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BLICKWECHSEL 2016

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«

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Ausgabe 4<br />

<strong>2016</strong><br />

<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

ORTE<br />

15<br />

Vertreibungsverbrechen sperren. Einer der Gründe könnte<br />

ein schlechtes Gewissen sein. Denn es waren in vielen Fällen<br />

tschechische Kollaborateure, die sich nach dem Ende<br />

der NS-Herrschaft als skrupellose Rächer an wehrlosen Zivilisten<br />

hervortaten.<br />

Die Thomasgasse (Tomášská) auf der Prager Kleinseite<br />

hatte einst ein überwiegend deutsches Gesicht. Vor allem<br />

nichtjüdische Deutschböhmen lebten hier. Im Haus Nr. 6 trafen<br />

sich Mitglieder der katholischen deutschen Studentenvereinigung<br />

»Staffelstein«. Von dieser Gasse führt ein kurzer<br />

Fußweg zum tschechischen Abgeordnetenhaus und zum<br />

Senat. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Sudetendeutsche<br />

Landsmannschaft gerade in dieser Gasse eine Kontaktstelle<br />

unterhält. Als das kleine Büro 2002 eröffnet wurde, hatte ihr<br />

Leiter Peter Barton keinen leichten Stand. Es hagelte Proteste,<br />

aus dem nationalistischen ebenso wie aus dem politisch<br />

extrem linken Spektrum.<br />

Die Zeit der Anfeindungen ist inzwischen vorbei. Der<br />

Büroleiter pflegt vielfältigen Kontakt zu tschechischen Politikern.<br />

Der früher verpönte Umgang von Tschechen mit<br />

Vertretern der Vertriebenenorganisationen ist zur Normalität<br />

geworden. Das hat auch mit den veränderten Positionen<br />

der Landsmannschaft zu tun, etwa dem Beschluss, Forderungen<br />

nach »Wiedergewinnung der Heimat« und nach<br />

»Restitution oder gleichwertiger Entschädigung« aus der<br />

Satzung zu streichen.<br />

Im Prager Hauptbahnhof werden die Zeiten abfahrender<br />

und ankommender Züge, wie international üblich, auf elektronischen<br />

Tafeln angezeigt. Zusätzlich werden Reisende über<br />

Lautsprecher informiert, gewöhnlich in der Landessprache.<br />

Wenn aber Züge aus Nürnberg kommen oder nach Dresden<br />

fahren, ertönt die Ansage auf Deutsch. Ein Service, den Polen<br />

und Tschechen auf Berliner Bahnhöfen vermissen. Deutsche<br />

sind an der Moldau willkommen – als Menschen, die hier auf<br />

Zeit oder auf Dauer leben und arbeiten, vor allem aber als<br />

Touristen. Sie haben kaum Verständigungsschwierigkeiten.<br />

Viele Kellner und Hotelangestellte sprechen Deutsch, Speisekarten<br />

sind mehrsprachig und neuerdings gibt es Stadtpläne,<br />

auf denen die Sehenswürdigkeiten auch in deutscher<br />

Sprache verzeichnet sind.<br />

Lange hat Prag die öffentliche Würdigung früherer deutscher<br />

Bürger vernachlässigt. Inzwischen ist das anders.<br />

Im Mai 2015 enthüllte Kulturminister Daniel Herman eine<br />

David Stecher, Direktor des Prager Literaturhauses deutschsprachiger<br />

Autoren, bei einem Vortrag über Max Brod, 2014<br />

Gedenktafel für Louis Fürnberg. Auch Bertha von Suttner,<br />

Rainer Maria Rilke und Johannes Urzidil werden auf diese<br />

Weise geehrt. Der deutsche Friedhof an der Weinbergstraße<br />

(Vinohradská) ist bereits teilweise restauriert worden. Und<br />

dennoch: »Unsere Deutschen«, wie sie bis zur Vertreibung<br />

hießen, gibt es nicht mehr. Als Václav Havel Anfang der<br />

1990er Jahre der Bundesregierung anbot, rückkehrwilligen<br />

Sudetendeutschen ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft<br />

zurückzugeben, falls sie auf Forderungen nach<br />

Eigentumsrückgabe verzichteten, reagierte Bonn nicht. Das<br />

multikulturelle Mit- und Nebeneinander von Tschechen,<br />

Deutschen und Juden ist Vergangenheit.<br />

Was bleibt, ist der Wunsch, die Erinnerung an diese Zeit<br />

lebendig zu erhalten. So wie es sich das Prager Literaturhaus<br />

deutschsprachiger Autoren zur Aufgabe gemacht hat.<br />

Peter Pragal<br />

Der Journalist und Buchautor Peter Pragal (*1939 in Breslau) schrieb unter<br />

anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Stern und die Berliner Zeitung.<br />

Über sein Verhältnis zur Heimat berichtet er in Wir sehen uns wieder, mein<br />

Schlesierland – Auf der Suche nach Heimat (2012).<br />

Informationen<br />

Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren<br />

Pražský literární dům autorů německého jazyka<br />

Ječná 11 • CZ–120 00 Praha 2<br />

Öffnungszeiten:<br />

Dienstag und Donnerstag 10.30 bis 12.30 und 13 bis 16.30 Uhr<br />

sowie nach telefonischer Absprache<br />

Telefon/Fax: + 420 222 540 536<br />

www.prager-literaturhaus.com<br />

info@prager-literaturhaus.com

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