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Als langjähriger Begleiter<br />
meiner Großmutter<br />
Margot Rosenkranz, die<br />
ich fast jedes Wochenende sah,<br />
war Berthold Goldschmidt eine<br />
feste Größe in meinem Leben. Er<br />
füllte die Rolle eines Großvaters<br />
weder aus noch strebte er sie an;<br />
sich mit Kindern auf deren Niveau<br />
zu unterhalten, war für ihn nicht<br />
selbstverständlich. Es war mein Vater<br />
Stephen – dem er in allem außer<br />
der Bezeichnung ein Stiefvater war<br />
–, dem er sich für den nötigen intellektuellen<br />
Stimulus zuwandte. Aber<br />
Berthold war im Hintergrund immer<br />
anwesend, mit seinem begeisterten,<br />
beinahe wissenschaftlichen Interesse<br />
an Margots Enkeln und deren<br />
Entwicklung.<br />
Wir, ihre Familie, waren eine<br />
notwendige Ablenkung und ein<br />
Publikum für Berthold, besonders<br />
in der dunkelsten Periode seines<br />
Lebens in den 1970er-Jahren, als<br />
er und seine Kompositionen von<br />
der Musikwelt komplett ignoriert<br />
wurden und er von persönlichen<br />
Problemen geplagt war. Als Kind<br />
unternahm ich mit Margot und<br />
Berthold lange Spaziergänge durch<br />
Londons Park Hampstead Heath,<br />
wo er es liebte, sein umfangreiches<br />
Wissen über die Flora und Fauna<br />
zur Schau zu stellen. Darauf folgten<br />
Kaffee und Kuchen im Louis, einem<br />
nahe gelegenen Café, weitgehend<br />
für mitteleuropäische Kundschaft.<br />
Anders als die meisten Geflohenen<br />
aus Nazi-Deutschland bestand Berthold<br />
darauf, in seiner Wahlheimat<br />
nur Englisch zu sprechen. Sein Blick<br />
wurde zornig, wenn Margot in einem<br />
Gespräch auch nur ein unnötiges<br />
Wort auf Deutsch erwähnt hätte.<br />
(Wie genoss sie die Gelegenheit,<br />
in ihrer Muttersprache zu reden,<br />
wenn er nicht zugegen war!) Weit<br />
Berthold Goldschmidt mit seiner Partnerin Margot und Familie.<br />
Rechts hinten: Nicholas Rose.<br />
voneinander entfernt in Interessen,<br />
Temperament und intellektueller<br />
Neugier, zogen sich bei ihnen<br />
wirklich die Gegensätze an. Die tiefe<br />
Liebe, die sie füreinander empfanden,<br />
war berührend anzusehen<br />
und entscheidend, um Bertholds<br />
künstlerischen Geist am Leben zu<br />
erhalten, wie er in seiner Widmung<br />
zu Beatrice Cenci anerkannte.<br />
Berthold und ich waren uns in den<br />
letzten Jahren seines Lebens am<br />
nächsten, als das Alter ihn abgeklärter<br />
gemacht hatte und ich alt<br />
genug war, um seine Weisheit und<br />
tiefe Menschlichkeit voll zu schätzen.<br />
Seit der Wiederentdeckung<br />
seiner Musik in den 1980er-Jahren<br />
und seiner Erhebung in den Status<br />
eines »elder statesman« wurde er<br />
zu neuem Leben und einer kreativen<br />
Energie erweckt. Obwohl er so<br />
prinzipientreu wie gewohnt blieb,<br />
war sein Verhalten weniger streng<br />
und es gab nun ein Funkeln in seinen<br />
Augen. Und endlich konnten wir auf<br />
einem erwachsenen Niveau über Musik<br />
sprechen; was er zu sagen hatte,<br />
war selbstverständlich faszinierend<br />
und äußerst anregend. Es bleibt das<br />
Bedauern, dass ich als Kind nicht<br />
stärker von seinen Einblicken profitieren<br />
konnte.<br />
11<br />
Nach Margots plötzlichem Tod im<br />
Jahr 1993, der ihn am Boden zerstört<br />
zurückließ, brauchte er mehr als<br />
je zuvor ein Publikum. Er bestand<br />
darauf, uns die neuesten Aufnahmen<br />
seiner Werke vorzuspielen (in strikten<br />
Konzertsaalbedingungen ohne<br />
Geräusch und Gezappel, auch nicht<br />
von meinen kleinen Kindern). Und<br />
nie kam er ohne eine gefüllte Tasche<br />
mit ausgeschnittenen Zeitungsbeiträgen<br />
wie Interviews, die er gegeben<br />
hatte, oder Konzertkritiken von<br />
seiner Musik – Fehler wie immer rot<br />
angestrichen. Aber es war herzerwärmend,<br />
Berthold jeden Moment<br />
seines noch andauernden Lebens<br />
genießen zu sehen, und ich bin stolz<br />
darauf, Zeuge gewesen zu sein, wie<br />
sein langes und unausgeglichenes<br />
Leben auf einer triumphalen hohen<br />
Note endete.<br />
NICHOLAS ROSE<br />
wuchs in London auf. Seine<br />
Eltern waren in den<br />
1930er-Jahren aus dem<br />
nationalsozialistischen<br />
Deutschland emigriert. Im<br />
Finanzgewerbe tätig, spielt<br />
Musik in seinem Leben eine<br />
bedeutende Rolle. Er ist<br />
Vater von zwei erwachsenen<br />
Kindern.<br />
BEATRICE CENCI