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Alla Breve Nr. 36

Magazin der Hochschule für Musik Saar

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Prof. Dr. Klaus Velten<br />

Kritisches Stichwort:<br />

Theaterregie – Regietheater<br />

Die Gegenüberstellung der Begriffe verweist auf eine Problematik,<br />

die die öffentliche Diskussion „Theaterregie - Regietheater“<br />

über Regiearbeit im Theater seit längerer Zeit bestimmt.<br />

Sie betrifft das Sprechtheater ebenso wie das Musiktheater.<br />

Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, wie das Verständnis<br />

der Werke, die auf dem Theater zur Aufführung gelangen,<br />

durch die Arbeit der Regisseure gesteuert wird. Steht bei diesem<br />

Steuerungsprozess das Werk oder der Regisseur im Mittelpunkt?<br />

Wie wirkt sich die Regie auf das Rezeptionsverhalten<br />

des Publikums aus?<br />

Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass Theaterwerke<br />

keine toten Museumsgegenstände sind, deren Existenz vom<br />

Wandel der Zeit unbeeinflusst bleibt. Schon Hegel sah die<br />

Eigenart ästhetischer Ausdrucksformen darin, dass sie ihren<br />

vollen Wahrheitsgehalt erst im Lauf der Zeiten nach und nach<br />

entfalten. Jede Aufführung ist eine Interpretation, die zum Dialog<br />

zwischen dem Autor des Werkes und dem Rezipienten<br />

anregen soll. Von dieser Zielsetzung her rechtfertigt sich die<br />

Arbeit des Regisseurs.<br />

Der dialogische Charakter des Verstehensprozesses ist indessen<br />

nur dann garantiert, wenn die Regie der Eigenart ästhetischen<br />

Verstehens hinreichend Rechnung trägt. Ein verlässliches<br />

Fundament für künstlerische Entscheidungen dieser Art<br />

bietet Immanuel Kants "Kritik der Urteilskraft" (1791).<br />

Kant misst der Einbildungskraft<br />

des Rezipienten einen großen<br />

Spielraum zu<br />

Der Philosoph geht davon aus, dass Kunstwerke von "ästhetischen<br />

Ideen" getragen werden. Eine ästhetische Idee ist,<br />

so Kant, „eine einem Begriffe beigesellte Vorstellung der<br />

Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit<br />

von Theilvorstellungen in dem freien Gebrauch derselben verbunden<br />

ist, daß für sie kein Ausdruck, der einem bestimmten<br />

Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem<br />

Begriff viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die<br />

Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem<br />

Buchstaben, Geist verbindet." Kant misst der Einbildungskraft<br />

des Rezipienten beim Erfassen der "ästhetischen Idee"<br />

eines Kunstwerks einen großen Spielraum zu.<br />

Die ästhetische Idee erschließt sich im Prozess eines begriffslosen<br />

Verstehens. Die Vermittlung von Kunstwerken durch<br />

den Regisseur wird demnach dann gelingen, wenn die Fantasie<br />

des Zuschauers/Zuhörers stark aktiviert wird. Die in Kants<br />

Ästhetik entwickelte Sichtweise des Verstehensprozesses<br />

ist das Ergebnis aufgeklärten Denkens. Es setzt den mündig<br />

gewordenen Menschen woraus, der in der Lage ist, die im<br />

Kunstwerk gestalteten Ideen im Horizont seiner individuellen<br />

Lebenswelt auszuwerten. Kant plädiert für das Recht des Rezipienten<br />

auf ästhetische Partizipation.<br />

Viele Regisseure entwikkeln<br />

Konzepte, die die<br />

Werkidee missachten<br />

Die Besinnung auf den von Kant erläuterten<br />

ästhetischen Verstehensprozess kann dem<br />

Regisseur helfen, die Möglichkeiten und<br />

Grenzen seiner Arbeit sinnvoll einzuschätzen.<br />

Regiearbeit erscheint angemessen,<br />

wenn sich der Regisseur der ästhetischen<br />

Idee des Werks verpflichtet fühlt und sein<br />

Konzept auf die Aktivierung der Imagination<br />

des Publikums ausrichtet; sie erscheint unangemessen,<br />

wenn der Regisseur den ima-<br />

Franks Castorfs eigenwillige Inszenierung des<br />

„Rings der Nibelungen“ löste 2014 bei den<br />

Bayreuther Festspielen große Kontroversen aus.<br />

Hier eine Szene aus „Siegfried“.<br />

© Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath<br />

56 Finale

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