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Berliner Zeitung 15.10.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 240 · M ontag, 15. Oktober 2018 – S eite 18 *<br />

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Sport<br />

Welke Pracht<br />

Nach dem Reinfall gegen die Niederlande<br />

gerät Bundestrainer Joachim Löw<br />

erneut schwer unter Druck<br />

VonFrank Hellmann, Amsterdam<br />

Fassungslos, ideenlos, sieglos: Bundestrainer Joachim Löw (r.) reagiertebenso bestürzt wie seine beiden Einwechselspieler LeroySané und Julian Draxler.<br />

DPA/INA FASSBENDER<br />

Kann es sein, dass die deutsche<br />

Nationalmannschaft<br />

gerade jenen Sonnenblumen<br />

ähnelt, die vor ihrem<br />

noch bis Montag bewohnten Hotel<br />

in Amsterdam in großen Kübeln an<br />

der Ecke der Amstelvlietstraat stecken?<br />

Trotz eines goldenen Oktober-<br />

Wochenendes, an dem sich die<br />

ganze Stadt mit ihren Hunderttausenden<br />

Touristen in den Grachten<br />

erfreute, sind die meisten verblüht<br />

und verwelkt. Sie sollen die Umgebung<br />

eines noch unfertigen Viertels<br />

unweit der Amstel aufpeppen, wo<br />

rege gebaut wird. Das ergibt ein gutes<br />

Symbolbild für den deutschen<br />

Fußball.<br />

Für die Sonnenblumen wie für<br />

manch einen der deutschen Nationalspieler<br />

gilt: Die Pracht ist dahin.<br />

DieKöpfe hängen. DasDrumherum<br />

gleicht dem beim Deutschen Fußball-Bund<br />

(DFB). Es muss sich hier<br />

aber erst ein Bauherr finden, der den<br />

Großauftrag vergibt. Und dann ein<br />

Baumeister, der einen Plan hat, wie<br />

das alles beim eigentlichen Aushängeschild<br />

wieder werden soll.<br />

Dass es in der bisherigen Besetzung<br />

bei der deutschen Nationalmannschaft<br />

eigentlich nicht mehr<br />

weitergeht, dafür hat das bemerkenswerte<br />

0:3 in der Nations League<br />

gegen die Niederlande den letzten<br />

Nachweis geliefert.<br />

Joachim Löw, der angeschlagene<br />

Bundestrainer, hat von einer „brutal<br />

enttäuschenden Niederlage in der<br />

Höhe“ gesprochen. Seine Mannschaft<br />

erlebte keine drei Monate<br />

nach dem WM-Desaster ihr Déjà-vu.<br />

Vieles erinnerte an das 0:2 im letzten<br />

Gruppenspiel gegen Südkorea: zu<br />

Anfang vorne die Torphobie, hinten<br />

am Ende offen wie ein Scheunentor.<br />

Dazwischen fehlten Tempo und Esprit.<br />

Die zarten Zeichen der Besserung<br />

beim vermeintlichen Neustart<br />

gegen Frankreich (0:0) und Peru (2:1)<br />

sind einen Monat später schon wieder<br />

Makulatur.<br />

Zu beklagen war ein kollektiver<br />

Systemausfall, wie ihn der 58-Jährige<br />

in dieser Höhe zuletzt 2007 erlebte –<br />

in einem unbedeutenden EM-Qualifikationsspiel<br />

gegen Tschechien.<br />

Diese Abreibung kommt für den<br />

Bundestrainer zur Unzeit, denn<br />

nicht nur Löws scharfzüngiger Kritiker<br />

Michael Ballack stellt infrage, ob<br />

der Südbadener wirklich der richtige<br />

Mann für die Neuausrichtung ist.<br />

„Wir stehen alle in der Verantwortung,<br />

ich als Trainer zuallererst“,<br />

räumte der Angeklagte ein.<br />

DFB-Präsident Reinhard Grindel<br />

übermittelte am Sonntag, dass man<br />

jetzt zusammenstehen müsse: „Dass<br />

der Weg unserer Mannschaft nach<br />

der WM auch Rückschläge mit sich<br />

bringen kann, war uns allen klar.<br />

Umso wichtiger ist es, jetzt gemeinsam<br />

auf und neben dem Platz als ein<br />

Team zusammenzustehen.“ Die typische<br />

Durchhalteparole, mit der<br />

sich Grindel in schlechtester Politiker-Manier<br />

alle Optionen offenhielt.<br />

Entlassung Löw inklusive.<br />

Der Wendehals weiß ja: Im DFB-<br />

Präsidium sitzen weitere Skeptiker<br />

und Zweifler. Bei der turnusgemäßen<br />

Sitzung am Freitag, auf der der<br />

