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ZAP-2018-22

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>22</strong> <strong>2018</strong><br />

21. November<br />

30. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W.<br />

Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith<br />

Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider,<br />

Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

} Mit dem <strong>ZAP</strong> Internetreport<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Recht oder Effizienz: Wie arbeitet der Anwalt in naher Zukunft? (S. 1135)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Für und Wider der Einführung einer Verbandsklage in der EU (S. 1137) • Keine Briefpost mehr vor<br />

den hessischen Sozialgerichten (S. 1140) • Transparenzregister wird kaum genutzt (S. 1141)<br />

Aufsätze<br />

Grüneberg, Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen Abwicklung – Haftungsverteilung,<br />

Teil 1 (S. 1163)<br />

Andrick, Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen Recht (S. 1173)<br />

Burhoff, Folgen des Ausbleibens des Angeklagten in der Hauptverhandlung im Bußgeldverfahren (S. 1187)<br />

Eilnachrichten<br />

EuGH: Keine Verwirkung des Urlaubsanspruchs durch unterlassenen Urlaubsantrag (S. 1159)<br />

BVerfG: Prozessuale Waffengleichheit im Presserecht (S. 1160)<br />

BGH: Pflicht zur Eintragung einer Vorfrist in den Fristenkalender (S. 1161)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 1135–1136<br />

Anwaltsmagazin – – 1137–1142<br />

Internetreport – – 1143–1152<br />

Eilnachrichten 1 171–180 1153–1162<br />

Grüneberg, Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen<br />

Abwicklung – Haftungsverteilung,<br />

Teil 1: Allgemeines 9 1063–1072 1163–1172<br />

Andrick, Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen<br />

Recht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong> 19 R 479–492 1173–1186<br />

Burhoff, Folgen des Ausbleibens des Angeklagten in der<br />

Hauptverhandlung im Bußgeldverfahren (insbesondere<br />

Entbindung und Einspruchsverwerfung) 21 311–3<strong>22</strong> 1187–1198<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, <strong>22</strong>, <strong>22</strong>R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />

Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />

Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0<strong>22</strong>8/91911-62, Telefax: 0<strong>22</strong>8/91911-66, E-Mail:<br />

info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Recht oder Effizienz: Wie arbeitet der Anwalt in naher Zukunft?<br />

Im Jahre 1996 hat ein Ereignis die Schachwelt<br />

erschüttert: Der Schachcomputer „Deep Blue“<br />

hat den damaligen Weltmeister GARRI KASPAROW<br />

geschlagen. Im Frühjahr <strong>2018</strong> ist auf dem Gebiet<br />

der rechtlichen Konfliktlösung etwas Ähnliches<br />

geschehen. Etwas, das einen Paradigmenwechsel<br />

bezüglich unserer Tätigkeit als Rechtsanwalt<br />

einläuten könnte: Im „Tagesanzeiger“ vom<br />

26.5.<strong>2018</strong> berichtete BARNABY SKINNER in dem<br />

Artikel „Der Roboter-Anwalt ist da“, was das<br />

Programm „Case Crunch“ des <strong>22</strong>-jährigen Jura-<br />

Studenten LUDWIG BULL (Cambridge), der sich in<br />

Japan auch zum Software-Spezialisten hat ausbilden<br />

lassen, leisten kann: „Case Crunch“ wurde<br />

mit den Daten von über 23.000 entschiedenen<br />

Fällen aus dem Versicherungsrecht „gefüttert“.<br />

Dieselben Fälle wurden 110 Fachanwälten vorgelegt.<br />

Das Programm und die Anwälte hatten<br />

eine Woche Zeit, so viele Fälle wie möglich zu<br />

lösen. Nach einer Woche hatten die Anwälte 775<br />

Fälle mit einer Trefferquote von 62,3 % gelöst,<br />

das Programm aber 21.174 Fälle mit einer Trefferquote<br />

von 86,6 %. Dass Programm war bei<br />

einer um fast 25 % höheren Trefferquote fast<br />

28-mal effektiver. Noch erschreckender ist die<br />

Kosteneffizienz: Die Anwälte berechneten bei<br />

einem Stundenhonorar von 440 € für ihre Leistung<br />

470.000 €, das Programm lediglich 3.800 €.<br />

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Konzerne<br />

mit großen Rechtsabteilungen wie UBS, CS,<br />

Zurich oder Helsana großes Interesse an „Case<br />

Crunch“ gezeigt haben.<br />

Ein weiteres Beispiel: Die Kanzlei CMS Hasche<br />

Sigle informierte ihre Kunden im Juni <strong>2018</strong> über<br />

„Smart Contracts“, ein Softwareprogramm, das<br />

vertragliche Leistungsstörungen regelt. Kauft<br />

man z.B. ein Flugticket von München nach<br />

Moskau für 1.000 € und hat der Flieger aus<br />

verschiedenen Gründen drei Stunden Verspätung,<br />

berechnet das Programm, wie viel diese Leistungsstörung<br />

wert ist. Unterbreitet wurde der<br />

Vorschlag, dass von den 1.000 € Ticketpreis 800 €<br />

bei der Fluggesellschaft verbleiben, 200 € aber an<br />

den Kunden zurückgehen.<br />

Für jede Art von Verträgen wurden deshalb<br />

von Juristen, die gleichzeitig Software-Ingenieure<br />

– sog. Legal Engineers – sind, Algorithmen<br />

entwickelt, die so viele rechtsrelevante Sachverhaltspunkte<br />

wie möglich berücksichtigen können.<br />

eBay und Amazon regeln seit Jahren ihre Konflikte<br />

auf diese Art und Weise und haben so schon<br />

100.000.000 Streitigkeiten gelöst und dadurch<br />

dem Rechtsmarkt entzogen.<br />

Nach ihrer Präsentation fragten die Legal Engineers<br />

von CMS Hasche Sigle, ob unter den<br />

anwesenden Unternehmensjuristen bereits jemand<br />

Erfahrungen mit „Smart Contracts“ gesammelt<br />

hätte. Der Chefjurist eines der größten<br />

deutschen Dienstleistungsunternehmens bejahte<br />

dies, meinte aber, dass eine Vertiefung der<br />

Diskussion nicht erfolgt sei, da man zum Ergebnis<br />

gekommen sei, dass das rein rechtlich keinen<br />

Vorteil bringen würde. Denn am Ende sei der<br />

Kunde, der sein Recht durchsetzen wolle, trotzdem<br />

gezwungen, rechtlich gegen die Konstruktion<br />

des Algorithmus vorzugehen.<br />

Als ich das hörte, ist mir bewusst geworden, wie<br />

unendlich groß der Unterschied in der Denkweise<br />

der heutigen „klassischen“ Juristen zu den<br />

Legal Engineeners ist: Die einen – wir nämlich –<br />

denken immer noch in der bürokratischen/<br />

konformistischen Dichotomie richtig/falsch. Die<br />

anderen – die Legal Engineers – haben diese<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1135


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Phase hinter sich gelassen und denken vollumfänglich<br />

in der leistungsorientierten Dichotomie<br />

erfolgreich/erfolglos. Mir wurde schlagartig<br />

klar, dass wir der Verwirklichung meiner Behauptung<br />

– in Zukunft sind immer weniger<br />

Menschen daran interessiert, Recht zu bekommen,<br />

sondern vielmehr daran, den bestehenden<br />

Konflikt effizient und leistungsorientiert zu lösen<br />

(s. hierzu <strong>ZAP</strong> Kolumne 7/<strong>2018</strong>, S. 313) – näher<br />

sind, als viele von uns wahrhaben wollen.<br />

Den Legal Engineers geht es um eins und<br />

vermutlich nur um das: Sie wollen Leistungsstörung<br />

so erfolgreich wie möglich abwickeln,<br />

und Erfolg haben sie genau dann, wenn dies<br />

schnell und kostengünstig geschieht. Es geht<br />

ihnen somit um eine effiziente Regelung des<br />

Konflikts, da dieser im Kern nur Kosten verursacht<br />

und Zeit und Ressourcen bindet. Die<br />

Frage, die sich ihnen stellt, ist somit nicht<br />

mehr, wer hat Recht und wer nicht, sondern<br />

wie kann der Streit so rasch und so kostengünstig<br />

wie möglich beigelegt werden. Wir<br />

Juristen meinen aber immer noch, die Mandanten<br />

würde es tatsächlich interessieren, ob ihre<br />

Meinung mit der des Gesetzgebers übereinstimmt<br />

oder nicht! So kommt auch die Antwort<br />

des Chefjuristen zustande: „Wer sein Recht will,<br />

muss gegen die Konstruktion des Algorithmus<br />

klagen!“<br />

Das ist sicherlich richtig, nur wird dabei vermutlich<br />

etwas vergessen, nämlich die Sicht<br />

der Entwicklungspsychologie: Im Übergang von<br />

Macht zur Konfliktlösung des modernen Rechts<br />

um 1805 hat es immer weniger Menschen<br />

gegeben, die den Gegner noch erdolchen, erschießen<br />

oder ihn anderweitig beiseiteschaffen<br />

wollten, sondern vielmehr auf das Recht als<br />

Konfliktlösungsmittel gesetzt haben. Heute gibt<br />

es vermutlich immer weniger Menschen, die<br />

unbedingt Recht haben, sondern vielmehr den<br />

Konflikt einfach, rasch und kostengünstig beilegen<br />

wollen, um sich ihren eigentlichen Aufgaben<br />

widmen zu können. Nimmt ihnen die Konfliktlösung<br />

ein Softwareprogramm ab, anstatt eines<br />

teuren Anwalts, umso besser. Und wenn das<br />

Lösen eines Falls, wie im Beispiel des „Case<br />

Crunch“ nicht 596 € sondern nur 0,157 € kostet,<br />

was hält die Manager dann noch davon ab, uns<br />

Anwälte durch künstliche Intelligenz zu ersetzen?<br />

Vermutlich etwa so viel, wie es uns vor 15<br />

Jahren davon abgehalten hat, von Kodak-Filmen<br />

auf Digitalkameras zu wechseln. Was besser und<br />

preiswerter ist, wird genutzt.<br />

Das führt unweigerlich zu einer Veränderung des<br />

Berufsbilds der Juristen. Die universitäre Lehre,<br />

Rechtspositionen zu erkennen und gegeneinander<br />

abzuwägen, wird vermutlich nur noch in<br />

ihren Grundzügen angeboten werden, denn die<br />

eigentliche juristische Hauptarbeit wird ein Algorithmus<br />

übernehmen. Er wird uns in Sekundenschnelle<br />

sagen, wie die Chancen bei einem<br />

gegebenen Sachverhalt bei Gericht stehen und<br />

welche finanziellen Folgen ein Prozess hat. Auch<br />

die „juristische Knochenarbeit“ der jungen Referendare<br />

wird so vermutlich wegfallen. Lücken<br />

oder Unklarheiten in der Rechtsregelung findet<br />

der Algorithmus selbstständig und kann<br />

Lösungsmöglichkeiten anbieten, über die der<br />

BGH oder der Gesetzgeber dann bestimmen<br />

können.<br />

Die Aufgabe des in Zukunft noch benötigten<br />

Anwalts wird weniger darin liegen, ein ausgezeichneter<br />

„Begriffsmathematiker“ zu sein,<br />

als vielmehr darin, herauszufinden, was das<br />

eigentliche Ziel des Mandanten ist und innerhalb<br />

der unendlichen Anzahl von (rechtlichen) Lösungsvarianten<br />

diejenige herauszudestillieren,<br />

die den Interessen des Mandanten am besten<br />

entspricht.<br />

Die Tätigkeit des Anwalts wird sich so vermutlich<br />

von der Subsumtion der abstrakten, von der<br />

Person des Mandanten losgelösten, rechtlichen<br />

Lösung, zurück zu den Menschen selbst verlagern.<br />

Während der gefragte, erfolgreiche Jurist<br />

bis heute eher ein Begriffsakrobat ist, ist der<br />

„neue Anwalt“ vielleicht mehr der emotional und<br />

sozial kompetente Dienstleister, der seine Mandanten<br />

und ihre Wünsche lesen und ihre rechtlichen<br />

Probleme mit Hilfe von Algorithmen<br />

effizient und kostengünstig lösen kann. Ich stelle<br />

mir das als eine sehr komplexe, sehr vielschichtige<br />

und vor allem sehr menschenzentrierte<br />

Tätigkeit vor: Von „Deep Blue“ führt ein direkter<br />

Weg zu „Deep Insight“!<br />

Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator<br />

ADRIAN SCHWEIZER, Gersau, Schweiz<br />

1136 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Für und Wider der Einführung einer<br />

Verbandsklage in der EU<br />

Deutschland hat mit der soeben eingeführten<br />

Musterfeststellungsklage (s. dazu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin<br />

21/<strong>2018</strong>, S. 1080) einen Sonderweg<br />

innerhalb der EU bei der kollektiven Wahrnehmung<br />

von Verbraucherrechten beschritten. Dort wird<br />

schon seit einiger Zeit über die Etablierung einer<br />

Verbandsklage nachgedacht; inzwischen hat die<br />

EU-Kommission einen Richtlinienvorschlag, der<br />

noch heftig umstritten ist, vorgelegt (vgl. <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin 10/<strong>2018</strong>, S. 475).<br />

Anfang November fand auf Einladung des NRW-<br />

Justizministers PETER BIESENBACH und des Präsidenten<br />

der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) Dr.<br />

ULRICH WESSELS in der Vertretung des Bundeslands<br />

bei der EU in Brüssel eine Podiumsdiskussion zum<br />

Thema Verbandsklagen statt. Repräsentanten der<br />

EU-Kommission (ALEXANDRA JOUR-SCHRÖDER, stellv.<br />

Generaldirektorin Justiz und Verbraucher), des<br />

Europäischen Parlaments (AXEL VOSS, Abgeordneter),<br />

der Europäischen Verbraucherorganisation<br />

(URSULA PACHL, stellv. BEUC-Generaldirektorin) und<br />

eines international agierenden Unternehmens<br />

(LYDIA SCHULZE-ALTHOFF, Syndikusrechtsanwältin,<br />

Bayer AG) diskutierten mit den beiden Gastgebern<br />

das Für und Wider des Kommissionsvorschlags.<br />

Die sehr unterschiedlichen Auffassungen der Podiumsteilnehmer<br />

nahm BIESENBACH in seinem Grußwort<br />

treffend vorweg: „So unterschiedlich die Auffassungen<br />

in diesem Bereich auch sein mögen, eines dürfte völlig klar<br />

sein: Wer das Recht bricht, darf hieraus keinen Gewinn<br />

ziehen!“. Als kritische Punkte nannte BIESENBACH u.a.<br />

das fehlende Mindestquorum, den Verzicht auf<br />

einen verbindlichen Opt-In-Mechanismus und die<br />

Anforderungen an die Qualifizierung der klagebefugten<br />

Einrichtungen. Das Angebot der Kommission<br />

könne man aus Sicht eines deutschen Zivilrechtlers<br />

daher als „toxisch“ bezeichnen.<br />

JOUR-SCHRÖDER von der Generaldirektion verteidigte<br />

den Vorschlag. Die Ausgestaltung der Verbandsklagen<br />

stelle ein sehr komplexes Thema dar. Dies<br />

dürfe aber nicht dazu führen, dass das Thema nicht<br />

angefasst und auf die lange Bank geschoben werde,<br />

so JOUR-SCHRÖDER. PACHL bezeichnete den Vorschlag<br />

als wichtigen Schritt in die richtige Richtung, der<br />

„Traum aller Verbraucher“ sei dies aber noch nicht.<br />

SCHULZE-ALTHOFF sah den Vorschlag eher kritisch. Die<br />

Sammelklagen in den USA sind ihrer Auffassung<br />

nach durchaus sinnvoll. Dort stünden aber vor allem<br />

die finanziellen Interessen Dritter im Vordergrund.<br />

„Wir brauchen deshalb mehr Schutzmechanismen.“<br />

WESSELS sah Probleme in der fehlenden Vereinheitlichung.<br />

Nach dem Vorschlag bleibe es den einzelnen<br />

Mitgliedstaaten überlassen, ob sie bei Schadensersatzklagen<br />

eine sog. Opt-In-Lösung fordern,<br />

bei der jeweils ein Mandat einzelner Verbraucher<br />

notwendig ist. Er forderte, dass die Kommission<br />

selbst eine Entscheidung trifft und sich festlegt.<br />

„Man muss die Betroffenen identifizieren können. Nur so<br />

lassen sich Missbrauch und Forum-Shopping effektiv<br />

verhindern. Ohne Opt-In schütze ich nicht mehr den<br />

Verbraucher, sondern ein vermeintliches Allgemeininteresse,<br />

das sich nicht mehr konkretisieren lässt.“<br />

WESSELS bedauerte auch die fehlende Klagebefugnis<br />

von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten.<br />

Der Vorschlag gehe nicht weit genug. Neben den<br />

qualifizierten Einrichtungen müsse auch der Anwaltschaft<br />

eine aktivere Rolle zugestanden werden. Die<br />

Anwaltschaft sichere den Zugang zum Recht. Diesen<br />

könne man effektiv auch im Verbraucherschutz<br />

gewährleisten. Die deutschen Berufsregeln für die<br />

Anwaltschaft würden dabei einen Missbrauch verhindern.<br />

Zum Abschluss resümierte der BRAK-Präsident:<br />

„Die Verbandsklage ist ein sehr wichtiges Thema:<br />

Es betrifft Verbraucher, Anwaltschaft und Justiz gleichermaßen.<br />

Der heutige Abend hat gezeigt, dass es nicht leicht<br />

werden wird, die betroffenen Interessen zu einem gerechten<br />

Ausgleich zu bringen.“<br />

[Quelle: BRAK]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1137


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Einschränkung von Dieselfahrverboten<br />

geplant<br />

Das Bundesumweltministerium hat im Oktober<br />

einen Referentenentwurf zu Einschränkungen<br />

und Ausnahmen von Fahrverboten vorgelegt.<br />

Ein entsprechendes Vorhaben hatte zuvor das<br />

Bundeskabinett beschlossen.<br />

In dem Entwurf zu einem Dreizehnten Gesetz zur<br />

Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist<br />

vorgesehen, dass Verkehrsbeschränkungen und<br />

-verbote in Gebieten, in denen bei Stickstoffdioxid<br />

der Wert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter im<br />

Jahresmittel nicht überschritten wird, i.d.R. nicht<br />

erforderlich sind und unverhältnismäßig sein werden.<br />

Es sei davon auszugehen, dass der europarechtlich<br />

vorgegebene Luftqualitätsgrenzwert für<br />

Stickstoffdioxid aufgrund der Maßnahmen, die die<br />

Bundesregierung bereits beschlossen habe, in einem<br />

überschaubaren Zeitraum auch ohne Verkehrsbeschränkungen<br />

und -verbote eingehalten werde.<br />

Der Gesetzentwurf stellt ferner klar, dass aus Gründen<br />

der Verhältnismäßigkeit insbesondere Fahrzeuge<br />

mit geringen Stickstoffdioxidemissionen<br />

(Euro-4- und Euro-5-Fahrzeuge, die im realen Fahrbetrieb<br />

nur geringe Stickstoffdioxidemissionen<br />

von weniger als 270 Mikrogramm pro Kilometer<br />

ausstoßen, sowie generell Euro-6-Fahrzeuge) von<br />

Verkehrsbeschränkungen und -verboten ausgenommen<br />

sind. Damit solle, so die Begründung,<br />

die erforderliche Rechtssicherheit vor Verkehrsbeschränkungen<br />

und -verboten für Fahrzeuge mit<br />

einer geeigneten Hardware-Nachrüstung geschaffen<br />

werden.<br />

Die Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes<br />

ist Teil des von der Bundesregierung geplanten<br />

Maßnahmen-Pakets gegen Fahrverbote in Städten.<br />

Dieses soll noch im Laufe des Novembers vom<br />

Kabinett beschlossen werden und u.a. auch Hardware-Nachrüstungen<br />

und höhere Preisnachlässe<br />

der Fahrzeughersteller bei Neuwagenkäufen betroffener<br />

Diesel-Besitzer umfassen.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Brexit-Übergangsgesetz vorgelegt<br />

Die Bundesregierung hat einen Entwurf eines<br />

Gesetzes zum EU-Austritt Großbritanniens vorgelegt<br />

(s. BT-Drucks 19/5313). Hauptziel des<br />

„Gesetzes für den Übergangszeitraum nach<br />

dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien<br />

und Nordirland aus der Europäischen<br />

Union“ (Brexit-Übergangsgesetz – BrexitÜG) ist<br />

es, übergangsweise Rechtsklarheit bezüglich jener<br />

Bestimmungen im Bundesrecht herzustellen,<br />

die auf die Mitgliedschaft in der EU oder in der<br />

Europäischen Atomgemeinschaft Bezug nehmen.<br />

Zudem soll eine Regelung zugunsten britischer<br />

und deutscher Staatsangehöriger getroffen<br />

werden, die vor Ablauf eines Übergangszeitraums<br />

in Deutschland bzw. im Vereinigten Königreich<br />

einen Antrag auf Einbürgerung stellen.<br />

„Nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelungen ist<br />

die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die<br />

Einbürgerung maßgeblich“, schreibt die Bundesregierung.<br />

Danach müssten Briten, die einen Einbürgerungsantrag<br />

in Deutschland stellen, grundsätzlich<br />

ihre britische Staatsangehörigkeit aufgeben und<br />

Deutsche, die die britische Staatsangehörigkeit<br />

erwerben, würden ohne vorherige Beibehaltungsgenehmigung<br />

ihre deutsche Staatsangehörigkeit<br />

verlieren, wenn die Einbürgerungsentscheidung<br />

erst nach Ablauf des Übergangszeitraums erfolge,<br />

auch wenn der Einbürgerungsantrag noch vor<br />

diesem Zeitpunkt gestellt worden sei. Davon soll<br />

nun zugunsten der britischen und der deutschen<br />

Einbürgerungsbewerber abgewichen werden.<br />

Das Gesetz legt den Übergangszeitraum zwischen<br />

dem Termin des geplanten Austrittsabkommens<br />

am 30.3.2019 und dem 31.12.2020 fest. In diesem<br />

Zeitraum soll u.a. bei Einbürgerungsanträgen britischer<br />

Staatsbürger in Deutschland und deutscher<br />

Staatsbürger in Großbritannien und Nordirland auf<br />

den Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt werden.<br />

Die dadurch entstehende Mehrstaatigkeit der<br />

Bewerber soll hingenommen werden.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Ausbau der Freizügigkeit in der EU<br />

