Cruiser im Juni 2017
Cruiser im Juni Früher sah man sie überall - mindestens in der Szene: Männer, die sich einfach mal in den Fummel geschmissen haben und Spass daran hatten, ohne gleich ein politisches Statement damit abgeben zu wollen. Daher fragen wir uns: Sag' mir, wo die Tunten sind! Und wenn wir schon bei "Männlichkeit" bzw. eben nicht bei dieser sind: Cruiser trumpft mit einem haarigen Special auf: Alles rund um den Bart!
Cruiser im Juni
Früher sah man sie überall - mindestens in der Szene: Männer, die sich einfach mal in den Fummel geschmissen haben und Spass daran hatten, ohne gleich ein politisches Statement damit abgeben zu wollen. Daher fragen wir uns: Sag' mir, wo die Tunten sind! Und wenn wir schon bei "Männlichkeit" bzw. eben nicht bei dieser sind: Cruiser trumpft mit einem haarigen Special auf: Alles rund um den Bart!
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8<br />
Thema<br />
Rückeroberung der Männlichkeit<br />
Die Frage, ob tuntiges Verhalten natürlich<br />
oder gelernt ist, kann an dieser Stelle<br />
wohl genauso wenig schlüssig beantwortet<br />
werden, wie diejenige, ob Homosexualität<br />
angeboren ist oder eine Folge der psychischen<br />
Entwicklung. Vieles spricht jedoch<br />
dafür, dass ein Verhalten zu einem gewichtigen<br />
Teil in der Entwicklung entsteht. Der<br />
Spiess lässt sich mühelos umdrehen: Männliche<br />
Kinder lernen das Männlichsein von<br />
ihren männlichen Vorbildern. Es wird ihnen<br />
als Ideal vorgelebt. Je rauer die Sitten, je<br />
ländlicher die Umgebung, desto archetypischer<br />
ist das Männerbild, dem auch die Heterobuben<br />
nachzueifern suchen. Unter diesem<br />
Gesichtspunkt betrachtet, ist die neue<br />
Männlichkeit, die in schwulen Kreisen um<br />
sich greift, auch eine Aufgabe unserer gewachsenen<br />
Kultur, die den Schwulen ausserhalb<br />
der traditionellen Geschlechterrollen<br />
ansiedelte. Oder wie es ein Ex von mir ausdrückte:<br />
«Ich bin kein Mann. Ich bin so etwas<br />
Ähnliches wie ein Mann.»<br />
Andererseits ist die Rückeroberung des<br />
Männlichen durch den Schwulen auch eine<br />
Erfolgsgeschichte: Ich darf heute ein Mann<br />
sein, selbst wenn ich <strong>im</strong> Bett zuweilen eine<br />
andere Rolle spiele. Doch bevor wir voreilige<br />
Schlüsse ziehen, müssen wir ein Schlüsselereignis<br />
der modernen Schwulengeschichte in<br />
unsere Überlegungen mit einbeziehen.<br />
Aids killed the Queens<br />
Neulich war der schwule Kulturwissenschaftler<br />
Peter Rehberg <strong>im</strong> Rahmen des Pink<br />
Apple-Filmfestivals in Zürich und sprach<br />
über das Männerbild <strong>im</strong> schwulen Porno.<br />
Dabei kam er auf die Bedeutung von Aids zu<br />
sprechen. Als sich das HI-Virus in den Achtzigern<br />
in der Szene verbreitete und etliche<br />
von uns viel zu früh in den Tod schickte, gab<br />
es eine Gegenreaktion: Die Schwulen <strong>im</strong><br />
Porno waren plötzlich noch muskulöser,<br />
noch praller, braungebrannt und so gesund<br />
aussehend frisch gepflückte Äpfel. Dieses<br />
Bild stand in starkem Kontrast zum ausgemergelten<br />
aidskranken Haut-und-Knochen-<br />
Schwulen, das sich in den Köpfen der angewiderten<br />
