BLICKWECHSEL 2016
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
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20 ORTE<br />
<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
Solche Städte entstehen aus der Überzeugung von<br />
der grundsätzlichen Fähigkeit, die Welt einzurichten,<br />
sich in der Welt einzurichten, sie auszustatten mit<br />
gutem Handwerk und schönen Künsten, aus dem Vertrauen<br />
in die Zweckmäßigkeit des Handwerks und<br />
der Kunst selbst, deren Erwerb, Bewahrung, Weitergabe<br />
und Vervollkommnung deshalb wesentlich sind.<br />
Man kann sich nur ausmalen, was im Inneren der Stadt<br />
vorging. Nach außen ist sie weder von Krieg zerstört<br />
noch von Umbauten der Nachkriegszeit entstellt.<br />
Solche Städte sind Ausdruck der Überzeugung nicht nur<br />
von der Lesbarkeit der Welt, sondern auch von deren basaler<br />
Beschreibbarkeit, der Tragfähigkeit ihrer Strukturen, der<br />
Fähigkeit, als Stadt in dieser Welt gleichzeitig Form und<br />
Inhalt zu sein, welche die Voraussetzung für Gehalt schaffen.<br />
Es geht ja nicht um die Welt an sich, nicht um die ganze<br />
Welt. Es handelt sich lediglich um die Lebenswelt, um die<br />
Ausstattung, nicht die Gestaltung, um Ein-, nicht Ausrichtung,<br />
um das, was diesseits der Kastanien ist.<br />
Die Welt vor den Kastanien baut Vertrauen auf für die,<br />
die dahinter, jenseits ist. Und diese hat sich als keineswegs<br />
so zuverlässig, mitnichten so zugeneigt und wohlwollend<br />
erwiesen. Die große Erfahrung von Czernowitz besteht darin,<br />
dass die Stadt Vertrauen weckt, dass sie den Eindruck entstehen<br />
läßt, die ganze Welt sei so. Und gerade dieser Eindruck<br />
wurde im 20. Jahrhundert schrecklich, irreparabel<br />
enttäuscht. Selbst diejenigen, die die Vertreibung aus der<br />
Stadt überlebt haben, scheiterten dann, wie Paul Celan, an<br />
der durch diese Enttäuschung verursachten Spaltung. Er ist<br />
jedenfalls daran zugrunde gegangen.<br />
Und doch ist die »Wohltemperiertheit« der eigenen Person<br />
ein Kennzeichen und eine Auszeichnung vieler Czernowitzer<br />
und ehemaligen Czernowitzer weltweit. In die enttäuschend<br />
wirre und verwirrende Welt tragen sie ihre Struktur<br />
und ihre Zuversicht. Sie haben von dieser Stadt eine Aura entliehen,<br />
die weit stärker leuchtet, als die heutige Stadt es tut.<br />
Die Fertigkeiten und Geläufigkeiten des Handwerks schaffen<br />
Vertrauen: das Zimmern der Rahmen, die Bedachung mit<br />
Blech, das Pflastern der Straßen, die Bearbeitung von Glas,<br />
das Zuschneiden, Falzen und Vergolden. Das Ätzen der Fensterscheiben,<br />
das Schmieden der Balkongitter, das Kneten des<br />
Dekorstucks, das Auftragen der Wand- und Deckenmalereien.<br />
Die gefliesten Wände der Stadt haben Risse, doch<br />
der Ton der Fliesen selbst ist fest, und robust ist die<br />
Gesamtkomposition ihrer Keramik. Die Erschütterungen<br />
unserer Zeiten haben sie nicht gebrochen, sondern lediglich<br />
gerissen, sie wurden nicht unter Lava und Asche verschüttet,<br />
sondern lediglich im Feuer gebrannt und und von<br />
Ruß geschwärzt. Ein feines Netz von Rissen trägt die Stadt.<br />
Auseinandergefallen ist sie nicht, und die Entfernung zwischen<br />
den Artefakten ist nicht so groß und bar des Kontextes,<br />
dass man sie als stumme Torsos ahnungs- und zusammenhangsloser,<br />
entfremdeter, von Tod angehauchter Schönheit<br />
ansehen müsste. Es ist keine Ansammlung zum Untergang<br />
geweihter, von Sinnlosigkeit gezeichneter Monaden, deren<br />
Einsamkeit von ihrer unbegreiflichen Aura überstrahlt wird.<br />
Heute ist diese Stadt, besonders wenn sie von jähen Sonnenstrahlen<br />
beleuchtet wird, ein Freilichtmuseum vergangenen<br />
Handwerks, überall alte Pracht und neue Misere. In<br />
einer Zeit, da es scheint, Czernowitz habe seine eigene Sprache<br />
wiedergefunden, selbst wenn das eine Übersetzung aus<br />
dem Früheren in die Sprachen der Gegenwart ist, braucht es<br />
dringend die neue Hand zum alten Werk. Hände sind langsamer<br />
als Zungen. Aber in der Stadt, die neue Beziehungen<br />
zum eigenen Körper eingeht, Sinn findet in den Inhalten,<br />
lernt, mit den eigenen gerissenen Fliesenwänden so umzugehen,<br />
dass sie nicht bröckeln, sondern in sich gefestigt werden<br />
und nicht nur angepasst, kann es auch nicht mehr lange<br />
dauern, dass sich zu den Künsten auch das Handwerk gesellt.<br />
Die neue Einheit entsteht gerade. Nur: Sie will auch gesehen,<br />
geschätzt und gedeutet werden. Denn dieses Ideale ist nicht<br />
abstrakt, sondern einbezogen in einen neuen Lebenskreis.<br />
Czernowitz heute ist eine durchaus gelungene Übersetzung.<br />
Diese Stadt will entdeckt und erschlossen werden, nicht<br />
nur eine Zeitmaschine sein, zurück für die Besucher aus dem<br />
Westen, nach vorn für die Ankömmlinge aus dem Umland.<br />
Sie sehnt sich nach Öffnung, diese Stadt, die zu einem Schiff<br />
auf dem Trockenen geworden ist, gestrandet in der toten<br />
europäischen Ecke, festgefahren an einem bewaldeten Ufer,<br />
Czernowitz öffnet sich gern, will aber auch geöffnet werden.<br />
Und dazu müssen wir auch selbst Offenheit aufbringen, der<br />
Stadt gegenüber. Denn dass sie sich auf ihre Vergangenheit<br />
bezieht und beruft, ist nicht nur ein Beweis für und ein Verweis<br />
auf Nostalgie, sondern vor allem eine lebensbejahende<br />
und sogar pragmatische Haltung.<br />
Jurko Prochasko<br />
Der Essayist, Germanist, Schriftsteller und Übersetzer Jurko Prochasko ist<br />
am Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften<br />
in Lemberg/Lwiw tätig.<br />
Die <strong>BLICKWECHSEL</strong>-Redaktion dankt Georg Aescht und dem Institut für<br />
deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. ( S. 56/57) für ihre<br />
freundliche Unterstützung.