Die Freizügigkeit von EU-Bürgern soll mit einem<br />

Gesetz gefördert werden, dessen Entwurf die<br />

Bundesregierung kürzlich vorgelegt hat. Gleichzeitig<br />

wird damit die Neuregelung verschiedener<br />

Aspekte des internationalen Adoptionsrechts<br />

verbunden (s. BT-Drucks 19/4851).<br />

Hintergrund ist die ab Mitte Februar 2019 geltende<br />

Verordnung (EU) 2016/1191 des Europä-<br />

1138 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

ischen Parlaments und des Rates vom 6.7.2016 zur<br />

Förderung der Freizügigkeit von Bürgern. Hier<br />

sind nationale Durchführungsbestimmungen zu<br />

erlassen und Vorschriften im Bereich des Urkundenverkehrs<br />

mit dem Ausland neu zu fassen.<br />

Auch das Recht der Auslandsadoption, so die<br />

Bundesregierung, bedürfe einer teilweisen Modernisierung.<br />

Die als wenig effizient beurteilte<br />

Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem<br />

Bundesamt für Justiz (BfJ) und den anderen<br />

Stellen bei der Organisation der Auslandsadoption<br />

solle vereinfacht werden.<br />

Zu diesem Zweck wird im Adoptionsvermittlungsgesetz<br />

geregelt, dass das BfJ als Bundeszentralstelle<br />

für Auslandsadoption künftig für die<br />

Koordinierung der Auslandsadoptionen aus jedem<br />

Land zuständig wird, um insbesondere eine<br />

übergreifende Koordination der Arbeit der übrigen<br />

Behörden und Organisationen bei Adoptionen<br />

mit Auslandsbezug zu gewährleisten und<br />

ausländischen Partnern einen feststehenden Ansprechpartner<br />

zu bieten. Die bisher auf das BfJ<br />

und Stellen der Jugendhilfe getrennt erfolgende<br />

Aufgabenverteilung soll nicht länger aufrechterhalten<br />

bleiben. Durch eine Änderung im BGB<br />

soll klargestellt werden, dass künftig grundsätzlich<br />

auch Ehefähigkeitszeugnisse von diplomatischen<br />

oder konsularischen Vertretungen eines<br />

EU-Staates in der Bundesrepublik Deutschland<br />

als Ehefähigkeitszeugnisse anerkannt werden.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Einstufung als sichere Herkunftsstaaten<br />

Algerien, Marokko und Tunesien sowie Georgien<br />

sollen nach dem Willen der Bundesregierung<br />

asylrechtlich als sichere Herkunftsstaaten<br />

eingestuft werden. Dies geht aus einem Gesetzentwurf<br />

der Bundesregierung hervor (vgl. BT-<br />

Drucks 19/5314).<br />

Wie die Bundesregierung zur Begründung ausführt,<br />

liegen die Voraussetzungen für die Gewährung<br />

von Asyl, Flüchtlingsschutz oder subsidiärem<br />

Schutz bei Antragstellern aus diesen<br />

Staaten nur in wenigen Einzelfällen vor. Durch<br />

die zahlreichen, zumeist aus nicht asylrelevanten<br />

Motiven gestellten Asylanträge würden Bund,<br />

Länder und Kommunen mit erheblichen Kosten<br />

für die Durchführung der Verfahren sowie für die<br />

Versorgung der in Deutschland aufhältigen Asylsuchenden<br />

belastet. Dies gehe zu Lasten der<br />

tatsächlich schutzbedürftigen Asylsuchenden,<br />

da für sie weniger Kapazitäten zur Verfügung<br />

stünden.<br />

Daher sollen die vier genannten Länder als sichere<br />

Herkunftsstaaten eingestuft werden, um Asylverfahren<br />

ihrer Staatsangehörigen schneller bearbeiten<br />

und – im Anschluss an eine negative<br />

Entscheidung über den Asylantrag – den Aufenthalt<br />

in Deutschland schneller beenden zu können.<br />

Deutschland werde dadurch als Zielland für aus<br />

nicht asylrelevanten Motiven gestellte Asylanträge<br />

weniger attraktiv, heißt es in der Vorlage<br />

weiter. Der Individualanspruch auf Einzelfallprüfung<br />

soll durch die angestrebte Einstufung aber<br />

unberührt bleiben.<br />

Im vergangenen Jahr hat das Bundesamt für<br />

Migration und Flüchtlinge (Bamf) den Angaben<br />

zufolge insgesamt 15.148 Entscheidungen über<br />

Asylanträge von Angehörigen der vier genannten<br />

Staaten getroffen. In sieben Fällen (drei georgische,<br />

ein algerischer, zwei marokkanische und ein<br />

tunesischer Staatsangehöriger) wurde danach<br />

Asyl nach Art. 16a GG gewährt. Insgesamt 145<br />

Personen (15 georgische, 32 algerische, 87 marokkanische<br />

und elf tunesische Staatsangehörige)<br />

sei Flüchtlingsschutz gewährt worden und bei<br />

weiteren 159 Personen (davon 27 georgische, 45<br />

algerische, 70 marokkanische und 17 tunesische<br />

Staatsangehörige) subsidiärer Schutz. Die Anerkennungsquote<br />

(Asylgewährung, Flüchtlingsschutz,<br />

subsidiärer Schutz) habe im Jahr 2017 für<br />

Georgien 0,6 %, für Algerien 2,0 %, für Marokko<br />

4,1 % und für Tunesien 2,7 % betragen.<br />

Mit dem Gesetzentwurf soll zugleich Asylbewerbern<br />

aus den genannten Staaten, die am Tag des<br />

Kabinettbeschlusses bereits mit Zustimmung der<br />

Ausländerbehörde in einem Beschäftigungsverhältnis<br />

standen, die Weiterbeschäftigung und<br />

Aufnahme weiterer Beschäftigungen ermöglicht<br />

werden. Davon umfasst sein sollen auch alle<br />

in einem Beschäftigungsverhältnis ausgeübten<br />

Formen der Berufsausbildung; zudem sollen<br />

Beschäftigte qualifizierter Berufsausbildungen,<br />

für die bis zum Tag des Kabinettbeschlusses zu<br />

dem Gesetzentwurf ein Berufsausbildungsvertrag<br />

abgeschlossen wurde, aufgenommen werden<br />

können.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1139


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Wechsel von der Lebenspartnerschaft<br />

in die Ehe<br />

Die einheitliche Umsetzung von Lebenspartnerschaften<br />

in Ehen soll ein Gesetz zur Umsetzung<br />

des Eheöffnungsgesetzes gewährleisten, dessen<br />

Entwurf die Bundesregierung im Oktober vorgelegt<br />

hat (vgl. BT-Drucks 19/4670). Seit Inkrafttreten<br />

des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf<br />

Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts<br />

(Eheöffnungsgesetz) können gleichgeschlechtliche<br />

Paare keine Lebenspartnerschaften mehr<br />

begründen, jedoch eine bereits bestehende Lebenspartnerschaft<br />

in eine Ehe umwandeln (vgl.<br />

<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 14/2017, S. 720).<br />

Diese gesetzlichen Neuregelungen bedürfen dem<br />

Entwurf zufolge konzeptioneller Angleichungen im<br />

Ehe- und Lebenspartnerschaftsrecht sowie im<br />

Internationalen Privatrecht. Zusätzlich seien weitere<br />

personenstandsrechtliche Regelungen erforderlich.<br />

Der Entwurf stelle klar, dass es sich bei der<br />

Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine<br />

Ehe um eine Form der Eheschließung handelt und<br />

dass durch die Umwandlung die bisherige rechtliche<br />

Beziehung der Partner in umgewandelter<br />

Form fortgesetzt wird. Zudem werde klargestellt,<br />

dass künftige Regelungen, die sich auf Ehe und<br />

Ehegatten beziehen, auch für nicht umgewandelte<br />

und daher als solche fortbestehende Lebenspartnerschaften<br />

und für Lebenspartner gelten, falls<br />

nicht etwas anderes geregelt ist.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Bundesregierung erwägt Bestellerprinzip<br />

auch für Immobilienverkäufe<br />

Mit der sog. Mietpreisbremse ist auch das Bestellerprinzip<br />

für die Wohnungsmaklertätigkeit eingeführt<br />

worden (vgl. dazu näher D. FISCHER <strong>ZAP</strong><br />

F. 4, S. 1685 ff.). Nach allgemeiner Meinung hat<br />

das Prinzip tatsächlich zu der beabsichtigten Entlastung<br />

der Mieter geführt. Nun prüft die Bundesregierung,<br />

ob sie das Bestellerprinzip auch<br />

auf Immobilienverkäufe ausdehnen sollte. Das<br />

schreibt sie in einer Auskunft auf eine Kleine<br />

Anfrage im Bundestag (vgl. BT-Drucks 19/4698).<br />

Die Frage befinde sich derzeit in vertiefter<br />

Prüfung, so die Bundesregierung. Entsprechend<br />

den Vereinbarungen im Rahmen des Wohngipfels<br />

strebe sie eine Senkung der Kosten für den<br />

Erwerb selbstgenutzten Wohnraums bei den<br />

Maklerkosten an und prüfe diesbezüglich verschiedene<br />

Optionen. Hierbei würden die Auswirkungen<br />

auf den Verbraucherschutz der Kaufinteressenten,<br />

das Kostensenkungspotenzial auf<br />

Seiten der Käufer sowie die weiteren Vor- und<br />

Nachteile für private Käufer und Verkäufer von<br />

Immobilien einbezogen.<br />

An eine Senkung der Grundbuch- und Notargebühren<br />

zur Entlastung der Käufer denkt die<br />

Regierung dagegen nicht. Diese seien Kosten der<br />

vorsorgenden Rechtspflege und stellten den mit<br />

Abstand geringsten Anteil an den Erwerbsnebenkosten<br />

dar. Die Notargebühren beruhten auf<br />

einem sozial austarierten Gebührensystem, das<br />

zuletzt im Jahr 2013 nach mehrjährigen Vorbereitungen<br />

auf Grundlage der Ergebnisse einer Expertenkommission<br />

umfassend überarbeitet worden<br />

sei.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Keine Briefpost mehr vor den<br />

hessischen Sozialgerichten<br />

In den Verfahren vor den hessischen Sozialgerichten<br />

muss ab sofort ausschließlich das besondere<br />

elektronische Anwaltspostfach (beA) für die<br />

Zustellung genutzt werden. Das teilte die Pressestelle<br />

des LSG Darmstadt am <strong>22</strong>. Oktober mit.<br />

Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) am 3. September<br />

das beA wieder in Betrieb genommen habe.<br />

Damit seien nunmehr alle rund 170.000 deutschen<br />

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für<br />

elektronische gerichtliche Zustellungen erreichbar.<br />

Da sie berufsrechtlich zur Nutzung des beA<br />

verpflichtet seien, müssten sie diese Form der<br />

Zustellungen nun gegen sich gelten lassen, so die<br />

Mitteilung.<br />

Bislang hat die Hessische Sozialgerichtsbarkeit<br />

elektronische Zustellungen in das beA nur dann<br />

vorgenommen, wenn die Rechtsanwältin oder<br />

der Rechtsanwalt sich hiermit einverstanden<br />

erklärt oder das beA bereits selbst aktiv genutzt<br />

hat. Nunmehr werden die hessischen Sozialgerichte<br />

und das Hessische Landessozialgericht<br />

Schriftsätze an Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte<br />

aber ausschließlich über das beA ver-<br />

1140 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

senden. Soweit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte<br />

davon ausgegangen seien, so das LSG<br />

Darmstadt, dass das beA-System aufgrund der<br />

zurückliegenden Betriebsstörungen noch längere<br />

Zeit nicht nutzbar sein werde und sie deshalb ihr<br />

elektronisches Postfach auch noch nicht in Betrieb<br />

genommen hätten, sei nunmehr Eile geboten.<br />

Denn künftig gebe es für sie weder Briefpost<br />

noch Telefaxe von der Hessischen Sozialgerichtsbarkeit.<br />

Rechtanwälte sollten daher ihren elektronischen<br />

Briefkasten im Blick haben.<br />

Die BRAK hat ergänzend darauf hingewiesen, dass<br />

die Hessische Justiz damit begonnen hat, Vorschusskostenrechnungen<br />

an die Bevollmächtigten<br />

der Kostenschuldner über das beA zu<br />

versenden. Das hessische Justizministerium habe<br />

erklärt, dass eine direkte Versendung der Gerichtskostenrechnungen<br />

an die Kostenschuldnerinnen<br />

oder -schuldner in diesen Fällen nicht mehr<br />

erfolge. Lediglich eventuell notwendige Mahnungen<br />

würden noch direkt an die zahlungspflichtigen<br />

Personen gesandt.<br />

[Quellen: LSG Darmstadt/BRAK]<br />

Experten kritisch gegenüber<br />

Rentenplänen<br />

Die Rentenpläne der Bundesregierung (vgl. dazu<br />

zuletzt <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 18/<strong>2018</strong>, S. 921)<br />

werden von Experten überwiegend kritisch<br />

beurteilt. Das ist das Ergebnis einer Sachverständigenanhörung<br />

im Bundestagsausschuss<br />

für Arbeit und Soziales Anfang November. Die<br />

Sachverständigen verwiesen auf die hohen Kosten<br />

der Haltelinien für Rentenniveau und Beitragssatz,<br />

ohne dass damit das Problem der<br />

Altersarmut gelöst werde. Kritisiert wurde u.a.<br />

auch die Zwei-Klassen-Gesellschaft bei Erwerbsminderungsrentnern.<br />

Die deutlichste Kritik kam von der Bundesvereinigung<br />

der Arbeitgeberverbände (BDA): Die<br />

Rentenpläne seien teuer, ungerecht und kurzsichtig.<br />

Die geplante doppelte Haltelinie sei<br />

einseitig an den Interessen der Rentner orientiert,<br />

so die BDA. Ein Wirtschaftswissenschaftler betonte<br />

in seiner Stellungnahme, die doppelte<br />

Haltelinie widerspreche dem Umlageverfahren<br />

der gesetzlichen Rentenversicherung und die<br />

Beitragssatzfestlegung führe zu einer Abschwächung<br />

der paritätischen Finanzierung der Rentenversicherung<br />

zugunsten der Arbeitgeber. Altersarmut<br />

könne auf diese Weise jedenfalls nicht<br />

verringert werden. Ein Soziologe bezeichnete die<br />

Haltelinie beim Rentenniveau zwar als überfällige<br />

Reaktion auf die Fehlentwicklungen in der Rentenversicherung;<br />

die Begrenzung auf den Zeitraum<br />

bis 2025 löse das grundsätzliche Problem<br />

aber nicht, weil das Rentenniveau nach 2025<br />

schnell weiter absinken werde.<br />

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßte<br />

die Stabilisierung des Rentenniveaus als<br />

längst überfällig. Dies jedoch mit einer harten<br />

Deckelung des Beitragssatzes auf 20 % zu<br />

verknüpfen, wälze die Belastungen von den<br />

Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer ab, kritisiert<br />

der DGB in seiner Stellungnahme.<br />

Zur Reform der Erwerbsminderungsrente merkte<br />

ein Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht<br />

an, dass die Verbesserung des Leistungsniveaus<br />

zwar sozialpolitisch und verfassungsrechtlich geboten<br />

sei; problematisch sei jedoch, dass diese<br />

ebenso wie die vorangegangenen Reformen den<br />

Bestands-Erwerbsminderungsrentnern nicht zugutekomme.<br />

Damit würden jene benachteiligt,<br />

die gesundheitlich besonders beeinträchtigt seien.<br />

Der Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD) bezeichnete<br />

die Vorschläge der Regierung als<br />

unzureichend. Die Ausdehnung der Zurechnungszeit<br />

sei zwar eine Leistungsverbesserung, eine<br />

deutlich größere Entlastung für die Betroffenen<br />

wäre jedoch die Abschaffung der sozial ungerechten<br />

Abschläge, so der SoVD in seiner Stellungnahme.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Transparenzregister wird kaum<br />

genutzt<br />

Das sog. Transparenzregister sollte die neue<br />

Waffe sein im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität.<br />

Doch auch rund ein Jahr nach seinem Start<br />

wird es offenbar kaum genutzt. Das meldeten<br />

verschiedene Presseorgane unter Berufung auf<br />

eine Auskunft des Bundesfinanzministeriums.<br />

Das elektronische Register war 2017 eingeführt<br />

worden, um Ermittler im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität<br />

zu unterstützen. Mit seiner<br />

Errichtung wurde u.a. die 4. Europäische Geld-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1141


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

wäscherichtlinie in deutsches Recht umgesetzt,<br />

mit der auf die Aufdeckung Hunderttausender<br />

anonymer Briefkastenfirmen in Panama reagiert<br />

wurde. Im Kampf gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung<br />

sollten Hintermänner verschachtelter<br />

Unternehmenskonstruktionen künftig sichtbar<br />

gemacht werden, indem man in dem Register<br />

die wahren Eigentümer von Unternehmen aufführt<br />

(vgl. dazu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 6/2017,<br />

S. 271).<br />

Wie jetzt gemeldet wird, ist das Transparenzregister<br />

von den Einsichtsberechtigten bisher<br />

„faktisch nicht genutzt“ worden. Die meisten<br />

Anfragen kämen vom zuständigen Bundesverwaltungsamt<br />

selbst, etwa zur Richtigkeit<br />

und Vollständigkeit der Einträge, d.h. das Register<br />

ist vor allem mit sich selbst beschäftigt.<br />

Von den Ermittlungsbehörden, also von der<br />

Staatsanwaltschaft, der Polizei und den Finanzbehörden,<br />

seien hingegen seit dem Start des<br />

Registers nur 144 Anträge auf Auskunft gestellt<br />

worden.<br />

Für die zurückhaltende Nutzung des Registers<br />

gibt es offenbar mehrere Gründe. So wird berichtet,<br />

dass es „weitreichende technische Probleme“<br />

gab. Auch fehlt bislang ein systematischer<br />

Abgleich mit anderen Datenbanken wie etwa<br />

dem Handelsregister oder den Stiftungsverzeichnissen.<br />

Nicht zuletzt steht die zuständige Geldwäsche-Einheit<br />

in der Kritik, weil sie nach Aussagen<br />

von Ermittlern Geldwäsche-Meldungen<br />

schlecht und zu langsam bearbeitet. Die Mehrzahl<br />

der übersandten Analysen stelle bislang „keinen<br />

Mehrwert für die polizeiliche Arbeit“ dar, wird das<br />

Bundeskriminalamt zitiert.<br />

Ein viel grundlegenderes Problem ist aber offenbar<br />

die unzureichende gesetzliche Konstruktion<br />

des Transparenzregisters. Mit seinen vielen Ausnahmetatbeständen<br />

lässt es die derzeitige Gesetzeslage<br />

zu, dass die Hintermänner dubioser<br />

Geschäfte letztlich weiterhin im Dunkeln bleiben.<br />

So lassen sich über die Verkettung von Gesellschaften<br />

und die Einsetzung von Strohmännern in<br />

Holdings die Meldepflichten für die eigentlichen<br />

Eigentümer leicht aushebeln. Von Kritikern ist das<br />

Transparenzregister deshalb auch schon als „Datenmüllhalde“<br />

bezeichnet worden. [Red.]<br />

Personalia<br />

Ende Oktober ist der Vorsitzende Richter am BGH<br />

JÖRG-PETER BECKER in den Ruhestand getreten.<br />

BECKER war Vorsitzender Richter am OLG Naumburg,<br />

bevor er im Jahr 2000 an den BGH berufen<br />

wurde. Dort war er dem 3. Strafsenat zugewiesen,<br />

dessen Vorsitz er im Jahr 2013 übernahm.<br />

Seit 2014 war er auch Mitglied des Senats für<br />

Anwaltssachen. Über mehrere Jahre gehörte er<br />

zudem dem Gemeinsamen Senat der obersten<br />

Gerichtshöfe des Bundes sowie dem Großen<br />

Senat für Strafsachen an.<br />

Ebenfalls Ende Oktober in den Ruhestand getreten<br />

ist der Vorsitzende Richter am BAG Dr. GERNOT<br />

BRÜHLER. Dr. BRÜHLER war zunächst Direktor des<br />

Arbeitsgerichts Weiden bevor er im November<br />

2001 an das BAG berufen wurde. Hier gehörte er<br />

zunächst dem Sechsten Senat, ab dem Jahre 2005<br />

dem Zehnten Senat an. Ende des Jahres 2009<br />

wurde er erneut dem Sechsten Senat als stellvertretender<br />

Vorsitzender zugewiesen. Seit seiner<br />

Ernennung zum Vorsitzenden Richter im Januar<br />

2012 leitete er den Neunten Senat des BAG, der<br />

vor allem für Fragen des Urlaubs-, Teilzeit- und<br />

Zeugnisrechts sowie des Arbeitnehmerstatus zuständig<br />

ist. Hervorzuheben sind die unter seinem<br />

Vorsitz ergangenen Entscheidungen zur Arbeitnehmerüberlassung,<br />

die nicht nur in der Fachwelt<br />

auf großes Interesse gestoßen sind, sondern auch<br />

eine intensive Diskussion in der Öffentlichkeit<br />

befördert und Anlass zur Änderung des AÜG gegeben<br />

haben.<br />

Anfang November sind vier neue Richter an das<br />

BAG berufen worden. Neu im Dritten Senat, der<br />

insbesondere für die betriebliche Altersversorgung<br />

zuständig ist, wurde die bisherige Vorsitzende<br />

Richterin am LAG Hamburg Dr. EVA<br />

GÜNTHER-GRÄFF. Neu in den für das Tarifvertragsrecht<br />

zuständigen Vierten Senat des BAG aufgenommen<br />

wurde die bisherige Richterin am<br />

Arbeitsgericht Bochum SASKIA KLUG. Neuer Richter<br />

in dem für Gratifikationen und Sondervergütungen<br />

zuständigen Zehnten Senat ist der bisherige<br />

Richter am Arbeitsgericht Mannheim Dr. FABIAN<br />

PULZ. Ebenfalls neu im Zehnten Senat ist der<br />

bisherige Vorsitzende Richter am LAG München<br />

SASCHA PESSINGER.<br />

[Quellen: BGH/BAG]<br />

1142 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Internetreport<br />

Internetreport<br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht Dr. HARALD SCHNEIDER, Siegburg, und Rechtsanwalt<br />

GUIDO VIERKÖTTER, LL.M. (Gewerblicher Rechtsschutz), Neunkirchen-Seelscheid<br />

