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FINE DAS MAGAZIN FÜR GENUSS UND LEBENSSTIL

FINE DAS MAGAZIN FÜR GENUSS UND LEBENSSTIL - 1|2017 - Sonderbeilage in der Süddeutschen Zeitung

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Fotos: Französische Kochkunst – von den großen Meistern der Küche. Genf: H. Studer S. A. 1953 Foto: Hedwig Maria Stuber: Ich helf dir kochen – was allen schmeckt.<br />

Die Normalisierung war auch der weltpolitischen<br />

Situation geschuldet. Unmittelbar nach Ende des<br />

Krieges war Deutschland zwar besiegt, aber immer<br />

noch »Feindstaat« und wurde entsprechend behandelt.<br />

Doch die beginnende Blockbildung gegen die UdSSR, aber<br />

auch die Einsicht, dass das besiegte Deutschland nur als<br />

ein gebundener Partner zu kontrollieren sei, änderte die<br />

Perspektive. Ab 1947 begann die eigentliche Arbeit an der<br />

europäischen Integration, die sowohl auf die Verhinderung<br />

einer erneuten Vormachtstellung Deutschlands als auch<br />

auf die Eindämmung der sowjetischen Aggression zielte.<br />

Erster Meilenstein auf diesem Weg war 1951 die Montanunion,<br />

der gemeinsame Markt für die kriegs wichtigen<br />

Schlüssel industrien Kohle und Stahl. Diese von Frankreich<br />

aus gehende Initiative bot den ehemaligen Kriegs gegnern<br />

eine Win-Win-Situation: Sie verhinderte ein erneutes Aufrüsten<br />

Deutschlands – und ermöglichte dem noch unter<br />

inter nationaler Kontrolle stehendem Ruhrgebiet einen<br />

wirtschaftlichen Neubeginn.<br />

Die Erinnerung an die Missernten von 1947 war der<br />

Grund, warum zur gleichen Zeit auch über einen gemeinsamen<br />

europäischen Wirtschaftsraum für Agrar erzeugnisse,<br />

den »Pool Vert«, nachgedacht wurde. Tatsächlich war die<br />

Versorgung der Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

auch in Frankreich problematisch gewesen und konnte<br />

nur durch Lebensmittelversorgungen der Amerikaner<br />

sicher gestellt werden. Die aber ließen sich diese Hilfe in<br />

harten Dollar bezahlen, wodurch Mittel für den Ankauf<br />

dringend benötigter Investitionsgüter fehlten und das chronische<br />

Zahlungs bilanzdefizit Frankreichs noch vergrößert<br />

wurde. Nach Beginn des Koreakrieges drängten zudem<br />

die Vereinigten Staaten ihre europäischen Bündnis partner,<br />

eine Selbstversorgung zu erreichen, da im Kriegsfall die<br />

Transport kapazitäten für Nahrungsmittel nicht ausreichen<br />

würden. So setzte sich in Paris die Erkenntnis durch, dass<br />

die Situation nur durch eine dramatische Intensivierung der<br />

Produktion und die Erschließung neuer Exportmärkte gelöst<br />

werden konnte – vor allem in die junge Bundes republik,<br />

wo der wirtschaftliche Aufschwung mächtig Fahrt aufnahm.<br />

Was die Montanunion für die deutsche Wirtschaft war, sollte<br />

der gemeinsame Agrarmarkt für die französische sein.<br />

Für die Grande Nation waren das völlig neue Überlegungen.<br />

Das ländliche, agrarisch geprägte Frankreich<br />

mit seinen kleinen Familienbetrieben bildete den innersten<br />

Kern der nationalen Identität des Landes, die »France<br />

profonde«, die ganz unabhängig von Paris und dessen<br />

intellektuellen Debatten existierte. Der Herzog von Sully<br />

hatte im 16. Jahrhundert das Wort geprägt, wonach »Ackerbau<br />

und Viehzucht die beiden nährenden Brüste Frankreichs«<br />

– les deux mamelles de France – seien. Und daran<br />

hatte sich bis ins 20. Jahrhundert nicht viel geändert. Um<br />

1950 arbeiteten noch immer circa dreißig Prozent der französischen<br />

Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, wogegen<br />

es in Deutschland zwanzig und in den Niederlanden nur<br />

dreizehn Prozent waren. Die aber waren, worauf warnende<br />

Stimmen seit Jahrzehnten hingewiesen hatten, wesentlich<br />

produktiver, von Farmern in Übersee, in den USA, Argentinien<br />

oder Neuseeland ganz zu schweigen.<br />

Darauf brauchte man lange Zeit keine Rücksicht zu<br />

nehmen, weil Frankreichs Agrarwirtschaft in einen romantischen,<br />

fast sakralen Nebel gehüllt war. Die »Vocation<br />

Agricole de la France«, die göttliche Berufung der französischen<br />

