gekrümmt bleiben, wenn ich nichtdies mir bewusst machen und in mir den Willen entfache, zur Wahrheit über michvorzustossen. Religiös ist dies schlicht und einfach die Frage, ob ich mich so sehen will wieGott mich ohnehin sieht. Denn wir fürchten uns meist weniger vor einem Gott, der allessieht, sondern eher vor uns selbst, dass wir sehen, wie ich wirklich bin.• Und ich will meinen Sinn wahr vor dir. Ich will mich beschreiben wie ein Bild das ich sah,lange und nah, wie ein Wort, das ich begriff, wie meinen täglichen Krug. - Der Dichter bringthier Erinnerungen und Alltäglichkeiten ein. Ich will mich also sehen, wie ein ganz normaler,alltäglicher, vertrauter Gegenstand. Das birgt eine Nüchternheit in sich, aber auch eineGelassenheit. Das gilt wohl erst recht für den religiösen Menschen: die Wahrheit über mich,die der Gott, dem ich vertraue, mir zutraut, diese Wahrheit ist ganz normal, nichtspektakulär, ist heilsam und hilfreich.4.2 ImpulsEs geht heute um den Spiegel, den ich mir vorhalte, um mich selbst zu erkennen und anzunehmen,und um den Gott in mir, das Göttliche in mir zu erkennen und zu spüren, wie Gott mich annimmt, sowie er mich gedacht und gemacht hat. Dazu wenden wir uns zunächst dem Spiegel im Allgemeinenzu, dann dem Spiegel im Besonderen der Spiritualität und schliesslich über die Ahnung, die unsüberkommt, wenn Gott dabei mit ins Spiel kommt.4.2.1 Der Spiegel allgemeinDer Philosoph Michel Foucault beschreibt den Blick in den Spiegeleinmal folgendermassen:„Jeden Morgen dieselbe Erscheinung, dieselbe Verletzung. Vormeinen Augen zeichnet sich unausweichlich das Bild ab, das derSpiegel mir aufzwingt: mageres Gesicht, gebeugte Schultern,kurzsichtiger Blick, keine Haare mehr, wirklich nicht schön. Und indieser hässlichen Schale meines Kopfes, in diesem Käfig, den ichnicht mag, muss ich mich nun zeigen. Durch dieses Gitter muss ichreden, blicken und mich ansehen lassen. In dieser Haut muss ichdahinvegetieren. Mein Körper ist der Ort, von dem es keinEntrinnen gibt, an den ich verdammt bin.“ 7Vielen von uns - ob wir nun eine Glatze haben oder nicht - mag esallmorgendlich ja sehr ähnlich ergehen. Der Blick in den Spiegel amMorgen erfolgt selten freiwillig, eher unausweichlich. Den Menschen im Spiegelbild kenne ich schonso lange. Ich kenne den Gesamteindruck wie die verschiedenen Details. Der Philosoph tut sich hiereine ganz praktische Übung an, indem er verschiedene Partien seiner Erscheinung anschaut undversucht, ganz ehrlich und realistisch zu beschreiben. Der Blick in den Spiegel am Morgen ist dererste leichte Selbsttest, wie ich mich selbst sehe, und vielfach stehe ich dann davor und sage mir:„Wirklich nicht schön.“ Das ist gleichsam eine Spiegelfalle. Ich stehe vor den Spiegel und sehe nur dasmagere Gesicht, nicht das schöne schmale; ich sehe nur den kurzsichtigen Blick, aber nicht dieschönen Augen; ich sehe nur die kahlen Haare, aber nicht die schöne glatte Haut. Der Spiegel wirdschnell zur Falle von Beobachtungen, die ich negativ deute. Dann wird mir mein Anblick eben zur7 Michel Foucault, Heterotopien. Der utopische Körper, 25f.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>35Verletzung, zum Zwang, zur Verdammnis. Es tönt so alltäglich normal, doch diese Spiegelbetrachtungendet ja sehr negativ.Was heisst es vor einem Spiegel zu stehen? Welches Verhältnis nehme ich zu mir selber ein? Diewenigsten Menschen treten vor den Spiegel und sind zufrieden. Andere Menschen treten vor denSpiegel und finden sich so toll, dass es auch schon wieder nicht stimmt. Das passiert häufig, obwohlwir auch um Folgendes wissen: Es kommt dabei meist gar nicht darauf an, ob das nun stimmt odernicht. Es kommt darauf an, ob ich das so empfinde. Aber im Sinne einer ehrlichen Selbsterkenntnisund einer positiven Selbstannahme würde ich mir ja wünschen, dass ich vor den Spiegel trete, diesedetailreiche Bestandsaufnahme mache und mir schliesslich sagen kann: „Ich bin o.k.!“Was eigentlich passiert, wenn es mir beim Blick in den Spiegelungemütlich wird, möchte ich anhand von zwei Liedern illustrieren.Das eine Lied ist vielen von uns bekannt, ein älteres Lied also vonMani Matter, und ich stelle den Text hier vor, ich lasse das Liedlaufen und ich lade Sie ein, für einen Moment innezuhalten undgenau zu beobachten, wie der Spiegel hier funktioniert:Bim coiffeur bin i gsässe vor em spiegel, luege dryund gseh dert drinn e spiegel wo ar wand isch vis-à-visund dert drin spieglet sech dr spiegel da vor mirund i däm spiegel widerum dr spiegel hindefürund so geng wyter, s'isch gsy win e länge korridori däm my chopf gwüss hundertfach vo hinden und vo vorisch ufgreit gsy i eier kolonne, z'hinderscht isch dr chopfi ha ne nümme gchennt, so chly gsy win e goofechnopfmy chopf, dä het sich dert ir wyti, stellet öich das vorverloren ir unäntlechkeit vom länge korridori ha mi sälber hinde gseh verschwinde, ha das gseham heiterhälle vormittag und wi wenn nüt wär gscheherchloepft han i mys muul ufgschperrt, da sy im korridorgrad hundert müüler mit ufgange win e männerchore männerchor us mir alei, es cheibe gspässigs gfüeles metaphysischs grusle het mi packt im coiffeurgstüeli ha d'serviette vo mer grissen, ungschore sofortdas coiffeurgschäft verla mit paar entschuldigende wortund wenn dir findet i sött e chly meh zum coiffeur gade chöit dir jitz verstah warum i da e hemmig haEr sitzt also in einem Friseurstuhl bei seinem Coiffeur, und er sieht im Spiegel den Spiegel auf deranderen Seite. Der Sänger hätte jetzt anders reagieren können. Er hätte diese faszinierende Weitebestaunen können. Er hätte gleichsam wie Kinder es tun sich hin und her bewegen können, umauszutesten, wie dieser Korridor aus Spiegeln sich verändert. Aber unser Sänger hat das Problem,dass er sich selbst sieht. Die Steigerung, dass er sogar von einem metaphysischen Gruseln singt, liegtwohl darin, dass er sich so oft und auch dann noch von allen Seiten sieht. In diesem Fall muss ich mirsagen: Ich ertrage mich nicht in dieser Vielzahl, in dieser Breite, so ganz. Und weil ich mich nichtertragen kann, bleibt mir nur die Flucht. Das Lied hat ja eine für Matter so typische lustige Pointe.Sein besonderer Witz strahlt ja durch. Aber eigentlich ist das Ende hier kein Happy End: Ich laufe vormir davon. So natürlich, wie wir dieses Lied lustig finden, so natürlich ist es auch, dass wir es schadefinden, wenn ein Mensch vor sich selbst davonläuft.Ich möchte ein zweites Lied vorstellen. Das ist eher der jüngeren Generation bekannt, ein eherjunges Lied auch. Bligg ist einer der bekannteren Schweizer Rapper, und auch er hat den Spiegel


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>36aufgegriffen. Halten wir es gleich wie vorhin: hier der Text, da kommt das Lied und wir hören undsehen, wie in diesem vom Spiegel die Rede ist.Wo ischs end und wie chömer ga, wann bliebt unser wagä sta,im Himmel isch d'Hölle los, s'windet und rägnet,das hammä davo wämmer immer nur nähmet.Kömmer noch in Spiegel luege ohni uns z'schäme oder sin eventuell unse Sinn schonvernäblet, vo Droge und Medis wos us z'viel davon gäbet.Sie hand uns im Griff, Gorillas im Näbel.Das macht Angscht, raubt de Verstand, Schweiß an der Hand, euses Herz rast rasant, Rückenzur Wand, ziehet Bilanz, lauf weg han Forest Gump.Ihr habt kein Respekt und keine Liebe und nur Defekte sind uns geblieben.Können wir noch in den Spiegel sehn? Oder würden wir auf Knien gehn?Wärs ohne Aufputschmittel wirklich schön? Werden wir deshalb alle zugedröhnt?Lass uns in den Spiegel sehn. Erkenn das Kind in dir es ist liebenswert.Und es ist wild in dir, das ist überlebensfähig.Doch sei nie blind in dir. Das wär so verkehrt.Was ist ehrenwert? Doch du bist Seelen wert.Der Blick von Bligg in den Spiegel wird hier direkt übertragen. Eshandelt sich um eine Zeitdiagnose: kein Respekt, keine Liebe, nurDefekte, wir nebeln uns nur noch zu. Die Folgen werdenbeschrieben: Angst, Stress, Vernunftverlust. Es handelt sich auchum eine sehr deutliche moralische Verurteilung: Das alles ist soverkehrt. Und in diese Diagnose kommt die überausgesellschaftskritische, selbstkritische Frage: Können wir überhauptnoch in den Spiegel sehen? Die Einsicht ist ja da, dass der Blick inden Spiegel genau das Richtige ist, dass es auch der Seeleentspricht, dass es ein Weg wäre, das liebenswerte Kind in Dir zuerkennen. Die Einsicht ist da, aber können wir diese Möglichkeitnoch nutzen? Was für Matter noch eine Frage der Metaphysik war,ist bei Bligg klar eine Frage der Moral. Wo Matter vor dem Spiegel davonläuft, kann Bligg gar nichtmehr in den Spiegel hineinschauen.Ich habe diese beiden Liedbeispiele ausgesucht, weil sie erstens sehr gut die Schwierigkeitenbesingen, die so ein harmloser Spiegel auslösen kann. Zweitens sind das aber auch allgemeineSpiegelerfahrungen, die zunächst mit dem religiösen Gebrauch des Spiegels noch gar nichts zu tunhaben. Darauf komme ich gleich zu sprechen, aber fürs Erste halten wir fest, dass wir uns ja überausschwer tun, ein gesundes, gelassenes, unaufgeregtes Selbstwertgefühl zu gewinnen. Der Blick in denSpiegel löst in mir aus, wie es um meine Selbsterkenntnis und meine Selbstannahme steht. Dennbeides gehört wesentlich dazu, als <strong>Erwachsen</strong>er im Leben zu stehen. <strong>Erwachsen</strong> sein heisst, eingesundes Selbstwertgefühl zu haben, das sowohl eine positive Grundstimmung beinhaltet wie aucheinen realistischen Zugang zur Wirklichkeit. Ich muss mir nichts vormachen. Ich muss mich mögen,wenigstens ein wenig. Mark Twain hat einmal gesagt: „Die schlimmste Einsamkeit ist die, sich mitsich selbst nicht wohlzufühlen.“ Und wir schieben direkt die Nachfrage hinterher, wie sich dieseunzufriedene Einsamkeit im Seelenleben auf Dauer auswirkt.Selbstannahme wird gerne von alters her als jene Selbstakzeptanz umschrieben, welche die Mittebildet zwischen Selbstsucht und Selbstverleugnung, zwischen Narzissmus und Altruismus, zwischenjener Haltung, dass ich mich in mein eigenes Bild derart verliebe, dass ich den Anderen gar nichtmehr sehe, und jener entgegengesetzten Haltung, dass ich so sehr auf Andere schaue, dass ich meineigenes Selbst nicht mehr achte. Selbst ohne Gott ist das eine moralische Frage, denn Selbstannahmebewirkt viele Tugenden wie Selbstkritik, Flexibilität, Lebensfreude, auch Humor, und verhindert


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>37überzogene Scham, die Abhängigkeit von der Anerkennung anderer (ich habe nicht genügendSelbststand) ebenso wie Überheblichkeit und Arroganz (ich stehe mit meinem Selbst ohnehin überden Anderen). Übungen zur Stärkung der Selbstannahme gibt es viele: ich kann mich konkret für diesund das selber loben, ich kann Buch führen über meine Erfolge, ich kann mir Feedbacks vonFreunden holen, ich kann negative Meinungen über mich schrittweise durch positive Ersetzen, undvor allem kann ich den Ursachen von mangelnder Selbstannahme auf den Grund gehen, um dorteinen Weg heraus zu finden. Diese Verantwortung für das eigene Selbst zu tragen, manchmal zuertragen und gelegentlich zu fördern ist bereits rein profan ein wichtiger Bestandteil des<strong>Erwachsen</strong>seins.Eine Anekdote zur Selbstannahme: Es war einmal ein junger Magier, der über Jahre hinweg voneinem rätselhaften Schatten verfolgt wurde, den er selbst heraufbeschworen hatte. Er verbrachteviel Zeit damit, vor diesem Schatten zu fliehen. Immer wieder wurde er eingeholt. Er schlugregelrechte Kämpfe aus mit diesem Schatten, er zog sich Narben zu und entkam immer wieder.Irgendwann in sich gereift, beschloss er nicht mehr zu fliehen. Als der Schatten ihn das nächste Maleinholte, ging er auf ihn zu, der Zauberer verschmolz mit dem Schatten - und wurde ganz. Denn derSchatten war sein eigenes dunkles Selbst gewesen, alles, das er nicht hatte annehmen können.4.2.2 Der Spiegel in der SpiritualitätUnsere Spiritualität lehrt uns sowohl den Schatten zu umarmen als auch das Licht stärker zumLeuchten zu bringen.GewissensspiegelWir kennen in der christlichen Spiritualität den Gewissensspiegel. Dabei handelt es sich um eineForm der Gewissenserforschung. Man kannte früher sogenannte Fürstenspiegel, in denen durchFragen oder Forderungen einem Fürsten dargelegt wurde, wie ein guter Fürst denkt und handelt. InAhnlehnung an die Fürstenspiegel entwickelten sich die Bussspiegel, die zur Vorbereitung auf dieBeichte mir einen Spiegel vorhielten. Diese sind üblicherweise an den Zehn Geboten des AltenTestamentes ausgerichtet beziehungsweise an den wesentlich Aussagen Jesu („Den Nächsten liebenwie sich selbst“) im Neuen Testament. In Fragen werden unterschiedlichste Aspekte des Lebensbedacht, als Beispiele seien genannt „Umgang mit den Mitmenschen“, „Umgang mit der SchöpfungGottes“, „Umgang mit sich selbst (Selbstpflege, Es-sich-gut-gehen-lassen, Sich-selbst-annehmenkönnen)“,„Umgang mit Gott“. Diese Form von Gewissenserforschung stellt eine geistige Übung dar,in deren Verlauf die Führung des eigenen Lebens überdacht und reflektiert werden soll. Diegrundlegende Frage, die man sich bei der Gewissenserforschung selbst stellt und bedenkt, lautet:„Wo ist etwas in meinem Leben nicht in Ordnung? Wo bin ich auf einem unguten Weg? Was sollteich an meinem Leben ändern, um eher Gottes Willen zu entsprechen?“ Ziel ist es, ein StückSelbsterkenntnis in Bezug auf seine Lebensweise und seine Verhaltensgewohnheiten zu gewinnenund sich wieder neu an Gott zu orientieren.Es gibt eine Tendenz bei den Bussspiegeln, dass mir die Fragen wie eine minutiöse Kontrollevorkommen, dass ich nur meine Fehler und Sünden sehe und mir konsequenterweise ziemlichschlecht dabei vorkomme. Das ist dann keine gesunde Fehlerkultur mehr, wo ich meine Fehler Gottentgegenhalte, um besser zu werden, sondern wo ich mir jede Selbstachtung und Motivation auchraube. Das Problem taucht in der Spiritualität häufiger auf. Teresa von Avila sagt einmal sinngemässmit Blick auf ihre vielen Sünden: „Ich bin bloss ein Misthaufen voller Sünden!“ Aber solche Aussagensind natürlich gemässen daran, dass fast alles, was ich als Mensch zustande bringe, vor Gott kleineMisthaufen sind. Es ist fatal, wenn ich bei diesem Blick auf die eigene Fehlerhaftigkeit stehenbleibeund nicht sehe, dass das barmherzige Erbarmen Gottes die andere Seite der Medaille ist. Aber eineTeresa von Avila konnte diesen Gedanken, sich als Misthaufen zu begreifen, gut annehmen, weil sie


