BLICKWECHSEL 2016
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
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METROPOLEN<br />
Ausgabe 4<br />
<strong>2016</strong><br />
<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
MENSCHEN<br />
25<br />
»NIEDER MIT DEN DEUTSCHEN!«<br />
Der Kampf gegen die »deutsche Vorherrschaft« in Moskau und die antideutschen Pogrome im Mai 1915<br />
Um die Jahrhundertwende war Moskau das zweitgrößte<br />
städtische Zentrum der Deutschen im Russischen Reich.<br />
Einer Zählung im Jahr 1912 zufolge gaben 28 500 der mehr<br />
als 1,5 Millionen Einwohner Deutsch als Muttersprache an.<br />
Die Deutschen bildeten die zahlenmäßig zweitgrößte ethnische<br />
Gruppe Moskaus. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs<br />
aber baute sich eine antideutsche Stimmung auf, die<br />
von der Presse angefacht wurde. Die Behörden<br />
stellten die Deutschen unter besondere Kontrolle:<br />
politische, kulturelle, ökonomische Repressionen,<br />
Diskriminierung ihrer Sprache und Konfession,<br />
Enteignungen. Die »inneren«, im Russischen Reich lebenden<br />
Deutschen galten als Spione, Parasiten des russischen<br />
Volkes. Angeheizt von der Presse, begannen viele Moskauer<br />
mit der Verwüstung deutscher Geschäfte, was auch in Städten<br />
wie Petrograd, dem 1914 umbenannten St. Petersburg,<br />
geschah. 732 Geschäfte und Wohnungen wurden in Moskau<br />
zerstört, Waren wie Medikamente und Lebensmittel vernichtet.<br />
Zugleich griff man nicht nur Unternehmen von Deutschen<br />
an, sondern sogar häufiger von russischen Staatsangehörigen<br />
deutscher Abstammung und von Untertanen neutraler<br />
oder verbündeter Staaten. Man ließ sich von einer einfachen<br />
»Freund-Feind«-Formel leiten, wobei unter die Kategorie<br />
»Feind« alle fielen, deren Namen ausländisch klangen.<br />
Die Unruhen begannen am 26. Mai 1915 mit der Forderung<br />
von Arbeitern einer Kattundruckerei, alle deutschen Kollegen<br />
zu entlassen, und der Erklärung, die Arbeit bis dahin<br />
niederzulegen – die »Deutschen« waren eigentlich Elsässer.<br />
Abends begab man sich in einer Gruppe, Fahnen und Zarenporträts<br />
schwenkend, die Nationalhymne und »Nieder mit<br />
den Deutschen!« schreiend, zu einer anderen Fabrik, in der<br />
die Stimmung bereits gereizt war, da es zu Fällen von Cholera<br />
gekommen war – schuld seien die Deutschen. Am 27. Mai<br />
marschierten immer mehr Demonstranten zur Manufaktur<br />
Emil Zündel, in der viele »Deutsche« beschäftigt waren. Im<br />
»deutschen« Unternehmen zerstörten sie alles und schlugen<br />
den »deutschen« Geschäftsführer Karlsen zusammen,<br />
der eigentlich Russe schwedischer Abstammung war. Neben<br />
Arbeitern waren auch Vertreter der Intelligenzija, Soldaten,<br />
Angestellte, Studenten beteiligt. Es kam vor, dass ein Ausländer<br />
vor seinem Geschäft die Nationalhymne sang, um die<br />
28. Mai 1915: Volksversammlung vor dem Pogrom auf dem Roten<br />
Platz. Aus Victor Dönninghaus: Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft.<br />
Symbiose und Konflikte (1494–1941), München 2002, S. 466.<br />
Randalierer fernzuhalten; abends aber zerstörte man sein<br />
Geschäft. Um den »Feind« aufzuspüren, sollten verdächtige<br />
Personen das Porträt Wilhelms II. bespucken. Wer es<br />
bespuckte, dessen Geschäft ließ man in Ruhe, und abends<br />
trugen die Demonstranten ein völlig bespucktes Porträt<br />
nach Hause. Schnell wurde schamlos geplündert, das Diebesgut<br />
offen abtransportiert oder gleich verkauft. »Russen<br />
mit deutschen Namen« raubte man aus und verprügelte<br />
man, weil sie »im Geiste Deutsche« seien.<br />
Die Polizei aber verhielt sich vollkommen passiv. Sie<br />
sei in der Minderheit gewesen und ihr sei verboten worden,<br />
Waffen einzusetzen. Die Plünderungen wurden erst am<br />
29. Mai von regulären Truppen gestoppt.<br />
Für den Ausbruch der Pogrome war die Presse wesentlich<br />
verantwortlich, zudem trugen Meldungen von den Niederlagen<br />
der Armee zur Frustration bei. Die Moskauer machten<br />
keinen Unterschied zwischen ihren Opfern, für die meisten<br />
waren alle Fremden »Deutsche«, die mit einem einzigen<br />
Bild assoziiert wurden – Feind. Nach den Pogromen waren<br />
Schritte in Richtung eines Separatfriedens mit Deutschland<br />
nicht mehr durchzusetzen. Unbestritten profitierten<br />
russische Unternehmer, deren Konkurrenten verschwunden<br />
waren. Gleichzeitig bedeutete dies für viele den Verlust<br />
ihres Arbeitsplatzes und einen Preisanstieg. Die Zuspitzung<br />
der antideutschen Stimmung resultierte auch aus der<br />
verschlechterten Versorgungslage, und die »deutschen«<br />
Waren wurden geplündert. Insofern handelte es sich um<br />
eine Form des nationalen, sozialen Protestes, wenn unter<br />
dem Bild des »Deutschen« auch die selbst »russisch-deutsche,<br />
käufliche«, für die Armut verantwortlich gemachte<br />
Regierung verstanden wurde.<br />
Victor Dönninghaus<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. Victor Dönninghaus ist stellvertretender Direktor des<br />
Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (IKGN)/<br />
Nordost-Institut in Lüneburg ( S. 56/57).