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24<br />

LESEN<br />

Der goldene Pantoffel von Speicher<br />

Von Christian Humberg<br />

Das Licht der sinkenden<br />

Sonne spiegelte sich auf<br />

dem Wasser der Kyll.<br />

Der Tag war heiß gewesen. Lena<br />

und Elias Schäfer fuhren mit<br />

letzter Kraft an der alten Mühle<br />

vorbei. Dann legten sie ihre Räder<br />

ins hohe Gras und rannten<br />

dem Ufer und dem kühlenden<br />

Nass entgegen.<br />

Voller Vorfreude streifte Elias<br />

sich schon <strong>die</strong> Sandalen von<br />

den Füßen. Fast hatte er den<br />

Fluss erreicht. Vier Schritte<br />

noch, dann drei, zwei …<br />

„Au!“ Ein stechender Schmerz<br />

fuhr ihm in <strong>die</strong> Ferse. Erschrocken<br />

blieb der Elfjährige stehen.<br />

„Mann, das tat weh!“<br />

„Ist was?“, fragte seine<br />

Schwester. Sie lief fröhlich weiter<br />

in <strong>die</strong> Kyll, <strong>die</strong> ihr an <strong>die</strong>ser<br />

Stelle bis zum Knie ging.<br />

Elias sah hinter sich und zu den<br />

Rädern. Dort lag der dritte Teilnehmer<br />

ihrer Radtour entspannt<br />

im Gras. Pikrit, das Vulkanteufelchen,<br />

war gewissermaßen<br />

das Maskottchen des<br />

Internats Krähenfels, das <strong>die</strong><br />

Zwillinge Schäfer in der Eifel<br />

besuchten. Und normalerweise<br />

war er stets zu Streichen aufgelegt.<br />

„Pik?“, rief Elias daher zornig.<br />

„Pik, hast du mir eine Falle gestellt?<br />

Damit ich in Reißzwecken<br />

reintrete, oder so?“<br />

Doch der kleine Kerl, der aussah wie ein Lavastein mit Armen und Beinen,<br />

schnarchte friedlich. Ihn traf keine Schuld.<br />

„Was ist denn?“, fragte Lena. Sie war näher gekommen und sah an Elias<br />

hinab. „Bist du auf etwas drauf gekommen?“<br />

„Fühlt sich so an“, antwortete er. „Auf etwas Hartes.“ Er bückte sich<br />

und streckte <strong>die</strong> Hand ins Wasser. Tatsächlich fand er ein spitz zulaufendes<br />

Objekt unter seinem Fuß. Elias zog <strong>die</strong> Hand wieder hoch …<br />

und erstarrte.<br />

„Holla!“, staunte seine Schwester.<br />

Es war ein Schuh, genauer gesagt ein Pantoffel. Der Größe nach zu urteilen,<br />

schien er einer Puppe zu gehören. Außerdem war er von glänzend<br />

goldener Farbe.<br />

„Ein Puppenschuh für eine Hohlbirne“, neckte Lena ihn. „Toller Fund,<br />

Elias. Der steht dir bestimmt.“<br />

Doch der Junge schüttelte den Kopf. Ihm war ganz und gar nicht nach<br />

Scherzen zumute. „Der gehört ihm“, hauchte er. Dann sah er sich vorsichtig<br />

nach allen Seiten um.<br />

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kinderbuchserie „Sagenhaft Eifel! Abenteuer in einer<br />

fantastischen Region“: Im magischen Internat Krähenfels leben <strong>die</strong> Zwillinge Lena<br />

und Elias Schäfer. Sie erleben <strong>die</strong> Sagen und Legenden der Region aus nächster<br />

Nähe und geraten immer wieder in gefährliche Situationen. Mittlerweile gibt es zwei<br />

Bände, auch als Hörbücher: „Das Schloss am Maaresgrund“ und „Der Schrecken der<br />

Teufelsschlucht“ (Eifelbildverlag, Daun). Mehr Infos: www.eifelbildverlag.de<br />