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>38auch um das dazugehörige Gegenstück wusste, nämlich ein geliebtes Kind Gottes zu sein. Das wirdleider manchmal aus dem Zusammenhang gerissen, macht aber ein Stück der Stärke christlicherSpiritualität aus, dass ich als Mensch die Balance zwischen beidem halte: „Ich bin bloss einMisthaufen voller Sünden!“, aber auch „Ich bin das geliebte Kind Gottes!“Ein vielbeachtetes Buch trägt den programmatischen Titel „Ich bin o.k., Du bist o.k.!“ von ThomasHarris, dem Begründer der Transaktionsanalyse. Ich habe in den neunziger Jahren diesen Titel alsSlogan an einem Schulportal gesehen. Die Idee dabei ist, dass die Schülerinnen und Schüler einegesunde Selbstannahme erleben dürfen und einander geben sollen. Ein Vater, dessen Kinder auf dieSchule gegangen sind, hat mir bestätigt, dass man sich dort wirklich Mühe gibt, dass die Kinderpositive Wertschätzung erfahren. Er meinte allerdings auch, dass man manchmal übertreibe und Mistimmer noch Mist bleibt. Es ist kein Zufall, dass gerade aus christlicher Ecke dieser Titel aufgegriffenwurde, aber ergänzt wurde: „Ich bin o.k., ich bin auch mal nicht o.k., aber das ist o.k.!“ Christlichgesagt: „Ich bin ein geliebtes Kind Gottes, ich bin auch mal ein Misthaufen, aber Gott hält michtrotzdem und erst recht!“ Denn es geht darum, sich nicht bloss selbst anzunehmen und zu mögen,sondern dabei im Sinne einer gesunden Psychohygiene auch auf einen realistischen Umgang mitmeinen Schattenseiten zu achten. <strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong> heisst, diese Balance auszuhalten, und derEinsatz von Spiritualität kann dazu viel beitragen, weil der mich tragende Gott mich ja immer hält.Oder nochmals in anderen Worten: Meinem Schatten muss ich mich ja auch stellen, aber ich trageauch Licht in mir, und das wird mir helfen, meine Schatten zu umarmen.SeelenspiegelEs wäre allerdings auch eine Verkürzung, wenn der Spiegel in der Spiritualität nur als Beichtspiegelmit Blick auf meine Verfehlungen vorkäme. Aus den mittelalterlichen Gewissensspiegeln hat sichauch eine andere Form entwickelt, nämlich eine Betrachtungsliteratur, die ebenso versucht, derSeele einen Spiegel vorzuhalten, um ihr geistliches Wachstum zu ermöglichen. Der Seele wird einSpiegel vorgehalten, um ihr durch Fragen, durch Anregung, durch Zuspruch zu helfen, sich stärker anGott zu binden. Ein berühmtes Beispiel für solche Seelenspiegel ist das Büchlein „Spiegel dereinfachen Seelen“ der Begine Margaretha Porete. Im Unterschied zu den Gewissensspiegeln, die mirFragen vorlegen zu den Zehn Geboten, zu verschiedenen Lebensbereichen, usf. geht es beimSeelenspiegel viel stärker um einen Blick nach innen: Wie ist es um mein Herz bestellt?Im Spiegel GottesSchliesslich taucht in der Spiritualität gelegentlich auch der Blick auf Jesus Christus oder Gott auf, indem ich mich Spiegel. Ich erkenne dort nicht mich selbst, sondern indem ich auf sein Kreuz schaue,indem ich die Geschichten der Bibel mir entgegenhalte, indem ich über Gott nachsinne, spiegele ichmich in Gott. Martin Luther spricht etwa vom „Spiegel der Schrift“, d.h. indem ich zum Beispiel lese,wie barmherzig Jesus zu den Kranken oder Aussätzigen gewesen ist, stehe ich vor der Frage, wiebarmherzig ist selbst denn bin. Als einzelnes Beispiel, wie das Spiegeln der Seele in Gott aussehenkann, möchte ich ein Gedicht von Antoine Jüngst nehmen.Im SpiegelWie sehnt' ich mich nach dir, o Herr,Nach deiner heil'gen! Näh'!Mir war, als ob ich nirgends mehrDein heilig Antlitz säh'.So viel des Leids, so viel der NotIn diesem Tränental,Und schlimmer als der schlimmste TodDes Sündenelends Qual.So finster und so schicksalgroßDer Erde bange Nacht,Die staubgeborne Menschheit blosEin Spielball blinder Macht.Und du, o Herr, so fern, so fern! - - -Da grüßte ernst und mild,Auf dunklem Meer ein heller Stern,


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>39Im Spiegel mich dein Bild.Im Spiegel nur. — Doch wie ich schaut'Das hehre GotteslammIm Dornenkranz, blutübertautErhöht am Kreuzesstamm:Erbebt' in tiefster Seele ichVor Wonne und vor Schmerz,Die müde, dumpfe Schwere wichUnd Scham durchglüht' mein Herz.Wie dürft' ich zagen, zweifeln je,O Herr, daß deine Gnad'Durch bange Erdennacht und -wehMich führ' auf sichrem Pfad, —Wenn schon dein Kreuz, das ganzverstecktIm fernsten Winkel stand,Als ich im Spiegel es entdeckt,Mir ward zum Hoffnungspfand!Antonie JüngstDas Gedicht beschreibt nun wirklich eine Situation, wo jemand in einen wirklichen Spiegel schaut,also kein Buch, kein Fragenkatalog, keine Betrachtungshilfe, sondern ein echter Spiegel, der an derWand hängt und den Blick des Beters auf ein Kreuz in der Ecke des Zimmers lenkt. Der Beterbeschreibt erst die Gottessuche, die Sehnsucht nach Gott und die grosse Not um sich herum, die ihndenken lässt, Gott sei fern und hätte uns mit unserer Not alleine gelassen. Wie er aber das Kreuzsieht, erkennt er, dass all seine Not in der Not am Kreuz Jesu sich spiegelt, und so findet er wiederSicherheit und Hoffnung.Ich kann in einem Buch mich spiegeln, und erleuchte mein Gewissen, dass mir klarer wird, was ichtun kann. Ich kann mich in meiner Seele spiegeln, und richte mein Herz ganz auf Gott hin aus. Ichkann mich in Gott spiegeln, und das vermittelt mir eine Ahnung davon, wie nah Gott mir eigentlichist. In der christlichen Spiritualität kommen also vielerlei Spiegelungen zum Einsatz. Ich möchte diesnoch mit Blick auf sich selbst nochmals zuspitzen, zumal uns gerade die Mystiker nahelegen, dass ichim Spiegel meiner Seele Gott erkennen kann.4.2.3 Gott auf dem Grund meiner SeeleWarum funktioniert es gerade bei den Mystikern, dass sie Gott so nah erahnen können? Das ist soein Grundzug in christlicher Mystik, dass Gott erkannt wird oder vage gespürt wird eben nicht inBetrachtung der Sterne, von Sonne und Mond, nicht in der Betrachtung kirchlicher Errungenschaften,sondern in der Hinwendung zu sich selbst. Der Dichter Novalis sagt es einmal so: „Nach Innen gehtder geheimnisvolle Weg. In uns, und nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheitund Zukunft.“ Und wenn wir statt Ewigkeit Gott nehmen, dann sind wir bei dieser Grunderkenntnis,dass der Weg zu Gott geheimnisvoller Weise in das eigene Selbst hineinführt. Die Spiegelung führteinen mystischen Weg nach innen an, die bei Gott enden wird. Darum spielt das Herz dort so einegrosse Rolle. Beispielhaft haben wir das bereits kurz erwähnt mit Hinweis auf die Begine MargarethaPorete.Ich mache noch einmal Anleihen wie einem Dichter, um diesen Punkt zu vertiefen. Angelus Silesius,Arzt, Priester, Dichter weist darauf hin, dass nicht nur Gott auf dem Grund der Seele eines jedenMenschen ruht, sondern dass es eine Übung, ein Training, eine Reinigung des Herzens braucht, umsich dieser Dimension zu öffnen:„Mensch, denkst du Gott zu schaun dort oder hier auf Erden;So muss dein Herz zuvor ein reiner Spiegel werden.“Die Suche nach Gott beginnt in der Seele, aber ich muss dafür mein Herz bereiten. DieseGlaubenserfahrung mag ein Gnadengeschenk bleiben, mag nichts für jedermann sein, aber um sichdieser Erfahrung zu öffnen, muss ich mein Herz einüben. Ich mag mich selbst spiegeln, ich mag mich


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>40durch andere spiegeln lassen, ich mag Fragenkataloge und Selbstannahme-Übungen absolvieren,aber es braucht auch diese innere Reinigung. Ich drücke diese Überlegung noch einmal in anderenWorten aus: Wenn ich mich in Gott spiegele und mein Selbst sehe, wie Gott mich gedacht hat, undwenn ich dieses wahre, göttliche Selbst im Widerspruch sehe zu dem Menschen, der ich bin oder derich meine zu sein, dann gibt es zwei Möglichkeiten, die auch beide auftreten können: Zum einenkann es für mich eine grosse Erleichterung sein, mich von meinem falschen Selbst zu lösen und mirmein eigenes Herz zu fassen. Zum anderen kann diese Herzensübung mir auch so vorkommen, alswürde etwas in mir sterben, weil ich etwas abgebe. 8 Es ist einfacher sich selbst zu loben als Einübungvon Selbstannahme als sich selbst ein Stück weit loszulassen, um ein reiner Spiegel Gottes zu werden.Vom gleichen Dichter stammt ein Text, indem er uns nicht nur mahnt zu üben, sondern wo er auchbeschreibt, wie Gott in meiner Seele wohnt:„Fragst du, wie Gott, das Wort in einer Seele wohne,so wisse: wie das Licht der Sonnen in der Weltund wie ein Bräutgam sich in seiner Kammer hältund wie ein König sitzt in seinem Reich und Throne,ein Lehrer in der Schul, ein Vater bei dem Sohne,und wie teurer Schatz in einem Ackerfeldund wie ein lieber Gast in einem schönen Zeltund wie ein Kleinod ist in einer guldnen Krone,wie eine Lilie in einem Blumentalund wie ein Saitenspiel bei einem Abendmahlund wie ein Zimmetöl in einer Lamp entzundenund wie ein Himmelsbrot in einem reinen Schreinund wie ein Gartenbrunn und wie ein kühler Wein:sag‘, ob es anderswo so schön wird gefunden?“Wie wohnt Gott dort: wie das Wesentliche, Innerste, und ich muss nur der Raum dafür sein! Aber derText drückt auch etwas Weiteres durch diese wunderbare Bildsprache aus, dass nämlich meine Seelewunderschön ist, weil Gott in ihr hockt.Mit dem spirituellen Lehrmeister, der wohl am deutlichsten vom Gott in der Seele des Menschenspricht, Meister Eckhard, möchte ich diese Hinweise abschliessen:„Gott geht in die Seele mit seinem Ganzen, nicht mit seinem Teil. Gott geht hier in den Grundder Seele hinein. Niemand rührt an den Grund der Seele als Gott allein. Die Kreatur kannnicht in den Grund der Seele, sie muss in den Kräften aussen bleiben. Da mag sie ihr Bildbetrachten, mit Hilfe dessen sie eingezogen ist und Herberge empfangen hat. Gott wirkt inder Seele ohne alles Mittel, Bild oder Gleichnis, ja, tief in dem Grunde, wo nie ein Bild hinkamals er selbst mit seinem eigenen Wesen.“Selbsterkenntnis hat ja auch seine Grenze, der Blick in den Spiegel verstellt ja auch, aber Gott kenntmich immer besser als ich mich selbst. Das ist ein Gedanke, der mich ungemein entlastet.Ich fasse diesen Abschnitt, dass meine Seele ein Spiegel Gottes sein kann, weil Gott auf dem tiefstenGrund meiner Seele eben zu finden ist, kurz zusammen: Der Weg nach innen bringt mich hin zummenschlichen Herzen, und dies braucht eine Einübung, ein Loslassen vom falschen Ich, eineAnnahme dessen, wie Gott mich gedacht hat. Dann mag sich Gott in mir mir erschliessen mit einergrossen Schönheit als das Wesentliche meines Wesens, als das Innerste meines Inneren. Ich mag die8 Vgl. John Ortberg, ICH einzigartig, 30.32.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>41Tiefen meines Seele allen Spiegelungen, aller Selbsterkenntnis und aller Selbstannahme niemalsgänzlich ausloten, aber Gott hat das schon längst getan.KonkretIch habe viel von Spiegeln heute erzählt und versucht aufzuzeigen, wie wir Spiegelungen für unsereSelbstentwicklung, auch und erst recht für unsere Selbstheiligung nutzen können. Ich möchte zwei,drei Punkte zusammenfassen:• Ich kann viel für die eigene Selbstannahme tun. Dazu gehören sowohl meine Licht- wieSchattenseiten. Gott ist darin meine grösste Hilfe, weil er mich immer schon angenommenhat und weil ihm keine Schatten zu dunkel sind und das Licht ohnehin sein Licht ist.• Die Beschäftigung mit mir selbst ist unerlässlich für geistliches Wachstum.• Der Blick auf mich selbst kann mich zu Gott führen, der Blick auf Gott führt mich immer zumir selbst zurück.4.3 ÜbungDie Übung, zu der ich nun einladen möchte, liegt uns jetzt gleichsam auf der Hand.• Ich lade Sie ein zu einer Partnerübung, also jede/r braucht jemand anderen.• Wir setzen uns auf zwei Stühle, Rücken an Rücken.• Einer von beiden bekommt einen Spiegel in die Hand und schaut sich an. Der andere lässtdem Ersten Zeit, schaut auf die Uhr und wartet geschlagene fünf Minuten für eine stilleSelbstbetrachtung. Sich länger im Spiegel zu betrachten, ist nicht unbedingt leicht, manflüchtet gerne oder bricht ab, aber versuchen Sie sich getrost einmal diese langen fünfMinuten selbst anzuschauen.• Der Zweite liest dem Ersten dann den Text „Du bist ein Gedanke Gottes“ (s.u.) langsam Satzfür Satz vor als Zuspruch.• Die beiden Partner tauschen die Rollen.Vergiss es nie: Dass du lebst, war keine eigene Idee,und dass du atmest, kein Entschluss von dir.Vergiss es nie: Dass du lebst, war eines anderen Idee,und dass du atmest, sein Geschenk an dich.Vergiss es nie: Niemand denkt und fühlt und handelt so wie du,und niemand lächelt so, wie du's grad tust.Vergiss es nie: Niemand sieht den Himmel ganz genau wie du,und niemand hat je, was du weisst, gewusst.Vergiss es nie: Dein Gesicht hat niemand sonst auf dieser Welt,und solche Augen hast alleine Du.Vergiss es nie: Du bist reich, egal ob mit, ob ohne Geld;denn du kannst leben! Niemand lebt wie du.Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur,ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur.Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu!Du bist du, das ist der Clou, ja, du bist du!