Widerrufsrecht: Anwaltsverträge mit<br />

Verbrauchern<br />

Anwaltsverträge werden zunehmend auch „aus<br />

der Ferne“ abgeschlossen, da die meisten Anwaltskanzleien<br />

heute bundesweit Mandanten vertreten.<br />

Die Entwicklung wird im Zeitalter von „Legal<br />

Tech“ mit seinen Automatisierungsprozessen, massenhaften<br />

Fallbearbeitungen und der elektronischen<br />

Kommunikation auch noch weiter zunehmen.<br />

Soweit ein Anwaltsvertrag, der je nach Inhalt<br />

ein Dienstleistungs- oder Werkvertrag sein kann,<br />

ohne vorherigen persönlichen Kontakt mit dem<br />

Mandanten als Verbraucher geschlossen wird,<br />

sind Informationspflichten und Verbraucherrechte<br />

zu beachten. Einen entsprechend organisierten<br />

Vertriebsweg bezeichnet das Gesetz als Fernabsatzgeschäft<br />

(§ 312c BGB). Wird der Vertrag<br />

hingegen bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit<br />

des Verbrauchers und des Anwalts an einem<br />

Ort geschlossen, der kein Geschäftsraum ist, z.B.<br />

auf einer Informationsveranstaltung oder einem<br />

Ortstermin, so spricht man von außerhalb von<br />

Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (§ 312b<br />

BGB). Die Fallgruppen der außerhalb von Geschäftsräumen<br />

geschlossenen Verträge und der<br />

Fernabsatzverträge bezeichnet der Gesetzgeber<br />

im Untertitel vor §§ 312 ff. BGB als besondere<br />

Vertriebsformen. Schon beim Maklervertrag ließ<br />

der BGH (u.a. Urt. v. 7.7.2016 – I ZR 30/15) die<br />

Besonderheiten der Dienstleistung (Erfolgsorientierung)<br />

nicht als Argument gelten, um die<br />

Vertragsart aus dem Anwendungsbereich des Fernabsatzes<br />

herauszunehmen. Insofern liegt die Entscheidung<br />

des BGH zum Anwaltsvertrag (Urt. v.<br />

23.11.2017 – IX ZR 204/16, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 145/<strong>2018</strong>) auf<br />

einer Linie. Auch der höchstpersönliche Charakter<br />

der anwaltlichen Dienstleistung stellt keine fernabsatzrechtliche<br />

Ausnahme dar, so dass Anwaltsverträge<br />

bei entsprechender Sachlage widerrufen<br />

werden können.<br />

Widerrufsrecht: Irreführung bei unterschiedlichen<br />

Empfängern<br />

Unterschiedliche Unternehmensangaben in der<br />

Widerrufsbelehrung einerseits und im Muster-<br />

Widerrufsformular andererseits stellen grundsätzlich<br />

eine Irreführung des Verbrauchers dar<br />

(OLG Hamm, Urt. v. 30.11.2017 – 4 U 88/17, <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 153/<strong>2018</strong>). Es ging um ein Angebot auf der<br />

Plattform Amazon. Der Händler gab seine eigene<br />

Anschrift und eine weitere für einen von Amazon<br />

angebotenen vereinfachten Weg der Rücksendung<br />

an. Das Gericht sah das als irreführend an,<br />

weil der Verbraucher nicht erkennen könne,<br />

welche Adresse denn zutreffend sei und weil<br />

auch nicht klar zum Ausdruck kommt, dass beide<br />

Anschriften wahlweise gelten. Hinweis: Von dem<br />

Gebrauch unterschiedlicher Adressen ist daher<br />

abzuraten. Ob zwei Adressen als kenntlich gemachte<br />

Alternative nebeneinander jeweils in der<br />

Widerrufsbelehrung und im Muster-Widerrufsformular<br />

stehen dürfen, hatte das Gericht nicht zu<br />

entscheiden.<br />

Widerrufsrecht: Wertersatzanspruch nur<br />

bei korrekter Belehrung<br />

An einem vom AG Dülmen (Urt. v. 13.3.<strong>2018</strong> – 3C<br />

282/17) entschiedenen Fall lässt sich erkennen,<br />

dass die Erteilung einer gesetzeskonformen Widerrufsbelehrung<br />

(im Falle von Fernabsatzverträgen<br />

oder Verträgen, die außerhalb von Geschäftsräumen<br />

des Unternehmers mit einem<br />

Verbraucher geschlossen werden) nicht nur der<br />

Vermeidung von Abmahnungen dient, sondern<br />

auch für den Unternehmer eine finanzielle Absicherung<br />

im Falle einer Rückabwicklung im<br />

Widerrufsfalle bedeutet. Im Fall des AG Dülmen<br />

hatte der Kläger (Kunde) als Verbraucher beim<br />

Beklagten (Händler) in den Räumen des Klägers<br />

ein Elektromobil gekauft. Der Beklagte erteilte<br />

dem Kläger eine Widerrufsbelehrung, wonach<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1143


Internetreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

dieser binnen 14 Tagen sein Widerrufsrecht in<br />

Textform ausüben kann. Der Kläger fuhr das<br />

Elektromobil ca. drei Wochen, insgesamt 33,5 km,<br />

erklärte sodann den Widerruf seiner Vertragserklärung<br />

und gab den Kaufgegenstand dem Beklagten<br />

mit Kratzern und verdreckt zurück. Das<br />

AG Dülmen sah den Widerruf als rechtzeitig an,<br />

da der Beklagte den Kläger falsch belehrt hatte.<br />

Der Widerruf ist nach § 355 Abs. 1 S. 3 BGB durch<br />

eindeutige Erklärung möglich, z.B. auch telefonisch.<br />

Die Belehrung „in Textform“ war zu eng<br />

und damit falsch. Insofern bestand nach § 356<br />

Abs. 3 BGB eine Widerrufsfrist von einem Jahr<br />

und 14 Tagen. Auch einen Wertersatzanspruch<br />

des Beklagten konnte das Gericht wegen der<br />

fehlerhaften Widerrufsbelehrung nicht berücksichtigen<br />

(§ 357 Abs. 7 Nr. 2 BGB). Bei ordnungsgemäßer<br />

Belehrung wäre der Widerruf des Klägers<br />

hingegen verfristet gewesen. Selbst wenn<br />

der Kläger innerhalb der 14 Tagesfrist widerrufen<br />

hätte, wäre der Beklagte im Falle einer ordnungsgemäßen<br />

Belehrung mit seinem Wertersatzanspruch<br />

durchgekommen. Denn für das Testen des<br />

Elektromobils hätte der Kläger keine 33,5 km<br />

fahren und Kratzer verursachen müssen. Das liegt<br />

jenseits des zur Prüfung der Beschaffenheit, der<br />

Eigenschaften und der Funktionsweise erforderlichen<br />

Gebrauchs der Sache.<br />

Widerrufsrecht: Einkäufe auf Messen<br />

„außerhalb von Geschäftsräumen“<br />

Über diese Fragestellung hatte der EuGH im Wege<br />

eines Vorlageersuchens in seinem Urteil (v.<br />

7.8.<strong>2018</strong> – C-485/17) zu entscheiden. Der EuGH<br />

verwies an das nationale Gericht zurück, das nun<br />

die Sachverhaltsumstände unter Berücksichtigung<br />

der Vorgaben des EuGH näher aufklären muss. In<br />

seinen Vorgaben äußerte sich der EuGH dahingehend,<br />

dass für die Frage, ob ein Messestand<br />

unter den Begriff „Geschäftsräume“ zu subsumieren<br />

sei, das konkrete Erscheinungsbild dieses<br />

Stands aus Sicht der Öffentlichkeit zu berücksichtigen<br />

sei. Es sei konkret zu betrachten, ob sich<br />

der Messestand in den Augen eines Durchschnittsverbrauchers<br />

als ein Ort darstellt, an dem der<br />

Unternehmer, der ihn inne hat, seine Tätigkeiten,<br />

einschließlich saisonaler, für gewöhnlich ausübt, so<br />

dass ein solcher Verbraucher vernünftigerweise<br />

damit rechnen kann, dass er, wenn er sich dorthin<br />

begibt, zu kommerziellen Zwecken angesprochen<br />

wird. Bei der Beurteilung der Sicht des Durchschnittsverbrauchers<br />

sei auf den normal informierten,<br />

angemessen aufmerksamen und verständigen<br />

Verbraucher abzustellen. Ob sich insofern<br />

der im konkreten Fall betroffene Messestand als<br />

ein Geschäftsraum darstellt, muss nun das nationale<br />

Gericht entscheiden. Die Dauer der jeweiligen<br />

Messe sei im Übrigen nicht entscheidend. Diese<br />

Ausführungen entscheiden den konkreten Fall<br />

nicht, sondern geben lediglich Anhaltspunkte, die<br />

das nationale Gericht bei seiner Entscheidung zugrunde<br />

legen muss. Es bleibt damit weiterhin<br />

abzuwarten, ob der konkret betroffene Messestand<br />

(hier: ein solcher auf der „Grünen Woche“ in<br />

Berlin) als Geschäftsraum zu qualifizieren ist.<br />

Widerrufsrecht: Abgrenzung „Noch-<br />

Verbraucher“ vs. „Schon-Unternehmer“<br />

Abgrenzungsfragen zwischen einem „Noch-Verbraucher“<br />

und einem „Schon-Unternehmer“ sind<br />

regelmäßig Gegenstand gerichtlicher Verfahren.<br />

Fall 1: Das LG Bonn (Urt. v. 20.3.<strong>2018</strong> – 8 S 200/17)<br />

hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, wann ein<br />

Existenzgründer zum Unternehmer wird. Es ging<br />

sozusagen um die „Geburtsstunde“ der Unternehmer-Eigenschaft.<br />

Im konkreten Fall hatte die<br />

Beklagte einen Vertrag über einen entgeltlichen<br />

Eintrag in ein Branchenverzeichnis geschlossen<br />

und diesen später nach den fernabsatzrechtlichen<br />

Vorschriften zu widerrufen versucht. Das LG Bonn<br />

erläuterte unter Hinweis auf die BGH-Rechtsprechung,<br />

dass es für die Abgrenzung zwischen einem<br />

„Noch-Verbraucher“ und einem „Schon-Unternehmer“<br />

darauf ankommt, ob die getroffene Maßnahme<br />

noch Bestandteil der Existenzgründung<br />

selbst ist, sich also in deren Vorfeld bewegt, oder<br />

ob die grundsätzliche Entscheidung für die Existenzgründung<br />

bereits getroffen worden war. Im<br />

konkreten Fall ging das Gericht davon aus, dass<br />

es sich nicht mehr um eine Vorfeldtätigkeit<br />

handelte. Aus der Tatsache, dass die Beklagte<br />

bereits für ihr bestehendes Unternehmen mit Sitz<br />

und Kommunikationsdaten Werbung betrieb, ergibt<br />

sich, dass die Entscheidung zur Existenzgründung<br />

längst getroffen worden war. Ein Widerruf<br />

des Vertrags kam daher nicht in Frage. Fall<br />

2: Um diese Fragestellung ging es auch in einem<br />

von dem AG Kassel (Urt. v. 2.5.<strong>2018</strong> – 435 C 419/18)<br />

zu entscheidenden Sachverhalt. Der dortige eBay-<br />

Verkäufer hatte über einen längeren Zeitraum<br />

zwischen 17 und 25 Produkten pro Monat veräußert.<br />

Ferner waren die von ihm veräußerten<br />

Waren nur einem bestimmten Produkt-Segment<br />

zuzuordnen. Das Gericht entschied, dass aufgrund<br />

der objektiven Sachlage (längerer Zeitraum, 17–<br />

25 Produkte pro Monat, 1-Produkt-Segment) von<br />

1144 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Internetreport<br />

einem gewerblichen Handel auszugehen sei, so<br />

dass der Verkäufer als Unternehmer zu qualifizieren<br />

sei. Die vorgenannten Verkäufe bedeuteten,<br />

dass der Verkäufer – hochgerechnet – die „Schwellenzahl<br />

von 200 Verkaufsvorgängen pro Kalenderjahr<br />

(…) ohne weiteres“ überschreite. Dem stehe die<br />

Anzahl von 51 Bewertungen im Zeitraum von sechs<br />

Monaten nicht entgegen, weil die Anzahl der<br />

Bewertungen lediglich ein Indiz für die Tätigkeit<br />

einer Person auf der Plattform eBay darstelle. Es<br />

könne nicht unterstellt werden, dass jeder Verkaufsvorgang<br />

auch zu einer Bewertung führe.<br />

Fall 3: Mit einer ähnlichen Thematik hatte sich<br />

das LG Berlin zu beschäftigen: Eine Onlinehändlerin<br />

hatte auf einer Handelsplattform ein Halstuch<br />

angeboten und dabei Pflichtinformationen im<br />

elektronischen Geschäftsverkehr nicht auf ihrer<br />

Webseite vorgehalten. Gegen die hiernach ausgesprochene<br />

Abmahnung verteidigte sie sich damit,<br />

sie habe in den letzten zwei Jahren nur<br />

Verluste erwirtschaftet und das Finanzamt würde<br />

ihre Tätigkeit als Liebhaberei einstufen, weshalb<br />

sie keine Unternehmerin sei. Das LG Berlin (Urt. v.<br />

13.6.<strong>2018</strong> – 103 O 90/17) ist dem nicht gefolgt. Für<br />

eine gewerbliche Tätigkeit ist nach der Rechtsprechung<br />

des BGH ein selbstständiges, planmäßiges<br />

und auf Dauer angelegtes Anbieten entgeltlicher<br />

Leistungen auf einem Markt erforderlich.<br />

Genau das lag nach Ansicht des Gerichts vor.<br />

Zudem war der Shop gewerblich ausgestaltet und<br />

die Händlerin räumte ihren Kunden (Verbrauchern)<br />

ein Widerrufsrecht ein. Das LG Berlin sah<br />

auch die wirtschaftliche Situation (vorgebracht<br />

wurde als Argument: „Kleinunternehmen“) nicht<br />

als relevant an und führte dazu aus: „Auf die Höhe<br />

ihrer Einnahmen kommt es dagegen nicht an. Auch ein<br />

Unternehmen, das rote Zahlen schreibt, muss sich an die<br />

für Unternehmer geltenden Regeln halten.“<br />

Unterlassungserklärung: Modifikation<br />

von Vorlagen<br />

Im Regelfall wird Abmahnungen ein Muster einer<br />

vorformulierten strafbewehrten Unterlassungserklärung<br />

beigefügt. Würde der abgemahnte<br />

Unternehmer diese unterzeichnen, wäre sie annahmefähig.<br />

Es ist jedoch regelmäßig zu beobachten,<br />

dass von abgemahnten Unternehmern<br />

beauftragte Anwälte das Muster der Unterlassungserklärung<br />

derart modifizieren, dass es nicht<br />

mehr annahmefähig ist. Konsequenz dieser Modifikation<br />

ist dann regelmäßig ein Gerichtsprozess.<br />

Fall 1: So ging es einem Unternehmen in<br />

einem vor dem LG Leipzig (Beschl. v. 15.1.<strong>2018</strong> –<br />

4 HKO 74/18) entschiedenen Sachverhalt: Der<br />

abgemahnte Unternehmer hatte die Abmahnung<br />

nebst vorformulierter Unterlassungserklärung<br />

einem Anwalt vorgelegt. Dieser formulierte die<br />

Unterlassungserklärung dahin um, dass sie unter<br />

dem Vorbehalt abgegeben wurde, dass der Verband<br />

zunächst seine Aktivlegitimation nachweisen<br />

müsse. Da der Verband diese Unterlassungserklärung<br />

nicht annahm, musste das LG Leipzig<br />

über den Sachverhalt entscheiden. Dieses urteilte,<br />

dass eine Unterlassungserklärung mit dem Vorbehalt<br />

des Nachweises der Aktivlegitimation<br />

eine aufschiebende Bedingung enthalte (die die<br />

Wiederholungsgefahr nicht beseitige). Dies bedeutet,<br />

dass die Unterlassungserklärung nach<br />

dem Willen des Abgemahnten erst dann wirksam<br />

werden soll, wenn dem abgemahnten Unternehmer<br />

die Nachweise des Verbands zur Aktivlegitimation<br />

ausreichen. Es fehle damit, so das<br />

Gericht, an einer wirksamen und somit verbindlichen<br />

Unterlassungserklärung. Nach Ansicht des<br />

LG Leipzig verhielt es sich nicht anders, als<br />

wenn die Unterlassungserklärung wegen bezweifelter<br />

Anspruchsberechtigung überhaupt nicht<br />

abgegeben worden wäre. Fall 2: In einem von<br />

dem OLG München entschiedenen Sachverhalt<br />

(Beschl. v. 13.3.<strong>2018</strong> – 29 W 143/18) hatte ein<br />

Unternehmen eine – im Übrigen ausreichende –<br />

strafbewehrte Unterlassungserklärung mit dem<br />

Zusatz „Unter Vorbehalt einer rechtlichen Prüfung“<br />

abgegeben. Ob sich dieser Vorbehalt nur<br />

auf die Kosten oder auf die Unterlassungsverpflichtung<br />

bezog, konnte der Unterlassungserklärung<br />

nicht entnommen werden. Auch auf Nachfrage<br />

des Gläubigers, worauf sich der Vorbehalt<br />

beziehe, erfolgte keine Konkretisierung durch<br />

den sachbearbeitenden Anwalt. Das OLG München<br />

vertrat daher die Ansicht, dass die Unterlassungserklärung<br />

nicht transparent genug sei,<br />

um die Wiederholungsgefahr entfallen zu lassen.<br />

Fall 3: Das LG Hamburg (Beschl. v. 6.3.<strong>2018</strong> – 315<br />

O 65/18) hatte darüber zu entscheiden, ob eine<br />

strafbewehrte Unterlassungserklärung, die auf<br />

das konkret beanstandete Produkt eingegrenzt<br />

war, die Wiederholungsgefahr ausschließt. Passiert<br />

war Folgendes: Das abgemahnte Unternehmen<br />

hatte eine stark eingegrenzte Unterlassungserklärung<br />

abgegeben. Der Gläubiger hatte<br />

hiernach darauf hingewiesen, dass diese Unterlassungserklärung<br />

nicht annahmefähig sei.<br />

Das abgemahnte Unternehmen reagierte hierauf<br />

nicht mehr. Das LG Hamburg hat dem Gläubiger<br />

darin Recht gegeben, dass eine auf das konkret<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1145


Internetreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

beanstandete Produkt eingegrenzte Unterlassungserklärung<br />

die Wiederholungsgefahr nicht<br />

ausschließt. Diese Rechtsprechung deckt sich<br />

mit der Rechtsprechung der übrigen Wettbewerbsgerichte.<br />

Vertragsstrafen: Welche Höhe ist gerechtfertigt?<br />

Handelt ein Unterlassungsschuldner einer von<br />

ihm abgegebenen strafbewehrten Unterlassungserklärung<br />

schuldhaft zuwider, verwirkt er<br />

eine Vertragsstrafe. Abhängig davon, ob in der<br />

strafbewehrten Unterlassungserklärung eine feste<br />

Vertragsstrafe vereinbart worden ist oder<br />

nicht (im zuletzt genannten Fall dürfte es sich<br />

um den sog. Neuen Hamburger Brauch handeln),<br />

bestimmt der Unterlassungsgläubiger eine Vertragsstrafe<br />

nach billigem Ermessen (§ 315 BGB).<br />

Unterlassungsschuldner beanstanden hiernach<br />

regelmäßig, dass die von dem Unterlassungsgläubiger<br />

festgesetzte Vertragsstrafe nicht billig<br />

i.S.d. § 315 BGB sei. Zuletzt hat das LG Darmstadt<br />

(Urt. v. 15.12.<strong>2018</strong> – 14 O 63/17) die Grundsätze<br />

für die Bemessung einer Vertragsstrafe wie folgt<br />

zusammengefasst: „Nach ständiger Rechtsprechung<br />

muss eine Vertragsstrafe so bemessen sein,<br />

dass sie geeignet ist, eine ausreichende abschreckende<br />

Wirkung zu entfalten und den Verletzer von weiteren<br />

Verletzungshandlungen abzuhalten (vgl. OLG Frankfurt,<br />

Beschl. v. 9.12.2013 – 11 W 27/13). Die Praxis der<br />

Rechtsprechung geht dahin, Geschäftsbereichen normaler<br />

wirtschaftlicher Bedeutung die Spanne einer<br />

ausreichenden Vertragsstrafe zwischen 2.500 € und<br />

10.000 € zu bemessen. Geringere Vertragsstrafen<br />

können lediglich bei einer wettbewerbsrechtlich relevanten<br />

Geschäftstätigkeit im wirtschaftlichen Bagatellbereich<br />

ausreichen (vgl. OLG Oldenburg GRUR-RR<br />

2010, 252, 253).“ In dem von dem LG Darmstadt<br />

entschiedenen Sachverhalt hatte der Unterlassungsschuldner<br />

nach eigenem (dokumentierten)<br />

Vortrag seit 2014 jährlich Gewinne i.H.v. ca.<br />

5.000 € und mehr erzielt. Das Gericht ging<br />

damit von einem „gut gehenden“ Unternehmen<br />

mit steigenden Gewinnerwartungen aus. Der<br />

Unterlassungsgläubiger hatte eine Vertragsstrafe<br />

i.H.v. 3.000 € gefordert. Das LG Darmstadt<br />

urteilte daher, dass u.a. aufgrund dieser<br />

Gewinne keine Geschäftstätigkeit im wirtschaftlichen<br />

Bagatellbereich vorliege. Die von<br />

dem Unterlassungsgläubiger angesetzte Vertragsstrafe<br />

bewege sich ferner im unteren Bereich<br />

der Rechtsprechungspraxis. Die geforderte<br />

Vertragsstrafe sei daher gerechtfertigt.<br />

Urheberrecht: Haftung für Verletzungen<br />

auf Amazon<br />

Nach ständiger Rechtsprechung haften Händler,<br />

die sich auf der Plattform Amazon an Angebote<br />

Dritter anhängen, für Rechtsverstöße, die in<br />

diesen Angeboten enthalten sind. Dies betrifft<br />

insbesondere Wettbewerbsrechtsverstöße. In einem<br />

Urteil (v. 3.3.2016 – I ZR 110/15) hatte der<br />

BGH betreffend einer unverbindlichen Preisempfehlung<br />

insoweit ausgeführt: „Ein Händler, der auf<br />

einer Internetseite einer Handelsplattform in seinem<br />

Namen ein Verkaufsangebot veröffentlichen lässt,<br />

obwohl er dessen inhaltliche Gestaltung nicht vollständig<br />

beherrscht, weil dem Plattformbetreiber<br />

die Angabe und Änderung der unverbindlichen Preisempfehlung<br />

vorbehalten ist, haftet als Täter für den<br />

infolge unzutreffende Angabe der Preisempfehlung<br />

irreführenden Inhalte eines Angebots.“ In einem<br />

von dem LG Berlin entschiedenen Sachverhalt<br />

(Beschl. v. 4.1.<strong>2018</strong> – 15 O 1/18; vgl. auch LG Köln,<br />

Urt. v. 16.6.2016 – 14 O 355/14) hatte sich ein<br />

Händler an ein Angebot eines Dritten angehangen.<br />

In diesem Angebot erfolgte eine urheberrechtswidrige<br />

Verwendung von Lichtbildern.<br />

Der Händler, der das Angebot ursprünglich<br />

erstellt hatte, hatte Lichtbilder von der Webseite<br />

eines Dritten ohne dessen Zustimmung entnommen.<br />

Nachfolgend wurde der Antragsgegner<br />

von dem Ersteller der Lichtbilder auf Unterlassung<br />

in Anspruch genommen. Das LG Berlin<br />

gab dem Antrag statt. Fest steht damit, dass<br />

Amazon-Händler nicht nur bei Wettbewerbs-,<br />

sondern auch bei Urheberrechtsverletzungen<br />

auf Unterlassung und Kostenerstattung haften.<br />

Bei wettbewerbsrechtlichen Aspekten mag ggf.<br />

ein Wettbewerbsverstoß erkennbar sein, sofern<br />

man sich zuvor mit den wettbewerbsrechtlichen<br />

Vorgaben beschäftigt hat. Bei Verstößen gegen<br />

das Urheberrechtsgesetz ist dies hingegen nicht<br />

der Fall, es sei denn, dass sich in dem Lichtbild ein<br />

Urheberrechtsvermerk befindet, anhand dessen<br />

erkannt bzw. zumindest vermutet werden kann,<br />

dass der Ersteller des Lichtbilds und der Ersteller<br />

des ursprünglichen Angebots nicht identisch sind<br />

bzw. sein könnten.<br />

Datenschutzerklärung: Erforderlichkeit<br />

auf Handelsplattformen<br />

Die Bedeutung des Datenschutzrechts nimmt seit<br />

Jahren stetig zu. Die Anforderungen an Unternehmer<br />

steigern sich zunehmend, vor allem<br />

aufgrund der seit dem 25.5.<strong>2018</strong> anwendbaren<br />

EU-Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO).<br />

1146 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Internetreport<br />

In den letzten Jahren war eine zunehmende<br />

Zahl wettbewerbsrechtlicher Verfahren festzustellen,<br />

die sich mit dem kompletten Fehlen von<br />

Datenschutzerklärungen auf Webseiten oder<br />

mit fehlerhaften bzw. unvollständigen Datenschutzerklärungen<br />

befasst. Ungeklärt war<br />

jedoch die Frage, ob ein Händler, der auf Handelsplattformen<br />

wie z.B. eBay oder Amazon anbietet,<br />

ebenfalls eine eigene Datenschutzerklärung vorhalten<br />

muss. Das LG Leipzig (Beschl. v. 15.1.<strong>2018</strong> –<br />

04 HK O 74/18) hat einem auf einer solchen<br />

Plattform tätigen Händler untersagt, eine Webseite<br />

zu unterhalten, ohne eine Datenschutzerklärung<br />

zu veröffentlichen. Im konkreten Fall<br />

ging es um das komplette Fehlen einer solchen.<br />

Ob sich die Rechtsprechung nun dahin entwickeln<br />

wird, dass auch für den Handel auf<br />

solchen Plattformen die „große“ Datenschutzerklärung<br />

vorzuhalten ist, muss abgewartet werden.<br />

Aufgrund der seit dem 25.5.<strong>2018</strong> anwendbaren<br />

EU-DSGVO könnten sich zudem die<br />

rechtlichen Grundlagen geändert haben.<br />

Vertragsrecht: Platzierung einer Werbeanzeige<br />

im Internet als Werkvertrag<br />

In dem zu entscheidenden Fall hatte ein im<br />

Bereich der Werbe- und Medientechnik tätiges<br />

Unternehmen gegen Vergütung für einen Kunden<br />

eine Werbeanzeige im Internet veröffentlicht.<br />

Der BGH (Urt. v. <strong>22</strong>.3.<strong>2018</strong> – VII ZR 71/17)<br />

ging auf seine bisherige Rechtsprechung zum<br />

Aufhängen von Plakaten (reale Variante) und zur<br />

Internetdienstleistung (digitale Variante) ein und<br />

entschied sich dafür, solche Verträge dem Werkvertragsrecht<br />

zuzuordnen: „Ein Vertrag, durch den<br />

es eine Vertragspartei übernimmt, auf eine bestimmte<br />

Dauer Werbeplakate der anderen Vertragspartei an<br />

bestimmten Werbeflächen zum Aushang zu bringen,<br />

ist danach rechtlich als Werkvertrag einzuordnen (vgl.<br />

BGH, Urt. v. 19.6.1984 – X ZR 93/83, juris Rn 12).<br />

Gleiches gilt für einen Vertrag, der das Zeigen von<br />

Werbespots auf einem Videoboard mit einer bestimmten<br />

Wiederholungsfrequenz zum Gegenstand hat (vgl.<br />

BGH, Urt. v. 26.3.2008 – X ZR 70/06, NJW-RR 2008,<br />

1155 Rn 13) und für einen Vertrag, der die Eintragung in<br />

einem elektronischen Branchenverzeichnis zum Gegenstand<br />

hat (vgl. BGH, Urt. v. 26.7.2012 VII ZR 262/11,<br />

NJW-RR 2012, 1261) sowie für einen Vertrag über die<br />

Erstellung und Betreuung einer Internetpräsentation<br />

sog. Internet-System-Vertrag (vgl. BGH, Urt. v.<br />

27.1.2011 – VII ZR 133/10, BGHZ 188, 149 Rn 9; Urt. v.<br />

4.3.2010 – III ZR 79/09, BGHZ 184, 345 Rn 15).“ Der<br />

BGH hat seine Rechtsprechung auch im Hinblick<br />

auf sein Urteil vom 21.4.2016 (I ZR 276/14) klargestellt.<br />

Dort hatte er die Ausführungen der Vorinstanz<br />

(LG Bonn), es handele sich um einen<br />

Dienstleistungsvertrag mit untergeordneten werkvertraglichen<br />

Elementen, im Urteil nicht beanstandet,<br />

sich allerdings damit auch nicht weiter<br />

auseinandergesetzt. Der BGH stellt nun klar, dass<br />

diese Entscheidung seinen übrigen Grundsatzentscheidungen<br />

nicht widerspricht: „Aus der von<br />

der Revision angeführten Entscheidung des BGH vom<br />

21.4.2016 (I ZR 276/14, NJW-RR 2016, 1511 Rn 11) ergibt<br />

sich nichts Gegenteiliges. Die Ausführungen des BGH,<br />

es lasse keinen Rechtsfehler erkennen, dass das<br />

Berufungsgericht davon ausgegangen sei, die Beklagte<br />

habe sich gegenüber der Klägerin rechtswirksam zur<br />

Zahlung von 728,28 € einschließlich Umsatzsteuer für<br />

einen Eintrag in das elektronische Branchenverzeichnis<br />

der Klägerin mit einer Laufzeit von 36 Monaten<br />

verpflichtet, betreffen lediglich die Rechtswirksamkeit<br />

eines solchen Anzeigenvertrags nicht jedoch seine<br />

rechtliche Einordnung als Dienst- oder Werkvertrag.<br />

Über diese für die damalige Entscheidung nicht<br />

erhebliche Frage hat der BGH damals nicht entschieden.“<br />

Offenbar hat der BGH bemerkt, dass das<br />

Urteil vom 21.4.2016 durchaus im Sinne eines<br />

Dienstleistungsvertrags interpretiert werden<br />

konnte und so auch von den Instanzgerichten<br />

verwendet wurde; daher hat er hier nun für<br />

Klarstellung gesorgt.<br />

Internetshop: Pflichtangaben nach der<br />

Lebensmittelinformationsverordnung<br />

Bei dem Vertrieb von Lebensmitteln sind die<br />

Pflichtangaben i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Lebensmittelinformationsverordnung<br />

(LMIV) zu beachten.<br />

Hiernach müssen u.a. die Bezeichnung des Lebensmittels,<br />

das Verzeichnis der Zutaten, eventuelle<br />

Allergenangaben, die Nettofüllmenge des Lebensmittels,<br />

das Mindesthaltbarkeitsdatum sowie der<br />

Name und die Anschrift des Lebensmittelunternehmers<br />

angegeben werden. Diese Informationen<br />

müssen bei allen Lebensmitteln verfügbar und<br />

gleich zugänglich sein (Art. 12 Abs. 1 LMIV). Im<br />

Fernabsatz müssen diese Informationen (mit Ausnahme<br />

des Mindesthaltbarkeitsdatum) „vor dem<br />

Abschluss des Kaufvertrags verfügbar sein“ (Art. 14<br />

Abs. 1 lit. a LMV). Mit diesen Vorgaben hatte<br />

sich das KG Berlin (Urt. v. <strong>22</strong>.1.<strong>2018</strong> – 5 U 126/16)<br />

zu beschäftigen. Das abgemahnte Unternehmen<br />

hatte auf seiner Webseite u.a. keine Angaben über<br />

die in dem Produkt enthaltenen Zutaten und<br />

Allergene gemacht. Es argumentierte, dass der<br />

Kunde in seinem Internetshop nicht die Lebens-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1147


Internetreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

mittel kaufe, sondern lediglich eine kostenpflichtige<br />

Lieferung der Lebensmittel bestelle. Der<br />

Kaufvertrag werde erst bei Lieferung der Produkte<br />

an der Haustür durch deren Annahme geschlossen.<br />

Die nach Art. 9 Abs. 1 LMIV erforderlichen<br />

Angaben zu u.a. den Zutaten und den Allergenen<br />

finde der Käufer auf den Verpackungen der<br />

gelieferten Lebensmittel und könne diese daher<br />

vor Vertragsschluss (Art. 14 Abs. 1 LMIV) an der<br />

Haustür wahrnehmen. Diese Sichtweise des Unternehmens<br />

teilte das KG Berlin nicht. Selbst wenn<br />

der Kunde im Internetshop nur eine kostenpflichtige<br />

Lieferung der Lebensmittel bestelle, müssten<br />

die nach Art. 9 Abs. 1 LMIV erforderlichen Pflichtangaben<br />

bereits im Internetshop verfügbar sein,<br />

da es dem Kunden im Rahmen der Übergabe der<br />

Ware an der Haustür nicht zumutbar sei, die<br />

Pflichtinformationen nach Art. 9 Abs. 1 LMIV zur<br />

Kenntnis zu nehmen.<br />

Google: Anspruch auf Löschung bei<br />

unberechtigter Bewertung<br />

Mit „Sterne“-Bewertungen im Rahmen eines<br />

Google-Eintrags hatte sich das LG Hamburg (Urt.<br />

v. 12.1.<strong>2018</strong> – 324 O 63/17) zu beschäftigen. Der<br />

Inhaber eines Gastronomiebetriebs hatte festgestellt,<br />

dass bei seinem Google-Eintrag eine<br />

Bewertung mit einem Stern ohne jedweden weiteren<br />

Kommentar und ohne eine Begründung<br />

abgegeben worden war. Da er die Person, die<br />

diese Bewertung abgegeben hatte, nicht kannte,<br />

forderte er Google zur Löschung der Bewertung<br />

auf. Weil Google dies ablehnte, erhob er Klage und<br />

forderte die Löschung dieser Bewertung. Er trug<br />

vor, dass er seine Buchhaltung geprüft habe und<br />

hiernach feststellen müsse, dass die bewertende<br />

Person hierin nicht vermerkt sei; auch sein Personal<br />

kenne diese Person nicht. Obgleich es sich<br />

bei der abgegebenen „Sterne“-Bewertung um eine<br />

Meinungsäußerung handele, vertrat das LG Hamburg<br />

die Ansicht, dass der die Bewertung abgebenden<br />

Person mangels Kunden-Eigenschaft<br />

jegliche Tatsachengrundlage fehle, um diese Meinungsäußerung<br />

abzugeben. Da dem Inhaber des<br />

Gastronomiebetriebs keine weiteren Erkenntnisquellen<br />

als seine Buchhaltung und sein Personal<br />

zur Verfügung stehen würden, um den Sachverhalt<br />

aufzuklären, hätte Google die Möglichkeit nutzen<br />

müssen, die bei ihr registrierte Nutzerin zu kontaktieren<br />

und um Aufklärung zu bitten. Diese<br />

Kontaktierung wäre Google problemlos möglich<br />

und ferner zumutbar gewesen. Da Google diese<br />

Prüfungsmöglichkeit nicht genutzt hatte, war das<br />

LG Hamburg der Ansicht, dass Google als Provider<br />

seine Prüfpflichten verletzt hatte. Der Löschungsanspruch<br />

wurde damit zuerkannt. Hinweis: In<br />

einem ähnlich gelagerten Sachverhalt hatte das<br />

LG Augsburg (Urt. v. 17.7.2017 – 0<strong>22</strong> O 560/17) einen<br />

Löschungsanspruch verneint. In dem dortigen<br />

Verfahren ging es um die Bewertung eines Arztes,<br />

wobei der Bewertende kein Patient des Arztes<br />

war. Die Rechtsprechung verhält sich damit betreffend<br />

die Löschung unberechtigter Bewertungen<br />

uneinheitlich.<br />

AGB: Zulässigkeit von Rechtswahlklauseln<br />

Nach Art. 6 Abs. 1 der sog. ROM-I-Verordnung<br />

unterliegt ein Verbrauchervertrag grundsätzlich<br />

dem Recht des Staates, in dem der Verbraucher<br />

seinen gewöhnlichen Aufenthalt, d.h. seinen<br />

Wohnsitz hat, wenn bestimmte Anforderungen<br />

erfüllt sind. Allerdings darf diese Rechtswahl nicht<br />

dazu führen, dass dem Verbraucher der Schutz<br />

entzogen wird, der ihm durch die zwingenden<br />

Vorschriften seines Wohnsitzlandes gewährt wird<br />

(Art. 6 Abs. 2 der ROM-I-Verordnung). Eine<br />

Rechtswahlklausel ist daher nur zulässig, wenn<br />

sie vorsieht, dass von der Rechtswahl die zwingenden<br />

Verbraucherschutzvorschriften des Landes,<br />

in dem der Kunde seinen Wohnsitz hat,<br />

ausgenommen sind. Eine Rechtswahlklausel, die<br />

dies inhaltlich nicht beachtet, ist unzulässig und<br />

benachteiligt den Verbraucher (vgl. OLG Stuttgart,<br />

Urt. v. 17.2.2011 – 2 U 65/10). In einer Entscheidung<br />

hat das LG Frankfurt/M. (Urt. v. 14.12.2017 – 2-24 O<br />

8/17) diese Grundsätze noch etwas verfeinert. Es<br />

ging dabei um die AGB der britischen Fluggesellschaft<br />

easyJet, die in ihren AGB für die Durchführung<br />

der Beförderungen „das Recht von England<br />

und Wales“ zugrunde legen wollte. Das LG<br />

Frankfurt/M. sah die Regelung als intransparent<br />

an. Rechtswahlklauseln müssten stets klar und<br />

verständlich abgefasst sein. Dabei sei auch das zu<br />

Lasten des Verbrauchers bestehende Informationsgefälle<br />

zu berücksichtigen. Über die bindenden<br />

ausländischen Rechtsvorschriften hätte die Fluggesellschaft<br />

den Verbraucher, der aus unterschiedlichsten<br />

Staaten kommen kann, genauer unterrichten<br />

müssen. Hinweis: Unter Umständen kann<br />

eine Rechtswahlklausel auch als überraschend i.S.d.<br />

§ 305c Abs. 1 BGB anzusehen sein. Das LG Hamburg<br />

(Beschl. v. 21.3.2013 – 408 HKO 43/13) untersagte<br />

mit dieser Begründung eine Klausel, die als Vereinbarung<br />

des französischen Rechts gemeint war und<br />

sich in einem ausschließlich deutschsprachigen<br />

Webangebot unter einer DE-Domain befand.<br />

1148 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Internetreport<br />

Garantie: Verpflichtende Hinweise<br />

Wirbt der Hersteller eines im stationären Einzelhandel<br />

angebotenen Erzeugnisses auf der Verpackung<br />

mit dem Hinweis „3 Jahre Garantie“, so<br />

verstößt er gegen die sich aus § 5a Abs. 2 UWG<br />

ergebenden Informationspflichten, wenn sich auf<br />

oder in der Verpackung keine weiteren Hinweise<br />

zur Garantie finden. Nicht ausreichend ist, dass<br />

der Hersteller auf einer Internetseite seine Garantiebedingungen<br />

veröffentlicht, wenn der Käufer<br />

keinen Hinweis erhält, dass er dort die Garantie-<br />

Informationen einsehen kann (OLG Frankfurt, Urt.<br />

v. 11.1.<strong>2018</strong> – 6 U 150/17). Die Entscheidung ist<br />

insofern interessant, da hier zusätzlich zu der<br />

Verantwortlichkeit des Verkäufers (der über eine<br />

solche Garantie nach Art. 246a Abs. 1 S. 1 Nr. 9<br />

EGBGB bei Fernabsatzverträgen mit Verbrauchern<br />

informieren muss) auch die Verantwortlichkeit<br />

der Hersteller angesprochen wird. Diese veröffentlichen<br />

häufig auf ihren Webseiten Garantiebedingungen<br />

für diverse von ihnen hergestellte<br />

Waren. Regelmäßig beginnen die Garantierechte<br />

des Käufers mit dem Kauf bei einem Händler.<br />

Insofern unterstützen die Hersteller den Absatz<br />

ihrer Produkte mit diesen Garantien. Gleichzeitig<br />

haben sie auch häufig Kenntnis davon, dass ihre<br />

Garantiezusage weiterverbreitet wird, wie im<br />

vorstehenden Falle durch Aufdruck auf der Verpackung.<br />

Da § 5a UWG die Täuschung durch<br />

Unterlassen (von gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Pflichtinformationen) betrifft, wird es im Ergebnis<br />

noch nicht einmal darauf ankommen, ob der<br />

Händler oder der Hersteller überhaupt den kurz<br />

gehaltenen Hinweis auf die Garantie auf die<br />

Verpackung druckt. Allein die Tatsache, dass<br />

der Hersteller eine Garantie anbietet, verpflichtet<br />

jedenfalls den Händler, über die Hersteller-<br />

Garantie aufzuklären, und zwar in dem Umfang,<br />

wie das Art. 246a Abs. 1 S. 1 Nr. 9 EGBGB und § 479<br />

BGB vorschreiben (LG Essen, Beschl. v. 27.7.<strong>2018</strong><br />

– 43 O 95/18; LG Bochum, Beschl. v. 15.2.<strong>2018</strong> –<br />

I-12 O 29/18).<br />

Wettbewerbsrecht: „Wesentliche Merkmale“<br />

von Waren i.S.d. § 5a UWG<br />

Nach § 5a Abs. 2, Abs. 3 Nr. 1 UWG handelt<br />

unlauter, wer einem Verbraucher wesentliche<br />

Informationen vorenthält („alle wesentlichen Merkmale<br />

der Ware oder Dienstleistung in dem dieser und<br />

dem verwendeten Kommunikationsmittel angemessenen<br />

Umfang“). Die Rechtsprechung dazu ist<br />

umfangreich. Fall 1: Bei Verkaufsangeboten für<br />

Kraftfahrzeuge stellen fahrzeugbezogene Angaben<br />

wie Typ, Erstzulassungsjahr oder Laufleistung<br />

wesentliche Produktmerkmale i.S.d. § 5a UWG<br />

dar (OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.8.2013 – 6 U 57/13).<br />

Das LG Oldenburg hat in einem Fall (Urt. v.<br />

15.3.<strong>2018</strong> – 15 O 1703/17) einen Verkäufer zur<br />

Unterlassung verurteilt, weil dieser die Laufleistung<br />

eines Gebrauchtfahrzeugs in einer Werbeanzeige<br />

ausgelassen hatte. Fall 2: Mit der<br />

Frage, was bei Sonnenschirmen und Bekleidung<br />

zu den wesentlichen Produktmerkmalen gehört,<br />

hatte sich das LG München I (Urt. v. 4.4.<strong>2018</strong> –<br />

33 O 9318/17) zu befassen. Das Gericht verurteilte<br />

Amazon dazu, Waren der vorgenannten Art<br />

zu präsentieren, ohne dabei die jeweils wesentlichen<br />

Merkmale mitzuteilen. Das Gericht sah<br />

im Bereich Bekleidung z.B. die Angabe des<br />

verarbeiteten Materials und bei Sonnenschirmen<br />

z.B. das Material des Bezugsstoffs, Informationen<br />

zum Gestell und zum Gewicht als erforderlich an.<br />

Hinweis: Die vorgenannten Entscheidungen liegen<br />

alle auf der Linie der Rechtsprechung des<br />

BGH, der z.B. beim Vertrieb von Elektrogeräten<br />

entschieden hat, dass die Typenbezeichnungen<br />

als wesentliche Merkmale zu nennen sind (BGH,<br />

Urt. v. 2.3.2017 – I ZR 41/16; Urt. v. 19.2.2014 – IZR<br />

17/13).<br />

Irreführende Werbung: Vergabe eines<br />

Gütesiegels ohne objektive Prüfung<br />

Im Zusammenhang mit der Optimierung von<br />

Einkaufsprozessen gab ein Bundesverband ein<br />

„Gütesiegel“ heraus. In einer erläuternden Satzung<br />

führte der Verband aus, es handele sich nicht um<br />

ein Qualitätssiegel, sondern um ein Werbeinstrumentarium,<br />

das an industrielle Partner von<br />

Beschaffungsinstitutionen sowie an Einrichtungen<br />

der Krankenversorgung (Krankenhäuser) vergeben<br />

werde. In erster Linie seien nach Auffassung<br />

des Verbands nicht die Beschaffungsinstitutionen,<br />

sondern Versorgungseinrichtungen und Industrieunternehmen<br />

Adressaten und mögliche Nutzer<br />

des Gütesiegels. Die Akkreditierung für das „Gütesiegel“<br />

wurde aufgrund von Selbstauskünften<br />

(Webformular mit Ja/Nein-Befragung, wobei dies<br />

zum Teil nur Name, Gesellschaftsform, Gesellschafter,<br />

Kontaktdaten etc. betraf) erteilt. Das<br />

OLG Köln (Beschl. v. 5.3.<strong>2018</strong> – 6 U 151/17) sah die<br />

Verwendung des Begriffs „Gütesiegel“ für derartige,<br />

auf nicht weiter überprüfbaren Selbstauskünften<br />

der Verwender beruhenden Informationen als<br />

irreführend an. Die Vergabe eines Gütesiegels<br />

setze eine objektive Prüfung durch einen neutralen<br />

Dritten voraus.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1149


Internetreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Irreführende Werbung: Verwendung von<br />