Öffentlichkeit festgesetzt hatte.<br />
In dieses Muster passt auch, dass die<br />
Tunte als Archetyp der schwulen Welt plötzlich<br />
einen schweren Stand hatte. Hat man sich<br />
damals in Zeiten von Aids und der Angst vor<br />
Ansteckungen wirklich <strong>im</strong> Tram neben den<br />
hageren, feminin wirkenden Mann setzen<br />
wollen, dem mit dem auffälligen Kurzhaarschnitt<br />
und den blonden Spitzen? Der tuntige<br />
Schwule, seit jeher ein Feind der körperlichen<br />
Ertüchtigung, brachte die physischen Voraussetzungen<br />
mit, um dem Stereotypen des verseuchten<br />
Homosexuellen zu genügen. Der<br />
starke Mann hingegen sah doch gesund aus<br />
und fiel nicht weiter auf. Zugegeben, das ist<br />
eine These, der man zahlreiche Argumente<br />
entgegenhalten kann. Unter anderem, dass<br />
tuntige Schwule in der Öffentlichkeit <strong>im</strong>mer<br />
einen schweren Stand hatten, auch vor<br />
der Aids-Epidemie. Aber das unterschwellige<br />
Gefühl «bei dem kann man sich anstecken,<br />
der ist schwul», dürfte der Straight-<br />
Acting-Fraktion in den Achtzigern und<br />
Neunzigern sicher einen gewissen Zulauf<br />
beschert haben. Dass die Pornomänner der<br />
Neunziger zwar Muskeln, aber keine Körperhaare<br />
hatten, dürfte hingegen einem generellen<br />
Männerbild geschuldet gewesen<br />
sein. Körper wurden während knapp zwei<br />
Jahrzehnten glattrasiert. Haare dürfen erst<br />
seit kurzem wieder spriessen. Und auch<br />
nicht überall.<br />
Der Schwule darf wieder<br />
Mann sein und wird selbst<br />
von vielen Heteromännern<br />
als Vertreter des eigenen<br />
Geschlechts akzeptiert.<br />
Was also hat die Tunte an den Rand der<br />
schwulen Gesellschaft gedrängt? Im Wesentlichen<br />
sind es zwei Faktoren: Der Schwule<br />
darf wieder Mann sein und wird selbst von<br />
vielen Heteromännern als Vertreter des eigenen<br />
Geschlechts akzeptiert. Das ist die eine<br />
Seite der Medaille. Die andere ist die, dass<br />
Homosexualität homogener wird. Die <strong>im</strong><br />
Symbol des Regenbogens ausgedrückte Vielfalt<br />
hat an Bedeutung verloren. Das vormals<br />
vorhandene Denken, dass der Schwule zwar<br />
Mann ist, aber die Brücke zum Weiblichen<br />
bildet, verschwindet zunehmend.<br />
Doch keine Aktion ohne Reaktion.<br />
Auf das Verschwinden der Tunten scheint<br />
es eine Antwort zu geben: Da und dort tauchen<br />
junge Männer und junge Frauen auf,<br />
die sich in ihrem Look nur geringfügig unterscheiden.<br />
Merkmale sind: mittellanges<br />
Haar, häufig gefärbt, lackierte Nägel, ausladende,<br />
lange T-Shirts, Leggins, Piercings<br />
und dergleichen, mit einer Prise Emo. Ein<br />
androgyner Typ, der sich nicht an bestehenden<br />
Geschlechterrollen orientiert, sondern<br />
irgendwo <strong>im</strong> L<strong>im</strong>bo zwischen Frau<br />
und Mann das Licht der Welt erblickt hat.<br />
Sollte also tatsächlich der Tunte letztes<br />
Stündchen geschlagen haben, besteht <strong>im</strong>merhin<br />
die Hoffnung, dass sich so etwas<br />
wie eine halbwegs würdige Nachfolge finden<br />
lässt. Auch wenn diese Jungs vielleicht<br />
etwas weniger schrill «ooh» kreischen.<br />
CRUISER juni <strong>2017</strong>