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>42(Es wird sinnvoll sein, dies vorzuführen, um den Ablauf deutlich zu machen. Ggf. etwas leise Musikzur Untermalung!)4.4 Gruppenaustausch4.5 SchlussbetrachtungIch möchte einen Text von Klaus Hemmerle verlesen, der unswieder zurückbringt zu der Spiegelbetrachtung, mit der wir heutegestartet sind, jedoch nicht mit der Erkenntnis, dass wir wirklichnicht schön sind mit wenigen Haaren, hängenden Schultern usf.,sondern als ein Gebet:„Gebet vor dem Spiegel“„Eine der ersten Begegnungen, die uns der Tag beschert, ist immer diejenige mit uns selber; meistensvor dem Spiegel. Wir wissen alle, dass wir dann nicht in der Hochform des Tages sind. Das ersteMorgengebet besteht nun darin, dass ich mir in Ruhe sage: Dieser Mensch, den ich da im Spiegelsehe, ist ein von Gott geliebter und bejahter Mensch. Vielleicht frage ich mich in der erstenMorgenträgheit: Was ist an dem da schon liebenswert? Aber das ist meine Frage - nicht Gottes Frage.Gott liebt uns nicht nur dann, wenn wir in Hochform, wenn wir einmal selber mit uns zufrieden sind.Gott liebt uns - wie wir sind. Und so nimmt er uns an. Diesen Gedanken, dass Gott mich liebt, soll ichmorgens vor dem Spiegel so lange aushalten, bis ich ihm zustimme, bis ich dieses Gesicht im Spiegelannehme, ihm vielleicht ein bisschen Mut zuspreche oder gar zulächle.“(Klaus Hemmerle)Gebet & Segen


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>435 Fünfter Abend: Die Stufen hinaufwachsen5.1 Einstimmung<strong>Erwachsen</strong> werden heisst wachsen. Das heisst auch, dass ich Schritte selber gehe, und nicht blosswarte. Niemand hat das besser in Worte gepackt als der Dichter Rilke mit folgenden Zeilen:"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,die sich über die Dinge ziehn.Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,aber versuchen will ich ihn.Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,und ich kreise jahrtausendelang;und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturmoder ein großer Gesang."Es soll heute Abend darum gehen eine Perspektive zu bekommen für mein geistliches Wachstum.Dieses Gedicht ist vielfach zitiert worden, doch möchte ich es für unser Anliegen deuten, als<strong>Erwachsen</strong>e im Glauben zu wachsen:• Als <strong>Erwachsen</strong>er bin ich nicht fertig gewachsen, sondern ich gewinne immer wieder mal„Ringe“, also Lebenserfahrungen hinzu. Mit jedem meiner Ringe werde ich ein wenig älter,aber reicher, weiser, erfahrener. Das ist ein ungeheurer Schatz.• Ich sehe vielleicht nicht so recht, wo das Ende sein wird, weiss nicht, ob ich das Ziel aucherreiche, aber der Weg wird mich hier das Ziel lehren. Es geht immerhin um ein geistlichesWachstum, zu dem Gott mich führen will und führen wird.• Das Wichtigste am geistlichen Wachstum ist das Kreisen um Gott. Das bleibt für alle Ewigkeit,jahrtausendelang. Welche Entwicklungsphasen ich auch in meinem Leben erfahre odererleide, Gott bleibt der gleiche, und das gibt mir sehr viel Sicherheit und Gelassenheit.• Der Schluss des Textes bringt mich noch einmal zu mir Selbst: Wer bin ich denn, ein Falke,der hinausfliegt und Freiheit sucht, bin ich ein Sturm, der aufwühlt und in Schwung bringt,oder bin ich ein grosser Gesang, vielstimmig und erhaben? Geistliches Wachstum führt unsimmer wieder sehr stark zu uns selbst, zu dem Selbst, das Gott in uns sieht.5.2 ImpulsWenn es um geistliches Wachstum geht, stellt sich die Frage nach dem Ziel und nach dem Wegdorthin. In welche Richtung will ich denn wachsen? Wie muss ich meine nächsten Schritte setzen,welche Etappen sollte ich planen und erwarten, wenn ich mich auf diesen Weg begebe? Dabei ist esoftmals so, dass wir uns nicht konkret genug eine Vorstellung davon machen, wohin ich eigentlichwill. Ich darf für Gott und vor Gott ein Heiliger sein und werden. Aber Heilige sind sehrunterschiedlich, also wie sieht mein Selbst der Heiligkeit aus? Wie werde ich als Säulenheiligeraussehen? Ich will zu Gott, ich will in den Himmel, diesen göttlichen Raum. Was heisst das für mich?Das ist ein wunderbarer Traum, und oftmals sind wir einfach auf der Suche, den Ort zu finden, umdorthin zu gelangen. Wir fangen also mit einer Fingerübung statt, nämlich der Frage nach dem Wohinund mit dem Blick auf Jakob, wie er uns ein Beispiel gibt, wie das geht. Dort spielen die Stufen desWachstums eine zentrale Rolle. Wir werden uns heute mehrere Modelle anschauen, zunächst vongar nicht so spirituellen Lehrern, die uns ein paar erstrebenswerte Stufen vor Augen führen, dannvon sehr spirituellen Lehrern.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>445.2.1 Zielorientiertes Arbeiten an mir: Wo will ich hin? Wie hat Jakob das gemacht?Zielorientiertes Arbeiten?Im Geistlichen arbeiten wir selten zielorientiert. Ich stelle mir selten die Frage, wo ich eigentlich hinwill. Das Ziel geistlichen Wachsens und geistlichen <strong>Erwachsen</strong>-Werdens leidet entweder an zu grosserAllgemeinheit oder an zu grosser Schwammigkeit, das ich gar nicht klarbekomme, was ich damit tunsoll. Eine Vision, ein Traum ist aber auch nur so gut wie er mich hinführt zum Geschauten.Richard Rohr, der sich unter anderem ja sehr stark als Autor für Männerspiritualität hervorgetan hat,hat einmal die Beobachtung beschrieben, dass viele der religiösen Männergruppen, die von densiebziger bis weit in die neunziger Jahre entstanden sind, häufig nach zwei oder drei Jahren wiedereingegangen sind. Seine Diagnose angesichts dieser Symptome ist, dass viele Männergruppen keinZiel verfolgen. Sie machen ein gutes Programm, was Männer interessiert. Da macht Mann gerne eineZeit lang mit. Aber wenn dann nicht ein Schritt kommt, an dem ich reifen kann, der mich in meinerEntwicklung auch weiter führt, dann schwindet das Interesse. Dann helfen die vielen kleinen gutenBeiträge, die kleinen nützlichen Projekte nichts mehr, wenn der grosse Wurf nicht vor Augen stehtund eben auch konkret in Angriff genommen wird.Wir verhalten uns in Richtung geistlichen Wachstum manchmal so, als würden wir bloss Vorsätze anSilvester fassen. Es braucht auch im Geistlichen eine Ausrichtung, letztlich ein beständiges Kreisenum Gott, diesen alten Turm. Wenn ich das Ziel nicht im Auge behalte, werde ich die Reise entwederirgendwann abbrechen oder ich werde diese Reise erst gar nicht antreten, wie oftmals am Morgennach Silvester.Urmodell JakobsleiterWelche Stufen kann ich gehen? Wie komme ich langsam vorwärtsund aufwärts? Es gibt eine ganze Reihe von Modellen undBeschreibungen von spirituellen Meisterinnen und Meistern, beidenen ich mir ganz viel abschauen kann. Eine der ältesten Quellendieser Stufenmodelle finden wir in der Bibel. Dort ist es Jakob, dervon der Himmelsleiter träumt:„Jakob machte sich auf den Weg von Beerscheba nach Haran. Alsdie Sonne unterging, beschloss er, an dem Platz, an dem er gerade war, zu übernachten.Unter den Kopf legte er einen der Steine, die dort herumlagen. Während er schlief, sah er imTraum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel kamen auf ihrherunter, andere stiegen wieder zum Himmel hinauf. Der Herr selbst stand auf der Treppeund sagte zu ihm: ‚Ich bin der Herr, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land,auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Sie werden so unzählbar seinwie der Staub auf der Erde und sich nach allen Himmelsrichtungen ausbreiten. Am Verhaltenzu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden.Ich werde dir beistehen. Ich bewahre dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder indieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich. Alles, was ich versprochen habe, werde ichtun.‘ Jakob erwachte. ‚Der Herr wohnt an diesem Ort‘, rief er, ‚und ich wusste es nicht.‘“ (Gen28,10-16)Einige Punkte zu dieser Bibelstelle möchte ich anfügen:


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>45• Mit der Erzählung von der Jakobsleiter haben wir eigentlich die biblische Grundlage vor uns,der immer wieder aufgegriffen wurde, wo immer man sich Gedanken gemacht hat übergeistliches Wachstum, verbunden mit der Erkenntnis, dass geistliches Wachstum mitbestimmten Etappen oder Phasen verbunden ist.• Hier aber hat Jakob ja gar keine Ahnung. Er hat nicht danach gesucht, trotzdem hat er diesgefunden. Schlafend stolpert er gleichsam in diese Schau von der Himmelsleiter. Das mag füruns ein wichtiger Hinweis werden, dass viele Entwicklungsschritte im geistlichen Wachstumweniger von unserer Anstrengung abhängen, sondern oft mehr davon, dass wir gleichsamzufällig stolpern. Das aber, wenn es für den Jakob wie für uns diese Zufälle nicht gibt, sinddann auch nur die wohlgemeinten Stolpersteine, die Gott uns in den Weg legt, um uns aufdas ein oder andere zu stossen. Die Entwicklungsschritte geistlichen Wachstums hängen zumallergrössten Teil davon ab, dass mir Gott einen Weg weist und mir die Kraft und dasErbarmen schenkt, dass ich diesen Weg gehen kann.• Eine Gottesoffenbarung wird beschrieben. Der Bibeltext betont sogar noch, dass der Herrselbst oben auf der obersten Stufe der Treppe steht und sich als Gott seines Vaters undGrossvaters vorstellt, als der Gott des Landes, das sich als Lebensraum um ihn weitet.• Über Jakob spricht Gott seinen Segen aus. Die Art und Weise, wie er das tut, mit all denVersprechen, die schon für Abraham und Isaak galten und nun mit Jakob fortgeführt werden,mag uns ein Hinweis sein, wie Jakob nun an der Reihe ist, in diesen Strom des Segenshineinzuspringen und sich fortan von Gott treiben und antreiben zu lassen. GeistlichesWachstum heisst oft, dass ich in den Strom Gottes springe und mich von ihm treiben lasse.• Erst ist Jakob ahnungslos, dass dies ein besonderer Ort ist, wo er sich eben schlafen legt. Dashätte für ihn auch jeder x-beliebige Ort sein können, denn Jakob ist nicht wählerisch, er isteinfach nur müde. Darum ist er umso überraschter, als er erfährt, dass der heilige Ortausgerechnet dieser ist. Für uns können wir diese Bibelstelle also auch so lesen: Ich muss jagar nicht einen heiligen Ort suchen, sondern ich muss das Heilige bloss an dem Ortentdecken, an dem ich ohnehin schon bin!Sie merken vielleicht die innere Spannung, die hier auftaucht: Einerseits braucht es auch imGeistlichen eine zielorientierte Arbeit an mir selbst. Andererseits sind die geistlichenEntwicklungsschritte meist nicht machbar, sondern ein Akt der Gnade Gottes. Ich kann mich daraufeinstellen, ich kann suchen, ich kann darum beten, aber mehr eigentlich nicht. Diese Spannung wirduns erhalten bleiben.5.2.2 Fowler und die Spiral DynamicsIch möchte zwei Stufenmodelle vorstellen, die mit James Fowler eine Entwicklung religiösenGlaubens beschreiben, mit den sogenannten Spiraldynamiken eine allgemeinmenschlicheEntwicklung in Aussicht stellen. Beide sind also einem viel allgemeineren Publikum zugedacht. Beidehaben eine Reihe von empirischen Untersuchen auf ihrer Seite oder haben bewährte Modelle bereitsin sich integriert. Ich ziehe diese zunächst den eher spirituellen Lehrern vor, um nicht nur dieUnterschiede zu unterstreichen, sondern auch um aufzuzeigen, wie das, was wir im Christlichen, inder Religion seit Jahrhunderten in unserer Spiritualität hegen, ein Schatz ist, der an anderer Stelleeine ganz andere Entfaltungskraft entwickelt. Die Unterschiede zwischen dem, was ich jetzt vorstelle,und dem, was nachher noch kommt, mag uns also nachdenklich stimmen, aber die Gemeinsamkeitenmögen uns auch auf die eigenen Schätz aufmerksam machen, die wir nur oft genug unter auf einemKellerregal vergessen haben.FowlerJames Fowler ist Professor für Theologie und Entwicklungspsychologie und lehrte an der EmoryUniversity Atlanta, Georgia. Für die Glaubensentwicklung hat Fowler unter Verwendung der


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>46entwicklungspsychologischen Systeme ein klassisch gewordenes Stufensystem entwickelt: Demnachkann sich Glaube in 6 Stufen entwickeln. Diese Stufen sind anders als bei derEntwicklungspsychologie nicht an das chronologische Alter oder die Stellung im Lebenslaufgebunden. Nur für die ersten Stufen gibt Fowler kindliche Altersstufen an. Danach, so Fowler, bleibebei einer überwiegenden Zahl die Entwicklung auf einer der Stufen 3 oder 4 stehen. Nur wenigeerreichen demnach Stufe 5 und ganz wenige Stufe 6. Zum Erreichen einer Stufe ist wie in derEntwicklungspsychologie das Durchlaufen der vorigen Stufen erforderlich. Von einer einmalerreichten Stufe geht es nach Fowler immer nur weiter, nicht zurück. Glaubensentwicklung erfolgtdemnach immer nach diesen Stufen unabhängig vom Glaubensinhalt, d.h. die Behauptung ist dabei,dass es egal ist, in welcher Religion ich dies untersuche, ich würde immer auf diese Stufen kommen.Fowler versucht einfach zu beschreiben, d.h. er sagt nicht, dass ich mich in diese Richtung jetztentwickeln sollte oder dass Stufe 6 mein spirituelles, pädagogisches oder therapeutisches Ziel seinsollte. Er beschreibt, er will nicht bewerten.Die erste Stufe im Glaubensleben nennt Fowler den „intuitiv – projektiven Glauben“, typisch für dasKind im Kindergartenalter. Das Kind nutzt seine Einbildungskraft, die Fähigkeit, Erfahrungen instarken Bildern als Gegenstand von Geschichten zusammenzuschliessen, eine Welt der magischenVerschiebungen und Verdichtungen. (Es donnert, weil der Himmel auf uns böse ist). D.h. Geist,Wahrheit und Welt sind noch nicht klar differenziert. Dieser Glaube kann in animistischer Religiosität(Beseeltheit aller Dinge) auch das erwachsene Leben prägen. Auf dieser Stufe wird die Tiefenstrukturdes Glaubens, das spirituelle Vertrauens- und Bindungsmuster geprägt. Es ist die elementare Weisedes Glaubens, so zu sagen der soziale Klebstoff, der eine Kultur zusammenhält. Es geht um einreligiöses Urvertrauen. Dieser entspricht individualpsychologisch der Zeit von etwa 2 bis 7 Jahren.Der Mensch der Stufe 2 - verbindender Glaube -, Kind oder <strong>Erwachsen</strong>er, denkt über die Vielfalt derDeutungen und Bedeutungen der Glaubensinhalte, der Lehren und Dogmen, Mythen und moralischeRegeln noch nicht nach, jedoch können Götter, bzw. höhere Wesen die Welt regeln und ordnen.Diese Regeln werden strikt wörtlich genommen und Symbole eindimensional wörtlich verstanden.Der Mensch glaubt sehr bildhaft: Gott ist oben, das Böse unten, Gott hat als alter Mann Hände undFüsse, Gott ist ein Gegenüber, ein Du, mit dem ich direkt reden und sprechen kann. Mythos wieMetaphern werden als wirklich genommen. Diese Stufe entspricht in der Regel dem Alter zwischen 7und 12 Jahren.Fowlers Stufe 3 - ein synthetisch-konventioneller Glaube - entfaltet sich normalerweise imJugendalter, für sehr viele <strong>Erwachsen</strong>e wird sie aber ein dauerhafter und lebenslanger Ort desGleichgewichts. Das System der prägenden Inhalte, Werte und Bilder, an die sich die Menschenbinden, ist in der Hauptsache ein „stillschweigend übereinstimmendes System“. Man kann dieauswendig gelernten und eingeübten Glaubensinhalte und religiösen Bilder benennen, vollzieht denGlauben mechanistisch im ständig wiederkehrenden Zeremonien und sich wiederholenden Liturgien,fühlt sich ihnen emotional tief verbunden. Man hält daran fest und auch an den Erwartungen undUrteile der Amtsträger und Autoritäten. Diese müssen es ja wissen, denn sie haben es schliesslichstudiert! Eines eigenständigen Urteils ist man sich mangels Wissen oder Erfahrung nicht sicher genug,um eine eigene, unabhängige Perspektive konstruieren zu können. Auf Stufe 3 hat der Mensch einkompaktes Bündel von Werten und religiösen Inhalten, aber es besteht eine Diskrepanz zwischenIdeologie und Glaubensvollzug in der Kirche einerseits, und der Anwendung des Glaubens im Alltagandererseits. Man lebt gläubig in der vertrauten Gruppe mit übereinstimmenden Werten: „Das istmein religiöser Stamm.“Auf Stufe 4 - individuierend-reflektierter Glaube - beginnt eine vertiefte Reflexion über den eigenenGlauben. Ich frage nicht länger bloss danach, was den Glauben meiner Gruppe ausmacht, dasBekenntnis meiner Kirche, sondern ich überlege, was ich selbst davon halte. In diesem Stadium bleibtdem Glaubenden die Einsicht, dass das Leben komplexer ist, als die Logik der klarenUnterscheidungen und abstrakten Begriffe, meist verschlossen. Wenn sich bei religiösen