Testergebnissen bei abweichendem Produkt<br />

Die Verwendung von Testergebnissen zur Bewerbung<br />

der angebotenen Waren ist regelmäßig<br />

Gegenstand wettbewerbsrechtlicher Verfahren.<br />

Das OLG Köln hatte sich mit folgendem Sachverhalt<br />

zu beschäftigen (Urt. v. 13.4.<strong>2018</strong> – 6U<br />

166/17): Ein Unternehmen hatte mit dem Testergebnis<br />

für eine Matratze geworben; das Testergebnis<br />

bezog sich auf eine Matratze mit der<br />

Größe X, die beworbene Matratze hatte jedoch<br />

die Größe Y. Das OLG Köln sah einen Unterlassungsanspruch<br />

auf Basis von § 5 Abs. 1 Nr. 1 UWG<br />

bzw. § 5a Abs. 2 UWG unter dem Gesichtspunkt<br />

der irreführenden Werbung mit einem Testergebnis<br />

bzw. dem Vorenthalten wesentlicher<br />

Informationen als gegeben an. Es führte hierzu<br />

aus: „Testergebnisse sind ein besonders beliebtes und<br />

wirksames Werbemittel, insbesondere wenn das Ergebnis<br />

in einem objektiven und sachkundigen Testverfahren<br />

von einem anerkannten Testveranstalter wie<br />

z.B. der Stiftung Warentest vergeben worden ist. Der<br />

Testwerbende muss allerdings die Kriterien der Wahrheit,<br />

der Sachlichkeit, der Vollständigkeit, der Aktualität<br />

und der Transparenz einhalten. Ist das nicht der<br />

Fall, liegt regelmäßig der Tatbestand der irreführenden<br />

Werbung vor. Eine Irreführung ist dann gegeben, wenn<br />

sich der Test nicht auf die beworbene, sondern eine<br />

andere Ware bezog, auch wenn diese äußerlich ähnlich<br />

und technisch baugleich war. (…) Darauf, ob die<br />

unterschiedlich großen Matratzen gleich gut sind<br />

oder sich hinsichtlich der Liegeeigenschaften unterscheiden,<br />

kommt es nicht an. (…) Nach diesen<br />

Maßstäben hätte im vorliegenden Fall deutlich gemacht<br />

werden müssen, dass nicht der beworbene,<br />

sondern ein baugleicher anderer Artikel getestet wurde.<br />

Die Werbung in der konkreten Verletzungsform lässt<br />

dies nicht hinreichend erkennen (…).“<br />

Datenschutz: Verantwortlichkeit von<br />

Unternehmen für ihre Facebookseite<br />

Unternehmen, Institutionen und Vereine, die eine<br />

Facebookseite betreiben, unterhalten eine sog.<br />

Facebook-Fanpage, auf der personenbezogene<br />

Daten im Sinne der DSGVO verarbeitet werden.<br />

Zuletzt wurde die Frage erörtert, ob für die Verarbeitung<br />

dieser Daten ausschließlich Facebook<br />

oder – zusätzlich – auch die Betreiber solcher<br />

Fanpages verantwortlich seien. Nur wenn der<br />

Betreiber zusätzlich zu Facebook verantwortlich<br />

wäre, hätte auch er datenschutzrechtliche (Informations-)Pflichten,<br />

die seit dem 25.5.<strong>2018</strong> nach der<br />

DSGVO gelten, zu beachten. Zu dieser Fragestellung<br />

hat der EuGH eine Entscheidung getroffen<br />

(Urt. v. 5.6.<strong>2018</strong> – C-210/16), der ein Sachverhalt<br />

aus dem Jahr 2011 zugrunde lag: Eine Datenschutzbehörde<br />

hatte seinerzeit die Wirtschaftsakademie<br />

Schleswig-Holstein aufgefordert, ihre Facebook-<br />

Fanpages zu deaktivieren, da dort Nutzerdaten<br />

erfasst würden, ohne dass die Wirtschaftsakademie<br />

hierüber informiere. Das VG und das OVG<br />

Schleswig hatten dem Betreiber der Facebook-<br />

Fanpage Recht gegeben; das BVerwG hatte den<br />

Streitfall dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.<br />

Dieser bestätigte die Ansicht der Datenschutzbehörde,<br />

wonach auch der Betreiber der Facebook-Fanpage<br />

(zusammen mit Facebook) datenschutzrechtlich<br />

verantwortlich sei. Im Übrigen<br />

hat der EuGH das Verfahren zurückverwiesen.<br />

Hinweis: Das EuGH-Urteil ist auf Grundlage der<br />

bis zum 24.5.<strong>2018</strong> gültigen Rechtslage (BDSG a.F.)<br />

ergangen. Es stellt sich damit die Frage, ob dieses<br />

Urteil auch auf Basis der seit dem 25.5.<strong>2018</strong><br />

anwendbaren DSGVO Gültigkeit haben wird. Der<br />

EuGH sieht eine gemeinsame „Verantwortlichkeit“<br />

von Facebook und dem Fanpage-Betreiber als<br />

gegeben an. Der Begriff des Verantwortlichen ist<br />

nach alter (BDSG a.F.) und neuer Rechtslage<br />

(DSGVO) jedoch weitgehend identisch. Die Ausgestaltung<br />

der sog. gemeinsamen Verantwortlichkeit<br />

ist nun in Art. 26 DSGVO geregelt: Gemeinsam<br />

Verantwortliche sollen hiernach vertraglich regeln,<br />

wie und von wem die datenschutzrechtlichen<br />

Pflichten, z.B. Informationspflichten, zu erfüllen<br />

sind. Hier kann die Entschließung der sog. Datenschutzkonferenz<br />

(Konferenz der unabhängigen<br />

Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder)<br />

vom 6.6.<strong>2018</strong> herangezogen werden, die darauf<br />

hinweist, welche Aspekte ab nun „zu beachten“<br />

seien. Zum Beispiel müsse derjenige, der eine<br />

Fanpage besucht, transparent und in verständlicher<br />

Form darüber informiert werden, welche<br />

Daten zu welchen Zwecken durch Facebook und<br />

die Fanpage- Betreiber verarbeitet würden. Dies<br />

gelte sowohl für Personen, die bei Facebook<br />

registriert seien, als auch für nicht-registrierte<br />

Personen und Besucher des Netzwerks. Betreiber<br />

von Fanpages sollten sich selbst versichern, dass<br />

Facebook ihnen die Informationen zur Verfügung<br />

stelle, die zur Erfüllung der genannten Informationspflichten<br />

benötigt würden. Nach Ansicht der<br />

Datenschutzkonferenz bestehe daher zwingender<br />

Handlungsbedarf für die Betreiber von Fanpages,<br />

wobei jedoch nicht zu verkennen sei, dass Fanpage-Betreiber<br />

ihre datenschutzrechtliche Verantwortung<br />

nur erfüllen könnten, wenn Facebook<br />

1150 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Internetreport<br />

selbst an der Lösung mitwirke und ein datenschutzkonformes<br />

Produkt anbiete.<br />

Abmahnung: Keine Geltung privater<br />

Teilnahmebedingungen<br />

Zur Eindämmung von Abmahnungen hatte ein<br />

Anbieter von Rechtstexten eine Initiative mit dem<br />

Namen „FairCommerce“ (www.fair-commerce.de)<br />

ins Leben gerufen. Deren Ziel ist es u.a., dass<br />

sich Teilnehmer der Initiative zunächst kostenneutral<br />

auf Marken-, Wettbewerbs- und<br />

Urheberverstöße hinweisen, bevor dann nach<br />

fruchtlosem Ablauf einer sog. Anstandsfrist kostenpflichtig<br />

abgemahnt wird. Erst nach fruchtlosem<br />

Ablauf dieser Frist soll die Abmahnung<br />

möglich sein. Um Teil der Initiative zu werden,<br />

muss ein Händler allerdings erst ein Abonnement<br />

für ein Mitgliedschaftspaket bei dem Rechtstexte-Anbieter<br />

abschließen. Zur äußeren Erkennbarkeit<br />

der Teilnehmer wurde ein Logo (Grafik<br />

eines Handschlags mit dem Slogan „Fairness im<br />

Handel“) entwickelt und zur Verfügung gestellt. In<br />

einem Rechtsfall, der beim LG und nachfolgend<br />

beim OLG Hamburg anhängig war, waren beide Parteien<br />

Teilnehmer der Initiative „FairCommerce“.<br />

Der Abmahner beachtete die Verhaltenspflichten<br />

der Teilnahmebedingungen nicht und<br />

mahnte sogleich in vollem Umfange ab. Der<br />

Abgemahnte reklamierte die Verletzung der gemeinsam<br />

akzeptierten „FairCommerce“-Teilnahmebedingungen.<br />

Dort heißt es in § 4 Abs. 2<br />

lit. b: „Im Falle einer Rechtsverletzung wird der<br />

feststellende Teilnehmer den anderen Teilnehmer vor<br />

Einleitung kostenpflichtiger außergerichtlicher oder<br />

gerichtlicher Maßnahmen zunächst auf die Rechtsverletzung<br />

hinweisen und Gelegenheit zur Stellungnahme<br />

bzw. Beseitigung binnen 7 Tagen geben. Der<br />

Hinweis ist an die im Impressum des Teilnehmers<br />

angegebene Email-Adresse zu richten. Etwaig entstehende<br />

Kosten für diese Anzeige machen die Teilnehmer<br />

untereinander nicht geltend. Ein Verzicht auf<br />

die im Zusammenhang mit der Rechtsverletzung ggf.<br />

bestehenden sonstigen Ansprüche (Unterlassungs-,<br />

Beseitigungs-, Auskunfts- oder Schadenersatzansprüche)<br />

ist mit dieser Verfahrensweise nicht verbunden.“<br />

Da der Abmahner sich nicht an die vorstehenden<br />

Regeln gehalten habe, sei seine Abmahnung<br />

rechtsmissbräuchlich i.S.d. § 8 Abs. 4 UWG, so<br />

argumentierte das abgemahnte Unternehmen.<br />

Das OLG Hamburg (Beschl. v. 29.5.<strong>2018</strong> – 3W<br />

39/18) sah das anders. Die „FairCommerce“-<br />

Regeln seien insofern rechtlich für den Fall nicht<br />

relevant. Insbesondere sei damit kein Verzicht auf<br />

einen Unterlassungsanspruch verbunden. Auf die<br />

Frage, wo und wie auf der Webseite des Abgemahnten<br />

auf „FairCommerce“ aufmerksam gemacht<br />

wurde, kam es für das Gericht nicht mehr<br />

an: „Die Mitgliedschaft beider Parteien in der Fair-<br />

Commerce-Initiative steht der Geltendmachung des<br />

vorliegenden Unterlassungsanspruchs nicht entgegen.<br />

Denn gemäß § 4 Abs. 2 lit. b der Teilnahmeregeln sind<br />

die in § 4 der Teilnahmeregeln enthaltenen Verhaltenspflichten<br />

im Hinblick auf die Abmahnung anderer<br />

Mitglieder der Initiative schon nicht mit einem Verzicht<br />

auf die mit der Rechtsverletzung verbundenen Unterlassungsansprüche<br />

verbunden (Anlage 8). Auf die<br />

Frage, ob die Antragsgegner auf ihrer Internetseite<br />

hinreichend auf ihre Mitgliedschaft in der Fair-Commerce-Initiative<br />

hingewiesen haben, kommt es danach<br />

nicht mehr an.“<br />

Grundpreisangabepflicht: Einhaltung der<br />

Vorschriften<br />

Fall 1: In einem Rechtsstreit beim LG Frankfurt/M.<br />

und nachfolgend beim OLG Frankfurt ging es<br />

um die Geltendmachung eines Vertragsstrafenanspruchs<br />

infolge einer wettbewerbsrechtlichen<br />

Verpflichtung zur Einhaltung der Vorschriften<br />

über die Grundpreisangabepflicht (§ 2 PAngV).<br />

Der Kläger hatte Angebote der Beklagten betreffend<br />

Kabelboxen und Kabeltrommeln beanstandet,<br />

weil der Grundpreis für die Länge der Kabel<br />

fehlte. Das OLG Frankfurt (Beschl. v. 20.6.<strong>2018</strong> –<br />

6 U 99/17) ging nicht von einer Grundpreisangabepflicht<br />

aus, da die Trommel bzw. Box, die<br />

zur Aufnahme der Kabel dient, eine eigenständige<br />

Bedeutung für das Warenangebot hat. Dazu<br />

führte das Gericht aus: „In der Sache selbst ist<br />

der Senat allerdings der Auffassung, dass aus den<br />

vom Landgericht angeführten Gründen Angebote von<br />

Kabeltrommeln und Kabelboxen gemäß Anlage K 2<br />

nicht der Verpflichtung zur Grundpreisangabe gem.<br />

§ 2 I PAngV unterliegen und damit auch nicht von der<br />

Unterlassungsverpflichtung aus der Erklärung vom<br />

29.8.2016 erfasst werden. Die dem reibungslosen Abund<br />

Aufwickeln dienende, mit Anschlüssen versehene<br />

Trommel bzw. Box kann nicht nur als Verpackung der<br />

Kabel angesehen werden, sondern hat für den angesprochenen<br />

Verbraucher eine eigenständige Bedeutung,<br />

die den Wert des Gesamterzeugnisses wesentlich<br />

mitbestimmt. Unter diesen Umständen wäre eine auf<br />

das Kabel bezogene Grundpreisangabe, die anteilig<br />

auch den Kaufpreis für die Trommel bzw. Box enthielte,<br />

für einen Preisvergleich ohne Aussagekraft.“ Bei<br />

Angeboten von Kabeltrommeln bzw. Kabelboxen<br />

ist zwar häufiger die Angabe des Grundpreises<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1151


Internetreport<br />

<strong>ZAP</strong><br />

festzustellen. Nach der o.g. Entscheidung ist dies<br />

aber eher verwirrend als nützlich für den Verbraucher.<br />

Fall 2: Mit der Grundpreis-Thematik in<br />

einem ähnlichen Zusammenhang hatte sich auch<br />

das LG Koblenz beschäftigt (Urt. v. 24.10.2017 –<br />

9 O 111/16): Ein Unternehmen hatte in seiner<br />

Werbung für Kaffee-Kapseln verschiedener Hersteller<br />

geworben, die jeweils in 10er Packungen<br />

abgepackt waren. Die Verpackungen wiesen<br />

zwar eine Gewichtsangabe auf, jedoch keinen<br />

Grundpreis für den in den Kapseln enthaltenen<br />

Kaffee. Diese fehlende Grundpreisangabe wurde<br />

von einem Wettbewerbsverband beanstandet.<br />

Der betroffene Unternehmer argumentierte, dass<br />

die Kunden die Kaffee-Kapseln nicht nach Gewicht,<br />

sondern nach Stück kaufen würden, so<br />

dass die Angabe der Menge des Kaffees in der<br />

Kapsel nicht relevant sei. Diese Ansicht teilte das<br />

LG Koblenz jedoch nicht und gab dem Wettbewerbsverband<br />

Recht. Es bestehe ein Bedürfnis<br />

der Verbraucher, u.a. den Kaffee in Kapselform<br />

mit Kaffee in loser Verpackung, der immer nach<br />

Gewicht angeboten werde (und bei dem der<br />

Grundpreis unstreitig anzugeben sei), zu vergleichen.<br />

Ein solcher gesetzlich geforderter Vergleich<br />

der Grundpreise sei jedoch nicht möglich, wenn<br />

bei Kaffee-Kapseln keine Grundpreisangabe erfolge.<br />

Verbraucherrecht: Lieferzeit-Angabe<br />

„bald verfügbar“<br />

Nach Art. 246a § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 7, § 4 Abs. 1<br />

EGBGB ist der Unternehmer verpflichtet, dem<br />

Verbraucher den Termin, bis zu dem der<br />

Unternehmer die Waren liefern muss, in klarer<br />

und verständlicher Weise zur Verfügung zu<br />

stellen. Vor dem Hintergrund dieser Regelung<br />

werden von Händlern gewählte Formulierungen<br />

zu Lieferterminen regelmäßig geprüft. Bekanntlich<br />

ist die Verwendung der Formulierung „in der<br />

Regel“, z.B. „Lieferung in der Regel binnen 5<br />

Tagen nach Geldeingang“, unwirksam und damit<br />

unzulässig (vgl. u.a. LG Köln, Urt. v. 19.9.<strong>2018</strong> –<br />

84 O 106/18; LG Bochum, Beschl. v. 15.2.<strong>2018</strong> –<br />

I-12 O 29/18). Das OLG München hatte kürzlich<br />

darüber zu entscheiden, ob die Formulierung<br />

„Der Artikel ist bald verfügbar“ hinreichend<br />

bestimmt ist, und gelangte zur Auffassung,<br />

dass diese Formulierung mit den o.g. gesetzlichen<br />

Vorgaben nicht vereinbar sei (Urt. v.<br />

17.5.<strong>2018</strong> – 6 U 3815/17). Die Angabe „bald<br />

verfügbar“ bedeute lediglich, dass die Lieferung<br />

– sinngemäß betrachtet – demnächst erfolge,<br />

einen konkreten Liefertermin oder eine konkrete<br />

Angabe, aufgrund derer eine Berechnung der<br />

Lieferzeit möglich sei, enthalte die Formulierung<br />

nicht.<br />

Verbraucherrecht: Zulässigkeit „verlängerter“<br />

Rabattaktionen<br />

Bei Rabattaktionen entstehen – ähnlich wie bei<br />

der Werbung mit Testergebnissen – regelmäßig<br />

rechtliche Probleme. Insbesondere bei der Durchführung<br />

von (befristeten) Rabattaktionen ist<br />

Vorsicht geboten, da die Rechtsprechung insofern<br />

konkrete Vorgaben gemacht hat. Fall 1:<br />

Nach einer Entscheidung des LG Dortmund (Urt.<br />

v. 14.6.2017 – 10 O 13/17) ist es unzulässig, wenn<br />

eine Rabattaktion aufgrund von Umständen<br />

verlängert wird, die für den Unternehmer bei<br />

Anwendung fachlicher Sorgfalt vorhersehbar<br />

waren und daher bei Planung der Rabattaktionen<br />

berücksichtigt werden können. Fall 2: Das OLG<br />

München hatte sich ebenfalls mit dieser Thematik<br />

zu beschäftigen (Urt. v. <strong>22</strong>.3.<strong>2018</strong> – 6 U 3026/17):<br />

Die Leitsätze der Wettbewerbszentrale, die dieses<br />

Verfahren angestrengt hatte, lauteten: „Werden<br />

nach einer zeitlich begrenzten Verkaufsaktion die<br />

beworbenen Waren noch zu den angekündigten<br />

Aktionspreisen weiter zum Verkauf angeboten, liegt<br />

eine Irreführung vor. Ebenso ist es irreführend, auf<br />

höhere Bezugspreise bei Preisreduzierungen Bezug zu<br />

nehmen, sofern die Waren unmittelbar zuvor nicht zu<br />

den angegebenen höheren Bezugspreisen tatsächlich<br />

angeboten wurden.“ Im Hinblick auf die Dauer der<br />

Rabattaktion hatte das OLG München eine<br />

relevante Irreführung i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 1 UWG<br />

angenommen. Es hat hierzu ausgeführt: „Dies gilt<br />

grundsätzlich auch für eine unrichtige Angabe des<br />

Zeitraumes, in dem ein Rabatt, also ein besonders<br />

günstiger Preis, gewährt wird, denn durch die zeitliche<br />

Begrenzung der Gewährung des herabgesetzten Preises<br />

wird der Verbraucher in Bezug auf seine etwaige<br />

Kaufentscheidung unter zeitlichen Druck gesetzt (…).<br />

Dass ein zeitlicher Druck auf die Kaufentscheidung<br />

grundsätzlich ein wettbewerbsrechtlicher relevanter<br />

Gesichtspunkt ist, ergibt sich auch aus Nr. 7 des<br />

Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG (…). Auch wird der Verkehr<br />

bei befristeten Rabattaktionen stark angelockt und<br />

zum Verkauf herausgefordert (…).“<br />

1152 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 171<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/zap/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Zahnarzthaftung: Kein Honoraranspruch bei fehlerhafter Leistung<br />

(BGH, Urt. v. 13.9.<strong>2018</strong> – III ZR 294/16) • Bei einer schuldhaften Fehlleistung des Arztes hat der Patient<br />

einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 BGB. Ist die fehlerhafte Leistung des Arztes für den<br />

Patienten ohne Interesse und völlig unbrauchbar, besteht der (Mindest-)Schaden des Patienten darin,<br />

dass er für eine im Ergebnis unbrauchbare ärztliche Behandlung eine Vergütung zahlen soll. In diesem<br />

Fall ist der Schadensersatzanspruch unmittelbar auf Befreiung von der Vergütungspflicht gerichtet ist,<br />

wenn weder der Patient noch seine Versicherung bereits bezahlt haben. Fehlerhaft eingesetzte<br />

Implantate sind objektiv und subjektiv völlig wertlos im Sinne des § 628 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB, wenn es<br />

keine dem Patienten zumutbare Behandlungsvariante gibt, die zu einem wenigstens im Wesentlichen<br />

den Regeln der zahnärztlichen Kunst entsprechenden Zustand hinreichend sicher führen könnte. Der<br />

Umstand, dass der Patient einzelne Implantate als Notmaßnahme zur Vermeidung eines eventuell noch<br />

größeren Übels weiterverwendet, ändert nichts an der völligen Unbrauchbarkeit der zahnärztlichen<br />

Leistung und dem Entfallen der Vergütungspflicht insgesamt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 628/<strong>2018</strong><br />

Verbraucherschlichtungsverfahren: Bereitschaft und Verpflichtung zur Teilnahme<br />

(OLG Celle, Urt. v. 24.7.<strong>2018</strong> – 13 U 158/17) • Nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 Verbraucherstreitbeilegungsgesetz<br />

(VSBG) hat ein Unternehmer, der eine Webseite unterhält oder Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />

verwendet, den Verbraucher leicht zugänglich, klar und verständlich in Kenntnis davon zu setzen,<br />

inwieweit er bereit oder verpflichtet ist, an Streitbeilegungsverfahren vor einer Verbraucherschlichtungsstelle<br />

teilzunehmen. Die „Bereiterklärung“ des Unternehmers i.S.v. § 36 Abs. 1 Nr. 1 VSBG in seinen<br />

AGB führt nicht dazu, dass sich der Unternehmer zur Teilnahme am Verbraucherschlichtungsverfahren<br />

i.S.v. § 36 Abs. 1 Nr. 2 VSBG verpflichtet hat und löst deshalb nicht die dort statuierten weitergehenden<br />

Informationspflichten aus. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 629/<strong>2018</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Grundstückskaufvertrag: Arglistiges Verschweigen erkennbarer Feuchtigkeitsmängel<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.9.<strong>2018</strong> – 24 U 185/17) • Behauptet der Käufer einer Immobilie bei ausgeschlossener<br />

Sachmängelhaftung, Mängel seien nicht erkennbar gewesen und der Verkäufer habe ihn<br />

arglistig darüber nicht aufgeklärt, muss der Käufer die negative Tatsache beweisen, nicht aufgeklärt<br />

worden zu sein. Im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast muss der Verkäufer lediglich vortragen,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1153