Landwirtschaft, galt als eine der wesentlichen Stützpfeiler<br />

der sprichwörtlichen Grandeur unseres Nachbarlandes.<br />

Soviel nationaler Chauvinismus diesen Mythos<br />

auch beflügelt haben mag – völlig grundlos war er nicht.<br />

Denn in Frankreich hatte sich mit der Erfindung der Haute<br />

Cuisine am Hofe von Versailles ein wichtiger Schritt im Prozess<br />

unserer Zivilisation vollzogen. 1654 hatte Nicolas de<br />

Bonnefons in seinem Buch »Les délices de la campagne«<br />

das grundlegende Prinzip der modernen Kulinarik formuliert:<br />

»Es muss, so sage ich, die Kohlsuppe nach Kohl schmecken,<br />

die Lauchsuppe nach Lauch, die Rübchen suppe nach<br />

Rübchen und so fort … Und was ich über die Suppe sage,<br />

muss allgemein gelten und als Gesetz für alles, was man isst.«<br />

Das war ein Bruch mit den Kochtraditionen des Mittelalters,<br />

wo jeder Eigengeschmack bis zur Unkenntlichkeit<br />

überdeckt worden war. Und mehr noch: Mit der Ent deckung<br />

des Eigengeschmacks eines Produktes hatte Bonnefons die<br />

Lebensmittel von ihrer reinen Ernährungsfunktion emanzipiert.<br />

Hinter ihn trat selbst die feudale Rangordnung des<br />

Produkts (an der Spitze Adler oder Steinbock) oder die<br />

barocke Kuriositätensehnsucht (wie Pfauenpasteten) mehr<br />

und mehr zurück. Die neue Kategorie des Eigengeschmacks<br />

bildete von nun an die »Entwicklungsachse« ( Jean-Pierre<br />

Poulain) der Kulinaristik − von Marie-Antoine Carême<br />

über Jean Anthelme Brillat-Savarin und Auguste Escoffier,<br />

die zehn Gebote der »Nouvelle Cuisine« von Henri Gault<br />

und Christian Millau bis hin zu Alain Ducasse. Von nun an<br />

beruhte die Raffinesse der französischen Küche auf dem<br />

Geschmack der Lebensmittel. Das machte sie, die sich im<br />

Prinzip bis dahin wenig von den Küchen ihrer Nachbarländer<br />

unterschieden hatte, einzigartig.<br />

Der Eigengeschmack bildete zugleich ein völlig neues<br />

Beurteilungssystem für die Produkte der höfischen<br />

Lieferanten. Hatte man zuvor allenfalls über die<br />

Verbindung von Herkunft und Geschmack bei Wein und<br />

Käse diskutiert, so wird von nun an in der französischen<br />

Literatur mit Leidenschaft auch über die Herkunft der besten<br />

Masthühner oder Austern gestritten. Die Bauern richten<br />

sich nach den neuen Anforderungen der hohen Herren –<br />

und nicht nur im Umkreis der Krone. Denn von Versailles<br />

aus, dem Zentrum des barocken Absolutismus, schwappt die<br />

neue Mode, wie alles, was am Hof der Bourbonen erdacht<br />

wird, in konzentrischen Kreisen an all die kleineren Höfe<br />

der Provinzen. So entstand in vielen Regionen Frankreichs<br />

so etwas wie ein unsichtbarer Pakt zwischen Bauern und<br />

Gourmets – ein Pakt, der selbst die Revolution über dauerte,<br />

nach der die ehemaligen Leibköche der Aristokraten die<br />

ersten Restaurants eröffnen und die Gastronomie für das<br />

neue Bürgertum neu erfinden. Es entstand jenes französische<br />

»Savoir Vivre«, von dem Heinrich Heine in den Reisebildern<br />

schrieb: »Man lebt in lauter Lust und Pläsier, so<br />

recht wie Gott in Frankreich. Man speist von Morgen bis<br />

Abend, und die Küche ist so gut …«<br />

Das war in Deutschland anders. Hier herrschte kein<br />

sinnen froher Katholizismus, der das Essen heiligte, weil<br />

man sich in ihm etwas von der Substanz Gottes aneignete,<br />

sondern in weiten Teilen die Reformation. Welche Auswirkungen<br />

diese auf die deutsche Küche hatte, hat Peter in<br />

Armes Deutschland: Toast<br />

Hawaii, Sardellen-Ei, gefüllte<br />

Tomaten und »Fliegenpilze« –<br />

so zaghaft wagte die deutsche<br />

Kulinarik ihren Nachkriegsstart.<br />

Pariser Köche exzellierten schon<br />

mit Kreationen wie Galantine<br />

de Faisan, Poularde glacée<br />

und Langouste à la Parisienne.<br />

Glückliches Frankreich!<br />

<strong>DAS</strong> <strong>MAGAZIN</strong> <strong>FÜR</strong> <strong>GENUSS</strong> <strong>UND</strong> <strong>LEBENSSTIL</strong> <strong>FINE</strong> 1 | 2017 33

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