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BLICKWECHSEL 2016

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«

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Ausgabe 4<br />

<strong>2016</strong><br />

<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

ORTE<br />

21<br />

LEBEN UND LEBEN LASSEN<br />

Die multikulturelle Bukowina als Modell für eine friedliche Koexistenz vieler Völker<br />

Etwa 150 Jahre lang – von 1775 bis 1918 – gehörte die Bukowina,<br />

das am Vorfuße der Karpaten liegende kleine Kronland<br />

der Habsburgermonarchie mit seiner Hauptstadt Czernowitz,<br />

zum deutschsprachigen und somit zum europäischen<br />

geistigen Raum. Sie war der Vorposten der deutschen Kultur<br />

im Osten Europas: mit deutschen Institutionen wie Schulen<br />

und Gymnasien, Universität und Theater, Pressewesen<br />

und Vereinen, die in mancher Hinsicht vorbildlich waren.<br />

Friedliche Koexistenz und schöpferische Rivalität der Ukrainer<br />

und Rumänen, Deutschen und Juden, Polen und Armenier,<br />

die sich dank der liberalen Verfassung der Donaumonarchie<br />

relativ frei entwickeln konnten, führten hier zu einer<br />

beispiellosen intellektuellen und kulturellen Blüte.<br />

In der Zwischenkriegszeit wurde die Bukowina zu einer<br />

Provinz des königlichen Rumänien und geriet deswegen<br />

in eine Art Inselsituation, in der die nationalen Minderheiten<br />

mit allen Kräften um ihre Rechte kämpfen mussten. Die<br />

Region war eine kleine geschlossene Welt, die ihres eigenen<br />

Selbstbewusstseins wegen universal sein musste. Die<br />

Universalität wurde hier nicht zuletzt durch die Multikulturalität<br />

und die Mehrsprachigkeit erreicht, auf die die Bukowina<br />

trotz des rumänischen Drucks nicht verzichten wollte.<br />

Der unerwartete Aufschwung der nationalen Kulturen, insbesondere<br />

der Literaturen, die etliche Autoren von überregionaler<br />

Bedeutung hervorbrachten – Jurij Fedkowytsch,<br />

Mihai Eminescu, Olga Kobylanska, Karl Emil Franzos, Gregor<br />

von Rezzori, Rose Ausländer, Paul Celan, Itzig Manger,<br />

Aharon Appelfeld und viele andere – , war der Ausdruck dieses<br />

Strebens nach Universalität. Hier musste in der Miniatur,<br />

auf engstem Raum, die ganze Palette des Kulturlebens<br />

vieler Nationen wiedergegeben werden, da die Bukowina<br />

schon immer ein kleines, in sich geschlossenes Universum<br />

war und durch ihre Toleranz und ihren Kosmopolitismus<br />

dem Prinzip »leben und leben lassen« huldigte. Dass dieses<br />

bunte kulturelle Amalgam bald zerstört wurde, ist die<br />

Folge politischer Katastrophen und Verbrechen totalitärer<br />

Regime. Sie setzten dem harmonischen Zusammenleben<br />

ein jähes Ende, indem einzelne Ethnien und Völkerschaften<br />

des Landes durch Umsiedlungen, Deportationen und Massenmorde<br />

ausgelöscht wurden.<br />

Lebhafte Diskussionen der letzten Jahre münden oft in<br />

Erwägungen, ob die Bukowina nur multi- oder auch interkulturell<br />

war. Die Lösung dieser Frage bedarf noch weiterer<br />

Studien, doch hält schon der heutige Forschungsstand<br />

eine große Zahl von Beispielen<br />

für engste interkulturelle und<br />

Kulturpreis<br />

2015<br />

GEORG<br />

DEHIO<br />

intertextuelle Bezüge auf der Ebene gegenseitiger Entlehnungen<br />

von Motiven und Figuren, literarischer Formen,<br />

Übersetzungen und Nachdichtungen, Sprachinterferenzen<br />

und Ähnlichem bereit. Diese Erscheinungen waren vor<br />

allem für die österreichische Zeit kennzeichnend, aber auch<br />

in der rumänischen Periode blieben sie trotz der ungünstigen<br />

politischen Bedingungen erhalten. Nicht selten sind<br />

auch typologische Ähnlichkeiten festzustellen, die aus vergleichbaren<br />

sozial-historischen Umständen resultieren. Die<br />

interkulturellen Merkmale prägen nicht nur die Entwicklung<br />

der multinationalen Literatur des Landes, sondern auch die<br />

bildende und die angewandte Kunst, die Volksarchitektur,<br />

das Alltagsleben, die Wohnungseinrichtungen, die Volkstrachten,<br />

Riten und Bräuche – alles Zeugnisse für den synkretistischen<br />

Charakter der bukowinischen Kultur.<br />

Trotz der historischen Turbulenzen in der Entwicklung<br />

der Bukowina und der daraus resultierenden nationalen<br />

Konfrontationen lässt sich behaupten, dass das Prinzip der<br />

bukowinischen Eintracht vorherrschte. Dies ermöglichte es,<br />

mit dem sogenannten Bukowiner Ausgleich von 1910 ein<br />

höchst gelungenes Modell für eine friedliche Koexistenz<br />

vieler Völker zu entwickeln, das sich als eine äußerst produktive<br />

Option für die Regulierung interethnischer Beziehungen<br />

bewährte und heute als Prototyp des vereinten<br />

Europa gelten kann.<br />

Petro Rychlo<br />

Der Literaturwissenschaftler, Übersetzer<br />

und Essayist Prof. Dr. Petro Rychlo ist Professor<br />

am Lehrstuhl für fremdsprachige Literatur<br />

und Literaturtheorie der Nationalen<br />

Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz<br />

und Mitglied des ukrainischen PEN-Clubs.<br />

Seine Veröffentlichungen thematisieren<br />

deutsche und österreichische Autoren des<br />

20. Jahrhunderts, deutsch-ukrainische Literaturbeziehungen<br />

und die deutschsprachige<br />

Literatur der Bukowina. Er ist Mitbegründer des Internationalen<br />

Lyrikfestivals Meridian Czernowitz.<br />

Für sein Gesamtwerk wurde Petro Rychlo 2015 mit dem Georg Dehio-<br />

Kulturpreis ausgezeichnet.<br />

Foto: privat

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