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>47<strong>Erwachsen</strong>en diese Stufe ausbildet, dann meist frühestens nach dem Verlassen des Elternhauses,aber oft erst in den 40ern. Die eigene Subjektivität fliesst in meinen Glauben mit ein, und ich gewinnedadurch einen eigenen Selbststand im Glauben.Auf Stufe 5 - der verbindende Glaube - beginnt gewöhnlich erst nach der Lebensmitte. Die eigeneWeltsicht wird mit der Weltsicht anderer verbunden. Das Rationale kann wieder einer neuen Naivitätweichen, wo viele Gegensätze zusammengesehen werden. Das Mythische und Symbolische wird mitder Wirklichkeit verbunden gesehen. Denken und Erfahrung gehören wieder stärker zusammen. DieBegegnung mit anderen Traditionen lässt erahnen, dass deren Wahrheit die eigene Wahrheitergänzen oder korrigieren. Das Gespräch zwischen Verschiedengläubigen wird als bereichernderfahren, weil erst mehrere Teilwahrheiten die eine grosse Wahrheit über das Göttliche erahnenlassen.Menschen der sechsten Stufe mit einem universalisienden Glauben werden achtlos gegenüber denGefahren für das eigene Selbst. Sie folgen dem Imperativ der absoluten Liebe und Gerechtigkeit,egal, wohin er führt, sie verlassen die Welt der bürgerlichen Sicherheiten. Diese Menschen lebenohne Dogmen und Glaubensbekenntnisse, da ihr Leben und oftmals auch ihr Sterben identisch sindmit ihrem Glauben. Nur sehr wenige Menschen wie Mahatma Gandhi, Mutter Teresa, Martin LutherKing oder Jesus Christus haben diese Stufe erreicht. Die Person lebt radikal so, als ob das, wasChristen das „Himmelreich“ nennen, bereits real wäre. Der Mensch kann sich selbst verleugnen undganz im Glauben aufgehen.Es ist natürlich reizvoll, sich selbst irgendwo auf einer dieser Stufen wiederzufinden. Ich finde esschwer, diese Stufen anzuschauen, ohne mich unter den Druck zu setzen, dass ich doch wenigstensauf Stufe 5 kommen sollte. Es verwundert nicht, wenn James Fowler vorgeworfen wurde, er hättehier ein neuzeitliches-humanistisches Ideal entwickelt, aber kein religiöses Ideal, das der Bibelentspricht. Behalten wir dieses Stufenmodell aber getrost als ein Instrument der Selbsterkenntniswie auch als Herausforderung zu wirklich geistlichem Wachstum. Ein solches Modell kann uns jaeinen guten Impuls geben, was <strong>Erwachsen</strong>werden heissen kann, wenn auch nicht es unbedingt soaussehen muss.SpiraldynamikenIch möchte ein anderes zur Ergänzung ein ähnliches Stufenmodellhinzufügen, dass nochmal anders ansetzt. Der amerikanischeEntwicklungspsychologe Clare Graves hat mit Blick auf die gesamtegeistige Menschheitsgeschichte Stufen entwickelt, welchebestimmte Weltsichten beschreiben. Don Beck und ChristopherCowan haben dies zu einem anwendbaren Wissen mit derBezeichnung Spiral Dynamics weiterentwickelt, das weltweit inWirtschaft und Politik eingesetzt wurde. Wir haben also wieder einModell vor uns, das sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruft.Dies geschieht diesmal jedoch ohne Einbezug der Religion, undgerade darum ist es für uns interessant, dies mit Fowler zu vergleichen. Die Spiraldynamiken bietenuns ein Stufenmodell an, das vorwiegend auch für Führungskräfte und Manager empfohlen wird,damit diese an der Entwicklung ihres Wertesystems bzw. ihrer Weltsicht arbeiten und dies in ihreUnternehmen hineinnehmen. In aller Kürze:• Beige: Überleben - Hier geht es um die "nackte" Existenz, um die Erfüllung derGrundbedürfnisse (Nahrung, Sicherheit). Diese Ebene muss natürlich auch bei Unternehmenals erstes gesichert sein, sonst droht Insolvenz.• Purpur: Stamm - Bildung einer Gemeinschaft mit "Stammes"-Bewusstsein. Die Welt derAhnen(geister) und der Magie, die Schutz vor unerklärlichen Phänomenen liefern soll. Die


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>48Würdigung dieser Stufe in Form von Anerkennung der Wurzeln (Gründer,Unternehmenshistorie) ist auch in westlichen Unternehmen wichtig und hat Einfluss auf denUnternehmenserfolg (siehe auch Strukturaufstellungen).• 3. Rot: Egozentrische Macht - Egozentrik und Macht steht im Vordergrund. Nur der eigeneVorteil ist wichtig. Dafür geht man auch (im wahrsten Sinne) über Leichen. Hier befinden sichUnternehmen mit Mafiastrukturen.• Blau: Mythische Ordnung - Es bilden sich Regeln, Gesetze und Werte. Alles hat einen vonoben festgelegten Sinn. Hierarchien sorgen für Ordnung. Treue und Loyalität wird belohnt.Das Interesse richtet sich nun auf Titel und gesellschaftliche Positionen in absolutistischenOrganisationen und patriarchalisch geprägten Organisationen. Diese konservative,komformistische Sicht umfasst ca. 30% der westlichen Welt und ist am stärksten inBürokratien und Grossunternehmen zu finden.• Orange: Wissenschaftliche Leistung - Die Welt der Wissenschaft und des Materialismus. Hierfinden wir Streben nach persönlichem, maximalem Erfolg, Wissen und Freiheit. Hier gilt:„Leistung muss belohnt werden“ und „Jeder kann gewinnen“. Unternehmen stehen imWettkampf zueinander, ständig auf der Suche nach immer besseren, effizienterenGeschäftsprozessen. Westlicher Anteil ca. 40%, d.h. dies ist die Sicht der meistenUnternehmen.• Grün: Sensitives Selbst - Diese Sicht steht für multikulturelles Bewusstsein, Pluralismus,Ökologie und Gleichberechtigung. Das Wir rückt in den Vordergrund. Gemeinsames Handelnim Team schafft neue Synergien. Es entstehen soziale Institutionen und Netzwerke, einesoziale Marktwirtschaft, Hilfsorganisationen. Anteil ca. 20%.• Gelb: Integral - Systemisches "Big Picture"-Denken und flexibles Handeln sind die Antwortauf komplexe Probleme, wie etwa globale Ökologie und sich rascher entwickelndeTechnologien. Alles befindet sich in Systemen in Systemen in Systemen. Erst aus dieser Sichtwird es möglich, alle Stufen wertzuschätzen und zu integrieren.• Türkis: Ganzheitlich - Globale Zusammenhänge werden wahrgenommen und alles danachausgerichtet. Vereinigung von Fühlen und Wissen; multiple Ebenen, verwoben in einbewusstes System. Eine universelle Ordnung, in einer lebendigen, bewussten Weise, dienicht auf äußeren Regeln (blau) oder Gruppenbindungen (grün), beruht. Hier befinden sichnur 0,1% der Bevölkerung.• Dass alles mit allem zusammenhängt, ich als Individuum mit allem zusammenhänge, das isteine Weltsicht, die sich erst langsam abzeichnet. Die Menschheit hat hier also ein Potential,in noch weitere Stufen hineinzuwachsen.Jeder Mensch und jede Organisation, die sich auf einer dieser Stufen befindet, hält die eigene Sichtfür die einzig Richtige und bekämpft die anderen. Da in grossen Unternehmen in der Regel ein Mixaus blau, orange und grün zu finden ist, sind die Konflikte vorprogrammiert. Die Orangen lehnen dieBlauen ab, die aus ihrer Sicht Veränderungen blockieren, und sie lehnen Grüne ab, die immer alleMeinungen integrieren wollen und daher endlos diskutieren. Grüne mögen die herzlosen,geldorientierten Orangen nicht und misstrauen blauen Hierarchien, usw. Damit wird uns auchdeutlich, warum dies für Führungspersonen in Wirtschaft und Politik von Bedeutung ist.Fowler und die Spiraldynamiken entwerfen ein bestimmtes Bild, wohin die Reise geht. Sie sagen uns,was es heisst im geistlichen und geistigen erwachsen zu werden. Fowler tut dies mit Blick auf dieLebensalter, die Spiraldynamiken tun dies mit Blick auf die Menschheitsgeschichte und zugleich aufdie Lebensalter. Es gibt dabei faszinierende Übereinstimmungen:• Die eine Stufe, die ich hinter mir lasse, nehme ich immer auch mit.• Als Mensch ist mir die Richtung angegeben: ich werde immer universaler, ganzheitlicher. Voneiner engen Sicht auf mich selbst oder meinen Stamm wachse ich hinein in eine Weite, wodie Gegensätze dieser Welt sich auflösen und ich innerlich die ganze Welt umfasse.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>49• Es gibt hier wie dort die Tendenz, dass ich daran wachse, wenn ich vom Wortwörtlichen zurBedeutung, von der Institution zum Individuellen, vom Äusserlichen zum Innerlichenentwickle.Die Frage aber ist auch, ob diese Form des geistigen <strong>Erwachsen</strong>werdens auch das Gleiche ist wie dasgeistliche <strong>Erwachsen</strong>werden. Die Frage wird deutlich, wenn ich mit einem solchen Modellnachschaue, welchen Gott ich suche. Überspitzt formuliere ich einmal so: Ist Gott denn wirklich erstzu finden als das geistige, holistische Überetwas, das sich in einem global-ganzheitlichen Bewusstseinerfahrbar wird, kein Du mehr, sondern bloss ein numinoses Es? Ich mag mich nicht so einfach lösenvon einem Gott, der mir wie ein Vater ist, eine Person, die mich hört, und die gelegentlich auchmeinem Stamm genauso hilft wie dem Rest der Menschheit.5.2.3 Von spirituellen Treppen und geistlichen LeiternMachen wir also von diesen allgemeinen Stufenmodellen hinüber zu den religiösen, christlichenModellen. Ich möchte einen diese Wende kurz umreissen und dann mehrere geistlicheStufenmodelle kurz ansprechen.Ortberg: Geistliches WachstumIch greife auf John Ortberg zurück, der in den vergangenen Jahrenzu einer wichtigen und zudem gut verständlichen Stimmegeworden ist, wo immer es um geistliches Wachstum geht. Er istPastor in der Menlo Park Presbyterian Church in Kalifornien.Kürzlich habe ich in einem Artikel von ihm gelesen, wie er sichdarüber ärgert, wie über geistliches Wachstum oftmals geredetwird. 9 Er nennt sechs Punkte:• Zunächst einmal ist es ärgerlich, als sei geistlichesWachstum nur etwas für besonders spirituell Interessierte, einSonderprogramm für jene, die eben etwas mehr in Sachen Glaubewollen. Dabei hat Gott doch in jeden Gläubigen etwas hineingelegt,das keimen und wachsen soll.• Die Methoden sind manchmal ärgerlich. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Beratern undBeratungsbücher auch für das Religiöse, die mir die eine gute Methode verkaufen. Es gibteine Vielzahl wirklich guter Methoden. Es gibt diese religiösen Wanderer, die vom Jakobswegzur Zenmeditation zur Engeltherapie zum christlichen Reiki (Das gibt es nicht) kommen. AlleNaselang wird eine neue Sau durchs Dorf gejagt. Aber das ist nicht geistliches Wachstum.Bleiben wir bitte im geistlichen <strong>Erwachsen</strong>werden vernünftig, nicht als fleissiger Schülervieler Methoden, sondern dass ich ein liebender Mensch werde.• Das eigene Selbst ist zentral für das geistliche Wachstum. Das zeigt sich in einer Veränderungin mir, die nicht nur meine Geistlichkeit, sondern auch meine Menschlichkeit betrifft. Dasmüssen andere spüren, dass ich geistlich wachse, ohne dass ich ein Wort darüber verliere,sonst mache ich mir etwas vor.• Geistliches Wachstum bleibt ein Geschenk von Gott.• Ortberg betont, dass geistliches Wachstum nicht über Nacht kommt. Es dauert lange und istauch schwer. Das ist sehr ärgerlich.• John Ortberg ärgert sich besonders darüber, dass das auch bei ihm so ist.Mit John Ortberg mögen wir die Korrekturen konkret machen, die wir gegenüber Fowler und denSpiraldynamiken formulieren können, wenn wir Stufenmodelle für christliches, religiöses Wachstum9 Vgl. John Ortberg, Was mich ärgert, in: Aufatmen Aug- Okt 3/<strong>2013</strong>, 83.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>50suchen. Es geht nicht um ein Leistungsdenken, es geht nicht darum, eine heimliche Listeabzuarbeiten und mein Unternehmen so vorwärts zu bringen. Das verstellt eher geistlichesWachstum. Es geht viel eher darum, das zu entwickeln, was Gott längst in mich als Individuum, alssein geliebtes Kind hineingelegt hat. Und schliesslich geht geistliches Wachstum, von diesem Gott sozu lernen, dass ich ein Mensch einer übergrossen, göttlichen Liebe zu werden.Ich möchte drei Stufenmodell aus der christlichen Spiritualität nun vorstellen, die alle drei uns einegewisse Bandbreite aufzeigen. Ich gehe zunächst auf Abt Benedikt von Nursia ein, dann auf dieBegine Margareta Porète und dann auf den Trappistenmönch Thomas Merton.Benedikt: Stufen der DemutDen Weg der Heiligkeit als ein Weg mit verschiedenen Stufen zubeschreiben, hat eine ganz lange Tradition in der christlichenSpiritualität. Viele der frühen Mönche und Kirchenväter, Cassian,Augustinus, Klemens von Alexandrien wie Irenäus haben hierwichtige Impulse geliefert. Am stärksten und einflussreichsten hatdies der heilige Benedikt in seiner Mönchsregel ausgeführt.Benedikt von Nursia war ein Einsiedler und Abt. Er lebte in der Zeitdes Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter. In dieserZeit gründet er eine Klostergemeinschaft von Mönchen, und seineRegel wird wegweisend werden für die meisten späteren religiösenGemeinschaften. Benedikt übernimmt von Cassian, das der Wegder Heiligkeit ein Weg der Demut sein muss, mit dem ich den Tanzum das eigene Ich beende und mein Herz ganz an Gott binde. Derzwölfstufige Weg der Demut gilt als ein Herzstück der Benediktsregel. 101. Gottesfurcht2. Nicht nach Lust und Laune leben3. christusgemässer Liebesgehorsam4. Starkmut, Belastbarkeit, Ausdauer und Geduld im Kloster5. Eröffnung, Aussprache und Bekenntnis6. Anspruchslosigkeit und Dienstbereitschaft des Mönchs7. Verwurzelung der Demut im Herzen8. Anerkennung der bewährten Lebensform des Klosters9. Zurückhaltung in der Art des Sprechens und Schweigens10. Überlegte Worte11. Zurückhaltung beim ungehörigen Lachen12. Erreichung der geistgewirkten, furchtfreien LiebeDas ist ein Klassiker. Und wenn uns das ein oder andere auch überrascht oder seltsam anmutet, solässt uns dieses Stufenmodell doch erahnen, dass sich darin viele alltägliche Erfahrungen im Klosterniederschlagen. Benedikt und seine Mönche haben lange geübt und ausprobiert, bevor sie sich dieseRegel gegeben haben. Wenn ich in der Benediktsregel die Erläuterungen genauer lese und vielleichtauch noch zwischen den Zeilen stöbere, dann kommen viele kleine Alltagsanekdoten heraus. Ichgehe auf die fünfte und sechste Stufe zur Demut näher ein.Die Benediktsregel sagt zur fünften Stufe der Demut, dass der Mönch seinem Abt alle bösenGedanken und Taten anvertrauen soll und nicht verbergen soll. Angefügt sind einige Bibelstellen, dienicht nur das Bekenntnis mit Bibelstellen untermauert empfehlen, sondern darin auch eine Übung10 vgl. Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben; übersetzt und erklärt von Georg Holzherr,Freiburg 2005, 137.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>51sehen, um durch die Person des Abtes mein Vertrauen in Gott einzuüben. Darum folgt hier dasSchriftwort: „Eröffne dem Herrn deinen Weg und vertrau auf ihn!“ Dazu ist die rückhaltloseAussprache mit dem Abt ein bewährtes Mittel. Ich werde geistlich daran wachsen, wenn ich letztlichvor Gott alles auf den Tisch legen kann. Mein Vertrauen wächst dadurch - natürlich vorausgesetzt,der Abt nutzt dies nicht zur Kontrolle und ist des in ihn gesetzten Vertrauens vor Gott wert.Die Benediktsregel sagt zur sechsten Stufe der Demut, dass der Mönch mit der allergeringsten Arbeitzufrieden sein soll und sich für einen schlechten Arbeiter halten soll. In einem Kloster muss jemandhalt den Stall ausmisten oder die Klos putzen. Ich kann das mit Zufriedenheit tun, wenn ich michnicht für etwas Besseres halte. Wir mögen uns bei dieser Regel vorstellen, wie oft die Möncheuntereinander auch voll Neid aufeinander geschaut haben, wer jetzt welche Aufgabe übernehmendarf. Aber in einer Klostergemeinschaft geht es nicht darum, welche Arbeit ich mache, sondern dassich mit jeder Arbeit Zufriedenheit finde, weil ich für Gott arbeite. Auch bei der sechsten Stufe folgtdarum ein Bibelwort, damit ich mich als nützlicher, unverständiger Esel bei Gott einfinde: „Zu nichtsbin ich geworden und verstehe nichts; wie ein Lasttier bin ich vor dir und bin doch immer bei dir.“Wir leben nicht im Kloster, aber wir können solche Regeln eigentlich leicht in unseren Alltag daheimin der Familie, unterwegs im Beruf, auch in einer Pfarrei übertragen: Wo übe ich an meinenMitmenschen mein Vertrauen in Gott ein, indem ich einfach ehrlich bin? Wo bringe ich mich ein, alsGottes geliebter Esel, weil er mir diese oder jene Last gerade auferlegt? In der Benediktsregelschlagen sich viele alltägliche Erfahrungen nieder!Wir nehmen wohl auch hier die Grundtendenz wahr, dass es hier zunächst eigentlich bloss um dieDemut geht, aber dann doch auch um ein Ideal von Heiligkeit. Dieses Modell der Demutsstufendrängt sehr stark darauf, dass ich mir sage: Ich muss mich zurücknehmen, ich muss mich selbst nichtso wichtig nehmen, mein Selbst muss ich zurückstellen. Wir tun uns daran heute schwer. Aber ausdiesem Modell der Demutsstufen lässt auch dies herauslesen: <strong>Erwachsen</strong> zu <strong>glauben</strong> heisst auch soim <strong>glauben</strong> zu wachsen, dass mein Herz reift hin zu einer starken, gotterfüllten, alltagstauglichenLiebe. Ich muss das in meinem Alltag einüben.Margareta Porète: SeinsweisenMargareta Porète war eine französische theologischeSchriftstellerin im 13. Jahrhundert. Sie gehörte der religiösenBewegung der Beginen an. Als Autorin einer Schrift, die gewöhnlichmit dem Kurztitel Spiegel der einfachen Seelen zitiert wird, erregtesie Aufsehen. Auch sie bedient uns mit einem Stufenmodell. Siebenennt die Stufen als Seinsweisen, allerdings müssten wir heutewahrscheinlich eher von Bewusstseinszuständen reden.• Erste Stufe: Mühe der Gebote: „Im ersten Zustand wachtdie Seele über ihren Lebenswandel und bemüht sich, GottesGeboten zu folgen. Ihr Verhalten ist noch von Furcht und Mühegeprägt und es erscheint ihr mühselig und anstrengend, dieVorschriften und Weisungen einzuhalten.“ In anderen Worten: Ichhalte halt die Regeln ein, aber die wollen einfach keinen Spass machen.• Zweite Stufe: Tugenden tun: „In der zweiten Seinsweise geht sie über dieses Stadium hinaus.Verstärkt übt sie sich nun in Tugendwerken und befolgt das, was Gott seinen besonderenFreunden rät. Nach dem Vorbild Jesu Christi ist sie redlich bemüht, ihre Verstrickung inweltliche Freuden und Leiden zu lösen.“ In anderen Worten: Regeln geben mit Blick auf Gotteinen Sinn, und darum strenge ich mich an.• Dritte Stufe: Gutes lieben: „Den dritten Zustand hat die Seele erreicht, wenn sie nur noch dieWerke der Güte und der Vollkommenheit liebt und wenn sie in der Erfüllung dieser Taten


