BLICKWECHSEL 2016
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Schwerpunkthema: »Mutterstädte. Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa«
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26 MENSCHEN<br />
<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
JANOSCH UND SEIN »NIEMANDSLAND«<br />
Eine grandiose Biografie des »Papstes der Kinderliteratur« ist erschienen<br />
Dieses Kind hatte Angst vor seinen Eltern und vor dem zornigen<br />
Gott, der für jede böse Tat bestrafte. Der Vater war ein<br />
Säufer, die Mutter trank ebenfalls. Eines Tages sperrte sie den<br />
Jungen zur Strafe in einem Zimmer ein. Sie sagte nur, jetzt<br />
werde er IHM Auge in Auge begegnen. Der schmächtige und<br />
sensible Junge sah IHN dann tatsächlich. ER war schwarz,<br />
hatte einen Pferdeschwanz, einen Pferdehuf und zwei Hörner.<br />
Danach stank es im Zimmer noch lange nach Schwefel.<br />
Wenn Janosch, das Kind von damals, nun als weltberühmter<br />
Kinderbuchautor nach Oberschlesien kommt, besucht er<br />
seine Geburtsstadt Zabrze. Er treibt sich dort herum. Dabei<br />
setzt er sich zu einem Lumpensammler am Straßenrand.<br />
Schweigend starren beide eine ganze Weile vor sich hin. Und<br />
dann gehen beide ihres Weges. Es ist reine Metaphysik.<br />
Eine Kindheit in Oberschlesien<br />
»So etwas kann mir nur hier passieren«, berichtete mir Janosch<br />
begeistert. Hier, im damals deutschen Hindenburg, kam er<br />
am 11. März 1931 als Horst Eckert zur Welt. Einige Jahre zuvor<br />
wurde die Industrieregion durch eine deutsch-polnische<br />
Grenze zerschnitten, Hindenburg verblieb auf deutscher<br />
Seite. Das zweistöckige, ziegelrote Arbeiterhaus, in dem der<br />
kleine Horst aufwuchs, stand unweit des schmalen Flusses<br />
Scharnaffka, hinter dem Polen begann. In diesem Haus erfuhr<br />
der Junge alles über die Menschen und die Welt, hier wurde<br />
gelebt, gefeiert und gestorben – immer im Visier der zahlreichen<br />
Nachbarn. Dieses »Niemandsland« an der Scharnaffka<br />
behielt Janosch als eine magische Welt in Erinnerung, als ein<br />
Land dazwischen, wo auch Gefahren lauerten. Der Junge<br />
konnte sehen, wie Grenzschützer ohne Warnung auf Leute<br />
schossen, die als Schmuggler den Grenzfluss passierten.<br />
Janosch war ein Kind mit Fantasie, die sein Großvater, ein<br />
Invalide nach einem Unfall auf der Grube, noch zusätzlich<br />
beflügelte. Dieser ließ den Enkel stundenlang auf seinem<br />
Schoß sitzen, erzählte einfache Geschichten und rauchte<br />
dabei seinen billigen Tabak. Er schrie den Kleinen niemals an,<br />
selbst wenn dieser, in Geschichten versunken, Opas einzige<br />
Hose vollpinkelte. Janosch meint, Großvaters Erzählungen<br />
seien sein größtes literarisches Kapital, er schreibe sie nur auf.<br />
Sie vermitteln etwa, dass es unnötig sei, sich um materielle<br />
Janosch im Juni 2006 in Kattowitz/Katowice nach der Aufführung des Theaterstücks Cholonek. © agencjagazeta.pl