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<strong>Faust</strong> <strong>II</strong>. Beide Arten des Strebens haben eine negative Kehrseite: In <strong>Faust</strong> I Gretchens<br />
Verderben, in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> unter anderem die Zerstörung der Natur. Der unbändige Forschungsdrang<br />
<strong>Faust</strong>s richtet sich nämlich gegen die alte naturgegebene Ordnung, die in<br />
dem alten Ehepaar Philemon und Baucis konkretisiert wird.<br />
Welt- und kulturgeschichtlicher Horizont von Urfaust zu <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
<strong>Faust</strong> ist der sich autonom stellende Mensch der Moderne. Das Prinzip der Autonomie<br />
spielt eine zentrale Rolle in der Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts Kant spricht von<br />
»interesselosem Wohlgefallen«, das heißt Kunst muss nur dem Betrachter selbst immanent<br />
und unvermittelt gefallen.<br />
Es ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Welt in der Zeit vom Urfaust (1775) zu<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> (1831) grundlegend verändert hatte. Nach anfänglicher Begeisterung war Goethe<br />
den Ideen der Französischen Revolution gegenüber skeptisch, die Umsetzung ihrer<br />
Vorstellungen, v.a. das Köpfen des Adels, rief Abscheu hervor. Goethe stellte fest: »Die<br />
Revolution fraß ihre Kinder.« Anschließend leiteten die Napoleonischen Kriege die Neuordnung<br />
Europas ein, ein Motiv, das sich auch in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt. Ebenso spiegelt sich die<br />
Restauration in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wider: Die alten Mächte (Adel, Kirche, Militär) erstarken wieder<br />
unter Metternich, der ein repressives System vertritt. Doch auch damit war Goethe nicht<br />
einverstanden.<br />
Neben diesen politischen Umwälzungen paart sich gleichzeitig ein ungeheurer technischer<br />
Fortschritt mit ökonomischen Neuerungen. Goethe erlebt im Alter noch den<br />
Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland – Dampfmaschine, Dampfeisenbahn<br />
und -schiffe, Beschleunigung von Handel und Transport, ein abstraktes Finanz- und<br />
Bankwesen. Es sind Entwicklungen, die sich in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in den Akten 1 bis 5 als Allegorien<br />
widerspiegeln. In jener Beschleunigung durch neue Fortbewegungsmittel und der<br />
Multiplikation von Wissen, Nachrichten etc. sieht Goethe nachteilige Folgen für das<br />
Individuum.<br />
Dies sind Veränderungen, die sich auch im Militärwesen der Napoleonischen Kriege<br />
zeigen. Diese waren stark technisiert; es gab Pioniergruppen und eine regelrechte<br />
Heeresmaschinerie. Auch die soziale Frage ist von Wichtigkeit: Der Saint-Simonismus,<br />
der frühsozialistische Gedanken propagierte, schaffte erstmals ein Bewusstsein für diese<br />
Fragen. Sie sind besonders wichtig für das Verständnis des 5. Akts von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>.<br />
1830 erlebte Goethe noch die Julirevolution, für ihn das »Pariser Erdbeben« und eine<br />
Reprise der Tragödie von 1789. Ein halbes Jahr danach begann er die Arbeit am vierten<br />
Akt des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> und kritisiert darin sowohl die Revolution als auch die Restauration.<br />
Davor, im zweiten und dritten Akt, dem großen Helena-Bogen, setzt sich Goethe mit<br />
dem Wandel von Mentalität, Stil in der Kunst und Literatur und Kultur auseinander.<br />
Goethe steht also mit <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> am Beginn des Industriezeitalters, welches das Ende<br />
des Kults um die Individualität einleitet, der vor allem während des Klassizismus und<br />
der Romantik betrieben wurde. Goethe knüpft somit in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bewusst an unmoderne<br />
Strömungen an. Das Zeitalter des Idealismus wird durch die Fragestellungen der Alltagsrealität<br />
einer stark verarmten sowie ausgebeuteten Bevölkerung kritisiert und abgelöst.<br />
Immanuel Kant: (1724–1804)<br />
Deutscher Philosoph, untersuchte<br />
die Bedingungen und Grenzen des<br />
menschlichen Erkenntnisvermögens.<br />
Das Resultat ist eine Erkenntnistheorie,<br />
welche sich sowohl von spekulativer<br />
Metaphysik als auch von naturwissenschaftlichem<br />
Empirismus<br />
abgrenzt. [MLK]<br />
Französische Revolution: Von<br />
1789–1799 lehnt sich das französische<br />
Bürgertum gewaltsam gegen<br />
eine erstarrte absolutistische Monarchie<br />
auf. Um ihre Forderungen<br />
nach mehr Mitspracherecht durchzusetzen,<br />
wurde eine konstitutionelle<br />
Monarchie eingeführt, später, im<br />
Zuge einer Radikalisierung, richtete<br />
man nicht nur große Teile des Adels<br />
hin, sondern auch politische Gegner,<br />
die sich gegen die Erste Französische<br />
Republik von 1792 stellten. Nachdem<br />
gemäßigtere Republikaner die Macht<br />
an sich rissen, die Nöte der Bevölkerung<br />
jedoch ignorierten, war der Weg<br />
frei für Napoléon Bonapartes Machtübernahme<br />
Ende 1799. [ZWK]<br />
Napoleonische Kriege: Ab 1803<br />
weigerte sich Napoléon I., Kompromisse<br />
mit anderen europäischen<br />
Mächten einzugehen. Stattdessen<br />
vertrat er französische Territorialinteressen<br />
in Italien, der Schweiz, den<br />
Niederlanden und im Heiligen Römischen<br />
Reich. Sukzessive besiegte er<br />
Österreich-Ungarn, die ehemaligen<br />
deutschen Verbündeten und drängte<br />
Russland zurück. Trotz Erfolgen im<br />
Süden verlor Napoléon 1813 Spanien,<br />
konnte die britische Seemacht<br />
niemals brechen und geriet durch<br />
Befreiungskriege im restlichen Europa<br />
zunehmend unter Druck. Im April<br />
1814 musste Napoléon schließlich<br />
abdanken und Frankreich sah sich einem<br />
feindlichen Europa gegenüber.<br />
[ZWK]<br />
Restauration: Zeit von 1815 bis<br />
1830, in der die europäischen Staaten<br />
versuchten, die politischen<br />
Verhältnisse der Zeit vor der Französischen<br />
Revolution wieder herzustellen.<br />
[ZWK]<br />
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