Fach 1, Seite 172 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

wann, wie und wo er aufgeklärt haben will. Für die negative Tatsache, dass Mängel erkennbar waren, gilt<br />

nichts anderes. Der Verkäufer muss in einem derartigen Fall nur angeben, dass der Mangel seiner Art nach<br />

unabhängig vom Zeitpunkt und der Dauer der Besichtigung für jeden potenziellen Käufer ebenso sichtbar<br />

war. Hinweis: Das OLG macht deutlich, dass der Käufer die Darlegungs- und Beweislast für den<br />

subjektiven Tatbestand der Arglist trägt. Dass eine Partei eine innere Tatsache zu beweisen hat und die<br />

Führung dieses Beweises Schwierigkeiten bereitet, führt nicht ohne Weiteres zu Beweiserleichterungen.<br />

Voraussetzung ist, dass es der Verkäufer zumindest für möglich hält, dass der Käufer den Mangel nicht<br />

erkennt. Dies bildet die für den Arglisttatbestand erforderliche subjektive Seite. Dem Verkäufer obliegt es<br />

im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, die Umstände aufzuzeigen, aufgrund derer er trotz<br />

unterbliebener eigener Aufklärung davon ausgegangen ist, der Käufer habe Kenntnis von dem Mangel<br />

erlangt (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2010 – V ZR 181/09). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 630/<strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Mieterhöhungserklärung: Wirksamkeitsvoraussetzungen<br />

(BGH, Beschl. v. 25.9.<strong>2018</strong> – VIII ZR 121/17) • Der Einwand des Mieters, dass eine nachhaltige Einsparung von<br />

Heizenergie infolge von Baumaßnahmen weder zu erwarten gewesen noch tatsächlich eingetreten sei, berührt<br />

nicht die formelle Wirksamkeit eines Mieterhöhungsverlangens aufgrund einer baulichen Maßnahme<br />

zur Einsparung von Heizenergie. Diesbezüglich ist es bei baulichen Maßnahmen zur Einsparung von Heizenergie<br />

ausreichend, dass der Vermieter – neben einer schlagwortartigen Bezeichnung der Maßnahme und<br />

der Zuordnung zu den Positionen der Berechnung – diejenigen Tatsachen darlegt, anhand derer überschlägig<br />

beurteilt werden kann, ob die bauliche Änderung eine nachhaltige Einsparung von Heizenergie<br />

bewirkt. Ob die besagten Maßnahmen tatsächlich eine nachhaltige Einsparung von Energie bewirken<br />

(können), betrifft demgegenüber allein die materielle Wirksamkeit der betreffenden Mieterhöhung.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 631/<strong>2018</strong><br />

Eigenbedarfskündigung: Nutzung als Zweit-/Ferienwohnung<br />

(BGH, Beschl. v. 21.8.<strong>2018</strong> – VIII ZR 186/17) • Grundsätzlich kann auch die vom Vermieter beabsichtigte<br />

Nutzung der dem Mieter überlassenen Räume als Zweitwohnung eine Eigenbedarfskündigung nach § 573<br />

Abs. 2 Nr. 2 BGB rechtfertigen. Der Tatbestand des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB, wonach die Räume „als Wohnung“<br />

benötigt werden müssen, setzt nicht voraus, dass der Vermieter oder eine der sonstigen in § 573 Abs. 2 Nr. 2<br />

BGB genannten privilegierten Personen in der dem Mieter überlassenen Wohnung den Lebensmittelpunkt<br />

begründen wollen. Der Eigennutzungswunsch muss jedoch ernsthaft verfolgt werden, von vernünftigen,<br />

nachvollziehbaren Gründen getragen und darf nicht missbräuchlich sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 632/<strong>2018</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Bauvertrag: Schadensbemessung bei Nichtbeseitigung eines Mangels<br />

(OLG Frankfurt, Urt. v. 31.8.<strong>2018</strong> – 13 U 191/16) • Behält der Besteller das Werk und lässt den Mangel nicht<br />

beseitigen, kann der Schaden ausgehend von der für das Werk vereinbarten Vergütung anhand der<br />

Vergütungsanteile bemessen werden, die auf die mangelhafte Leistung entfallen. Ergeben sich die<br />

Vergütungsanteile, die auf die mangelhafte Leistung entfallen, nicht aus dem Bauvertrag, sind sie gem.<br />

§ 287 ZPO zu schätzen. Bei der Schadensschätzung ist das dem Besteller verbleibende Material, soweit<br />

diesem noch ein wirtschaftlicher Wert zukommt, zu berücksichtigen. Eine Anrechnung einer etwaigen<br />

Entschädigungsleistung setzt voraus, dass die dem Geschädigten zuzurechnenden Vorteile in einem<br />

adäquaten Zusammenhang mit dem Schadensereignis stehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 633/<strong>2018</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Reiserecht: Fluglotsenstreik als außergewöhnlicher Umstand<br />

(LG Kleve, Urt. v. 7.6.<strong>2018</strong> – 6 S 1<strong>22</strong>/17) • Ist eine Annullierung nach Art. 5 Abs. 3 FluggastVO<br />

gerechtfertigt, hat die Fluggesellschaft sie nicht nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB zu vertreten. Es ist keine<br />

1154 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 173<br />

zumutbare Maßnahme zur Abwendung einer Annullierung, wenn durch sie der Flug nur mit einer mehr<br />

als dreistündigen Verspätung durchgeführt werden kann, weil die Fluggesellschaft dann wegen der<br />

Sturgeon-Rechtsprechung des EuGH denselben Ansprüchen der Passagiere ausgesetzt ist wie bei einer<br />

Annullierung. Die „Vieraugengespräch-Rechtsprechung“ des EGMR enthebt die beweisbelastete Partei<br />

nicht, überhaupt einen ordnungsgemäßen Beweis im Sinne der Zivilprozessordnung anzutreten. Sie ist<br />

daher beweisfällig, wenn sie allein ihre eigene Anhörung nach § 141 ZPO oder ihre eigene Vernehmung<br />

nach § 448 ZPO als Beweis anbietet, den bei der Gegenpartei beschäftigten Zeugen aber nicht benennt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 634/<strong>2018</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Eigentumsstörung: Rechtsmittelbeschwer<br />

(BGH, Beschl. v. 12.7.<strong>2018</strong> – VZB218/17)• Bei Abweisung einer Klage auf Beseitigung einer Eigentumsstörung<br />

richtet sich das für die Rechtsmittelbeschwer maßgebliche Interesse des Eigentümers, wenn sich die Störung<br />

nach Art bzw. Umfang nicht in einer Wertminderung der Sache niederschlägt, ausnahmsweise nach<br />

den Kosten, die dem Eigentümer durch die Störung entstehen und die ohne diese nicht angefallen wären.<br />

Maßgebend für den Wert der Beschwer im Rechtsmittelverfahren ist das Interesse des Rechtsmittelklägers<br />

an der Abänderung der angefochtenen Entscheidung. Der Wert einer Beseitigungsklage wird allgemein<br />

durch das Interesse des Eigentümers an der Beseitigung bestimmt. Dieses bemisst sich bei der Störung von<br />

Grundeigentum grds. nach dem Wertverlust, den die Sache durch die Störung erleidet.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 635/<strong>2018</strong><br />

WEG: Ansprüche einzelner Wohnungseigentümer gegen den Verwalter<br />

(BGH, Urt. v. 8.6.<strong>2018</strong> – V ZR 125/17) • Schadensersatzansprüche einzelner Eigentümer, die aus der<br />

Verletzung einer Pflicht bei der Umsetzung eines Beschlusses der Wohnungseigentümer rühren, können<br />

nicht gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft geltend gemacht werden. Hinweis: Der Verwalter<br />

ist verpflichtet, die Beschlüsse der Wohnungseigentümer umzusetzen. Eine Pflichtverletzung des<br />

Verwalters begründet daher keinen Schadensersatzanspruch des einzelnen Eigentümers gegen die<br />

Wohnungseigentümergemeinschaft. Ansprüche aus der Pflichtverletzung bei der Durchführung von<br />

Beschlüssen müssen gegen den Verwalter geltend gemacht werden. Handwerker etc., die der Verwalter<br />

beauftragt hat, haften gegenüber dem Eigentümer direkt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 636/<strong>2018</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Kapitalanlage: Haftung für Aufklärungsverschulden<br />

(BGH, Urt. v. 24.7.<strong>2018</strong> – II ZR 305/16) • Einen Altgesellschafter trifft diePflicht, einem Beitrittsinteressenten<br />

für seine Beitrittsentscheidung ein zutreffendes Bild über das Beteiligungsobjekt zu vermitteln und ihn über<br />

alle Umstände, die für seine Anlageentscheidung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, insb.<br />

über die mit der angebotenen speziellen Beteiligungsform verbundenen Nachteile und Risiken, zutreffend,<br />

verständlich und vollständig aufzuklären. Der aufklärungspflichtige Altgesellschafter, der sich zu den<br />

vertraglichen Verhandlungen über einen Beitritt eines von der Komplementärin der Fondsgesellschaft<br />

eingeschalteten Vertriebs bedient und daher diesem oder von diesem eingeschalteten Untervermittlern die<br />

von ihm geschuldete Aufklärung der Beitrittsinteressenten überlässt, haftet dabei über § 278 BGB für deren<br />

unrichtige oder unzureichende Angaben. Er muss sich das Fehlverhalten von Personen, die er mit den<br />

Verhandlungen zum Abschluss des Beitrittsvertrags ermächtigt hat, zurechnen lassen. Hinweis: Der BGH<br />

verweist zur Begründung auf seine st. Rspr., wonach derjenige, der eine Aufklärungs- oder Beratungspflichtverletzung<br />

behauptet, die Darlegungs- und Beweislast trägt. Die andere Partei muss im Rahmen ihrer<br />

sekundären Darlegungslast die behauptete Fehlberatung substantiiert bestreiten und darlegen, wie sie im<br />

Einzelnen beraten bzw. aufgeklärt worden sein soll. Der Anspruchsteller muss dann nachweisen, dass diese<br />

Darstellung nicht zutrifft. Diese Grundsätze gelten auch für behauptete Aufklärungs- und Beratungsmängel<br />

im Zusammenhang mit einer Kapitalanlage (BGH, Urt. v. 19.10.2017 – III ZR 565/16; v. 5.5.2011 – III ZR 84/10;<br />

v. 24.1.2006 – XI ZR 320/04). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 637/<strong>2018</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1155


Fach 1, Seite 174 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Geschwindigkeitsüberschreitung: Natürliche Handlungseinheit<br />

(OLG Koblenz, Beschl. v. 24.9.<strong>2018</strong> – 1 OWi 6 SsBs 99/18) • Verstößt der Betroffene in einem Zeitraum<br />

von einer Minute in einem Autobahnabschnitt fortlaufend gegen eine mehrfach angeordnete<br />

gleichbleibende Geschwindigkeitsbegrenzung, handelt es sich im Hinblick auf den engen räumlichen<br />

und zeitlichen Zusammenhang um ein einziges zusammengehöriges Tun, also um eine natürliche<br />

Handlungseinheit und damit nur um eine Tat (§ 19 OWiG). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 638/<strong>2018</strong><br />

Kfz-Versicherung: Entkräftung des äußeren Bilds eines Fahrzeugdiebstahls<br />

(OLG Celle, Urt. v. 24.9.<strong>2018</strong> – 8 U 73/18) • Tritt der Kaskoversicherer dem vom Versicherungsnehmer<br />

behaupteten äußeren Bild eines Fahrzeugdiebstahls mit der Behauptung hiermit nicht in Einklang<br />

stehender Standortdaten (GPS-Daten) des versicherten Fahrzeugs entgegen und beantragt er zum<br />

Beweis seiner Behauptung, dem Fahrzeughersteller die Vorlage dieser Daten aufzugeben, muss er das<br />

Vorhandensein der Daten beim Hersteller glaubhaft machen. Hinweis: Das OLG weist darauf hin, dass<br />

die zunächst unterbliebene Übersendung des vollständigen Schlüsselsatzes nicht automatisch die<br />

Redlichkeit des Versicherungsnehmers in Frage stellt. Denn auch ein redlicher Versicherungsnehmer<br />

kann nach Ansicht des OLG – insb. während einer längeren Besitzdauer – den Schlüssel so verlegt<br />

haben, dass er ihn nicht wiederfindet und deshalb keine plausible Erklärung über den Verbleib des<br />

Schlüssels geben kann. Wenn der Versicherungsnehmer nicht in der Lage ist, sämtliche Originalschlüssel<br />

vorzulegen, kann dies auf vielen anderen Gründen beruhen als dem, dass der Versicherungsnehmer<br />

einem Dritten den Schlüssel aushändigte, der das Fahrzeug im Einverständnis des Versicherungsnehmers<br />

wegschaffte (BGH, Urt. v. 17.5.1995 – IV ZR 279/94). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 639/<strong>2018</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Lebensversicherung: Bereicherungsrechtlicher Rückgewähranspruch<br />

(OLG Brandenburg, Urt. v. 11.7.<strong>2018</strong> – 11 U 185/11) • Hat ein Versicherungsnehmer einen Anspruch auf<br />

Prämienrückzahlung, weil der Versicherungsvertrag der Parteien infolge seines rechtzeitigen Widerspruchs<br />

nicht wirksam zustande gekommen ist, so umfasst der bereicherungsrechtliche Rückgewähranspruch<br />

nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien. Vielmehr muss sich der Versicherungsnehmer<br />

bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrags<br />

genossenen Versicherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes kann unter<br />

Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden; bei Lebensversicherungen kann etwa dem<br />

Risikoanteil Bedeutung zukommen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 640/<strong>2018</strong><br />

Familienrecht<br />

Betreuungsrecht: Nutzung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten<br />

(BGH, Beschl. v. 27.6.<strong>2018</strong> – XII ZB 601/17) • Das Betreuungsgericht hat im Rahmen der Anhörung des<br />

Betroffenen auch nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten mit ihm zu nutzen. Hinweis: Der BGH hat<br />

sich u.a. mit der Rücksichtnahme auf einen negativen Betreuerwunsch des Betroffenen in Bezug auf<br />

einen konkreten Angehörigen befasst. Beschränkt sich die Ablehnung auf ganz bestimmte Personen,<br />

ohne dass die Betreuung als solche verhindert werden soll, ist die in der Ablehnung ausgedrückte<br />

Aversion ein starkes Indiz dafür, dass der Betroffene zu dieser Person kein Vertrauen hat und daher die<br />

persönlichen Voraussetzungen einer Betreuung nicht gegeben sind (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – XII<br />

ZB 384/12). Der negative Betreuerwunsch, der sich auf eine bestimmte Person aus dem persönlichen<br />

Umfeld des Betroffenen bezieht, lässt daher i.d.R. auch die gesetzliche Favorisierung der Angehörigen<br />

zurücktreten. Letztlich kommt es auf eine Gesamtbeurteilung an. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 641/<strong>2018</strong><br />

1156 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 175<br />

Kindesunterhalt: Investitionsabzugsbetrag bei Selbstständigen<br />

(OLG Brandenburg, Beschl. v. <strong>22</strong>.5.<strong>2018</strong> – 10 UF <strong>22</strong>/16) • Ein zeitnaher Mehrjahresdurchschnitt ist bei<br />

Selbstständigen bei der Bemessung eines Unterhaltsanspruchs für die Zukunft zwar grds. notwendig.<br />

Bei der Berechnung des Unterhalts für die Vergangenheit können aber die in dem jeweiligen<br />

Kalenderjahr erzielten Einkünfte herangezogen werden. Reicht das vorhandene Einkommen aus<br />

selbstständiger Tätigkeit zur Erfüllung der Unterhaltspflicht nicht aus, so trifft den Unterhaltsschuldner<br />

die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen, insb. seine Arbeitskraft so gut wie möglich<br />

einzusetzen und eine einträgliche Erwerbstätigkeit auszuüben. Dabei kann einem selbstständigen<br />

Unternehmer, der nur ein Einkommen unterhalb der Leistungsfähigkeitsgrenze erwirtschaftet, die<br />

Aufgabe des Unternehmens und die Aufnahme einer abhängigen Arbeit zugemutet werden, wenn er<br />

sonst auf längere Zeit nicht zu Unterhaltsleistungen in der Lage ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 642/<strong>2018</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Urlaubsanspruch: Vererbbarkeit des Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub<br />

(EuGH, Urt. v. 6.11.<strong>2018</strong> – C-569/16 u. C-570/16) • Die Erben eines verstorbenen Abeitnehmers können von<br />

dessen ehemaligem Arbeitgeber eine finanzielle Vergütung für den von dem Arbeitnehmer nicht<br />

genommenen bezahlten Jahresurlaub verlangen. Der Anspruch des verstorbenen Arbeitnehmers auf eine<br />

finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub kann nämlich im Wege der Erbfolge<br />

auf seine Erben übergehen. Hinweis: Die Entscheidung erging auf die Vorlage durch das BAG, das nun<br />

seine Rspr. ändern muss. Bislang waren die deutschen Arbeitsrichter nämlich der Auffassung, dass eine<br />

Vererbbarkeit von Urlaubsansprüchen für Erben nur möglich ist, wenn bei dem Verstorbenen ein<br />

Urlaubsabgeltungsanspruch bereits entstanden war, d.h. letzterer nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses<br />

noch gelebt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 643/<strong>2018</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Gehörsverletzung: Anspruch auf Stellung von Fragen an den Sachverständigen<br />

(BGH, Beschl. v. 10.7.<strong>2018</strong> – VI ZR 580/15) • Für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur<br />

mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten ist, kommt es nicht darauf an, ob<br />

das Gericht noch Erläuterungsbedarf sieht oder ob ein solcher von einer Partei nachvollziehbar dargetan<br />

worden ist. Nach st. Rspr. des Senats hat die Partei zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach<br />

§§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung<br />

der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann. Dieses Antragsrecht besteht<br />

unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO (st. Rspr.). Hinweis: Äußerungen medizinischer Sachverständiger sind<br />

kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen. Das gilt sowohl für Widersprüche<br />

zwischen einzelnen Erklärungen desselben Sachverständigen als auch für Widersprüche zwischen<br />

Äußerungen mehrerer Sachverständiger, selbst wenn es dabei um Privatgutachten geht. Der Tatrichter<br />

darf den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch<br />

nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 644/<strong>2018</strong><br />

Streitgenossenschaft: Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 25.6.<strong>2018</strong> – 32 SA 67/17) • Vereinbaren die Parteien in Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />

zulässigerweise einen ausschließlichen Gerichtsstand, kann der an die Gerichtsstandvereinbarung<br />

gebundene Kläger keinen hiervon abweichenden besonderen Gerichtsstand wählen. In diesem<br />

Fall hat der Kläger auch nicht das Recht, die Gegenpartei mithilfe einer Gerichtsstandbestimmung vor ein<br />

anderes Gericht zu zwingen. Dies schließt es jedoch nicht aus, in einem Gerichtsstandbestimmungsverfahren<br />

im Einzelfall das im Verhältnis zu einem Streitgenossen prorogierte Gericht auch hinsichtlich des<br />

anderen Streitgenossen als zuständig zu bestimmen. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts als<br />

solches erfolgt nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten und gemäß der Prozesswirtschaftlichkeit im Wege<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1157


Fach 1, Seite 176 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

der Ermessensentscheidung, wobei dem räumlichen Schwerpunkt eines Rechtsstreits besonderes<br />

Gewicht beizumessen ist. Dabei gilt der Grundsatz, dass regelmäßig nur ein Gericht bestimmt werden<br />

kann, bei dem wenigstens einer der Streitgenossen seinen allgemeinen Gerichtsstand hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 645/<strong>2018</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Arrest: Vollstreckungsfrist für ausländische Titel<br />

(EuGH, Urt. v. 4.10.<strong>2018</strong> – C-379/17) • Die Brüssel-I-Verordnung steht der Anwendung einer Regelung<br />

eines Mitgliedstaats, nach der für die Vollziehung eines Arrestbefehls eine Frist gilt, nicht entgegen,<br />

wenn es um einen Arrestbefehl geht, der in einem anderen Mitgliedstaat erlassen wurde und dem im<br />

Vollstreckungsmitgliedstaat Vollstreckbarkeit beigelegt worden ist. Hinweis: Die Brüssel-I-Verordnung<br />

hat zwar die Vollstreckbarerklärung ausländischer Titel in den Mitgliedstaaten der EU harmonisiert,<br />

nicht jedoch die eigentliche Vollstreckung danach. Diese richtet sich daher weiter nach nationalem<br />

Recht. Aus diesem Grund scheiterte im vorliegenden Fall eine italienische Immobilienfirma, die bei<br />

einem Grundbuchamt eines deutschen Landgerichts die Eintragung einer Hypothek erst nach Ablauf der<br />

Monatsfrist des § 929 ZPO beantragt hatte. Ihr Antrag wurde laut EuGH zu Recht als verspätet<br />

zurückgewiesen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 646/<strong>2018</strong><br />

Insolvenztabelle: Änderung eines Eintrags<br />

(BFH, Beschl. v. 5.7.<strong>2018</strong> – XI B 18/18) • Wenn für den Steuerpflichtigen im Insolvenzverfahren die<br />

Möglichkeit bestand, durch einen Widerspruch den Eintritt der Urteilswirkung des Tabelleneintrags zu<br />

verhindern, ist es grds. ermessensfehlerfrei, wenn das FA einen auf § 130 AO gestützten Antrag auf<br />

Änderung des Tabelleneintrags ablehnt. Die Feststellung zur Insolvenztabelle kann weder nach § 164<br />

Abs. 2 AO noch nach den §§ 172 ff. AO geändert werden. Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen die<br />

Steuerforderungen des FA sind durch den Widerspruch im Prüfungstermin geltend zu machen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 647/<strong>2018</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Gesellschafterversammlung: Ankündigungsfrist<br />

(OLG Jena, Beschl. v. 15.6.<strong>2018</strong> – 2 U 16/18) • Für den Beginn der dreitägigen Ankündigungsfrist des § 51<br />

Abs. 4 GmbHG ist nicht auf den Tag der Absendung der Ankündigung oder den tatsächlichen Zugang<br />

abzustellen, sondern maßgebend ist vielmehr, wann nach der üblichen Postlaufzeit spätestens mit dem<br />

Zugang des Einladungsschreibens gerechnet werden kann. Für den Beginn der dreitägigen Ankündigungsfrist<br />

ist daher bei Zustellungen im Inland eine Postlaufzeit von zwei Werktagen zugrunde zu legen.<br />

Nur dann kann mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass alle Gesellschafter von<br />

der Ankündigung Kenntnis erlangt haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 648/<strong>2018</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Störerhaftung: Unterlassungspflicht einer Rundfunkanstalt<br />

(BGH, Beschl. v. 12.7.<strong>2018</strong> – I ZB 86/17) • Muss es eine Rundfunkanstalt unterlassen, bestimmte in einem<br />