für die Nationalmannschaft und die<br />

Fußballentwicklung zuständige Direktor<br />

Oliver Bierhoff ohnehin von<br />

der Nationalmannschaft berichten<br />

wollte, dürfte das Thema breiteren<br />

Raum einnehmen. Dass mehrere<br />

Mitglieder in der Trainerfrage den<br />

Daumen senken, sollte im neuen<br />

Wettbewerbsformat ein Abstieg in<br />

„Es fehlen die Überraschungsmomente,<br />

die Ideen, die Risikobereitschaft.<br />

So können wir<br />

nicht weitermachen.“<br />

Julian Draxler wagt nach der 0:3-Niederlage<br />

einen durchaus kritischen Ansatz.<br />

die B-Kategorie zu beklagen sein, ist<br />

sicher.<br />

Bezeichnend, dass Löw die vom<br />

Dolmetscher aus dem Englischen<br />

übersetzte Frage,obdies eines seiner<br />

letzten Länderspiele gewesen sei,<br />

nicht verstand. „Für mich, oder<br />

was?“, fragte er entgeistert. Sodann<br />

regte er einen Platztausch an, denn<br />

dafür sei er der falsche Ansprechpartner.<br />

Erhabe nicht vor, aufzuhören.<br />

„Not at the moment.“ Aber die<br />

Sachlage könnte bald anders sein:<br />

DasAuswärtsspiel beim Weltmeister<br />

Frankreich hat auf einmal den Status<br />

eines Entscheidungsspiels.<br />

Wenn sein Trupp sich im Stade de<br />

France apathisch ergibt, kommt vielleicht<br />

der angeblich ja wieder geerdete<br />

Genussmensch zur Erkenntnis,<br />

dass es mehr als nur kosmetische<br />

Änderungen braucht. Spätestens das<br />

Rückspiel gegen die Niederlande (19.<br />

November) wird über Löws Zukunft<br />

entscheiden. „Ein Abstieg aus der<br />

Nations League ist nicht wünschenswert“,<br />

gab er zu Protokoll, das wolle<br />

man verhindern, indem man zuerst<br />

am Dienstag punktet. Wichtiger ist<br />

ihm: „Wir müssen alles, was auf uns<br />

einprasselt, ausblenden.Wirmüssen<br />

Charakter zeigen.“<br />

Aber es braucht mehr als nur Leidenschaft,<br />

Kampf und Einsatz. Es<br />

wäre gut, wenn diese deutsche<br />

Mannschaft mal wieder mit Netz und<br />

doppeltem Boden agiert, was schon<br />

im schöngefärbten Freundschaftsspiel<br />

gegen Peru nicht gelungen war.<br />

Auch im 4-3-3-System greifen die Automatismen<br />

nicht, die Balance fehlt.<br />

„Die richtige Ausgewogenheit ist das<br />

Schwierigste im Fußball überhaupt“,<br />

hatte der Bundestrainer gesagt. Aber<br />

ewig Zeit hat in diesem Metier kaum<br />

noch jemand. Auch er ist diesen Nimbus<br />

los – und daran ist der Mann<br />

selbst schuld. Noch immer baut der<br />

Weltmeistertrainer von 2014 auf eine<br />

Achse,die längst brüchig ist. DenDebütanten<br />

Mark Uth, 27, anstelle von<br />

Leroy Sané, 22, aufzustellen, wirkte irritierend,<br />

denn damit sendet die<br />

sportliche Leitung an die junge Garde<br />

völligfalsche Signale.<br />

Erschwerend scheint auch die<br />

fehlende Einsicht der arrivierten<br />

Garde zu sein. Eigentlich erlaubte<br />

sich nur der mit Sané zu spät eingewechselte<br />

Julian Draxler, obwohl an<br />

den finalen Gegentreffern nicht unbeteiligt,<br />

einen kritischen Ansatz:„Es<br />

ist die große Frage, warumwir es mit<br />

dem Spielermaterial nicht schaffen,<br />

wieder attraktiven Fußball zuspielen.<br />

Mirpersönlich geht das zu langsam,<br />

und es ist zu berechenbar. Es<br />

fehlen die Überraschungsmomente,<br />

die Ideen, die Risikobereitschaft. So<br />

können wir nicht weitermachen.“<br />

Auf die Frage, ob der PSG-Legionär<br />

damit die Trainerdiskussion eröffnet<br />

habe,antwortete der 25-Jährige nur:<br />

„Dazu äußereich mich nicht.“<br />

Frank Hellmann<br />

erlebt den Neustartdes<br />

DFB als Makulatur.<br />

Morsche Stützen<br />

Beim 0:3-Debakel gegen Holland wackelten die prominentesten Nationalspieler.Warum das gesamte Personal jetzt unbedingt auf den Prüfstand muss<br />