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>52ihre Befriedigung findet. Sie verzichtet auf das eigene Werk und löst ihre Anhänglichkeit anTugendwerke auf. Das Selbst zerbricht und die Seele beginnt, frei zu werden von sich selbst.“- Es ist bemerkenswert, hier mit Seitenblick auf die Benediktsregel einen Vergleich zu Fowlerund Spiraldynamiken zu vergleichen. Denn auch Porète ist keine Freundin von Regeln undInstitutionen und meint, dass man diese wie Krücken irgendwann hinter sich lässt. Aber siewirft diese nicht einfach hinter sich, sondern nutzt sie, um eine andere innere Haltung zu denguten Werken zu erreichen und um dadurch Jesus Christus nachzufolgen.• Vierte Stufe: Verliebtheit: „In der vierten Seinsweise wird die Seele hochgemut, fröhlich undleichtsinnig. Sie erlebt ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Sättigung. Sie lernt die Trunkenheitder Liebe kennen! Diesen verführerischen Zustand will die Seele festhalten. Sie will nur nochihn gelten lassen und nicht wahrhaben, dass noch weitere Stadien zu durchlaufen sind.“ -Hier kommt Porète wohl zu dem für sie typischen Beitrag. Die Seele erlebt eine Liebe, eineMinne, sie ist begeistert und will diesen Moment festhalten.• Fünfte Stufe: Zwischen Lichtstrahl und Abgrund: „In der fünften Seinsweise erlebt die SeeleFreudenausbrüche zusammen mit ihrem Freund, dem grossmütigen, hinreissendenFernnahen. In einer blitzartigen Öffnung manifestiert sich der Ferne als Naher, alsAllernächster sogar. Dieser Lichtstrahl hinterlässt in der Seele einen unsagbar tiefen Frieden,einen Frieden über allen Frieden. In dieser Seinsweise betrachtet die Seele sich selbst undblickt in den tiefsten Abgrund. Sie erkennt ihre eigene Schlechtigkeit, die eigene Schwächeund Torheit, während dort, auf dem Gipfel des Berges, die göttliche Güte, Weisheit undMacht zu erkennen sind.“ - Viele, die im geistlichen Leben fortgeschritten sind, berichten vondiesen Glaubenserfahrungen, dass es die Zeiten gibt einer grossen Nähe zu Gott, aber auchdas Erlebnis einer grossen Gottesferne und Gottesnacht. Das erleben wohl alle, derenVerliebtheit erwachsen werden will.• Sechste Stufe: Glühen in Gottes Feuer: „In der sechsten Seinsweise wird die Seele befreit. Sieist ein Nichts, zunichte geworden, aber Gott wirkt in ihr. Er wirkt durch sie, aber ohne sie,denn Ich und Selbst existieren nicht mehr. Sie ist umgewandelt in das, was sie mehr liebt alssich selbst, schwimmt in einem Meer der Freuden, bis sie selbst nur noch Freude ist. Sie glühtim Schmelzofen des Liebesfeuers und wird selbst zu Feuer.“ In anderen Worten: Um ganz freizu werden für Gott, muss ich mich radikal von meinem Ego befreien. Der Gewinn dabei istLiebe, Freiheit, Freude.• Siebte Stufe: Post mortem: „Über die siebte Stufe, die hierauf folgt, können wir in unserermenschlichen Existenz nichts aussagen, denn wir erfahren diese Seinsweise erst, wenn dieSeele den Körper verlassen hat.“Wir tun uns sicherlich nicht gerade leicht damit, wie stark hier der eigene Wille hingegeben wird.Heute kann man sagen, dass man sein Selbst erweitern will, aber doch nicht reinigen und klären. Ichkann heute sagen, dass man Bewusstsein sich weiten soll, aber das sich auch das eigene Herz so weitweiten lassen soll, erscheint uns schwierig. Wir mögen das ausgleichend finden, wenn bei diesenSeinsstufen so stark wie sonst nirgends von einem Weg hin zur Liebe und zur Freiheit gesprochenwird. Die Stufen dieser Seinsweisen kommen uns besonders dort, wo vom Gottfernen oder vomGlühen im göttlichen Feuer die Rede ist, stark mystisch vor. Margareta Porète schlägt allemal einenWeg nach innen ein, der weniger noch als bei Benedikt von der Praxis des Zusammenlebens imKloster kommt, sondern stärker aus ihren eigenen Erfahrungen im persönlichen Gebet.Mertons Berg der sieben StufenIch habe lange Zeit geglaubt, der Trappistenmönch Thomas Merton habe mit seinem SelbstberichtDer Berg der sieben Stufen auch wirklich sieben Stufen beschrieben. Ich habe beim Lesen immerwieder die Zeilen gesucht, wo er mir sagt, was die eine, was die andere Stufe ist und woran icherkenne, dass ich ein Stück weiter gekommen bin. Aber eigentlich sagt er zu dieser Grundidee wenig.Ich lese eine der wenigen Stellen vor, an denen der seinen Stufenberg beschreibt:


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>53„Ich war daran, den hohen, siebenstöckigen Berg eines Fegfeuers zu besteigen, der steilerund mühsamer war, als ich mir in der Phantasie vorstellen konnte, und ich hatte keineAhnung vom Aufstieg, der mich erst noch erwartete. Die Hauptsache war, dass ich einenAnfang machte. Diesen Anfang bildete die Taufe, ein hochherziges Geschenk Gottes wiekaum ein zweites.“ 11Der siebenstöckige Berg des Fegefeuers ist ein Bild, das bei Danteauftaucht. Dante beschreibt in der Göttlichen Komödie einensiebenstöckigen Berg des Fegefeuers, den die armen Seelenbesteigen müssen, um doch noch in den Himmel zu kommen: aufStufe eins büssen die Stolzen, auf Stufe zwei die Neider, auf Stufedrei die Zornigen, auf Stufe vier die Faulen, auf Stufe fünf dieHabsüchtigen, auf Stufe sechs die Masslosen, auf Stufe sieben dieWollüstigen. Dante beschreibt den Weg auf den Berg alsLäuterungsweg.Thomas Merton, literarisch sehr gut bewandert, greift dieses Bildvon Dante auf und sieht sich selbst als Büsser, denn bevor erMönch wurde, hat er ein ordentliches Lotterleben ohne Gottgeführt. Er kannte Gott einfach nicht, hatte sich nicht gross fürReligion interessiert. Und für ihn ist der Weg, der mit seiner Taufeals <strong>Erwachsen</strong>er beginnt ein Weg, auf dem er sich lösen muss vonseinem falschen Selbst, von seiner Eitelkeit, von seinen Ambitionen. Für ihn beginnt ein Weg, wo ersich etappenweise von Gott geführt weiss. Die Stufen sind für ihn einfach verschiedeneLebensetappen, die Gott ihn führt, die ganze Suchbewegung, ob er nun Lehrer oder Schriftstelleroder in der Tat Mönch oder sogar Priester werden soll. Auf diesem Weg schält sich für ihn immerdeutlicher heraus, wohin Gott ihn führt, zu seinem wahren Selbst.Merton mag dem heutigen Lebensgefühl insofern näher stehen, weil er dem Selbst einen hohenWert einräumt. Er unterscheidet einfach genau, was ein falsches Selbst ist, mit dem ich mich von mirselbst abbringe, oder eben das wahre Selbst, so wie Gott mich sieht. Er setzt also nicht bei denErfahrungen im Klosterleben an wie Benedikt, auch nicht bei den Erfahrungen im Gebetsleben wiePorète, sondern bei seinem eigenen Leben. Auf uns hin gewendet ist das gleichsam die Einladung zusehen, wo in meiner eigenen Lebensbiografie markante Punkte oder Bruchstellen sind, dieLebensphasen oder -etappen markieren. Wie hat Gott mich geführt? Wo hat Gott mir geholfen, meinfalsches Selbst abzulegen? Wo habe ich den Eindruck, dass Gott mir Chancen gibt, mein wahresSelbst zu finden.Wir haben einen Bogen geschlagen, angefangen von dem Sinn zielorientierter Selbstverbesserungund dem Jakob, dem alles im Schlaf geschenkt wird. Dann haben wir zahlreiche Stufenmodellegeistigen bzw. geistlichen Wachstums kurz gesehen. Dabei kommt es zu verschiedenenGemeinsamkeiten, auch zu manchen Unterschieden. So stehe ich schliesslich vor derHerausforderung, welche denn meine Stufen sind, jene, die ich schon bestiegen haben, und jene, diemich noch höher führen werden.Konkret• Ich kann wachsen, wenn ich will und wenn Gott hilft.• Ich muss nicht alles, nur das, was ich kann.11 Thomas Merton, Der Berg der sieben Stufen, 231.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>54• Stufen des Glaubens sind eine bewährtes Hilfsmittel, um Phasen im geistlichen Lebeneinzuordnen, um den eigenen Standort zu sehen und um zu sehen, wohin die Reise gehenkönnte.• Viele Beschreibungen von Glaubensstufen sind voll von alltäglichen Lebenserfahrungen, mitvielen Tipps, die mir auf meinem eigenen Weg weiterhelfen können.• Es wird sehr viel davon abhängen, wohin Gott mich führt …5.3 ÜbungAls Kleingruppe bauen wir eine Treppe. Wir können dabei gerneAnleihen bei den grossen Lehrern der Spiritualität machen, aberauch die haben ihre Leitern oft ja auch für ihre Zeit und ihreSituation formuliert und angewandt. Das Ergebnis war deswegenimmer auch unterschiedlich. Darum stehen wir auch gleichsam vorder Aufgabe, eine heilige Treppe unserer Heiligkeit für unsere Zeitund für unsere Lebenssituation zusammenzubauen. Wir müssenuns dabei überlegen, welche Stufen wir brauchen, und auch, inwelcher Reihenfolge die Stufen zu begehen sind. In derKleingruppe können wir getrost das ein oder andere malausprobieren und immer wieder probieren, bis es für jeden in derGruppe stimmig ist.5.4 Gruppenaustausch5.5 SchlussbetrachtungWas tue ich aber, wenn ich auf der Stelle trete? Was ist mit mir,wenn ich gar nicht sehen kann, was für mich Wachstumsstufenoder Reifungsetappen auf meinem Weg hin zu Gott sind? Ich findees immer gut, wenn mir die Vision klar vor Augen steht, ich einenPlan in den Händen halte für die nächsten drei Etappen und wennich weiss, was der nächste Schritt ist. Aber es gibt auch dieseSeelenzustände, Bewusstseinszustände oder Seinsweisen, wo dasnicht klar sein kann. Manchmal spielt das Leben so, und unserGlaube erst recht. Oder aber ich merke, dass ich innerlich blockiert bin, um mich wirklich umgeistliches Wachstum zu kümmern, weil die Arbeit schwer, die Familie anspruchsvoll ist. Für solcheFälle können wir unsere Hoffnung und unser Vertrauen in einen Gott setzen, der darum weiss, undder viele Möglichkeit kennt, um uns zu unserem eigentlichen Selbst in aller Freiheit und Liebehinzuführen. Ein Gedicht drückt dies aus:RilkeDaraus, dass Einer dich einmal gewollt hat,weiss ich, dass wir dich wollen dürfen.Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:wenn ein Gebirge Gold hat


