Berliner Kurier 11.11.2018
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
SEITE13<br />
BERLINER KURIER, Sonntag, 11. November 2018<br />
Die mit den<br />
Toten spricht<br />
Von<br />
ROLF KREMMING<br />
Einem skelettierten Leichnam sein<br />
menschliches Antlitz wiederzugeben –<br />
das ist der Beruf von Steffi Burrath.<br />
Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?<br />
Das letzte Geräusch, das sie<br />
stören darf, ist das Klacken<br />
der Tür, wenn sie die hinter<br />
sich ins Schloss zieht. Kein<br />
Telefonklingeln will sie hören,<br />
kein Uhrticken. Sie<br />
braucht für ihre Arbeit Stille.<br />
Totenstille.<br />
Oft sitzt sie in ihrem Büro<br />
am Schreibtisch und hält einen<br />
Totenkopf zwischen den<br />
Händen. Manchmal spricht<br />
sie auch mit dem Kopf, fragt<br />
flüsternd, wer er –oder sie –<br />
sei, woher er komme und was<br />
man ihm angetan habe,<br />
streicht über Stirn, Augenhöhlen<br />
und Kiefer, fühlt den<br />
Schwung des Jochbeins und<br />
die Schärfe der Zähne.<br />
„Das ist meine Art, mit dem<br />
Menschen, der das einmal<br />
war, zu kommunizieren“,<br />
sagt Steffi Burrath. „Es ist keine<br />
Esoterik oder Geisterbeschwörung,<br />
mehr ein Zur-<br />
Ruhe-Kommen und In-mich-<br />
Hineinhören.“ Die 56-Jährige<br />
arbeitet beim<br />
Landeskriminalamt (LKA)<br />
Sachsen-Anhalt als eine der<br />
drei polizeiinternen Gesichtsweichteilrekonstrukteure<br />
Deutschlands; sie gibt<br />
unbekannten Toten ihr Gesicht<br />
zurück.<br />
Laut Bundeskriminalamt<br />
(BKA) gibt es derzeit 1355 namenlose<br />
Leichen. Nicht alle<br />
von ihnen sind Opfer eines<br />
Verbrechens geworden. Es<br />
sind auch Unfalltote und<br />
Selbstmörder dabei. Und<br />
nicht von allen ist der Schädel<br />
vorhanden.<br />
Wenn keine Fingerabdrücke<br />
registriert sind, DNA-Abgleiche<br />
erfolglos bleiben und<br />
die Toten keinem Vermisstenfall<br />
zugeordnet werden<br />
können, dann ist eine Expertin<br />
wie Steffi Burrath gefragt.<br />
Magdeburg, Lübecker Straße<br />
53–63, Zimmer 241. Das<br />
Büro von Steffi Burrath sieht<br />
gemütlich aus: Häkeldeckchen<br />
auf dem Tisch, ein Ficus<br />
benjamini auf dem Fensterbrett,<br />
Familienbilder an der<br />
Wand, sie auf einem Motorrad,<br />
daneben der Spruch:<br />
„Glück bedeutet jede Menge<br />
Vorbereitung, die auf eine<br />
günstige Gelegenheit trifft.“<br />
Den Eindruck der Gemütlichkeit<br />
stört nur eines: das<br />
Regal mit den fünf Totenköpfen.<br />
Steffi Burrath stört sich<br />
daran nicht.<br />
„Jeder Schädel ist so einzigartig,<br />
wie es auch Fingerabdrücke<br />
sind. Jeder Kopf hat<br />
seine individuelle Form und<br />
seine individuellen Proportionen“,<br />
beginntsie zu erzählen.<br />
„Durch die Kenntnis der<br />
Dicke der Weichteile über<br />
vorherbestimmten anatomischen<br />
Knochenpunkten, die<br />
Welche Geschichte steckt<br />
hinter diesem Schädel?<br />
Steffi Burrath findet bei<br />
ihrer Arbeit so gut wie<br />
immer Antworten.<br />
Fotos: Rolf Kremming (3), LKA Sachsen-Anhalt/zvg(5)<br />
als Durchschnittswerte in<br />
Tabellen festgelegt sind,<br />
kann ein Gesicht ziemlich genau<br />
modelliert und gezeichnet<br />
werden.“ Nur bei Haaren<br />
und Augenbrauen ist ihre<br />
Fantasie gefragt. Meistens<br />
fertigt sie bei Männern mehrere<br />
Versionen mit und ohne<br />
Bart und verschiedene Augenbrauen<br />
an; bei Frauen<br />
verschiedene Frisuren.<br />
So außergewöhnlich ihr Beruf,<br />
so außergewöhnlich ist<br />
ihr Werdegang. Zu DDR-Zeiten<br />
lernte sie Damenmaßschneiderin,<br />
studierte danach<br />
Modedesign und arbeitete<br />
in einer Oberbekleidungsfabrik<br />
in Magdeburg.<br />
Im Jahr 1992 wurde die Firma<br />
abgewickelt. Nach ihrer<br />
Umschulung zur Computergrafikerin<br />
und Diplom-Ingenieurin<br />
fing sie 1993 als Phantombildzeichnerin<br />
und Gutachterin<br />
für Lichtbildvergleiche<br />
beim LKA an.<br />
„Das mache ich auch heute<br />
noch“, sagt sie. „Ich vergleiche<br />
die Fotos von geblitzten<br />
Rasern und die Videos der<br />
Überwachungskameras von<br />
Einbrechern und Mörder mit<br />
Bildern von Beschuldigten.<br />
Anhand von festgelegten<br />
Merkmalen und den Gesetzmäßigkeiten<br />
der Anatomie ist<br />
die Identifizierung sehr genau.<br />
Außerdem arbeite ich<br />
für die Ausländerbehörde,<br />
wenn es um falsche Pässe und<br />
falsche Identitäten geht.“<br />
Unbekannten Toten ein Gesicht<br />
zu geben –das hat Steffi<br />
Burrath beim FBI in Virginia<br />
gelernt. Das war 2002. Zurück<br />
in Magdeburg fragte sie<br />
in der Rechtsmedizin nach<br />
Schädeln, um das Gelernte in<br />
die Praxis umzusetzen.<br />
„Ich übte und übte und übte,<br />
und das wochenlang“, sagt<br />
sie, „denn Glück hat nur der,<br />
der nichts dem Zufall überlässt.“<br />
Sie lächelt, nimmt einen<br />
Schluck aus der Kaffeetasse<br />
mit dem Aufdruck<br />
„Bund Deutscher Kriminalbeamter“,<br />
schweigt einen<br />
Moment, blickt über ihre<br />
Brille hinweg und zeigt auf<br />
einige ihrer Arbeiten.<br />
Ihre ersten „Modelle“ hießen<br />
Herr Schuss und Herr<br />
Schlag, zwei tote Vietnamesen,<br />
benannt nach ihren<br />
Verletzungen. Sie geht immer<br />
gleich vor: „Ich schneide<br />
aus Radiergummistiften die<br />
Bitte umblättern