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BLICKWECHSEL 2016

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«

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METROPOLEN<br />

8 ORTE<br />

<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

EIN STÜCK NEW YORK IN BRESLAU<br />

Im »Viertel der vier Bekenntnisse« herrscht religiöse Toleranz – und abends Partystimmung<br />

Das »Viertel« (dzielnica) liegt im Herzen Breslaus, der polnischen<br />

Stadt Wrocław: fünf Minuten von Ring, Salzring<br />

und Rathaus, gleich neben kulturellen Highlights wie dem<br />

neu eröffneten Nationalen Musikforum oder dem Historischen<br />

Stadtmuseum im ehemaligen Stadtschloss der preußischen<br />

Könige.<br />

Tagsüber herrscht dort ein lebhaftes Kommen und Gehen:<br />

Cafés und Restaurants, kleine Läden, Ateliers und Galerien<br />

ziehen die hier wohnende oder arbeitende Bevölkerung<br />

ebenso an wie Touristen. Zeitungen und Verlage, Rechtsanwaltskanzleien<br />

haben hier ihren Sitz. Die Breslauer kommen<br />

auch bei besonders freudigen und traurigen Anlässen ins<br />

Viertel – zum Standesamt an der Stadtpromenade. Brautpaare<br />

und Hochzeitsgesellschaften gehören daher ebenso<br />

zum Bild wie die zahlreichen Bestattungsunternehmen mit<br />

sprechenden Namen wie Gloria, Amen, Styx oder Pietät.<br />

Nachts wird das »Viertel« zur Partymeile: In den restaurierten<br />

Innenhöfen der Niepoldpassage (Pasaż Niepolda) oder<br />

des Pokoyhofs und in den umliegenden Straßen öffnen Discos<br />

und Nachtclubs, Bars und Kneipen, junge Leute aus der<br />

ganzen Stadt kommen zum Feiern hierher.<br />

Die attraktive Lage in der Nähe des Königshofes zog<br />

schon in früheren Jahrhunderten jüdische Kaufleute an, die<br />

zu den Märkten in Breslau kamen und mit Pelzen, Leder und<br />

Textilien handelten. So waren Straßen wie die Wallstraße<br />

(ul. Włodkowica) und die Reuschestraße (ul. Ruska) traditionell<br />

vom Handel geprägt. Am Gebäude der »Neuen Börse«<br />

(Ecke Graupenstraße/ul. Krupnicza) zeigten im 19. Jahrhundert<br />

allegorische Darstellungen die Bedeutung Breslaus als<br />

Handelsplatz. Heute spielt man gerne mit dem ehemaligen<br />

Namen »Wallstraße« – so wird eines der modernen Bürogebäude<br />

»Wall Street House« genannt. Ein Stück New York in<br />

Breslau?<br />

Gegenseitige Achtung und Toleranz<br />

Das Beispiel New Yorks hatte Jerzy Kichler von der jüdischen<br />

Gemeinde im Kopf, als er Anfang der 1990er Jahre nach<br />

einem längeren USA-Aufenthalt zurückkam. Nach der antisemitisch<br />

geprägten Atmosphäre der kommunistischen Zeit<br />

war es in Wrocław noch nicht vorstellbar, als Jude öffentlich<br />

eine Kippa zu tragen wie in New York. Als kurz danach erst<br />

ein Stein durch ein Fenster der katholischen Kirche geworfen<br />

wurde und Kichler dann selbst Zeuge wurde, wie ein zweiter<br />

eine Ikone auf dem Gelände der orthodoxen Kathedrale der<br />

Diözese Breslau-Stettin traf, wurde er aktiv: Gemeinsam mit<br />

den Pfarrern der katholischen und der evangelischen sowie<br />

dem Popen der orthodoxen Kirche beschloss er, sich gegen<br />

die Angriffe zu wehren. Das waren die Anfänge des »Viertels<br />

der gegenseitigen Achtung«, in dem in wenigen hundert<br />

Metern Entfernung vier Gotteshäuser liegen:<br />

die katholische Klosterkirche St. Antonius des Paulinerordens<br />

in der Antonienstraße, ul. św. Antoniego 30,<br />

die evangelisch-augsburgische Gemeinde der göttlichen<br />

Vorsehung (der ehemaligen reformierten Hofkirche),<br />

ul. Kazimierza Wielkiego 29,<br />

☦ die heutige orthodoxe Kirche der Geburt der Allerheiligsten<br />

Gottesmutter, seit 1963 Kathedrale der Diözese Breslau-<br />

Stettin, die ehemals katholische und später evangelische<br />

Barbarakirche, ul. św. Mikołaja 40<br />

und die Synagoge »Zum Weißen Storch«, ul. Włodkowica 5a.<br />

Die Gemeinden gingen von da an bewusst aufeinander zu,<br />

lernten die anderen Gotteshäuser, ihre Traditionen und heiligen<br />

Schriften kennen und nahmen an den jeweiligen Feiertagen<br />

teil. Projekte (»Kinder eines Gottes«), Bildungsveranstaltungen,<br />

Workshops oder ein gemeinsamer Chor wurden<br />

ins Leben gerufen. Steine warf seitdem niemand mehr. Die<br />

vier Gemeinden gründeten die »Stiftung des Viertels der<br />

gegenseitigen Achtung« oder »der vier Bekenntnisse«, um<br />

die Aktivitäten gemeinsam besser fortsetzen zu können.<br />

Im »Viertel« beruft man sich auf den »genius loci« auch in<br />

ökumenischer Hinsicht: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg<br />

hatten hier ökumenische Gespräche stattgefunden, die auf<br />

➀ Die evangelisch-lutherische Kirche im Breslauer »Toleranzviertel«<br />

➁ In der renovierten Synagoge zum Weißen Storch: Anna Blaut in<br />

»Mendel Rosenbusch«. Foto: Joanna Stoga<br />

➂ Der orthodoxe Geistliche erklärt einer deutsch-polnischen<br />

Jugendgruppe die Besonderheiten des orthodoxen Kirchenraums.<br />

Foto: Jerzy Babiak<br />

➃ Der Eingang zur orthodoxen Kathedrale<br />

➄ Durch das Portal in der ul. Antoniego betritt man die katholische<br />

Antoniuskirche und das Kloster des Paulinerordens.<br />

➅ »Gloria« nennt sich ein Bestattungsunternehmen im »Viertel«<br />

Hintergrundbild: Die vier Bekenntnisse, symbolisch in Bronze<br />

gegossen. Alle Fotos, sofern nicht anderes angegeben: Maria Luft

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