BLICKWECHSEL 2016
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
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28 MENSCHEN<br />
<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
KEIN UNBESCHRIEBENES BLATT<br />
Die Literaten von Pressburg/Bratislava zwischen Lokalpatriotismus und Opposition<br />
Es fällt nicht leicht, Pressburg/Bratislava/Pozsony literarisch<br />
zu denken. Die slowakische Metropole ist eine der unscheinbaren<br />
Hauptstädte Europas. Zur peripheren Wahrnehmung<br />
trägt bei, dass es bisher keine Schriftstellerinnen oder Literaten<br />
gibt, die typischerweise mit der Stadt in Verbindung<br />
gesetzt werden könnten. Bei Dublin denkt man an Joyce,<br />
Danzig knüpft sich an Grass. Und dennoch: Auch wegen ihrer<br />
sprachlichen Vielfalt rückt die Literaturstadt Pressburg nach<br />
den Verwerfungen und Verschüttungen des Zweiten Weltkriegs<br />
heute wieder ins Bewusstsein, wenngleich vor dem<br />
20. Jahrhundert nur wenige Werke erster Güte vorlagen.<br />
Ein Lyzeum als Hort der Dichter<br />
Hier würde sich zunächst von slowakischer Seite vehementer<br />
Widerspruch regen. Entstand doch der erste slowakische<br />
Roman im damaligen Pressburg. Der katholische Priester<br />
Jozef Ignác Bajza rang 1784 der Zensur seinen später<br />
zur schulischen Pflichtlektüre erhobenen René mládenca<br />
príhody a skúsenosti (»René. Eines Jünglings Abenteuer und<br />
Erfahrungen«) ab. Doch ist dies ein Werk, das sich stark an<br />
europäische Vorbilder des Aufklärungsromans anlehnt, ohne<br />
hier einen originellen Beitrag zu leisten. Nicht zu vergessen<br />
sind auch die vielen am Pressburger evangelischen Lyzeum<br />
ausgebildeten Studenten wie der prominenteste, Ľudovít<br />
Štúr. Sie verfassten hier philologische und national erbauliche<br />
Werke, die maßgeblich zur Nationwerdung der Slowaken<br />
beitrugen – wohlgemerkt in einer deutschsprachigen<br />
Bildungsanstalt.<br />
In diesem Zusammenhang taucht die Familie Schröer auf<br />
dem literarischen Stadtplan auf. Tobias Gottfried Schröer war<br />
als angesehener »Professor« am Lyzeum tätig und eigentlich<br />
in die entsprechenden kirchlichen Strukturen eingebunden,<br />
doch es drängte ihn zu kritischen Stellungnahmen unter<br />
Pseudonym. Er verfasste auch höchst erfolgreiche pädagogische<br />
Handreichungen. Die literarische Facette seines Œuvres<br />
enthält das eine oder andere Theaterstück sowie Novellen<br />
und Gedichte, letztere unter dem einladenden Titel Teestunden<br />
im Lindenhain 1846 herausgegeben. Literarisch vielleicht<br />
interessanter sind die wenigen feinen Schriften seiner Ehefrau,<br />
die sich erst nach seinem Tod an eine Veröffentlichung<br />
wagte. Auch aus heutiger Sicht besticht an ihrer Briefprosa<br />
Briefe und Blätter von Frau Therese von 1868 deren geistige<br />
Frische. Mit erhellendem Blick vermittelt sie Pressburger Alltag<br />
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.<br />
Das Ungarische ist zwar durchaus mit literarischen Größen<br />
wie Sándor Petőfi oder Mór Jókai an die Stadt geknüpft,<br />
doch weilten sie eher als Gäste in Pozsony (ungarisch für<br />
Pressburg), das sich marginal in ihrem Werk wiederfindet.<br />
Vom beschaulichen Pressburg<br />
zur Metropole Bratislava<br />
Nach dem Zerfall des Habsburgerreichs 1918 erhielt Pressburg<br />
einen ganz neuen Namen mit entsprechender politischer<br />
Mission. Es sollte fortan Bratislava genannt werden,<br />
auch wenn es in der Zwischenkriegszeit vorbildlich<br />
dreisprachig funktionierte. Deutsch schreibende Lokalpatrioten<br />
wie Elsa Grailich oder Karl Benyovszky präsentierten<br />
urbanes Leben ebenso wie den Blick in die Tiefen der<br />
Geschichte anschaulich und stilistisch ausgefeilt. Grailichs<br />
Preßburger Interieurs und eine Reihe von Benyovszkys Publikationen<br />
– wie etwa Sagenhaftes aus Alt-Preßburg oder<br />
Preßburger Ghettobilder – gerieten durch die Nachkriegsereignisse<br />
in Vergessenheit. Inzwischen liegen sie für die<br />
Ján Rozner war einer der herausragenden Intellektuellen im<br />
Bratislava der Nachkriegszeit. Foto: © Martin Marenčin