Fernsehbeitrag enthaltene Äußerungen zu verbreiten oder verbreiten zu lassen, kommt sie ihrer<br />

Unterlassungspflicht ausreichend nach, wenn sie den Fernsehbeitrag aus ihrer Mediathek entfernt und<br />

dafür sorgt, dass der Beitrag auf gängigen Suchmaschinen nicht weiter abgerufen werden kann. Denn<br />

die Tätigkeit von Suchmaschinen, die Nutzer auf im Internet verfügbare Inhalte von Unternehmen<br />

aufmerksam machen, die sich im Rahmen ihrer gewerblichen Betätigung des Internets bedienen, liegt<br />

im wirtschaftlichen Interesse dieser Unternehmen. Für das Videoportal YouTube gilt dies hingegen<br />

1158 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 177<br />

nicht. Vielmehr kann sich die dortige Veröffentlichung zum Nachteil des Internetangebots des<br />

Schuldners auswirken, weil die Einräumung einer in Konkurrenz zur Mediathek stehenden Zugriffsmöglichkeit<br />

deren Attraktivität schmälert. Daher besteht keine Pflicht zur Unterbindung der Veröffentlichung<br />

des Beitrags auf dem Videoportal YouTube durch einen Nutzer.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 649/<strong>2018</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Urlaubsanspruch: Keine Verwirkung durch unterlassenen Urlaubsantrag<br />

(EuGH, Urt. v. 6.11.<strong>2018</strong> – C-619/16 u. C-684/16) • Ein Arbeitnehmer darf seine erworbenen Ansprüche auf<br />

bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat. Weist<br />

der Arbeitgeber jedoch nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der<br />

Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage<br />

versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem<br />

Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall<br />

einer finanziellen Vergütung nicht entgegen. Hinweis: Die Entscheidung erging auf Vorlagen durch das<br />

BAG und das LAG Berlin-Brandenburg. Sie stärkt die Rechte der Arbeitnehmer weiter, indem sie eine<br />

Verwirkung durch bloße Nichteinforderung des Urlaubsanspruchs für nicht mehr zulässig erklärt.<br />

Vielmehr sei eine explizite Verzichtserklärung des Arbeitnehmers erforderlich. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 650/<strong>2018</strong><br />

AGB-Kontrolle: Betriebliche Altersvorsorge<br />

(LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.6.<strong>2018</strong> – 1 Sa 14/17) • Bei umfangreichen Klauseln wie der<br />

vorliegenden Regelung über die betriebliche Altersversorgung und der Anrechnung von anderweitigen<br />

Versorgungsleistungen stellt sich die Frage, auf welchen Gegenstand sich das „Aushandeln“ in § 305<br />

Abs. 1 S. 3 BGB beziehen muss. Ist bei einer fast zweiseitigen Klausel über die betriebliche Altersversorgung<br />

die streitige Regelung über die Modalitäten der Anrechnung einer anderen Versorgungsleistung<br />

bei Vertragsschluss nicht erörtert worden, so genügt es für das Erfordernis des „Aushandelns“<br />

bzw. des „Einflussnehmenkönnens“ i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB bzw. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB – bezogen auf<br />

die streitige Regelung – nicht, dass die Vertragsklausel in ihrer Gesamtheit ausführlich zwischen den<br />

Vertragsparteien diskutiert wurde und der Verwendungsgegner auf deren Inhalt Einfluss nehmen<br />

konnte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 651/<strong>2018</strong><br />

Sozialrecht<br />

SGB II: Leistungen für Studierende bei Fernbleiben von Veranstaltungen<br />

(BSG, Beschl. v. 4.7.<strong>2018</strong> – B 14 AS 24/18 B) • Ein Studierender ist während eines Urlaubssemesters von<br />

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht ausgeschlossen, wenn er<br />

entweder aus organisationsrechtlichen Gründen der Hochschule nicht mehr angehört oder sein<br />

Studium tatsächlich nicht betreibt. Das Fernbleiben von Veranstaltungen muss allein ausbildungsförderungsrechtlich<br />

nicht unbedingt zur Verneinung des „Besuchs einer Ausbildungsstätte“ führen,<br />

sondern es kann auch die Übung im jeweiligen Fach zu beachten sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 652/<strong>2018</strong><br />

Wegeunfall: Fehlen des erforderlichen Zusammenhangs bei Fahrt zur Arbeit<br />

(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.6.<strong>2018</strong> – L 8 U 4324/16) • Für die Annahme eines Arbeitsunfalls<br />

kommt es darauf an, mit welcher Handlungstendenz ein Versicherter zum Zeitpunkt des Unfalls den<br />

Weg zurückgelegt hat. Fährt er einige Stunde vor Arbeitsbeginn los, um in einem auf dem Arbeitsweg<br />

befindlichem Waschsalon Wäsche zu waschen, ist von einer eigenwirtschaftlichen Verrichtung<br />

auszugehen. Dies gilt auch dann, wenn sich auf dem Wäschestück zwar ein Logo des Arbeitgebers<br />

befindet, der Versicherte aber nicht dienstkleidungspflichtig ist. Hinweis: Die Zurücklegung eines Wegs<br />

kann mit gespaltener Handlungstendenz bzw. mit gemischter Motivationslage erfolgen, z.B. wenn die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1159


Fach 1, Seite 178 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

Verrichtung sowohl mit eigenwirtschaftlicher als auch mit der betrieblichen Handlungstendenz, den<br />

Beschäftigungsort zu erreichen, vorgenommen wird. Dies setzt einen inneren bzw. sachlichen Zusammenhang<br />

mit der versicherten Tätigkeit voraus, also wenn die konkrete Verrichtung hypothetisch<br />

auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre.<br />

Dabei ist nur auf die konkrete Verrichtung selbst abzustellen. Es muss die Frage beantwortet werden, ob<br />

die Verrichtung, so wie sie durchgeführt wurde, objektiv die versicherungsbezogene Handlungstendenz<br />

erkennen lässt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 653/<strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Presserecht: Prozessuale Waffengleichheit<br />

(BVerfG, Beschl. v. 30.9.<strong>2018</strong> – 1 BvR 2421/17) • Aus dem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale<br />

Waffengleichheit folgt, dass ein Gericht im Presse- und Äußerungsrecht grds. vor einer stattgebenden<br />

Entscheidung über den Antrag einer Partei der Gegenseite Recht auf Gehör gewähren muss. Auch wenn<br />

Pressesachen häufig eilig sind, folgt hieraus kein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Geltendmachung<br />

eines Unterlassungsanspruchs oder eines Gegendarstellungsrechts dem Antragsgegner verborgen bleibt.<br />

Regelmäßig besteht kein Grund, von seiner Anhörung vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung<br />

abzusehen. Hinweis: Mit dieser Begründung hat das BVerfG den Verfassungsbeschwerden eines<br />

Moderators und eines Presseverlags wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG stattgegeben,<br />

die im vergangenen Jahr per einstweiliger Verfügung zum Abdruck einer Gegendarstellung<br />

verpflichtet worden waren. Das BVerfG stellte in seiner Entscheidung klar, dass es verfassungsrechtlich<br />

geboten ist, auch den Antragsgegner vor einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen<br />

wie den Antragsteller. Insbesondere dürften richterliche Hinweise nicht einseitig ergehen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 654/<strong>2018</strong><br />

Friedhofsgebührenordnung: Festsetzung einer Verlängerungsgebühr<br />

(OVG NRW, Beschl. v. 13.6.<strong>2018</strong> – 14 A 2498/16) • Die Rechtsbeziehungen zwischen Friedhofsträger und<br />

Nutzungsrechtsinhaber beurteilen sich auch im Fall des Erwerbs einer Wahlgrabstätte nicht nach<br />

vertragsrechtlichen Grundsätzen, sondern auf der Grundlage einer Satzung, die die Benutzung des<br />

Friedhofs als öffentliche Einrichtung regelt (vgl. § 4 BestG NRW). Mit der Einräumung eines Nutzungsrechts<br />

an einem Wahlgrab wird nicht zugleich eine Entscheidung über eine (gleich lange) Ruhezeit aller<br />

damals und später dort beizusetzenden Verstorbenen getroffen. Grundsätzlich stellt jede Verlängerung<br />

eines Nutzungsrechts, die einem Berechtigten im gebührenrechtlichen Sinne zurechenbar ist, eine<br />

Leistung des Friedhofsträgers und damit eine weitere Inanspruchnahme des Friedhofs als öffentlicher<br />

Einrichtung dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 655/<strong>2018</strong><br />

Steuerrecht<br />

Umsatzsteuervorauszahlung: Berücksichtigungszeitpunkt von Leistungen<br />

(BFH, Urt. v. 27.6.<strong>2018</strong> – X R 44/16) • Umsatzsteuervorauszahlungen, die innerhalb von zehn Tagen nach<br />

Ablauf des Kalenderjahres gezahlt werden, sind auch dann im Vorjahr steuerlich abziehbar, wenn der<br />

10. Januar des Folgejahres auf einen Sonnabend oder Sonntag fällt. Hinweis: Mit diesem Urteil wendet sich<br />

der BFH gegen die Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen (Amtliches Einkommensteuer-<br />

Handbuch 2017 § 11 EStG H 11, Stichwort Allgemeines, „Kurze Zeit“). Das Urteil ist immer dann von<br />

Bedeutung, wenn der 10. Januar auf einen Sonnabend oder Sonntag fällt, das nächste Mal im Januar 2021.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 656/<strong>2018</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Strafzumessung: Ausländerrechtliche Folgen und aggressive Medienberichterstattung<br />

(BGH, Urt. v. 23.8.<strong>2018</strong> – 3 StR 149/18) • Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind grds. keine<br />

bestimmenden Strafzumessungsgründe. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung kann<br />

1160 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 179<br />

gerechtfertigt sein, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des<br />

Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen (§ 46 StGB). Des Weiteren stellt eine<br />

Medienberichterstattung über eine Straftat sowie die Person des Angeklagten – selbst wenn sie<br />

„aggressiven und vorverurteilenden“ Charakter hat – regelmäßig keinen bestimmenden Strafzumessungsgrund<br />

dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 657/<strong>2018</strong><br />

Heimtücke: Erfüllen des Mordmerkmals<br />

(BGH, Beschl. v. 10.7.<strong>2018</strong> – 3 StR 204/18) • Heimtückisches Handeln erfordert kein „heimliches“<br />

Vorgehen. Ein Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig<br />

entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff<br />

aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung<br />

ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Ein solcher Fall ist<br />

anzunehmen, wenn der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige<br />

Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei<br />

Ausführung der Tat noch fortwirken. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 658/<strong>2018</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Sicherstellung: Anfangsverdacht des Besitzes kinderpornografischer Schriften<br />

(BVerfG, Beschl. v. 20.9.<strong>2018</strong> – 2 BvR 708/18) • Steht fest, dass eine Straftat begangen wurde, kann aus<br />

einem legalen Verhalten einer Person, wie beispielsweise dem Erwerb eines Messers, ohne Weiteres auf<br />

einen Anfangsverdacht geschlossen werden. Anders zu beurteilen sind Fälle, in denen eine konkrete<br />

Straftat noch nicht bekannt ist, bestimmte legale Handlungen einer Person es jedoch nach<br />

kriminalistischer Erfahrung möglich erscheinen lassen, dass sich die Person strafbar gemacht hat.<br />

Nach der Rspr. des BVerfG kann in solchen Fällen ein Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat<br />

durch ein an sich legales Verhalten begründet werden, wenn weitere Anhaltspunkte hinzutreten.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 659/<strong>2018</strong><br />

Zeugenvernehmung: Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung<br />

(BGH, Beschl. v. 17.10.<strong>2018</strong> – 4 StR 99/18) • Die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung<br />

nach § 247 StPO für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen umfasst auch die der Vernehmung<br />

vorangegangene Belehrung der Zeugen gem. § 57 StPO über seine Wahrheitspflicht und die Möglichkeit<br />

seiner Vereidigung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 660/<strong>2018</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Kanzleiorganisation: Pflicht zur Eintragung einer Vorfrist in den Fristenkalender<br />

(BGH, Beschl. v. 13.9.<strong>2018</strong> – V ZB <strong>22</strong>7/17) • Der Anwalt muss durch allgemeine Anweisung im Rahmen<br />

der Büroorganisation sicherstellen, dass bei Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist in den<br />

Fristenkalender zugleich eine ausreichende Vorfrist eingetragen wird. Unter dieser Voraussetzung kann<br />

er, wenn in der Handakte die Hauptfrist notiert und ein Erledigungsvermerk über die Eintragung in den<br />

Fristenkalender enthalten ist, grds. davon ausgehen, dass bei der Eintragung auch die Vorfrist<br />

weisungsgemäß ermittelt und in den Fristenkalender übernommen worden ist. Die Vorfrist dient dazu,<br />

sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine<br />

ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt.<br />

Die Dauer der Vorfrist hat grds. etwa eine Woche zu betragen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 661/<strong>2018</strong><br />

Anwaltsvertrag: Kündigung wegen ungeeigneter Vertragsentwürfe<br />

(KG, Urt. v. 8.6.<strong>2018</strong> – 9 U 41/16) • Die Fehlerhaftigkeit der Vertragsentwürfe eines Rechtsanwalts kann<br />

ein vertragswidriges, die Kündigung des Vertragspartners veranlassendes Verhalten des Rechtsanwalts<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1161


Fach 1, Seite 180 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

i.S.v. § 628 Abs. 1 S. 2 BGB darstellen, welches grds. geeignet ist, im Falle der Kündigung den<br />

Vergütungsanspruch entfallen zu lassen. Ein vertragswidriges Verhalten im Sinne dieser Vorschrift setzt<br />

lediglich schuldhaftes Verhalten voraus. Es ist nicht erforderlich, dass das vertragswidrige Verhalten als<br />

schwerwiegend oder als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB anzusehen ist. Es darf sich nur nicht um<br />

eine lediglich unerhebliche Pflichtverletzung i.S.v. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB handeln, weil bestimmte<br />

schwerwiegende Rechtsfolgen, wie der Wegfall der Vergütung, bei geringfügigen Vertragsverletzungen<br />

nicht eintreten sollen (Übermaßverbot, § 242 BGB). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 662/<strong>2018</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Verfassungsgerichtsverfahren: Missbrauchsgebühr wegen falscher Angaben<br />

(BVerfG, Beschl. v. 24.9.<strong>2018</strong> – 1 BvR 1764/18) • Ein Missbrauch i.S.d. § 34 BVerfGG liegt u.a. vor, wenn<br />

gegenüber dem Bundesverfassungsgericht falsche Angaben über entscheidungserhebliche Umstände<br />

gemacht werden. Dabei genügt es, wenn die Falschangabe unter grobem Verstoß gegen die<br />

Sorgfaltspflichten erfolgt; ein vorsätzliches Verhalten oder gar eine absichtliche Täuschung ist nicht<br />

erforderlich. So liegt es etwa dann, wenn ein Verstoß des erkennenden Gerichts gegen die prozessuale<br />

Hinweispflicht gerügt wird, obwohl sich der richterliche Hinweis eindeutig dem Protokoll entnehmen<br />

lässt. Hinweis: Im vorliegenden Fall wurde die Missbrauchsgebühr i.H.v. 500 € nicht dem Beschwerdeführer,<br />

sondern seinem Rechtsanwalt auferlegt, weil diesem die falschen Angaben in der Beschwerdeschrift<br />

zuzurechnen waren und, so die Begründung des BVerfG, um ihn für die Zukunft „nachdrücklich<br />

zur sorgfältigen Prüfung der Richtigkeit seines Beschwerdevortrags anzuhalten“.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 663/<strong>2018</strong><br />

Auslieferungsverfahren: Terminsgebühr<br />

(OLG Bremen, Beschl. v. 12.9.<strong>2018</strong> – 1 Ausl A 2/18) • Für die Teilnahme des Beistands des Verfolgten im<br />

Rahmen des Auslieferungsverfahrens an einem Termin zur Vernehmung der Verfolgten vor dem<br />

Amtsgericht nach den §§ 21, <strong>22</strong> oder 28 IRG fällt keine Terminsgebühr nach VV 6102 RVG an. Das<br />

Anfallen der Terminsgebühr nach VV 6102 RVG ist lediglich für die Teilnahme an mündlichen<br />

Verhandlungen vor dem OLG vorgesehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 664/<strong>2018</strong><br />

Prozessvergleich: Festsetzung des Gegenstandswerts<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 26.4.<strong>2018</strong> – 18 W 11/18) • Der Abschluss eines neuen Mietvertrags im Rahmen<br />

eines Prozessvergleichs über eine Räumung rechtfertigt keine Erhöhung des Gegenstandswerts für den<br />

Vergleich. Dies ist der Fall, wenn das neue Mietverhältnis weder rechtshängig ist, noch sonst in Streit<br />

steht und deshalb nicht Gegenstand eines Vergleichs (im Sinne eines materiell-rechtlichen Vergleichsvertrags,<br />

mit dem im Wege gegenseitigen Nachgebens der Streit oder die Ungewissheit über – bereits<br />

bestehende – Rechtsverhältnisse beigelegt wird) sein kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 665/<strong>2018</strong><br />

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1162 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1063<br />

Haftungsverteilung<br />

Haftungsrecht<br />

Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen Abwicklung –<br />

Haftungsverteilung, Teil 1: Allgemeines<br />

Von RiBGH Dr. CHRISTIAN GRÜNEBERG, Karlsruhe<br />

Inhalt<br />

I. Einschlägige Vorschriften<br />

II. Kriterien der Haftungsabwägung<br />

1. Betriebsgefahr<br />

2. Verschuldensmomente<br />

3. Sonstige Umstände<br />

4. Bestimmung der Quote<br />

III. Abwägung bei mehreren Beteiligten<br />

1. Mehrere Schädiger<br />

2. Mehrere Geschädigte<br />

3. Bewahrungsgehilfe<br />

4. Auswirkung von Haftungsbeschränkungen<br />

IV. Quotenvorrecht des mitverantwortlichen<br />

Geschädigten<br />

I. Einschlägige Vorschriften<br />

Welche Vorschrift für die Haftungsabwägung maßgeblich ist, richtet sich danach, zwischen welchen<br />

Verkehrsteilnehmern sich der Unfall ereignet hat:<br />

• Unfall zwischen Kraftfahrzeugen: § 17 StVG;<br />

• Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Eisenbahn bzw. Straßenbahn: § 17 Abs. 4 StVG, § 13 Abs. 4 HPflG;<br />

• Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Fußgänger: § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB; bei minderjährigen<br />

Fußgängern ist § 828 Abs. 1 bis 3 BGB zu beachten;<br />

• Unfall zwischen Kraftfahrzeug und Radfahrer: § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB; bei minderjährigen<br />

Radfahrern ist § 828 Abs. 1 bis 3 BGB zu beachten;<br />

• Unfall eines Kraftfahrzeugs infolge Verletzung der einem anderen obliegenden Verkehrssicherungspflicht:<br />

§ 9 StVG i.V.m. § 254 BGB;<br />

• Unfall zwischen Radfahrern: § 254 BGB.<br />

Die Vorschriften des § 17 StVG und des § 9 StVG bzw. § 254 BGB stellen keine haftungsbegründenden<br />

Normen dar, so dass vor der Haftungsabwägung stets festzustellen ist, ob beiden Unfallbeteiligten<br />

gegenüber dem jeweils anderen kraft Gesetzes ein Ersatzanspruch zusteht (§§ 7, 18 StVG, § 823 Abs. 1<br />

BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den Geboten und Verboten der StVO; § 839 BGB etc.; s. hierzu GRÜNEBERG<br />

<strong>ZAP</strong> F. 9, S. 999 ff.). Bevor eine Haftungsverteilung nach § 17 StVG erfolgt, ist bei einem Unfall zwischen<br />

zwei Kraftfahrzeugen (A und B) deshalb die folgende Prüfungsreihenfolge zu beachten:<br />

Checkliste zur Haftungsverteilung:<br />

1. Liegen in Bezug auf A die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG vor?<br />

□ Wenn nein: keine Haftung des A.<br />

□ Wenn ja: siehe 2.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1163


Fach 9, Seite 1064<br />

Haftungsverteilung<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

2. Liegen in Bezug auf A die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 StVG (höhere Gewalt) oder des § 17 Abs. 3<br />

StVG (unabwendbares Ereignis) vor?<br />

□ Wenn ja: keine Haftung des A.<br />

□ Wenn nein: siehe 3.<br />

3. Liegen in Bezug auf B die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG vor?<br />

□ Wenn nein: volle Haftung des A.<br />

□ Wenn ja: siehe 4.<br />

4. Liegen in Bezug auf B die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 StVG (höhere Gewalt) oder des § 17 Abs. 3<br />

StVG (unabwendbares Ereignis) vor?<br />

□ Wenn ja: volle Haftung des A.<br />

□ Wenn nein: siehe 5.<br />

5. Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 2 StVG.<br />

§ 17 StVG bezieht sich nach seinem Wortlaut auf alle Ansprüche kraft Gesetzes. Er gilt daher auch für alle<br />

(konkurrierenden) deliktischen Ansprüche und unabhängig von den Haftungshöchstgrenzen der §§ 12, 12a<br />

StVG. § 17 StVG ist lex specialis gegenüber § 254 BGB und damit die Zentralnorm der Haftungsverteilung<br />

im Straßenverkehrsrecht. § 254 BGB wird also im Anwendungsbereich des § 17 StVG auch dann verdrängt,<br />

wenn lediglich deliktische Ansprüche geltend gemacht werden (BGH NZV 1994, 146). Allerdings bleibt die<br />

Schadensminderungspflicht des § 254 Abs. 2 BGB zu beachten, was vor allem bei der Schadenshöhe<br />

bedeutsam sein kann (z.B. Pflicht zur Umschulung bei unfallursächlich eingetretener Berufsunfähigkeit in<br />

der bisher ausgeübten Beschäftigung). Ansprüche aus Vertrag (z.B. Arbeitsvertrag, Beförderungsvertrag)<br />

fallen dagegen nicht unter § 17 StVG. Die Norm des § 17 StVG ist in folgenden Fällen anwendbar:<br />

• Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einem oder mehreren Haltern<br />

anderer Kraftfahrzeuge Sach- oder Personenschäden (§ 17 Abs. 1 StVG).<br />

• Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einer Person, die nicht als<br />

Kraftfahrzeughalter in Erscheinung tritt, einen Sach- oder Personenschaden (§ 17 Abs. 1 StVG).<br />

• Mindestens zwei in Betrieb befindliche Kraftfahrzeuge verursachen bei einem oder mehreren Haltern<br />

dieser Kraftfahrzeuge Sach- oder Personenschäden (§ 17 Abs. 2 StVG).<br />

• Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und einen Anhänger verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).<br />

• Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und ein Tier verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).<br />

• Ein Schaden wird durch mindestens ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht (§ 17 Abs. 4 StVG).<br />