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>55und keiner mehr es ergraben mag,trägt es einmal der Fluss zutag,der in die Stille der Steine greift,der vollen.Auch wenn wir nicht wollen:Gott reift.GebetGuter Gott,weil viele in ihrer Seele, in ihrem Selbst in Dir gereift und gewachsen sind,weiss ich, dass ich an Dich erwachsen <strong>glauben</strong> darf.Und wenn ich auch all die Tiefen meiner Seele durchforste:Wenn Du in meiner Seele haust und ich Dich wie nicht erreiche,dann tauchst Du auf in deinem grossen Erbarmen,das in der Stille und im Schweigen reifen lässt.Auch wenn ich nicht wachsen kann:Du Gott wächst in mir.Amen.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>566 Sechster Abend: Das Kind ins Boot holen6.1 EinstimmungWir beginnen bereits ein wenig die Ernte einzufahren, indem wir eine Reihe von Aussagen malzusammenstellen, die im Laufe der vorhergehenden Abende hier gemacht wurden:• Zu wissen um die Säulen meines Glaubens: Ich darf und soll als <strong>Erwachsen</strong>er meinen Glaubensicher und mehrfach abstützen.• Meine religiösen Erfahrung ernst zu nehmen: Ich möchte erinnern an die Erfahrung, die wirmit dem Labyrinth gemacht haben. Es ging dabei darum zu überlegen auf intuitive Weise,was Gott mir hier oder da wohl sagen will.• Zu wachsen in meinem Glauben: Wir haben uns eine ganze Reihe von Stufenmodellengenutzt, um religiöse Wachstumsprozesse einzuordnen, um eine Selbsteinschätzungvorzunehmen, um auch Entwicklungspotentiale zu sehen.• Meine Gaben – auch Vernunft und Verstand – zu nutzen: Man hat früher gerne dem Kindunterstellt, es hätte ja den vollen Vernunftgebrauch noch nicht erlangt. Aber man das ohneWenn und Aber unterschreiben will, sei einmal dahingestellt, aber sicherlich können wirohne Probleme unterschreiben, dass ich als <strong>Erwachsen</strong>er meinen Glauben und meinenVerstand versuche zu integrieren, zu verbinden, so dass ich weder zu naiv denke noch zu naivglaube.• Als Christ Verantwortung zu übernehmen in der Welt: Dies Punkt haben wir allerdings nichtausgeführt, ich möchte ihn aber trotzdem nennen. So sehr es mir als <strong>Erwachsen</strong>er zukommt,dass ich Entscheidungen fälle, Rechte wie Pflichten wahrnehme, so nehme ich als<strong>Erwachsen</strong>er auch Verantwortung wahr. Ein erwachsener Gläubiger ist demnach auchjemand, der sich mit seinen Gaben auf die eine oder andere Weise einbringt.• Vor Gott ein Kind zu bleiben oder zu werden: Auch das gehört zum <strong>Erwachsen</strong>werden imGlauben. Das haben wir bislang noch nicht aufgegriffen, weil wir das für den heutigen Abendzum Thema machen.Wir haben diese Reihe von Abenden damit begonnen zu sagen, dass wir manches von unseremKinder<strong>glauben</strong> hinter uns lassen. Der Übergang von einem Kinder<strong>glauben</strong> zu einem gereiften,gewachsenen, erwachsenen Glauben ist selten einfach, vollzieht sich mit Brüchen und Umwegen undlegt des öfteren mal gewaltige Pausen ein. Aber irgendwie scheint uns der Kinderglaube auch nichtganz los zu lassen, und wir mögen mit dem heutigen Abend sagen,dass das auch gut so ist. Dass ich mir sage, dass ich wertvoll bin vorGott, dass er mich einzigartig geschaffen hat, dass er mich ohneWenn und Aber bedingungslos als sein Kind angenommen hat, dassich niemals verloren sein werde sondern zur Freiheit berufen undbefreit bin, das sind Mosaiksteine einer wahrlich erwachsenenGlaubens, der die Hoffnungen der Kindheit nicht über Bordgeworfen hat, der die Bindungen der Kindheit nicht einfachverschüttet hat, sondern ein erwachsener Glaube, der denKinderglaube in sich integriert hat.Als wir herangingen einen Glaubenskurs zusammenzustellen zum erwachsenen Glauben, bin ich beieinigen Kollegen und Kolleginnen herumgegangen und habe gefragt, was ihnen zu diesem Titel alleinspontan einfällt. Am meisten ist mir ein Kommentar von einem Franziskaner von der Insel Werth inErinnerung geblieben. Er sagte einfach, dass je länger er erwachsen geworden ist, desto mehr hätteer den Eindruck, im Glauben ein Kind zu werden. <strong>Erwachsen</strong> zu <strong>glauben</strong> heisst auch und vor allem,vor Gott ein zu bleiben oder erst zu werden.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>57Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eineTelefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie <strong>Erwachsen</strong>e, aber wassind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch. Das gilt oft umso mehr, jemehr wir vom Glauben reden, und je stärker unsere Vorstellung vom <strong>Erwachsen</strong>werden in denHintergrund tritt.6.2 ImpulsWelche Bedeutung gewinnt Kindheit für den <strong>Erwachsen</strong>en, für den erwachsenen Glauben? Amheutigen Abend möchte ich zunächst einen Blick auf einige Aussagen und Ansichten zu Jesuszusammentragen. Dann machen wir einen kleinen Umweg und sehen uns die Rede vom sogenanntenInneren Kind an, um schliesslich Kindlichkeit als spirituellen Weg zu entdecken.6.2.1 Jesus über die KinderChristoph Türcke hat einmal Folgendes gesagt:„Mit der Religion ist es wie mit der Kindheit. Man muss darüber hinauswachsen. An einenallweisen Weltschöpfer <strong>glauben</strong>, der sein Gesetz, seinen Sohn oder seinen Propheten zuunser aller Bestem gesandt habe, ist eine grosse Kinderei. Nur dass Menschen nie ganzaufhören, Kinder zu sein.“Das klingt zunächst einmal sehr negativ. Fast fatalistisch tönt es, dass wir Menschen einfach nichtrichtig fähig seien, unsere Kindereien endlich abzulegen. Religion ist wie mein kleines Spielzeugautooder die Lieblingspuppe, wo ich es einfach nichts übers Herz gebracht habe, dies endlich mitwachsendem Alter zur Seite zu legen. Aber Christoph Türcke bleibt hier nicht stehen. Seine Pointeliegt vielmehr darin, dass gerade in der Religion als Kinderei etwas liegt, das wir als <strong>Erwachsen</strong>e mitall unserer Vernunft und unserem Verstand nicht schaffen. Als Beispiel können wir die Feindesliebenehmen, die Jesus predigt. Feindesliebe hat unter den Freunden der Logik wenig Zuspruch. Nurscheint diese Kinderei Feindesliebe der einzige Weg zu sein, um die Kreisläufe der Gewalt, dieKreisläufe der Rache, die Kreisläufe des Bösen richtig zu unterbrechen. Als <strong>Erwachsen</strong>er bin ichmanchmal zu stark in mein Wissen verstrickt, zu erpicht auf eigenen Füssen, eigenen Säulen zustehen. Ich bilde mir zu viel ein auf die eigene Entwicklung, eigene Erfahrungen, eigene Vernunft undeigener Verstand. Ich meine vielleicht sogar, dass Feindesliebe verantwortungslos ist, weil ich dabeinicht genügend auf mich selbst achte. Unser Meister Jesus wird unsren Einsprachen dann nur einSchulterzucken entgegnen, er wird uns auch zustimmen, dass Feindesliebe ziemlich schwer ist, aberer wird uns auch sagen, dass Feindesliebe funktioniert.Lk 11,9-13Sehen wir bei Jesus genauer nach, wie er von den Kindern spricht, und wie wir das nutzen können fürdie eigene Spiritualität:„Bittet, und ihr werdet bekommen! Sucht, und ihr werdet finden! Klopft an, und man wirdeuch öffnen! Denn wer bittet, der bekommt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, demwird geöffnet. Ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn eine Schlange gibt, wenn er umeinen Fisch bittet? Oder einen Skorpion, wenn er um ein Ei bittet? So schlecht ihr auch seid,ihr wisst doch, was euren Kindern guttut, und gebt es ihnen. Wieviel mehr wird der Vater imHimmel denen seinen Geist geben, die ihn darum bitten.“


