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Dietrich Klinge – Orte

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Wiederverortung<br />

30<br />

Es lohnt sich zuletzt der Blick auf einen weiteren Aspekt, unter dem sich der Ort, gerade als<br />

endlicher, vom unendlichen Raum abhebt. Ein Ort kann an einem anderen gewissermaßen<br />

wiedergeboren werden. Unsere Kulturgeschichte ist reich an Manifestationen dieser kollektiven<br />

Erfahrung. Das „dritte Rom“, die translatio imperii, die „Renaissance“, die unzähligen<br />

Namen, unter denen in der „Neuen Welt“ die Städte und Dörfer der alten, aus der die Menschen<br />

mit dem Ziel auswanderten, ein besseres „Anderes ihrer selbst“ zu finden, erinnert<br />

sind: all dies sind Zeugnisse für das Bewußtsein, dass der Ort, dem wir unsere Identität<br />

verdanken, wandern kann, und zwar nicht nur räumlich, sondern auch über die Zeiten hinweg.<br />

In der Architektur ist uns die Erfahrung genauso geläufig, und mit ihr auch der Erkenntnisanspruch,<br />

der von ihr ausgeht. München hat auf dem Odeonsplatz den Palazzo Pitti und<br />

die Loggia dei Lanza ja nicht nachgebaut, weil den Herren der Stadt nichts Besseres einfiel,<br />

sondern weil es eben die Erfahrung gibt, dass es Orte gibt, die auf ihre Wiederverkörperung<br />

drängen und sie von uns buchstäblich, das heißt im doppelten Sinn des Wortes „erwarten“.<br />

Was sich hier manifestiert, ist eine Urerfahrung, die einer der bedeutendsten Kulturphilosophen<br />

unserer Gegenwart, Rémi Brague, als die geistige Identitätsgrundlage Europas behauptet<br />

hat: Die Bereitschaft, sich vom kulturell Überlegenen bezwingen zu lassen, in seinen<br />

Dienst zu treten, sich aus ihm über sich selbst belehren zu lassen und sich gerade dadurch<br />

als von ihm noch gefordert und insofern auch gebraucht zu verstehen. „Exzentrische Identität“<br />

18 hat Brague dieses Bewußtsein genannt, das eine Kultur gerade dann an den Tag legt,<br />

wenn sie das Musterhafte, Sinnstiftende dessen, was ihr vorausgegangen ist und was ihr<br />

womöglich auf der politischen Ebene unterlag – wie die Griechen den Römern, die nichtsdestoweniger<br />

die griechische Kultur als Vorbild über Jahrhunderte übernahmen – oder sich<br />

zu ihr flüchten mußte, anerkennt. Die Größe, sich im Größeren wiederzuerkennen, ist das<br />

Gegenteil von Minderwertigkeitskomplex und vielleicht die sicherste Gegenwehr gegen die<br />

schreckliche Macht des Ressentiments und des Neides.<br />

Auch diese Größe ist es, der sich das Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s stellt, gerade indem es an dem<br />

Ort „Platz nimmt“, an dem sich die hier dokumentierten Werke versammelt haben. Es ist die<br />

Gelassenheit und Offenheit, die ein Ort, der in seinen schönsten Gebäuden ganz zwanglos<br />

ein Bekenntnis zum Größeren ablegt, durch die erst die Atmosphäre gestiftet wird, in der ein<br />

Werk, das ja darauf angelegt ist, zu wandern und sich immer von neuem wiederzuverorten,<br />

erst wirklich die Menschen erreichen kann, die sich in ihm wieder erkennen. Insofern sind<br />

diese Gedanken ein Dank nicht nur für die Einladung gewesen, die von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Werk<br />

an die Philosophie des Ortes ergeht, sondern auch ein Dank, der dem Ort gilt, der hier den<br />

Einladenden und den Eingeladenen eingeladen hat.<br />

15<br />

Vgl. dazu das großartige Buch von Christoph<br />

Schönborn: Die Christus-Ikone. Eine theologische<br />

Hinführung, Wien 1998.<br />

16<br />

Vgl. das Zitat von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> bei Alfred<br />

Meyerhuber: In der Krypta unter Sankt Gumbertus,<br />

FN 17.<br />

17<br />

Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, 4.<br />

Aufl. Freiburg/München 1999.<br />

18<br />

Rémi Brague: Europa – seine Kultur, seine<br />

Barbarei. Exzentrische Identität und römische<br />

Sekundarität, 2. Aufl. Wiesbaden 2012.

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