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Gastvortrag von Markus Kreuzwieser –<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in der Schule<br />
Der Ruf nach Lesekompetenz wird in der Politik, besonders nach den aktuellen<br />
PISA-Ergebnissen, wieder lauter. Die Leseerziehung legt dabei den größten Wert auf eine<br />
basale Lesefähigkeit, also das Vermögen, Informationen aus einem Sachtext ziehen zu<br />
können. Dadurch gerät die literarische Leseerfahrung jedoch stark in den Hintergrund.<br />
Dabei böte gerade die Literatur Möglichkeiten, das Fantasievermögen zu schulen und<br />
bestehende Welten zu transzendieren.<br />
An jener Neubewertung des Lesens wird deutlich, dass man in Pädagogik und Politik<br />
von Bildungszielen zu bloßen Kompetenzen übergegangen ist. Denn emphatische, das<br />
heißt eindrückliche Leseerlebnisse lassen sich kaum oder nur schwer in »skills« beziehungsweise<br />
ökonomisches Know-how ummünzen. Vieles spricht dafür, dass es zurzeit<br />
wichtiger ist, basale Lesekompetenz zu fördern und damit die PISA-Hürde zu meistern.<br />
So lässt sich im Schulalltag zwischen »Harry-Potter-Kindern« und »PISA-Kindern«<br />
unterscheiden. Die »Potter-Kinder« besitzen eine hohe Lesekompetenz, die den »PISA-<br />
Kindern« fehlt.<br />
Doch auch »Potter-Kinder« verdienen Förderung, sie können literarische Leser werden,<br />
sie haben mit ihrer Lektüre der vielen Kinderbuch-Seiten den »epischen Atem« erlernt,<br />
also jenen langen Atem, den man benötigt, um an einer Geschichte dranzubleiben.<br />
So werden »Potter-Kinder« kaum vor späterer, umfangreicherer Lektüre zurückschrecken.<br />
Angesichts dieser Tatsachen muss gefragt werden: Könnte auf Krisen einer psychosozialen<br />
und pädagogischen Überforderung der Lehrer nicht mit der Erschließung neuer<br />
Welten reagiert werden? Lehrer sollten fordernde Förderer sein, die die Auseinandersetzung<br />
mit Klassikern als Bildungsauftrag sehen. Verstehendes literarisches Lesen soll als<br />
eine Herausforderung, eine Arbeit vermittelt werden, die neugierig auf anderes macht.<br />
Gerade die historische Entfernung zu älterer Literatur kann interessant sein, denn auch<br />
sie ermöglicht noch immer eine distanzlose Identifikation. Schließlich präsentiert sich<br />
das Alterswerk Goethes nicht als biologische Schwundstufe, vielmehr ist festzustellen,<br />
dass <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in Bezug auf die Moderne und Postmoderne des 20. sowie 21. Jahrhunderts<br />
ein enormes Aktualitätspotential bereitstellt.<br />
Stattdessen jedoch ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> vom Nimbus der Unverständlichkeit umgeben. Das<br />
erklärt die Vermeidung des Stoffes, verhindert jedoch auch die Auseinandersetzung damit.<br />
Speziell der Literaturunterricht muss vielschichtige Texte anbieten können. Goethes<br />
literarische Werke sind das Medium, in dem ein gebildeter Beobachter die tiefgreifenden<br />
Verwerfungen des geistigen Europas zu entdecken vermag – gerade hierin ist großes Aktualitätspotenzial<br />
zu sehen.<br />
Bereits anhand einer kurzen, unvollständigen Liste an Anregungen für <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> im<br />
Unterricht wird sein Nutzen deutlich:<br />
• Goethe bezeichnet seinen <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als »sehr ernste Scherze« beziehungsweise »offenbares<br />
Rätsel«, das die Menschen unterhalten soll.<br />
• Laut Hans Christoph Binswanger, Schweizer Wirtschaftswissenschaftler, der <strong>Faust</strong><br />
<strong>II</strong> im Zuge der Wirtschaftskrise ökonomisch auslegte, sei der Text von einer »kaum<br />
fassbaren Aktualität«.<br />
• Auch andere ökonomische Deutungen, zum Beispiel <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als Aufforderung zur<br />
Entschleunigung zu verstehen, sind leicht am Text festzumachen.<br />
• Der fünfte Akt bildet eine für sich bestehende kleine Welt, so kann er im Gesamten<br />
als eigenständige Lektüreaufgabe gestellt werden.<br />
Lektüreempfehlung:<br />
Für eine weitere Auseinandersetzung<br />
und mögliche Themenfelder<br />
im Unterricht ist die kommentierte<br />
Ausgabe von Albrecht Schöne und<br />
die Einführung Jochen Schmidts zu<br />
empfehlen.<br />
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