Annäherung an den Säntis Am Anfang waren die Einsiedler Das auf <strong>Schweiz</strong>er Boden allererste <strong>Naturfreund</strong>e - haus war jenes am Säntis. Jenes vor genau 100 Jahren auf der Schwägalp SG/AR errichtete Haus wurde allerdings 1978 verkauft. Ein anderes Haus im Alpstein, das einen Besuch unbedingt wert ist, ist der «Aescher». Es ist ein aus dem Jahr 1846 stammendes Gasthaus; es steht an spektakulärer Lage.
Der Säntis, mit seiner Tourismus- und Kommunikations-Infrastruktur, ist eine Wucht. Und er ist ein Magnet. Seine Anziehungskraft wirkt kilometerweit, weit über den Bodensee und das Rheintal hinaus. Das belegen auch die Aktionärslisten der Säntis Schwebebahn AG. Wer meint, deren Teilhaber würden allein aus dem Appenzellerland oder dem Sankt Gallischen stammen, irrt. Aber nun, der Säntis ist ja nicht «bloss» irgendein Berg. Die Marketingleute sagen es klipp und klar: der Säntis ist «der Berg». «Säntis, der Berg», so ist’s auf jedem Prospekt zu lesen, und so sagt es die auf Seriosität getrimmte Stimme im Säntis-Video. Dieser Film, übrigens, trägt einen ebenso klipp und klaren Titel; er heisst «der Film». So viel Einfachheit mag einen vielleicht etwas seltsam berühren; wer sich jedoch dem realen «Berg» nähert und sich ihm aussetzt, wird feststellen, dass es Kräfte gibt, die quer stehen zu vernünftigem Denken, die einem verführen zum Schwelgen, zu Schwärmereien, zu Torheiten und dergleichen. Also ist es nicht verwunderlich, dass sich auf dem Säntis oft Hunderte Menschen tummeln. Hunderte, die sich haben hinauftragen lassen, in zehn Minuten von 1350 auf 2500 m ü. M. Per Schwebebahn. Ja, so nennen sie diese Seilbahn: Schwebebahn. Und die Wortwahl passt zum Credo. Man schwebt nach oben, in die Höhe, Auffahrt Richtung Himmel, dem Höchsten zu. Der Säntis ist gross, und hier wird das Grosse zelebriert. Und ja, der Säntis ist auch geografi sch was Besonderes: er ist ein Aussenposten, ein Vorposten der Alpen; darum ist das Panorama da oben derart umfassend, derart breit, derart spektakulär. Die Reiseleiterin hatte dazu ebenfalls ein nicht ganz bescheidenes Bild verwendet: «Zwischen hier und den Nordpol gibt’s keinen Berg, der höher ist als der Säntis!» Von der Reformation und den Eremiten Auch wenn wir nun nicht schnurstracks dem Säntis zueilen, es bleibt dabei: im Alpstein richten sich aller Augen auf den Säntis. Wo immer man sich aufhält, der Säntis gibt Orientierung; für das menschliche Auge ist dieser Berg so etwas wie der Nordpol für die Magnetnadel des Kompass. Das Auge kann gar nicht anders als nach dem Säntis zu blicken – ausser man sitze auf einer Holzbank vor dem steinernen Altar in einer der drei Wildkirchlihöhlen. Es sind diese Höhlen unterhalb der Ebenalp (ob Wasserauen), in denen der Naturwissenschaftler Emil Bächler zwischen 1903 und 1908 Dutzende Knochen von Höhlenbären und allerlei Gerätschaften frühester Jäger (Neandertaler) ausgegraben hat. Und es sind diese Höhlen (auf 1500 m ü.M.), in denen christliche Eremiten ab Mitte des 17. Jahrhunderts über eine Periode von gut 200 Jahren der Franziskusregel gemäss gelebt haben. Und es sind diese Ein- siedler, die – etwas vereinfacht gesagt – zu den Geburtshelfern des Tourismus im Alpstein gehören. Weil, nun, was diese Sinnsucher mit den Alphirten geteilt haben, ihre Frömmigkeit, ihre Messen, ihr Leben in Einfachheit, ihre Entsagung dem Materiellen gegenüber, – das weckte den Gwunder. Vielleicht war die Situation ähnlich wie zuvor mit Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) in Obwalden: diese Waldbrüder, diese Asketen, die waren in ihrer Radikalität ein Fragezeichen, eine Kuriosität – und schon damals eine Sensation. Um diese Figuren rankten Geschichten, mysteriöse Erzählungen, und so was sprach sich herum. Und also tauchten von Sommer zu Sommer mehr Wundernasen vor der Wildkirchli-Höhle auf. Womöglich lässt sich dies vergleichen mit dem Zauber, der in den 1960er Jahren Tausende von Amerikanern und Europäern nach Indien gelockt hatte, dort waren die Gurus – und uns kamen Stories zu Ohren über welche, die jahrelang auf einem Bein gestanden hatten, die nächtelang nackt im Schnee meditierten oder die in der Lage waren, den Rhythmus ihres Herzschlags nach Belieben zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Nun, wie dem auch gewesen sein mag, der Mensch ist anfällig für Heilslehren. Die Sehnsucht nach Sinn, nach seelischer Sättigung ist offensichtlich, und gleichzeitig ist nicht jede/r UNTERWEGS Alpstein bereit, dafür aufs absolut Ganze zu gehen, und also schlägt damit die Stunde der Maler und der Dichter; sie sind es, die einem ausmalen, was man sich selbst nicht holen kann. Vieles, das damals an Texten und Gemälden rund um die Eremiten vom Wildkirchli erschaffen wurde, ist noch heute vorhanden, und wo wir diese Belege etwas genauer anschauen, erhalten wir Lektionen darüber, was es mit der 1597 erfolgten Teilung des Appenzells in ein Ausserrhoden und in ein Innerrhoden auf sich hatte (mit Wald-Rodungen hat dies nichts zu tun). Es war die Reformation, die diese Teilung brachte, und es war die Reformation, die eine Akzentuierung der jeweiligen Standpunkte auslöste: entweder so, oder so. Wer bei den herkömmlichen Machtverhältnissen, der alten Ordnung, respektive dem «Alten Glauben» bleiben wollte, hatte Ausserrhoden zu verlassen; wer mit der Revolution, wer mit Wenn’s im Frühsommer nochmals schneit: Gasthaus Äscher und Altmann (links). Die Ebenalp-Bahn ab Wasserauen AI verkürzt den Zustieg. Fotos: H. Gruber NATURFREUND 3/2012 25