BLICKWECHSEL 2016
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
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14 ORTE<br />
<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
PRAG UND DIE DEUTSCHEN<br />
Wie die tschechische Hauptstadt mit ihrem multikulturellen Erbe umgeht<br />
Das Haus Nr. 11 an der verkehrsreichen Ječná (Gerstengasse)<br />
in der Prager Neustadt würde im Vergleich zu den benachbarten<br />
Wohn- und Geschäftshäusern kaum auffallen, gäbe<br />
es da nicht einen Hinweis auf eine besondere, etwas versteckt<br />
liegende Einrichtung. Durchschreitet man den Durchgang<br />
des Vorderhauses und öffnet die Tür zum Hof, steht<br />
man vor einem eingeschossigen, einem Pavillon ähnlichen<br />
Häuschen. Es beherbergt, abgeschirmt vom Großstadtlärm,<br />
das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren in Böhmen,<br />
Mähren und Schlesien.<br />
Als sich das Haus nach seiner Gründung im Jahre 2004<br />
erstmals öffentlich präsentierte, erregte dies weit über die<br />
städtische Kulturszene hinaus Aufsehen. Denn die Initiatoren<br />
– der Journalist und Botschafter a. D. František Černý,<br />
die letzte, 2008 verstorbene deutschsprachige Prager Autorin<br />
Lenka Reinerová sowie die Kafka-Gesellschaft – hatten<br />
sich etwas vorgenommen, was über lange Zeit vernachlässigt<br />
worden war: die in den böhmischen Ländern entstandene<br />
deutschsprachige Literatur als Kulturerbe zu pflegen<br />
und durch Ausstellungen, Lesungen und Diskussionsabende<br />
wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Seither ist das<br />
Literaturhaus mit seinem Vortragsraum und seiner umfangreichen<br />
Bibliothek zu einem viel besuchten Begegnungsort<br />
geworden, in dem sich Deutsche und Tschechen gedanklich<br />
austauschen.<br />
Nicht weit vom Literaturhaus entfernt, in der Vocelova<br />
Nr. 3, steht das »Haus der nationalen Minderheiten.« 14<br />
Nationalitäten haben hier ihre Büros. Die Deutschen sind<br />
mit etwa 20 000 in der tschechischen Republik gemeldeten<br />
Bürgern eine der kleineren Minderheiten. Die Prager<br />
Gruppe zählt etwa dreißig aktive Mitglieder. Es sind »Heimatverbliebene«,<br />
Kinder aus gemischten Ehen oder Nachkommen<br />
von Deutschböhmen, die berufsbedingt nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg in Tschechien bleiben durften.<br />
Als nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Habsburgerreich<br />
die Tschechoslowakische Republik entstand,<br />
waren Deutsche mit einem Bevölkerungsanteil von etwa dreißig<br />
Prozent auf dem Gebiet des heutigen Tschechien die bei<br />
weitem bedeutendste Minderheit. Viele dieser Deutschböhmen<br />
wurden in der tschechisch dominierten Republik nicht<br />
heimisch und jubelten, als Hitler den Anschluss des Sudetenlandes<br />
ans Deutsche Reich erzwang. Der brutalen NS-Okkupation<br />
der »Rest-Tschechei« und der Ausrufung eines »Protektorats«<br />
folgte nach Kriegsende die bis auf wenige Ausnahmen<br />
vollständige, von Gewalttaten begleitete Vertreibung derjenigen<br />
Menschen, die Präsident Tomáš G. Masaryk einst »naši<br />
Němci« (»unsere Deutschen«) genannt hatte.<br />
Die meisten Tschechen empfanden das als gerechte Strafe<br />
für die von den Nazis verübten Verbrechen. Das änderte<br />
sich erst nach der Samtenen Revolution 1989. »Das war<br />
keine Strafe, das war Rache«, stellte Präsident Václav Havel<br />
fest und verurteilte die Vertreibung als Unrecht. In gebildeten<br />
Kreisen ist diese Einsicht heute unumstritten. Gleichwohl<br />
gibt es immer noch Tschechen, die sich gegen eine<br />
öffentliche Debatte über die an Deutschen begangenen<br />
Rekonstruiertes Prager Straßenschild aus der Zeit um 1900, Aufnahme von 2002, Foto: Vera Schneider