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>58Anhand dieser Bibelstelle möchte ich ein paar Punkte verdeutlichen:• Es versteckt sich in diesem Text die Spannung zwischen dem natürlichen, kulturellen Wissen,dass selbstverständlich der Vater dem Sohn das Lebensnotwendige geben will und gebenwird. Dieses Gut-Sein, diese Güte ist selbstverständlich, sogar ob mit oder ohne Gott. AberJesus sagt, dass das der Mensch ja schlecht ist und trotzdem weiss, was den Kindern guttut. -Ich erlebe das gelegentlich in Taufgesprächen, wenn ich mit Eltern über die Taufe ihresKindes spreche. Unmittelbar vor der Taufe wird den Eltern die Frage gestellt, ob sie bereitsind dem Bösen zu widersagen und sich dem Guten, also Gott, zuzuwenden. Dieses„Widersagen“ ist ein unheimlich schwieriger Ausdruck. Ich sage den Eltern dann oft, dass dasfür sie eigentlich selbstverständlich ist: Wenn sie ihre Kinder lieben, dann wollen sie ja ihnenalles Gute mit auf den Weg geben, dann vermeiden sie als Vorbilder manches Übel. Siewissen, was ihren Kindern guttut, und sie geben es ihnen.• Ein Exeget schreibt zu dieser Stelle: „Wir lernen hier, uns immer an Gott zu wenden, zu jederZeit, aber nicht auf jede beliebige Weise; ihn immer wieder von neuem zu bitten, aber nichtum alles mögliche. Nicht dass wir unsere Bitten auf geistliche Güter beschränken müssten.Das Kind darf seinen Vater bitten um das, was ihm fehlt. (…) Dass Gott, unser Gegenüber, dieGüte eines Vaters hat und dass er sich niemals weigert zu antworten, lernen wir vor allem.“ 12Damit konzentriert sich für unser Fragen die Antwort auf die Aussage, wer Gott für uns ist,und wie er für uns sorgt. Gott ist für uns Vater, ein persönliches Gegenüber, mit dem ichverlässlich vertrauensvoll rechnen darf. Und er trägt die Sorge, wo immer auch ich mich imGebet an ihn wende.Jesus bringt uns gerade in diese Rolle des Kindes, das in Gott seinen Vater findet. Dieser Textspricht sehr stark uns, welches Beziehungsverhältnis Gott ja zu uns einnehmen will. Wir habenvon den Enttäuschungen im Kinder<strong>glauben</strong> gehört, wenn ein Gebet nicht zum gewünschtenErfolg geführt hat. Jesus spricht uns das ja trotzdem zu, und vielleicht schütten wir das Kind mitdem Bade aus, wenn diese Enttäuschungen dazu führen, dass ich mein Beten beende. Wenn einAuto nicht anspringt, wenn ich gerade losfahren will, dann werfe ich ja auch nicht sofort denAutoschlüssel in den Müll und lasse das Auto vom Schrotthändler abholen, sondern ich sehe zu,ob der Schlüssel steckt, ob die Batterie leer, der Tank voll ist, d.h. ich begebe mich auf eineFehlersuche. Wenn mein Beten nicht funktioniert, dann liegt der Fehler nicht immer bei Gott.Lk 18,15ffEine zweite Bibelstelle, die uns vielleicht sogar noch geläufiger ist, möchte ich anfügen, um genau zusehen, welche Bedeutung Jesus den Kindern zuspricht:„Man brachte auch kleine Kinder zu ihm, damit er ihnen die Hände auflegte. Als die Jünger dassahen, wiesen sie die Leute schroff ab. Jesus aber rief die Kinder zu sich und sagte: Lasst dieKinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das ReichtGottes. Amen, Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so aufnimmt wie ein Kind,der wird nicht hineinkommen.“• Diese Erzählung steht im Lukasevangelium in einem Kontext, wo Jesus sich mit den einensolidarisch erklärt, die anderen vorführt. Kurz zuvor erklärt er sich solidarisch mit denAussätzigen, die Pharisäer haben das Nachsehen. Hier stellt er sich auf die Seite der Kinder,die Jünger haben das Nachsehen. In dem Sinne sind es immer die Kleinen, dieBenachteiligten, die Hilfsbedürftigen, die klar im Vorteil bei Gott sind. Wir kennen dies vonden Seligpreisungen der Bergpredigt.12 Francois Bovon, Das Evangelium Nach Lukas EKK III/2, 162.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>59• Das Lukasevangelium spricht hier von kleinen Kindern, also Neugeborenen. Das ist eineSteigerung, dass es wirklich um die Allerkleinsten geht. Jesus soll die Neugeborenenberühren, denn die Eltern erhoffen sich eine Übertragung göttlicher Kraft, seinen göttlichenSegen. 13• Die Weisung „Lasst sie zu ihm kommen!“ hat einen weisheitlichen Hintergrund, denn oftmalsheisst „zu ihm kommen“ zu Gott kommen, sich Gott nähern und auf diese Weise zu Gottumzukehren. Die Weisung „Hindert sie nicht!“ erinnert an Macht oder kirchliche Disziplin.Eine religiöse Gemeinschaft hat eine Identität und daher auch Grenzen, aber sie kann nichtden Zugang zu Gott behindern oder zu regeln versuchen.• Die interessante Frage für uns wird sein, was es denn bedeutet, das Reich Gottesaufzunehmen wie ein Kind. Wie nimmt denn ein Kind die Gottesherrschaft an? Als<strong>Erwachsen</strong>e tun wir uns schwer damit, dies auf den Punkt zu bringen und darausHandlungsschritte abzuleiten. Als Kinder würden wir lachen und mit offenen Armen aufVater, Mutter und Gott zuspringen.Jesus Christus stellt seine Jünger also ganz eindeutig vor die Herausforderung, wie ein Kind Gottgegenüberzutreten. Wenn ich nicht bloss das <strong>Erwachsen</strong>sein, sondern den erwachsenen Glaubenleben möchte, dann gehört dies mit dazu.6.2.2 Das innere Kind kennen und heilenZu einem reifen <strong>Erwachsen</strong>sein gehört allerdings selbst jenseits der Religion das innere Kind ja auchmit dazu. Das Kind, das wir einmal gewesen sind, wächst ja mit. Wir lassen unsere Kindheit niemalshinter uns, so wie man den Hut in der Garderobe vergisst oder den Schirm im Bus liegenlässt.Was ist das innere Kind?Vom „inneren Kind“ zu reden, ist eine Betrachtungsweise innererErlebniswelten, die wir aus unserer Kindheit in uns gespeicherthaben. All die Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen tragen wirzum Teil bewusst, zum grösseren Teil unbewusst ja mit uns herum.Psychologen wie John Bradshaw, aber auch Erika Chopich undMargaret Paul haben damit eine sehr leicht verständliche Art undWeise gefunden, um Menschen ein therapeutisches Hilfsmittel mitan die Hand zu geben, die sich als <strong>Erwachsen</strong>e mit altenSchwierigkeiten aus der Kindheit herumplagen. Wann immer <strong>Erwachsen</strong>e völlig überreagieren oderunangemessen gar nicht reagieren, tut es oft gut mal nachzufragen, ob sich hier nicht ein wütendes,frustriertes oder trauriges inneres Kind verbirgt, das gerade etwas Aufmerksamkeit braucht.Zu den intensiven Gefühlen, die gerade in der Kindheit von grosser Bedeutung zählen, gehörenunbändige Freude genauso wie abgrundtiefer Schmerz, dazu gehören Glück und Traurigkeit, Intuition(Bauchgefühl) und Neugierde. Als Kind habe ich mich mal verlassen gefühlt, habe Angst genauso wieWut erlebt. Das innere Kind bündelt dieses ganze Sein und Fühlen und Erleben zusammen. Dasinnere Kind birgt gleichsam die lebendige Seite in uns mit all diesen positiven Eigenschaften wieSpontaneität und Offenheit. Aber das innere Kind hat auch eine andere Seite: die Verletzlichkeit, dasSuchen nach Bestätigung und Anerkennung, nach Liebe, nach Bindung und freier Entfaltung. Wennder reflektierende <strong>Erwachsen</strong>e und das innere Kind in Kontakt und Einklang sind, dann entsteht einGefühl der Ganzheit.Abtrennung13 Vgl. Francois Bovon, Das Evangelium nach Lukas EKK III/3, 224.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>60Wir vergessen ja gerne manche Episoden aus der Kindheit. Die Autorin Christa Wolf hat dies einmalkurz zusammengefasst, was dieses Vergessen eigentlich bedeutet: „Das Vergangene ist nicht tot; esist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Das sind übrigens dieersten beiden Sätze ihres Buches Kindheitsmuster, indem sie akribisch die eigene Kindheit sowohl inNazideutschland wie DDR durchforstet, um immer wieder herauszuholen, wo sie denn dieseVerhaltensmuster gelernt hat. Fast erscheint es uns ja harmlos, wenn einem Kind gesagt wird, es solljetzt nicht immer mit seinen Fragen die <strong>Erwachsen</strong>en unterbrechen. Wenn das Kind dabei aber lernt,dass seine Neugierde unerwünscht ist, dann kann es sein, dass dies zu einem Verhaltensmuster wird.Dabei trennt sich das Kind von der eigenen Neugierde. Es sind solche Verhaltensstrategien, die demKind in der Kindheit helfen, den Eltern zu gefallen. Aber diese Kindheitsmuster können problematischwerden, wenn wir später einen <strong>Erwachsen</strong>en ohne Neugierde, ohne wache Interessen und ohneWissensdurst vor uns haben. Solche Verhaltensmuster sind in der Kindheit Hilfen oder gar eine ArtÜberlebensstrategie für Kinder. Wie gute Kumpel helfen sie einem weiter. Aber das nistet sich einund bleibt länger, als es für manche Kindheitsepisoden eben nötig wäre. Je erwachsener der Menschwird, desto mehr vergisst er, woher er als Kind seine Verhaltensmuster gewonnen hat.Christa Wolf beschreibt diese Abtrennung von dem Kind, das ich ja einmal war, so:„Nicht nur trennen dich von ihm (jenem Kind da; CW) die vierzig Jahre; nicht nur behindertdich die Unzuverlässigkeit deines Gedächtnisses, das nach dem Inselprinzip arbeitet unddessen Auftrag lautet: Vergessen! Verfälschen! Das Kind ist ja auch von dir verlassen worden.Zuerst von den anderen, gut. Dann aber auch von dem <strong>Erwachsen</strong>en, der aus ihmherausschlüpfte und es fertigbrachte, ihm nach und nach alles anzutun, was <strong>Erwachsen</strong>eKindern anzutun pflegen: Er hat es hinter sich gelassen, beiseite geschoben, verfälscht,verzärtelt und vernachlässigt, hat sich seiner geschämt und hat sich seiner gerühmt, hat esfalsch geliebt und hat es falsch gehasst.“ 14Das abgelehnte innere Kind empfindet sich als unzulänglich, schlecht, nicht liebenswert undentwickelt intensive Gefühle von Schuld und Scham. Es lernt, sich davor zu fürchten, dass dieMenschen es verlassen und zurückweisen. Dieses „ungeliebte Kind“ lebt in der ständigen Erwartungzurückgewiesen zu werden und projiziert diese Erwartung auf andere Menschen, unterstellt ihnen, espermanent abzulehnen.So kann beispielsweise geringfügige Kritik durch den Partner panische Angst auslösen, weil dasinnere Kind diese Kritik mit altbekannten Gefühlen von Angst vor Strafe und Zurückweisungverbindet, und eine an sich harmlose Situation kann unangemessen eskalieren.Der „lieblose <strong>Erwachsen</strong>e“, der das Kind nicht annimmt, verhält sich so, wie seine Eltern oder andereBezugspersonen ihn geprägt haben. Er handelt nach überholten Widerstandsmustern zum innerenKind, sie können beispielsweise heissen:• Ich kann mich selbst nicht glücklich machen, andere können das besser als ich.• Andere sind für meine Gefühle verantwortlich und ich bin für ihre verantwortlich.• Ich wäre egoistisch und falsch, wenn ich mich selbst glücklich machte.• Im Grunde meines Wesens bin ich schlecht.• Am besten ist es, Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung wegzuschieben.Viele Menschen haben beim Heranwachsen gelernt, den Zugang zu ihrem inneren Kind zu drosselnoder abzuschneiden, um bestimmte Gefühle nicht mehr fühlen zu müssen. Das Problem entsteht,weil es nicht möglich ist, nur die schlimmen Gefühle auszuklammern, sondern gleichzeitig der Zugangzu den positiven Gefühlen versperrt wird.14 Christa Wolf, Kindheitsmuster, 14.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>61HeilenDie Grundannahme in der Arbeit mit dem inneren Kind spiegelt sich in einem in diesemZusammenhang häufig zitierten Satz: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Es wirdangestrebt, auf der einen Seite positives Erleben aus der Kindheit ins Bewusstsein zu heben unddamit als Ressource nutzbar zu machen und auf der anderen Seite im „Hier und Jetzt“ die emotionaleZuwendung, die in der Kindheit gefehlt hatte, sich selbst eigenständig zu geben und psychischeVerletzungen aus der Kindheit zu heilen.Das innere Kind zu heilen bedeutet, sich selbst mit den ureigenen Wünschen und Qualitätenauseinander zu setzen, um eine neue innere Stärke aufzubauen, die wir in alle Lebensbereiche hinaustragen können. Diese Arbeit wirkt in allen Lebensbereichen, in denen wir in blockierenden Musternfesthängen. Ganz gleich, ob das eine gestörte Beziehung zu den Eltern ist, ob es Angst vor Prüfungenist, ob es sich um Ehe- und Beziehungsprobleme handelt oder Störungen im Verhältnis zuVorgesetzten oder Kollegen.Es gibt eine Vielzahl therapeutischer Methoden, die mich als <strong>Erwachsen</strong>er mir helfen, mein inneresKind wieder zu entdecken, kennenzulernen und damit auf wieder den Zugang zu den tiefen Quellenvon Freude, von Wahrnehmung, Intuition, Phantasie, Spontaneität zu erlangen. Ich kann mich in dieGeschichte meiner Kindheit vertiefen und versuchen, mich und meine damalige Familiensituationkennenzulernen. Was waren damals meine Bedürfnisse, meine Empfindungen? Ich kann auch imerwachsenen Leben manche Erfahrungen gleichsam nachholen. Wenn zum Beispiel jemand einengrossen Vertrauensbruch gegenüber den Eltern als Kind erlebt hat, kann sich im <strong>Erwachsen</strong>enalterdie Möglichkeit ergeben, dieses Vertrauensgefühl nachzuerleben, etwa indem ich gleichsam wie einKind ein tiefes Vertrauen zu einer Vater- oder Mutterfigur erlebe, oder auch, indem ich an demVertrauen, das eigene Kinder schenken, reife. Therapeutische Methoden wie das Familienstellen istzu einem grossen Teil eine Arbeit am inneren Kind.Zur Heilung ist es nötig, dass der innere <strong>Erwachsen</strong>e sich dafür entscheidet, das Kind anzunehmenund sich mit seiner „inneren Wahrheit“ zu verbinden. Sie ist für den <strong>Erwachsen</strong>en eine Orientierungdabei, die falschen Glaubensmuster zu beseitigen und bessere Glaubenssätze zu finden, nach denener leben möchte. Wenn das innere Kind angenommen wird, können solche guten Glaubenssätzeheissen:• Ich bin selbst verantwortlich für mein Glück.• Ich bin bereit, meine Gefühle wahrzunehmen und anzunehmen.• Ich bin offen für Neues und Veränderungen in meinem Leben.• Ich bin stark genug, für mich selbst zu sorgen und für mein Wohlgefühl die Verantwortung zuübernehmen.• Ich darf neugierig und verspielt, albern und spontan, lebendig und sensibel sein.• Ich darf aber auch zornig und traurig sein, denn durch meine Selbstliebe erkenne ich, dassalle Gefühle wichtige Teile meiner selbst sind.Zur Verdeutlichung: Es heisst nicht, dass ich als <strong>Erwachsen</strong>er Kind spiele. Mein <strong>Erwachsen</strong>en-Ich mussaber das Kindheits-Ich wieder bewusst mit ins Boot holen, weil sonst wenig Freude bei derPaddeltour des Lebens mitschwingt.Cartoon von Calvin & Hobbes einfügenWenn wir vom inneren Kind reden oder hören, dann schwingt schnell die Vorstellung mit, dass ichnatürlich ein liebes und braves Kind gewesen bin, dass ich auch als <strong>Erwachsen</strong>er ein liebes, nettes,ruhiges inneres Kind in mir tragen möchte. Aber das Kind in mir ist ein Kind, das deutliche