Uli Voigt weitet seine Funktion als<br />

Mediendirektor beim Deutschen<br />

Fußball-Bund (DFB) gerne<br />

mal aus. Bei der WM in Russland<br />

spielte der Wahl-Rheinländer eine<br />

unrühmliche Rolle, als er sich beim<br />

Last-Minute-Sieg gegen Schweden<br />

wenig gentlemanlike aufführte. Dafür<br />

setzte es vomWeltverband (Fifa)<br />

eine Geldstrafe.DreiTage vorseinem<br />

66. Geburtstag hat sich Voigt für die<br />

Nationalmannschaft mal wieder<br />

nützlich gemacht, als er in der Amsterdamer<br />

Arena den Geleitschutz<br />

gab. Und mit Jérôme Boateng einen<br />

der Hauptangeklagten der 0:3-Demütigung<br />

gegen die Niederlande<br />

eng an den orange getünchten Werbewänden<br />

zum Bus führte, damit<br />

dieser jedem Verhör entging.<br />

Eine Erklärung vomschwächsten<br />

deutschen Feldspieler wäre allemal<br />

interessant gewesen. Kamaber nicht<br />

zustande. Dafür erläuterte Joachim<br />

Löw etwas nebulös, warum er den<br />

gedanklich wie körperlich zu langsamen<br />

Abwehrspieler nicht schon zur<br />

Halbzeit mit einer Auswechslung erlöste.Der<br />

Bundestrainer:„Es gab zur<br />

Pause noch keinen Grund, alles aufzulösen.<br />

Wir wollten vorne wechseln.“<br />

Wasallerdings zur Folge hatte,<br />

dass der Koloss am Schluss wie ein<br />

Ritter in einer viel zu schweren Rüstung<br />

seinen Gegnernhinterhechelte.<br />

Boateng hat unbestritten große<br />

Verdienste für den deutschen Fußball,<br />

gerade was die Integrationsarbeit<br />

angeht, und er wäre gerne zwischenzeitlich<br />

als erster dunkelhäutiger<br />

Spieler auch Nationalmannschaftskapitän<br />

geworden, aber die<br />

Wahrheit ist aktuell: In dieser Verfassung<br />

ist der 30-Jährige keine Hilfe.<br />

Für das Spiel am kommenden<br />

Dienstag in Paris gegen Weltmeister<br />

Frankreich erteilte er dem Bundestrainer<br />

schon mal eine Absage. Die<br />

Erklärung: Wadenprobleme.<br />

Die deutsche Sicherungszentrale<br />

scheint ohnehin auf solch einem tückischen<br />

Untergrund errichtet zu<br />

sein wie die alten Handelshäuser der<br />

niederländischen Hauptstadt, von<br />

denen viele entlang der Grachten in<br />

gewaltige Schieflage geraten sind.<br />

Ihren Eigentümer kostet die Stabilisierung<br />

mit dem Einsetzen von Betonpfählen<br />

ein Vermögen. Auch Löw<br />

wäre gut beraten, sich von morsch<br />

wirkenden Stützen zu trennen.<br />

Zögerliches Herauslaufen<br />

DerZahn der Zeit nagt nämlich auch<br />

an den Prominentesten: Manuel<br />

Neuer ist nicht mehr der weltbeste<br />

Torwart. Der 32-Jährige fügte der irritierenden<br />

Flatter imVerein noch einen<br />

schweren Fehler in der Nationalmannschaft<br />

an: Sein zögerliches<br />

Herauslaufen war ursächlich für das<br />

0:1 durch Virgil vanDijk (30.).<br />

Doch eingedenk einer WM-Blamage<br />

und eines drohenden Abstiegs<br />

aus der A-Gruppe der Nations<br />

League muss das gesamte Personal<br />

auf den Prüfstand. Dazu gehört<br />

zwingend Thomas Müller,32, der die<br />

Symbolfigur für das verlustig gegangene<br />

Selbstverständnis geworden<br />

ist. Auch er flüchtete übrigens kommentarlos<br />

vom Ort der Schmach.<br />

Immerhin gab Leidenskollege Mats<br />

Hummels noch zu, dass die Ursache<br />

der Misere „eine Mischung aus vielem“<br />

sei. Und: „Wir haben ein ähnliches<br />

Problem wie im Verein.“ Dass<br />

die bayrische Sinnkrise direkt ins<br />

Nationalteam geschwappt ist, bestätigte<br />

Joshua Kimmich: „Das war ein<br />

bisschen ein Spiegelbild unserer<br />

Spiele bei Bayern.“<br />

Ansonsten auffällig, dass die bayrische<br />

Fraktion mal wieder nicht zu<br />

tief den Finger in die Wunde legen<br />

wollte. Und dabei ist leider Kapitän<br />

Neuer einer, der viel zu häufig Ausflüchte<br />

statt Erklärungen anbietet.<br />

Sein flapsiges Statement nach der<br />

Niederlage ging so: „ImTraining haben<br />

wir gesehen, dass jeder Spieler<br />

gute Leistungen gebracht hat. Wenn<br />

wir verlieren, spricht natürlich wieder<br />

jeder negativ. Dass das anders<br />

hätte laufen können, hat jeder gesehen.“<br />

Zumindest derjenige, der eine<br />

schwarz-rot-goldene Brille mit rosa<br />

Rand trägt. (hel.)

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