sPositive_09_2017_web
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HISTORY<br />
angewiesen. Wochenlang ist er mit ihnen in<br />
Witzwil allein. Er ist Verwalter, Aufseher,<br />
Gutsverwalter und praktizierender Landwirt<br />
in Personalunion. Nur ab und zu kommt<br />
Pfarrer Wyss aus Ins vorbei.<br />
Oben: Bau des<br />
Verpflegungsgebäudes<br />
Witzwil 1918. Das<br />
Haus des Direktors<br />
von Witzwil, um<br />
1895 (unten).<br />
ZUGOCHSEN STATT MILCHKÜHE<br />
Von grosser Bedeutung ist natürlich, dass<br />
billige Arbeitskräfte in grosser Zahl für den<br />
landwirtschaftlichen Betrieb und die Bodenverbesserung<br />
zur Verfügung stehen. Der<br />
Kanton macht es sich einfach. Geld wird<br />
nicht investiert. Von Direktor Otto Kellerhals<br />
wird erwartet, dass er die Strafanstalt aus<br />
dem Erträgen der Landwirtschaft finanziert.<br />
Das Kunststück gelingt ihm.<br />
Das in Halle erworbene Wissen kommt<br />
ihm jetzt zu Gute. Zu Beginn der 1900er-<br />
Jahre beginnt der Betrieb zu rocken. Aus<br />
dem einstigen sauren Moorboden ist nun<br />
Gras-, Weide- und Ackerland geworden. Otto<br />
Kellerhals ergänzt den Ackerbau mit Viehzucht.<br />
Er kommt zur Überzeugung, dass für<br />
den riesigen Betrieb die Aufzucht von Zugochsen<br />
rentabler ist als Milchwirtschaft. Jahr<br />
für Jahr werden nur 60 Kuhkälber aufgezogen,<br />
die ausschliesslich der Ergänzung des<br />
Milchviehbestandes der Anstalt und damit<br />
der Eigenversorgung dienen. Daneben werden<br />
60 bis 80 männliche Tiere als Zugtiere<br />
für den eigenen Betrieb oder zum Verkauf<br />
im Alter von zwei bis drei Jahren aufgezogen.<br />
Was heute der «John Deer» dem Bauer,<br />
das ist zu Beginn des letzten Jahrhunderts<br />
der Zugochse. Die Tiere können, da so viel<br />
Land zur Verfügung steht, billig aufgezogen<br />
werden. Über Jahre ist die Nachfrage nach<br />
den legendären Witzwiler Zugochsen enorm<br />
– und sie gewinnen erst recht in der Zeit des<br />
1. Weltkrieges (1914–1918) an Wert, als die<br />
Armee alle Pferde einzieht. Die Milchwirtschaft<br />
in einer eigenen Käserei spielt hingegen<br />
keine grosse Rolle – und bald wird auf<br />
Butterfabrikation umgestellt.<br />
Direktion mit Aufsehern Witzwil, 1913.<br />
GÜNSTIGE ARBEITSKRÄFTE<br />
In geringem Umfang werden auch Kartoffeln<br />
angebaut, aber vom Brennen von Kartoffelschnaps<br />
kommt Otto Kellerhals nicht nur aus<br />
wirtschaftlichen, sondern auch aus erzieherischen<br />
Gründen bald wieder ab. Er hätte die<br />
Schnapsbestände wohl rund um die Uhr<br />
bewachen müssen. Und es kann ja nicht sein,<br />
dass man Sträflinge Schnaps brennen lässt.<br />
Er setzt darum auf den Anbau von Zuckerrüben.<br />
Und auch das funktioniert in Zusammenarbeit<br />
mit dem Aufbau einer Zuckerfabrik<br />
in Aarberg. Der gesamte Viehbestand<br />
beträgt im Jahr 1903 460 Stück Rindvieh,<br />
38 Pferde und Fohlen sowie 151 Schweine.<br />
Zu dieser Zeit beaufsichtigt Otto Kellerhals<br />
zwischen 110 und 150 Gefangene. 40 bis 50<br />
Angestellte sowie vier bis sechs Arbeiter-<br />
Fotos: Staatsarchiv des Kantons Bern<br />
24 s’Positive 9 / <strong>2017</strong>