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BLICKWECHSEL 2016

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«

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METROPOLEN<br />

38 WERKE <strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

DIE TÜRME VON TALLINN<br />

Poeten, Künstler und Fischfabrikanten preisen die Silhouette der estnischen Hauptstadt<br />

Nur wenige Städte haben sich mit einer so charakteristischen<br />

Silhouette verewigt wie Tallinn (dt. Reval) mit seiner<br />

Ansicht vom Meer aus. Für die Menschen aus dem nordeuropäischen<br />

Raum stellt sie eine ähnlich unverwechselbare<br />

Visitenkarte dar wie für den Rest der Welt die Skyline von<br />

Manhattan. Die estnische Metropole ragt direkt aus dem<br />

Meer empor und zeichnet sich auf der horizontalen<br />

Fläche gegen den Himmel deutlich ab.<br />

Tallinn, so heißt es in einem bekannten Lied, sei<br />

die Stadt der Türme. Von den ehemals vierzig Türmen<br />

der Stadtbefestigung sind heute noch ein Viertelhundert<br />

erhalten. Tonangebend in der Silhouette sind die Türme der<br />

Gotteshäuser – Domkirche, Nikolaikirche, Heiliggeistkirche,<br />

Karlskirche –, das Rathaus mit seinem eigenartigen Minarett-<br />

Turm und der höchste Schutzturm der Domberg-Festung,<br />

der Lange Hermann. Die Dominante des Ensembles ist und<br />

bleibt die Olaikirche mit ihrem gotischen Spitzhelm, der zu<br />

Anfang des 16. Jahrhunderts einer der höchsten der Welt<br />

gewesen sein soll. Heute misst der Turm 124 Meter, damals<br />

war er angeblich noch höher. Auch wenn alle Revalenser auf<br />

der Turmspitze der Olaikirche stünden, könnten sie doch ihr<br />

Unglück nicht überblicken: So beschrieb Balthasar Russow<br />

in seiner Livländischen Chronik (1578) die Not der mittelalterlichen<br />

Stadtbevölkerung.<br />

Das Meer ist ein wichtiger Teil des Stadtpanoramas, denn<br />

es macht das Ganze erst sichtbar. Oft wurde Tallinn mit italienischen<br />

Städten wie Venedig, Catania oder Genua und vor<br />

allem mit Neapel verglichen. Der letztgenannte Vergleich<br />

stützt sich auf die ähnlich geartete Meereslandschaft beider<br />

Städte, das Ufer der Tallinner Bucht mit seinem tiefen<br />

Dekolleté und ein paar Inseln.<br />

Das Meer war auch immer das Symbol der Freiheit. »Kein<br />

Staat mit Anbindung an das Meer ist klein«, war eine der<br />

Lieblingsmaximen des estnischen Schriftstellers, Filmemachers<br />

und Staatspräsidenten Lennart Meri. Auf<br />

dem Meer können keine Mauern errichtet werden<br />

– weder eine Chinesische noch eine Berliner.<br />

Die »Revaler Killos«, frisch in würziger Marinade eingelegte<br />

kleine Sprotten, werden heute als eine estnische<br />

Nationalspeise gefeiert. Schon im 18. Jahrhundert waren<br />

die »berühmten Killoströmlinge«, wie der Reiseschriftsteller<br />

Johann Georg Kohl sie 1841 bezeichnete, ein estländischer<br />

Exportartikel. Die Einwohner von Reval nannte man<br />

im örtlichen Jargon auch »Killoheimer«. Beim Bewahren<br />

der Silhouette von Tallinn im kulturellen Gedächtnis spielten<br />

die »Killos« eine wichtige Rolle: Das Etikett schmücken<br />

mindestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Ansichten<br />

der Stadt Tallinn vom Meer aus, auf denen der Turm der<br />

Olaikirche meistens den Ehrenplatz einnimmt.<br />

Das Stadtpanorama Tallinns hat empfindlich auf die sich<br />

ändernden Zeiten reagiert. In ihm zeigten sich Tiefschläge<br />

wie Blütezeiten. Jeder Fehler in seiner Vollkommenheit fällt<br />

ins Auge und erregt die Stadtbevölkerung. Die Schlüsselfigur<br />

der Tallinner Skyline, die Olaikirche, wurde 1820 von<br />

einer schweren, durch Blitzschlag verursachten Feuersbrunst<br />

erfasst und hatte daraufhin für anderthalb Jahrzehnte<br />

Tallinner Panorama im Jahr 2010, Foto: Toomas Tuul

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