Lena runzelte <strong>die</strong> Stirn. „Wem?“, fragte sie.<br />

„Na, dem Wichtel.“ Elias senkte <strong>die</strong> Stimme. „Dem kleinen Wichtelmann<br />

von Speicher. Ich hätte nie gedacht, dass es den wirklich gibt.“<br />

„Was?“ Sie sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. Dann prustete<br />

sie los. „In Speicher gibt es Wichtelmänner? Nee, ist klar …“<br />

„Das stimmt“, beharrte Elias. „Vor Jahrhunderten lebten hier ganz<br />

viele. In einer Höhle nahe der Kyll. Das habe ich in einer alten Sage<br />

gelesen.“<br />

„Und heute?“ Lena lachte noch immer. Sie glaubte kein Wort. „Heute<br />

werfen sie ihre Schuhe ins Wasser hinter der Mühle, oder wie? Ehrlich,<br />

Hohlbirne, du warst zu lange in der Sonne.“<br />

„Heute gibt es nur noch einen Wichtel“, zitierte er <strong>die</strong> Geschichte.<br />

„Die viel zu neugierigen Dörfler haben den Rest damals vertrieben.“<br />

Wieder sah er sich um. Hörte der Wichtel ihnen etwa zu? Stand er im<br />

Gras und lauschte? „Aber ein Wichtel verlor bei der Flucht seinen<br />

Pantoffel. Seitdem muss er ganz allein hier herumspuken und suchen.“<br />

„Nach dem da?“ Lena zeigte auf Elias’ Handfläche. „Für ’nen läppischen<br />

Puppenschuh bleibt der Jahrhunderte lang hier?“<br />

Er sah zu ihr. „Von wegen läppisch“, meinte er. „Laut der Sage sind <strong>die</strong><br />

Pantoffeln der Wichtel aus purem Gold!“<br />

Nun verstummte sie. Aus großen Augen betrachtete sie den nassen<br />

kleinen Fund. Mehrere Sekunden lang sagte niemand etwas.<br />

Dann: „Glaub ich nicht.“<br />

Elias seufzte. „Lena …“<br />

„Nein, glaub ich nicht.“ Sie hob ablehnend <strong>die</strong> Hände. „Wichtelmänner<br />

in der Eifel? Die Schuhe verlieren wie Schneewittchen? Unfug.<br />

Das ist keine Sage, sondern ein Witz.“<br />

„Und was, wenn doch?“, gab er zurück. „Was, wenn das hier tatsächlich<br />

echtes Gold ist?“<br />

„Dann bist du jetzt wohl reich, hm?“ Sie nickte auffordernd. „Na los.<br />

Nimm den Pantoffel mit nach Hause. Stell ihn zu deinem Sparschwein.“<br />

Elias betrachtete das kleine, funkelnde Ding. Er dachte an sein Fahrrad,<br />

das dringend neue Reifen und einen neuen Sattel brauchte. Mit<br />

Gold wäre beides bezahlt – und viel, viel mehr.<br />

Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Der Wichtel sucht den Schuh seit<br />

langer Zeit. Erst wenn er ihn wiederhat, kann er zu seinen Freunden.<br />

Und bei mir würde er ihn nie finden.“ Er bückte sich wieder und legte<br />

den Pantoffel zurück – nicht ins Wasser, sondern auf einen kleinen<br />

Fels am Ufer. Schön mittig drauf.<br />

Lena rollte mit den Augen. „Auch noch auf den Präsentierteller legen.<br />

Na, du bist <strong>die</strong>sem Schneewichtelmann ja echt eine Riesenhilfe.“<br />

Elias ignorierte ihren Spott. „Das hoffe ich“, sagte er aufrichtig. Dann<br />

planschten sie los.<br />

Drei Stunden später kam <strong>die</strong> Nacht. Die Zwillinge schliefen längst<br />

wieder in ihren Internatsbetten. Mondschein erhellte das Kyllufer, und<br />

nirgends rührte sich etwas.<br />

Bis auf das hohe Gras vorne am Fluss. Eine winzige Hand schoss<br />

plötzlich – endlich! – zwischen den Halmen hervor und griff nach dem<br />

Pantoffel. Den Jubel, der dann folgte, hörte nur <strong>die</strong> alte, verschwiegene<br />

Mühle von Speicher.<br />

Schriftsteller<br />

Christian Humberg<br />

hat <strong>die</strong>se Geschichte<br />

für <strong>Lucky</strong>s<br />

Kinder-Magazin<br />

geschrieben. Er ist<br />

Autor der „Sagenhaft<br />

Eifel“-Kinderbücher.

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