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>62Bedürfnisse an die Welt um sich herum gestellt hat, ein Kind, das lernte, diese zu artikulieren undzuweilen auch auszuhalten, dassmanche Bedürfnisse auf sichwarten lassen. Vom inneren Kind zureden ist nicht nur das Schöne, dasGeborgene, das Gemütliche. Dasinnere Kind kann eben auchmanchmal schrecklich verletzt sein,kann zuweilen ein rechter,rücksichtsloser Tyrann sein.6.2.3 Kindlichkeit als spiritueller WegWenn erwachsen <strong>glauben</strong> heisst, immer mehr Kind vor Gott zu werden, dann ist dieAuseinandersetzung mit dem inneren Kind wichtig. Den Glauben, den ich als Kind hatte, kann ichebenso wieder mit ins Boot holen, das ich als <strong>Erwachsen</strong>er steuere.Ein Text von Tolstoi:„Werden irgendwann jene Frische, jene Sorglosigkeit, jenes Bedürfnis nach Liebe und jeneKraft des Glaubens wiederkehren, die ich in meiner Kindheit unbewusst besessen hatte?Welche Zeit kann besser sein als die, in der die zwei besten Tugenden: unschuldige Heiterkeitund unbegrenztes Liebesbedürfnis, die Hauptantriebe im Leben sind? Wo sind jene kühnenGebete zu Gott geblieben? Wo blieb jene beste Gabe - jene reinen Tränen der Rührung? DerSchutzengel kam herbeigeflogen, lächelnd wischte er diese Tränen ab und hauchte süsseTräume ein. Hat wirklich das Leben so schwere Spuren in meinem Herzen zurückgelassen,dass für immer diese Entzückung und diese Tränen von mir schieden und einzig und allein dieErinnerung zurückblieb?“ 15Tolstoi nennt hierbei eine ganze Reihe von wichtigen Facetten, die der Kindheitsglaube birgt: Frische,Sorglosigkeit, Liebesbedürfnis, Glaubenskraft, Heiterkeit, Kühnheit im Gebet, Tränen der Rührung.Nach unserem Seitenblick auf die Arbeit mit dem inneren Kind mögen wir an diese Liste einfach nochdie Offenheit, die Spontaneität, die Freude anhängen. Wenn wir nun nach Ansätzen für eineKindlichkeit als spirituellen Weg fragen, so wird es sicherlich auch hier darum gehen, denKindheits<strong>glauben</strong> wieder mit ins Boot zu holen. Es geht auch darum, nach den Massstäben Jesu insReich Gottes zu kommen.Um dies auszuführen, möchte ich auf zwei Beispiele eingehen, einmal die kleine Theresia von Lisieux,zum anderen den Gründer des Schönstattwerkes, Joseph Kentenich.Heilige Therese von LisieuxWer ist Therese von Lisieux? 16 Je nach Blickwinkel gibt es daraufsehr verschiedene Antworten: ein überbehütetes Mädchen ausstreng-katholischem, betont fromm, aber eben auchkleinbürgerlich eng wirkendem Elternhaus, das im ausgehenden19. Jahrhundert mit 15 Jahren in den Karmel eintrat und gut neunJahre später qualvoll an Tuberkulose starb. Therese hatte ein sehrempfindsames Gemüt. Diese hohe Sensibilität machte sie nicht nur15 Leo N. Tolstoi, Kindheit, 74f.16 Vgl. Therese von Lisieux, Selbstbiographie; Guy Gaucher, Chronik eines Lebens. Therese Martin.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>63besonders liebesfähig und liebesbedürftig, sondern sie bescherte ihr auch viel seelisches Leid. DerVerlust der Mutter mit vier Jahren und der Ersatzmutter, ihrer geliebten Schwester Pauline, mit neunJahren hinterliessen tiefe Wunden in der zarten Kinderseele. Psychosomatische Beschwerden,neurotische Nöte, Überempfindlichkeit, Ängstlichkeit, durch ihre religiöse Erziehung geförderteSkrupelhaftigkeit - mit all dem war Therese vertraut. Befreiung und Heilung fand sie in dem Masse,wie ihr der zärtlich liebende Gott Jesu aufleuchtete. Dieses Gottesbild stand diametral gegenüberdem damals weit verbreiteten, strengen Richtergott, aber es begegnete ihr auf jeder Seite desEvangeliums: „Ich finde nichts mehr in Büchern ausser im Evangelium, das genügt mir.“ AuchGlaubensnot ist ihr nicht erspart geblieben. Die letzten eineinhalb Jahre ihres Lebens waren nicht nurvon schweren körperlichen Leiden geprägt, die durch die fortschreitende Tuberkulose zunehmendGeschwächte ging darüber hinaus durch eine tiefe Glaubensnacht:„In den so frohen Tagen der Osterzeit liess Jesus mich fühlen, dass es tatsächlich Seelen gibt,die den Glauben nicht haben ... Er liess zu, dass dichteste Finsternisse in meine Seeleeindrangen ... Man muss durch diesen dunkeln Tunnel gewandert sein, um zu wissen, wiefinster er ist.“Nicht jugendlicher Überschwang, sondern in tiefster Not gereifte Hingabe liess sie ausrufen, dass ihrnur mehr eines wichtig sei: „lieben, bis ich vor Liebe sterbe.“ (ebd.) Das ist der Kern ihrer Botschaft:Therese ist zutiefst überzeugt, dass unser Leben keinen anderen Sinn hat als den, liebende Menschenzu werden. Sie möchte keine Gelegenheit auslassen, um Jesus „mit kleinen Dingen Freude zumachen“ und vor allem, um ihre Mitmenschen so lieben zu lernen, wie Gott sie liebt: „Ich begreife,dass die vollkommene Liebe darin besteht, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihreSchwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugendakten zu erbauen.“ Dem geht aber etwasvoraus: So lieben lernen kann nur, wer sich vom Urgrund des Lebens selbst - von Gott - umsonst undbedingungslos geliebt weiss, vor jeder Leistung und unabhängig von allem Versagen. Wie wohl diemeisten Menschen musste Therese um dieses restlose Vertrauen ringen, aber sie hat immer tiefererfahren, dass es ihr Flügel verlieh.Der geistliche Weg der kleinen Thérèse ist der Weg der geistlichen Kindschaft, er wird auch "derkleine Weg" genannt. "Klein" nennt man diesen Weg, weil er zum einen nichts "Aussergewöhnliches"fordert und daher von jedem Menschen gegangen werden kann. Zum anderen, weil der Menscheingeladen ist, seine eigene Armut und Kleinheit bewusst zu bejahen, um von Gott die wahre Grössezu erlangen, die er denen verleiht, die sich von ihm abhängig machen. Es ist ein Weg des Vertrauensund der Hingabe an den Willen des Vaters, der den ganzen Menschen fordert und in Dienst nimmt.Nicht das "Aussergewöhnliche", sondern das "Gewöhnliche" aussergewöhnlich gut zu vollbringenwar ihr Leitbild. Therese schreibt oder eher lässt diese Worte gegen Ende ihres Lebens aufschreiben:„Die Heiligkeit besteht nicht in dieser oder jener Übung. Sie besteht in einerHerzensbereitschaft, die uns demütig und klein in den Armen Gottes macht, in der wir unsunserer Schwäche bewusst sind und bis zur Verwegenheit auf die Güte des Vatersvertrauen."Je armseliger sie sich erlebt, desto grösser ist ihr Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe: "Hätte ichauch alle nur begehbaren Sünden auf dem Gewissen (!), ich ginge hin, mich in die Arme Jesu zuwerfen, denn ich weiss, wie sehr er das verlorene Kind liebt, das zu ihm zurückkehrt."Wie stark Therese es verstanden hat, einfach als Kind vor Gott als Vater zu leben und so auch zu<strong>glauben</strong>, verdeutlich eine kleine Erzählung von ihr, dass sie einmal sagt, sie hätte das Vaterunserbeten wollen. Sie sei aber nicht weit gekommen, sie sei einfach beim Wort „Vater“ stehengeblieben.Das ist typisch Therese, dass sie das eine wichtige für sich fasst und alles andere getrost weglassenkann: nämlich als Kind Gottes Gott gänzlich als Vater zu lieben.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>64Joseph KentenichWenn wir von Kindlichkeit als einem spirituellen Weg reden, dann müssen wir nicht nur von Theresevon Lisieux reden, sondern auch von dem Gründer des Schönstattwerkes, Joseph Kentenich, denn erhatte sich mitunter der Aufgabe gestellt, eine ganze Spiritualität, ein „ganzes System desHeiligkeitslebens und -strebens“ von dem Gedanken der Kindlichkeit aufzubauen. 17Auch hier wird dem Glaubensleben damit eine Ausrichtung gegeben, einmal in Richtung Gott, dassich Gott in besonderer Weise als liebenden Vater annehme, ansehe und erfahre, dass ich ihmgegenübertrete als ein Gegenüber, ein Du, das mit mir in einen Bund der Liebe getreten ist, zumanderen in Richtung auf mich selbst. Das heisst hier dann vor allem, dass ich mich bemühe, mich indiese kindlichen Haltungen des Vertrauens, der Einfachheit, der Dankbarkeit, der Demut („Ich kanndas aber nicht!“), der Naivität und vor allem der kindlichen Liebe einzuüben. Das kindliche tiefeVertrauen in die Vorsehung eines liebenden Vatergottes lässt mich im Glauben sehr krisenfestwerden. Auch wenn ich in Not gerate, wenn ich Glaubenszweifel bekomme, ich vertraue darauf, dassGott alles zu meinem Besten lenkt und leitet. Kindlichkeit heisst auch hier eine Liebe, die zur Hingabefähig ist, die nicht mehr krampfhaft an ihrem Ego festhält, sondern sich aufzuschwingen versteht zurFeindesliebe. Kentenich ist für uns insofern interessant, weil er gut darum weiss, dass eben nicht nurdie Bindungen nach oben zu Gott dafür wichtig sind, sondern auch die Bindungen nach unten, zu denMenschen, an denen ich meine Verhaltens- und Gefühlsmuster lerne, egal, ob ich das längst inmeiner Kindheit geschenkt bekomme habe oder ob ich das <strong>Erwachsen</strong>er nachhole. Es ist nie zu spätfür einen glücklichen, liebevollen, vertrauensreichen Kinder<strong>glauben</strong>.Bei Therese von Lisieux wie bei Joseph Kentenich können wir sehr gut beobachten, wie stark Gott alsein persönliches vertrautes Gegenüber wird. Während Fowler und Spiraldynamiken ihr Ziel eher ineiner abstrakten, undurchsichtigen Weite sehen, wird Gott hier immer stärker ein konkretes Du.Mein Glaube wird ja erst dann richtig erwachsen, je mehr ich in meinem Vertrauen an diesesgöttliche Du wachse, je mehr ich mich als Kind vor diesem persönlich liebenden Gott auch fühle.Konkret möchte ich im Rückblick auf das bisher Gesagte zwei, drei Anregungen machen:• Kindlichkeit ist keine Kinderei, sondern es geht mir um Jesu Gottesreich!• Eine Erinnerung aus der Kindheit, wo ich gänzlich zufrieden und froh mit Gott war! - Unddann frage ich mich dabei, was mir durch den Kopf ging, was mir durch das Herz ging.Interessant wird die Frage sein, was eine solche kindliche Erinnerung verblassen liess, undnoch interessanter, was ich brauche, um mich wieder einmal vor Gott so zu fühlen.• „Es ist nie zu spät für einen glücklichen Kinder<strong>glauben</strong>!“6.3 ÜbungEinzelübung: Inneres TeamGottin mirder <strong>Erwachsen</strong>ein mirdas Kindin mirIch lege mir drei Worte auf den Boden: Kind, <strong>Erwachsen</strong>er undGottes Stimme in mir. Diese drei bringe ich in ein Gesprächzueinander. Was sagt Gott zu dem Kind in mir, das ich gewesen binund immer noch zu meiner Persönlichkeit gehört? Was sagt der<strong>Erwachsen</strong>e in mir zu dem Kind in mir? Was sagt aber auch dasKind oder der <strong>Erwachsen</strong>e in mir zu Gott? Wir führen dies als eineEinzelübung durch, d.h. ich nehme mir dieses Blatt und schreibe17 Vgl. u.a. Joseph Kentenich, Kindsein vor Gott, 37.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>65darauf, was Gott in mir zum Kind in mir wie zum <strong>Erwachsen</strong>en in mir sagen würde. Immerhin ergebensich so sechs Möglichkeiten, was der eine zum anderen mal sagen möchte.6.4 Gruppenaustausch6.5 SchlussbetrachtungEin Gedicht:So bin ich nur als Kind erwacht, so sicher im Vertraunnach jeder Angst und jeder Nacht dich wieder anzuschaun.Ich weiß, sooft mein Denken misst, wie tief, wie lang, wie weit - :du aber bist und bist und bist, umzittert von der Zeit.Mir ist, als wär ich jetzt zugleich Kind, Knab und Mann und mehr.Ich fühle: nur der Ring ist reich durch seine Wiederkehr.Gebet & Segen


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>667 Siebter Abend: Gelassenheit, Stärke und Freude7.1 EinstimmungIch möchte abschliessend drei Eigenschaften benennen, an denenwir erwachsenen Glauben erkennen. Das sind gleichsam Früchte,die nur ein wirklich erwachsener Glaube ernten kann. Ich möchtedas Bild mit Steinstapel, Bambus und viel Grün dazu nutzen.• <strong>Erwachsen</strong>er Glaube birgt eine grosse Gelassenheit in sich.Gelassenheit ist ein Resultat von Erfahrung. Ich kann sagen, dassich dies und jenes schon erlebt habe. Ein Baum, an dem sich somanches Wildschwein gerieben hat, kann in aller Ruhe ruhigstehenbleiben. Ein standfester Baum weiss, wie tief die Wurzeln reichen und trotzt daher somanchem Sturm. So wie Steine in Balance aufeinander stehenbleiben, weil sie wohlausgerichtet und geschichtet sind, so bringt ein erwachsener Glaube auch eine grosseGelassenheit mit sich.• <strong>Erwachsen</strong>er Glaube birgt eine grosse Kraft in sich. Das darf und kann dann auch ein Glaubesein, der manches erträgt und aushält, der manche Arbeit erst zu leisten vermag. Wenn einKinderglaube wie Milch ist, die mich wohl ein wenig aufpäppeln kann, dann birgt erst der<strong>Erwachsen</strong>englaube die Kraft, die in fester Nahrung steckt, die mich aufbaut, die michschwere Arbeit vollbringen lässt. Der Bambus gilt als ein sehr festes Holz, das sehr belastbarist. Ein kleiner Bambus lässt sich mit einer Hand abbrechen. Ein grosser Bambus ist so stark,dass ich daraus Häuser und Gerüste bauen kann.• <strong>Erwachsen</strong>er Glaube muss ein Glaube voll Freude sein. Fragen wir uns nur kurz, was Freudein uns weckt. Ich freue mich, wenn ich ein Ziel erreicht habe und Erfolg hatte, oder wenn ichmit den Meinen in Gemeinschaft lebe. Ich freue mich, wenn ich feiern kann undZufriedenheit geniesse. Ich meine, ein erwachsener Glaube muss ein sehr freudiger Glaubesein, sonst machen wir uns etwas vor. Ein freudiger Glaube hat eine unzerbrechlicheHoffnung, daher passt dieses satte Grün so gut.7.2 ImpulsIch möchte heute Abend abschliessen, indem ich einmal zu Gelassenheit, Freude und Stärke dreiBibelstellen heranziehe, um diese Qualitäten eines erwachsenen Glaubens zu vertiefen. Danachwerde wir dies in ein Gebet einfliessen lassen.Gelassenheit„Wenn der Herrscher gegen dich in Zorn gerät, bewahre die Ruhe;denn Gelassenheit bewahrt vor grossen Fehlern.“(Koh 10, 4)Ein kurzer Kommentar zu diesem Schriftwort:• Das Wort „gelassen“ oder „Gelassenheit“ hat eine interessante Sprachwurzel: Es stammt ausdem mittelhochdeutschem „gelatenheit“, was ursprünglich „gottergeben“ bedeutete.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>67KraftGelassenheit geht mit dem Glauben Hand in Hand. Wenn ich mich in der guten und geliebtenHand Gottes weiss, kann ich gelassen leben, was auch immer geschieht und wie auch immermein Leben verläuft.• Normalerweise hören wir heute Kalendersprüche aus dem asiatischen Raum zurGelassenheit. Das ist insofern interessant, weil Gelassenheit als Seelenruhe zu den wichtigenTugenden sowohl der Bibel und auch erst recht der antiken Stoa ihren zentralen Platz hat.Wir müssen nicht ganz so weit gehen, um uns einen guten Zuspruch zur Gelassenheit zuholen.• Viele Kalendersprüche, wo auch immer her, empfehlen uns etwas Meditation, etwas wenigerStress, damit Gelassenheit kommt. Gelassenheit wäre ich, wenn ich ausgewogen bin, wennich in Balance zu mir selbst und zu allen anderen lebe. Ich brauche dafür nur einWeihrauchstäbchen und eine Viertelstunde Zeit ganz für mich. Der Prediger Kohelet sprichthier interessanterweise von einem anderen Kontext: Ein Herrscher gerät in Zorn. Das ist eineBedrohung von aussen, von oben. Dann hilft aber nicht eine Ruheübung, dann muss dieGelassenheit bereits eine innere Haltung geworden sein. Wir <strong>glauben</strong>, dass ein erwachsenerGlaube diese Gelassenheit schenkt, die mich auch in Anfechtungen ruhig sein lässt. DieseGelassenheit als innere Haltung trage ich in mir, ist Ausdruck meiner Standfestigkeit. Das giltaber auch, wenn ich drohe Fehler zu machen. Ich werde sicherlich Fehler machen, aber dieganz grossen Fehler werden ich leichter vermeiden können, wenn mein Glaube mir eine tiefeSeelenruhe schenkt.• Gelassenheit und Gebet sind für uns oft wie die zwei Seiten der einen Münze. Nur wenn ichbeten kann, brauche ich mich auch nicht zu zersorgen.Gott gibt Kraft zum Durchhalten. Das drückt diese Stelle beim Propheten Jesaja aus:„Jakob, warum sagst du, / Israel, warum sprichst du:Mein Weg ist dem Herrn verborgen, / meinem Gott entgeht mein Recht?Weisst du es nicht, hörst du es nicht? /Der Herr ist ein ewiger Gott, / der die weite Erde erschuf.Er wird nicht müde und matt, / unergründlich ist seine Einsicht.Er gibt dem Müden Kraft, / dem Kraftlosen verleiht er grosse Stärke.Die Jungen werden müde und matt, / junge Männer stolpern und stürzen.Die aber, die dem Herrn vertrauen, / schöpfen neue Kraft, / sie bekommen Flügel wie Adler.Sie laufen und werden nicht müde, / sie gehen und werden nicht matt.“(Jes 40,27-31)Ein kurzer Kommentar hierzu:• Wir sagen mit dem Apostel Paulus schnell, dass wir uns unserer Schwächen rühmen können.Ich muss mir nichts einbilden auf meine Stärken, denn das kommt ohnehin nicht von mir. VorGott ist alles an mir voller Schwächen, Fehler, Unzulänglichkeiten. Derselbe Paulus konntesich aber auch seiner Stärke rühmen, die Gott ihm geschenkt hat, und das ahmen wir nurselten nach. Warum eigentlich nicht? Wer hat uns beigebracht, uns klein zu halten?• Die Bibel ist voll von diesen Erfahrungen: Wer auf Gott vertraut, dem fliesst eine Kraft zu, diewahrlich von oben kommt. Das darf gelegentlich meine innere Haltung, mein Gebet sein: Du,Gott, bist meine Stärke, meine Kraft, und diese lässt mich fest dastehen.• In unserer Stärke ahmen wir nur Gottes Kraft nach. Das bringt Jesaja hier so deutlich hervor:Gott ist nicht müde und matt, darum werden auch die Gläubigen nicht müde und matt,höchstens die Jungen, deren Glaube noch nicht so recht erwachsen geworden ist. Wirvertrauen auf einen starken Gott.


<strong>Erwachsen</strong> <strong>glauben</strong>68Freude• Die Rede ist hier von einer Kraft, die sich immer wieder in Gott erneuert, die mir beständigzukommt. Das ist nicht wie ein Tank, der irgendwann eben einmal leer wird. Das ist eher derKrug, der niemals versiegt.Gott schenkt Freude im Vertrauen:„Jubelt, ihr Himmel, jauchze, o Erde, / freut euch, ihr Berge!Denn der Herr hat sein Volk getröstet / und sich seiner Armen erbarmt.Doch Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, / Gott hat mich vergessen.Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, / eine Mutter ihren leiblichen Sohn?Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: / ich vergesse dich nicht.“(Jes 49,13-15)Einige kurze Worte hierzu:• Die Freude ist komplett, ist von grosser Weite, umfasst sogar Himmel und Erde. Erinnern wiruns nochmals an Fowler oder die Spiraldynamiken. Dort war von einer grossen Weite dieRede. Hier aber ist die Weite des Glaubens mit grosser Freude gefüllt. Ein erwachsenerGlaube weiss um seinen grossen Wert, und darum empfinde ich darin eine grosse Freude, dieich in grosser Weite teile.• Blicken wir auch noch mal auf die Beschäftigung mit dem inneren Kind. Es gibt Kinder, diewurden von Vater und Mutter vergessen. Aber mein inneres Kind findet in Gott, dem Herrn,einen Vater, der mich tröstet und sich meiner erbarmt, eine Mutter, die niemals michvergisst. An einem solchen Gott mag ich gesunden, mag ich nachholen, was menschlicheEltern mir nicht geben konnten. Bedenken wir auch, dass mit einem gesunden inneren Kind,das mit im Boot eines erwachsenen Glaubens sitzt, eben auch die Fähigkeit zur Freude Platznimmt.Gelassenheit, Kraft und Freude finden sich auch in einem Kinder<strong>glauben</strong> wieder. Aber erst im<strong>Erwachsen</strong>en<strong>glauben</strong> können diese so reifen, dass sie dauerhaft zu einer inneren Haltung werden.7.3 GebetBilder sind in der Mitte ausgelegt mit allem, was dieser Kurs mit sich gebracht hat. Ich möchteeinladen, zu dem ein oder anderen eine Bitte oder einen Dank auszusprechen, um dies als Für-Bitteund als Lob-Dank vor Gott zu bringen.Lieder & Vaterunser & Segen7.4 Ausklang mit Apero

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!