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4 Die interessante Frau Ein Mensch, ein Leben, eine Geschichte Text: Gaye Suse Kromer Fotos: Alexandra Breitenstein An der Ruhrallee steht eines der auffälligsten Gebäude der Dortmunder Innenstadt: das blaue Ellipson. Ein silberner Fahrstuhl geleitet den Besucher sanft in die oberen Büros. Vom Empfang der 12. Etage aus betrachtet, wirkt die Welt klein, die Menschen winzig, fast unbedeutend. Nicht für Dagmar Rodler. Für die Verlagsinhaberin gilt es, immer wieder vom 12. Stock hinunter zu steigen. Für sie hat jeder farbige Punkt ein Gesicht: ein Mensch – ein Leben, ein Mensch – eine Geschichte. „Wasser, Kaffee, Cappuccino? Bitte hier entlang“, Dagmar Rodler bestellt bei der Assistenzkraft Getränke und führt leichten Schrittes vom Empfang in ihren Büroraum. Für ihren Saturn- Verlag nutzt Dagmar Rodler ein Büro mit Schreibtisch. Mehr braucht sie nicht, um Biografien zu verlegen. Biografien? Leser können sich über die Auswahl nicht beklagen. Das Besondere am Saturn-Verlag: In Zeiten, in denen jeder Prominente meint, sein Dasein sei ein Buch wert, konzentriert sich Dagmar Rodler auf das Leben von Menschen zum Anfassen. Jeder kann bei ihr eine Biografie verlegen lassen. Keine geradlinigen Leben Die Getränke kommen. Die Verlegerin verteilt Tassen und kleine Naschereien.Wohligkeit breitet sich aus. Hier ist keine Frage zu dumm, dafür ist Dagmar Rodler zu Vertrauen einflössend. Also dann: Was macht für sie eine gute Biografie aus? „Ehrlichkeit und Authentizität. Biografien bekannter Personen sind zu sehr Image. Menschen, die mir ihre Lebensgeschichte anvertrauen, wollen wirklich ihren Weg nachzeichnen. Offen und oft schonungslos. Jede Geschichte ist interessant. Geradlinige Leben gibt es einfach nicht.“ Vor dem ersten Gespräch gibt es den Lebensleitfaden mit Fragen zum Lieblingsgericht und dem besten Freund in Schultagen – eine Anregung zur Erinnerung. Für die eigentlichen Gespräche fährt Dagmar Rodler zu ihren Klienten, stellt ihr Diktiergerät in süddeutschen Wohnungen, im Münsterland oder an der holländischen Grenze auf. Die studierte Betriebswirtin hat in ihrem Berufsleben immer Nischen gefunden, in die sie mit neuen Ideen schlüpfte. Der Grundstein für den
Saturn-Verlag wurde über die Wappenkunde, die Heraldik, und das Erstellen von Familienstammbäumen gelegt. „Ich dringe durch einen Stammbaum tief in die Geschichte einer Familie ein. Das Verlegen von Biografien lag da nahe.“ Heilende Wirkung Trotzdem erstaunlich: Wie kam sie als Betriebswirtin zum Schreiben? Klug blitzen die Augen durch die Brille: „Die Menschen selbst schreiben ihr Leben, nicht ich.“ Manchmal wörtlich, indem sie schriftliche Skizzen zur Durchsicht abgeben oder eben in dem sie aufs Diktiergerät sprechen. Die Aufgabe der Verlagsleiterin: nachfragen, zuhören, Daten sortieren, Ereignisse auf ihre historische Genauigkeit abstimmen, Fotos aussuchen, Sprache glätten. Ihr stehen zwei Lektoren und ein Grafiker zur Seite. Und, ja, manchmal hakt Dagmar Rodler nach, ob der Klient etwas genau so stehen lassen möchte, wie er es gesagt hat. „Reden in einer vertraulichen Atmosphäre ist das eine. Geschriebenes das andere. Bevor der Text zum Druck geht, markiere ich kritische Stellen gelb.“ Ein liebevolles Lächeln: „Das sind meine ‚Gelben Seiten’. Über diese Stellen rede ich mit meinen Kunden.“ Die Bücher gehen an Ehepartner, an Familienangehörige. Oft beginnt das Verstehen für Entscheidungen im Leben der Eltern erst während der Lektüre. Die Biografien entfalten über die persönlichen Erzählungen eine heilende Wirkung bei Tochter oder Sohn – und für den Klienten selbst. Ihr Beweggrund, Biografien zu verlegen, ist einfach: „Ich liebe es, der älteren Generation zuzuhören. Immer wieder bewegen mich die Erzählungen aus dem Krieg. Der Mut, die Traurigkeit, aber auch das Glück. Das können wir uns doch gar nicht mehr vorstellen. Oder, können Sie das?“ Sie hat Recht, es geht nicht. Deshalb ist es so wichtig, Geschichten zu hören, zu sammeln, aufzuschreiben. Damit wir wissen, woher wir kommen, damit wir wissen, wohin wir gehen. Mensch sein Es scheint, als bräuchte das Verlegen von Biografien mehr als gute Kenntnis in neuer Rechtschreibung. Dagmar Rodler lehnt sich zurück: „Liebe zum Menschen, Einfühlungsvermögen, wirklich zuhören, genau hinsehen – diese Eigen- schaften sind nötig.“ Genau hinsehen? Die Menschen erzählen doch von selbst?! „Die Durchsicht der Fotos ist wichtig. Welche sollen ins Buch? Welche Anhaltspunkte laden zu weiteren Fragen ein? Meine Tätigkeit ist mit einer hohen Verantwortung verbunden. Die Menschen erzählen mir ihr Leben!“ Ein Ausrufezeichen. Zu recht, denn: „Sie erleben Situationen erneut. Gefühle kommen zurück.“ Wie reagiert sie, wenn ein Klient überwältigt ist von der Erinnerung? „Wir sind alle Menschen. Das Weinen gehört dazu. Ich lasse es fließen und passe den richtigen Moment ab, um auf andere Themen zu kommen.“ Bei allem Einfühlungsvermögen, aber Distanz muss sein. Abschalten kann sie mit Mann und Hund und einem guten Glas Rotwein. Dann lässt sie die Geschichten Revue passieren.Verinnerlicht hat sie, einen Streit nie über Stunden schwelen zu lassen. „Es kann zu schnell vorbei sein. Dann gibt es keine Chance mehr, sich beim anderen zu entschuldigen.“ Zum Schluss bitte ihr größter Wunsch: „Ich möchte gerne das Leben einer Frau aufzeichnen, die ganz unten angekommen ist. Damit Menschen sehen können, wie andere tragischer Spielball ihres Schicksals wurden.“ Da ist sie wieder, die Liebe zum Menschen, die Liebe zum Leben. Es ist spät geworden. Der herbstliche Himmel verdunkelt sich, auf dem Flur kehrt Ruhe ein. Der Fahrstuhl gleitet zurück nach unten. Wieder auf der Straße. Ein Mann mit grauem Haar und kleinen Lachfältchen eilt vorbei:Was mag er wohl für eine Geschichte haben? Dagmar Rodler
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