In allen anderen Fällen greift als Abwägungsnorm § 254 BGB (über § 9 StVG) oder § 13 Abs. 4 HPflG (bei<br />

Unfällen mit einer Straßenbahn) ein. Es ist allerdings zu beachten, dass auch bei einer Abwägung nach<br />

§ 254 BGB hinsichtlich der Beteiligung eines Kraftfahrzeug die (verschuldensunabhängige) Gefährdungshaftung,<br />

also die sog. Betriebsgefahr, voll zu berücksichtigen ist (BGHZ 20, 259, 262 = NJW 1956,<br />

1067; BGHZ 26, 69, 75 = NJW 1958, 341); insoweit spricht man deshalb bei § 254 BGB statt von<br />

Mitverschulden (so an sich der Gesetzeswortlaut) von Mithaftung. Lediglich der Kfz-Eigentümer, der<br />

nicht zugleich Halter ist, muss sich die Betriebsgefahr nicht zurechnen lassen (BGHZ 173, 182 = NJW 2007,<br />

3120; BGH NJW 2017, 2352). Darüber hinaus liegt ein Verschulden i.S.d. § 254 BGB nicht nur dann vor,<br />

wenn jemand in vorwerfbarer und rechtswidriger Weise eine normierte Rechtspflicht verletzt, sondern<br />

auch in den Fällen des sog. Verschuldens gegen sich selbst, also insbesondere bei Verletzung einer<br />

Obliegenheit (BGHZ 9, 316 = NJW 1953, 977; BGHZ 34, 355 = NJW 1961, 655). Das Abwägungsergebnis<br />

wird sich daher i.d.R. von dem des § 17 StVG nicht unterscheiden.<br />

Hinweis:<br />

Für die Prüfungsreihenfolge gilt die obige Checkliste entsprechend; Gleiches gilt für die Haftung des<br />

Fahrers nach § 18 StVG (zur Abwägung s. sogleich II.).<br />

1164 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1065<br />

Haftungsverteilung<br />

II. Kriterien der Haftungsabwägung<br />

Bei der Haftungsabwägung sind folgende Bemessungsfaktoren zu unterscheiden:<br />

1. Betriebsgefahr<br />

Zu berücksichtigen ist zunächst die Betriebsgefahr der beteiligten Verkehrsteilnehmer, soweit sie einer<br />

Gefährdungshaftung unterliegen (also z.B. nicht Fuhrwerke, Radfahrer). Über den Begriff der Betriebsgefahr<br />

herrscht teilweise in der Kommentarliteratur und in der Rechtsprechung Verwirrung, ohne dass<br />

sich dies allerdings auf das Ergebnis der Haftungsabwägung auswirkt. Teilweise wird unter diesem<br />

Begriff nur die abstrakte Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs verstanden, teilweise diejenige in der<br />

konkreten Situation, teilweise liest man auch, die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs sei durch die<br />

schuldhaft fehlerhafte Fahrweise des Fahrers erhöht worden. Es sollte wie folgt unterschieden werden:<br />

Allgemeine Betriebsgefahr ist die Gesamtheit der Umstände, welche durch die Eigenart eines<br />

Kraftfahrzeugs für die übrigen Verkehrsteilnehmer die Gefahr einer Schadensverursachung darstellen,<br />

z.B. Fahrzeuggröße, Fahrzeugart, Gewicht, Fahrzeugbeschaffenheit. Ein Pkw hat deshalb im Grundsatz<br />

eine geringere allgemeine Betriebsgefahr als ein Lkw (schwerer lenkbar, längerer Bremsweg, für andere<br />

Verkehrsteilnehmer größeres Sichthindernis).<br />

Besondere Betriebsgefahr ist die Gesamtheit der Umstände, welche in der konkreten Verkehrssituation<br />

zu den obigen Umständen hinzutreten und die Gefahr einer Schadensverursachung erhöhen (BGH NJW<br />

1995, 1029), so dass hierdurch die allgemeine Betriebsgefahr erhöht wird, ohne dass bereits<br />

Verschuldensmomente hinzukommen. Ein Pkw, der auf einem Parkstreifen abgestellt ist, weist keine<br />

besondere Betriebsgefahr auf. Dagegen wird bei einem Pkw, der nach links abbiegt, allein durch diesen<br />

Vorgang die allgemeine Betriebsgefahr erhöht, weil das Linksabbiegen ein komplizierter Vorgang ist<br />

(beachten des rückwärtigen Verkehrs, beachten des Gegenverkehrs, beachten des Fußgängerverkehrs<br />

an der Einmündung, ggf. Abbremsen und Herunterschalten erforderlich, Beachtung der Rückschaupflicht;<br />

vgl. BGH NJW 2005, 1351, 1354). Gleiches gilt z.B. für einen Pkw, der ein anderes Fahrzeug<br />

überholt, aber auch bei einem Verstoß gegen eine Brillenauflage (AG Dortmund SVR <strong>2018</strong>, 260).<br />

Da die besondere Betriebsgefahr situationsbezogen ist, kann diese im konkreten Einzelfall bei einem<br />

Fahrzeug auch höher sein, welches ansonsten eine geringere (allgemeine) Betriebsgefahr aufweist. Ein<br />

Lkw hat im fließenden Verkehr eine größere Betriebsgefahr als ein Pkw; ist der Lkw aber ordnungsgemäß<br />

am Fahrbahnrand abgestellt, geht von ihm eine geringere (besondere) Betriebsgefahr aus als<br />

von einem bei Dunkelheit unbeleuchtet auf einer Schnellstraße abgestellten Pkw.<br />

2. Verschuldensmomente<br />

Verschuldensmomente sind die Umstände, die in der Person des Fahrers liegen und eine zurechenbare und<br />

für den Unfall ursächliche fehlerhafte Fahrweise darstellen. Die Sorgfaltsverletzung muss vorsätzlich oder<br />

fahrlässig erfolgen; der Verschuldensgrad spielt nur bei der Abwägung eine Rolle. Voraussetzung ist daher<br />

grundsätzlich Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit der Schädigung. Es gilt der objektive Fahrlässigkeitsmaßstab<br />

des § 276. Es können nur solche Umstände berücksichtigt werden, die unstreitig oder bewiesen<br />

sind (st. Rspr., vgl. nur BGH NJW 2017, 1177 m.w.N.); insoweit gilt § 286 ZPO und nicht § 287 ZPO (BGH NJW<br />

2007, 506; 2014, 217). Wird eine Mitverantwortlichkeit aufgrund einer Wahlfeststellung bejaht, muss bei der<br />

Abwägung von der weniger belastenden Alternative ausgegangen werden (BGH NJW 1978, 421).<br />

Die gefahrerhöhenden oder verschuldeten Umstände müssen für den Schaden kausal geworden sein.<br />

Dies ist z.B. nicht der Fall bei Fahren ohne Fahrerlaubnis bei korrekt geparktem Kraftfahrzeug (BGH VersR<br />

1962, 374) oder bei Beleuchtungsmängeln im Falle eines Unfalls bei Tageslicht. Ebenso kann die absolute<br />

Fahruntüchtigkeit eines am Unfall beteiligten Kfz-Fahrers infolge Alkoholgenusses bei der Abwägung<br />

nach § 17 StVG nur berücksichtigt werden, wenn feststeht, dass sie sich in dem Unfall niedergeschlagen hat<br />

(BGH NJW 1995, 1029; OLG Hamm NZV 1994, 19; OLG Bamberg VersR 1987, 909; a.A. OLG Celle VersR 1988,<br />

608; OLG Hamm NZV 1990, 393). Gleiches gilt z.B. für eine Übermüdung des Fahrers oder eine überhöhte<br />

Geschwindigkeit. Es ist aber zu beachten, dass solchen Gefährdungen durch Beweiserleichterungen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1165


Fach 9, Seite 1066<br />

Haftungsverteilung<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

zugunsten des Geschädigten Rechnung getragen werden kann. So spricht nach ständiger Rechtsprechung<br />

des BGH der Beweis des ersten Anscheins für die Ursächlichkeit der Trunkenheit, wenn sich<br />

der Unfall in einer Verkehrslage und unter Umständen ereignet, die ein nüchterner Fahrer hätte meistern<br />

können (BGH NJW 1995, 1029, 1030 m.w.N.).<br />

Bloß vermutetes Verschulden des Geschädigten (z.B. § 831, § 18 StVG) ist nicht zu beachten; vielmehr<br />

muss die Ursächlichkeit auch hier nachgewiesen sein (BGH LM StVG § 17 Nr. 10; OLG Frankfurt VersR<br />

1988, 296; a.A. STAUDINGER/SCHIEMANN, BGB, 2017, § 254 Rn 1<strong>22</strong>).<br />

Schließlich müssen die gefahrerhöhenden Umstände vom Schutzzweck der Norm gedeckt sein. Dies ist<br />

z.B. nicht der Fall bei Benutzung eines Zebrastreifens durch einen Radfahrer (OLG Hamm NZV 1996, 449;<br />

a.A. OLG Düsseldorf MDR 1987, 1029) oder bei der Beschädigung eines verbotswidrig geparkten Pkw<br />

durch den Abschleppunternehmer (BGH NJW 1978, 2503). Das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO<br />

schützt nur den Gegenverkehr, nicht den Einbieger (BGH MDR 1982, 47; OLG Köln VersR 1984, 645); § 9<br />

Abs. 5, § 10 S. 1 StVO schützen dagegen zwar primär den fließenden Verkehr, daneben aber auch<br />

denjenigen, der gerade auf der anderen Straßenseite ein Fahrmanöver durchführt (BGH NJW <strong>2018</strong>, 3095;<br />

weitere Beispiele s. GRÜNEBERG <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 1020 f.).<br />

Es gelten die allgemeinen Beweislastregeln (s. GRÜNEBERG <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 1015 f., dort auch zum Anscheinsbeweis).<br />

Je nach Beweislast kann deshalb ein nicht aufzuklärender Umstand bei einem Tatbestandsmerkmal<br />

zu Lasten eines Beteiligten gehen, bei einer anderen Tatbestandsvoraussetzung dagegen nicht.<br />

Ist z.B. bei einem Unfall zwischen einem Linksabbieger und einem nachfolgenden Überholer nicht<br />

feststellbar, ob der Linksabbieger rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, führt dies dazu, dass<br />

der Linksabbieger den Unabwendbarkeitsnachweis nicht wird führen können, während ihm dieser<br />

Umstand im Rahmen der Haftungsabwägung nicht zum Nachteil gereicht, weil insoweit der Unfallgegner<br />

die Beweislast für das nicht rechtzeitige Blinken trägt.<br />

3. Sonstige Umstände<br />

Neben der Verursachung, dem Verschulden und der Betriebsgefahr sind bei der Haftungsabwägung<br />

weitere Umstände i.d.R. nicht zu berücksichtigen (MüKo-BGB/OETKER, 7.Aufl., § 254 Rn 66; PALANDT/<br />

GRÜNEBERG, BGB, 78. Aufl., § 254 Rn 61; STAUDINGER/SCHIEMANN, a.a.O., § 254 Rn 112; a.A. SCHLIERF NJW 1965, 676;<br />

vgl. auch OLG Celle NJW 1979, 724). Dies gilt insbesondere für die Zahl der Haftungsgründe (BGH NJW 1957,<br />

99; VersR 1960, 609; 1969, 850), die Vermögensverhältnisse der Beteiligten, das Bestehen von<br />

Versicherungsschutz oder verwandtschaftliche Beziehungen. Alles andere würde zu einer Schadensverteilung<br />

nach reinen Billigkeitsgesichtspunkten führen. Zudem ist eine Einbeziehung der genannten<br />

Umstände nicht erforderlich, weil diese z.B. bei § 829 BGB (Vermögensverhältnisse, Versicherungsschutz)<br />

oder im Rahmen des Verschuldens (Jugendlichkeit, Verwandtschaft) hinreichend Berücksichtigung finden.<br />

Hinweis:<br />

Im Rahmen der Abwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB ist zu beachten, dass hier der Umstand der Unabwendbarkeit<br />

des Unfallereignisses einen erheblichen Abwägungsfaktor darstellt, auch wenn ihm nach §§ 7<br />

Abs. 2, 17 Abs. 3 StVG nicht die Bedeutung eines haftungsausschließenden Umstands zukommt (BGH NZV<br />

2008, 79 Rn 25 m. abl. Anm. GREGER).<br />

4. Bestimmung der Quote<br />

Die allgemeine und besondere Betriebsgefahr sowie die (unfallursächlichen) Verschuldensmomente machen<br />

zusammen den sog. Verursachungsbeitrag aus (der teilweise als Betriebsgefahr bezeichnet wird). Zu<br />

beachten ist, dass es für die einzelnen Umstände keine festen Prozentsätze gibt, die in die Haftungsabwägung<br />

einfließen. Denn die Höhe der Betriebsgefahr und der Verschuldensmomente des einen<br />

Unfallbeteiligten hängen von der Höhe der Betriebsgefahr und der Verschuldensmomente des anderen ab.<br />

Beispiel:<br />

Als Faustregel hat sich herausgebildet, dass die allgemeine Betriebsgefahr eines Pkw 20–25 % beträgt (bei<br />

Lkw 30–40 %). Dies trifft aber nur dann zu, wenn den Unfallgegner auch ein Verschulden am Unfall trifft.<br />

1166 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1067<br />

Haftungsverteilung<br />

Behaupten z.B. bei einem Kreuzungsunfall beide Pkw-Fahrer, bei Grünlicht gefahren zu sein und lässt sich<br />

die Ampelstellung nicht mehr aufklären, so haften beide Pkw-Fahrer jeweils nur mit ihrer allgemeinen<br />

Betriebsgefahr, nämlich zu je 50 %. War der Unfall für den einen Beteiligten unabwendbar, für den anderen<br />

dagegen nicht, ohne dass ihn ein Verschuldensvorwurf trifft, führt dies sogar zu dessen 100 %iger Haftung<br />

allein aus der Betriebsgefahr des von ihm geführten Fahrzeugs.<br />

Auch wenn die Bestimmung der Quote in jedem Einzelfall neu zu erfolgen hat, lassen sich gleichwohl<br />

gewisse Richtlinien entwickeln:<br />

• Bleibt der Unfallhergang ungeklärt, lässt sich also keinem Beteiligten ein Verschulden nachweisen<br />

und kann auch kein Beteiligter den Unabwendbarkeitsnachweis führen, ergibt sich bei einem Unfall<br />

zwischen zwei Pkw eine Haftungsquote von 50 % zu Lasten jedes Beteiligten, bei einem Unfall<br />

zwischen einem Lkw und einem Pkw dagegen eine Haftungsquote von 60 % zu 40 % zu Lasten des<br />

Lkw. Diese Quoten verschieben sich, wenn einem Unfallbeteiligten eine höhere besondere<br />

Betriebsgefahr anzulasten ist. Wie bei § 254 BGB ist also in erster Linie auf den Verursachungsanteil<br />

abzustellen, während der Verschuldensgrad erst in zweiter Linie in Betracht zu ziehen ist.<br />

• Ist einem Beteiligten ein unfallursächliches fahrlässiges Verschulden vorzuwerfen, während der andere<br />

Verkehrsteilnehmer lediglich den Unabwendbarkeitsnachweis nicht führen kann, wird den letzteren<br />

i.d.R. nur eine Mithaftung in Höhe der allgemeinen Betriebsgefahr von 20 % (Pkw) bis 30 % (Lkw, Bus)<br />

treffen. Auch diese Quote kann sich allerdings bei Vorliegen einer besonderen Betriebsgefahr erhöhen.<br />

• Bei schwerwiegendem Verschulden auf der einen und bloßer Betriebsgefahr auf der anderen Seite kann<br />

der schuldhaft Handelnde allein haften; die Betriebsgefahr tritt zurück (BGH NJW 1998, 1137, 1138; 2017, 1177).<br />

Unter Umständen gilt dies sogar dann, wenn den anderen Teil außer der Betriebsgefahr auch ein leichtes<br />

Verschulden trifft (vgl. BGH VersR 1960, 609; OLG München VersR 1963, 739). Das grobe Mitverschulden<br />

eines erwachsenen Fußgängers oder Radfahrers kann ebenfalls die bloße einfache Betriebsgefahr eines<br />

Kraftfahrzeugs vollständig verdrängen (OLG Köln NZV 2008, 100; KG NZV 2010, 149; OLG Hamm NJW-RR<br />

2016, 1043; OLG Celle NZV 2016, 5<strong>22</strong>). Dagegen führt das grobe Mitverschulden eines geschädigten Kindes<br />

(über 10 Jahre, vgl. § 828 Abs. 2 BGB) nur dann zu einer völligen Freistellung für die Betriebsgefahr, wenn<br />

der Sorgfaltsverstoß auch altersspezifisch besonders vorwerfbar war (BGH NZV 2007, 207).<br />

Ein schweres Verschulden ist insbesondere im Falle grober Fahrlässigkeit anzunehmen. Die grobe<br />

Fahrlässigkeit ist eine Steigerung der leichten Fahrlässigkeit und entspricht dem strafrechtlichen Begriff<br />

der Leichtfertigkeit (BGHZ 106, 204, 211 = NJW 1989, 974). Sie liegt vor, wenn die verkehrserforderliche<br />

Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird (s. Legaldefinition in § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X),<br />

schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder beiseite geschoben werden<br />

und das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall sich jedem aufgedrängt hätte (st. Rspr., vgl. nur<br />

BGHZ 10, 14, 16; BGHZ 89, 153, 161; BGH NJW 2007, 2988). Ein Verstoß gegen die Normen der StVO ist zur<br />

Begründung grober Fahrlässigkeit weder erforderlich noch ausreichend. Stets ist im Einzelfall<br />

festzustellen, ob die Normverletzung oder der Verstoß gegen eine sonstige Verhaltenspflicht, der zu<br />

einem Schaden geführt hat, mit einem groben Verschulden einhergeht. Anzunehmen ist dies stets bei<br />

einem Verstoß gegen elementare Verhaltenspflichten, wie z.B. bei den sog. Todsünden im Straßenverkehr<br />

gem. § 315c StGB. Ein Augenblicksversagen ist kein Grund, grobe Fahrlässigkeit zu verneinen,<br />

wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind. Denn eine Vielzahl der Fälle<br />

unbewusster Fahrlässigkeit beruht gerade bei Regelverstößen im Straßenverkehr darauf, dass der<br />

Handelnde für eine kurze Zeit unaufmerksam ist und das an ihn gerichtete Gebot oder Verbot<br />

übersieht. Vielmehr müssen nach der Rechtsprechung des BGH weitere, in der Person des Handelnden<br />

liegende besondere Umstände hinzukommen, die den Grund des momentanen Versagens erkennen<br />

und in einem milderen Licht erscheinen lassen, um ein grobes Verschulden verneinen zu können (BGHZ<br />

119, 147, 149; OLG Hamm VersR 1988, 1260; OLG Köln NJW-RR 1991, 480). Soweit die Instanzgerichte<br />

teilweise grobe Fahrlässigkeit bereits deshalb verneinen, weil der Handelnde nur für einen Augenblick<br />

versagt hat (vgl. OLG Hamm VersR 1990, 1230; 1991, <strong>22</strong>3; 1991, 1368; OLG Frankfurt VersR 1992, 230;<br />

OLG Köln VersR 1991, 1266), ist dem vom BGH – unter Aufgabe seiner eigenen Rechtsprechung – eine<br />

Absage erteilt worden (BGHZ 119, 147, 150 = NJW 1992, 2418 im Gegensatz zu BGH NJW 1989, 1354, 1355).<br />

Grobe Fahrlässigkeit ist z.B. zu bejahen bei Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1167


Fach 9, Seite 1068<br />

Haftungsverteilung<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

mehr als 100 % (OLG München DAR 1983, 78), bei Einfahren in eine Kreuzung bei Rotlicht (BGHZ 119, 147,<br />

151; OLG Koblenz NJW-RR 2011, 465), beim Fahren unter erheblichem Alkoholgenuss (BGH VersR 1985,<br />

440, 441; OLG Köln VersR 1989, 139), insbesondere im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit (bei Kfz-<br />

Fahrern 1,1‰: BGH NJW 2011, 3299; bei Radfahrern 1,6‰: OLG Celle NJW 1992, 2169; OLG Hamm NZV<br />

1992, 198; OLG Karlsruhe NZV 1997, 486; OLG Zweibrücken NZV 1992, 372 [BGHSt 34, 133 = NJW 1986,<br />

2650 ist überholt]), beim Überfahren eines Stoppschilds (OLG Köln NZV 2002, 374; a.A. OLG Hamm<br />

VersR 1993, 826), bei längerem Zurücksehen oder beim Telefonieren trotz hoher Geschwindigkeit (OLG<br />

Köln VersR 1983, 575; OLG Koblenz VersR 1999, 503), bei einem Rotlichtverstoß infolge Benutzung des<br />

Mobilfunktelefons (BAG NJW 1999, 966; s. auch BGH NJW 2014, 3234).<br />

• Bei beiderseitiger Fahrlässigkeit ist der Schaden i.d.R. aufzuteilen. Allerdings kann auch hier bei krass<br />

überwiegender Fahrlässigkeit und/oder sonstiger Mitursächlichkeit eines Beteiligten dieser den ganzen<br />

Schaden zu tragen haben (BGH VersR 1967, 187; NJW-RR 1991, 1240). Verschulden von Kindern und<br />

Jugendlichen ist i.d.R. geringer zu bewerten als das von Erwachsenen (BGH NJW-RR 1993, 480; NJW<br />

2004, 772; OLG Celle VersR 1987, 360), das eines 11-jährigen geringer als das eines Jugendlichen (OLG<br />

Braunschweig DAR 1994, 277). Maßgeblich ist die Einsichtsfähigkeit der konkret Beteiligten. Die<br />

Neufassung des § 828 Abs. 2 BGB zum 1.8.2002 (Einstandspflicht des Kindes im Straßenverkehr erst ab<br />

dem 10. statt ab dem 7. Lebensjahr) hat die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von Verkehrsteilnehmern<br />

ab dem beginnenden 10. Lebensjahr nicht herabgesetzt, sondern unverändert gelassen<br />

(BGH NZV 2007, 207). Der Jugendliche kann daher weiterhin allein haften, wenn ihm objektiv und<br />

subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als<br />

völlig untergeordnet erscheinen lässt (BGH NZV 2007, 207). In Anbetracht der Erkenntnisse der<br />

Entwicklungspsychologie bei Kindern ist im Rahmen eines Fußgängerunfalls bis zu einem Alter von 12<br />

Jahren und im Rahmen eines Radfahrerunfalls bis zu einem Alter von 13 bis 15 Jahren allerdings<br />

Zurückhaltung geboten, weshalb hier i.d.R. eine Haftungsquotelung angebracht ist (GRÜNEBERG NJW<br />

2013, 2705; vgl. auch OLG Oldenburg DAR 2004, 706). Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich die<br />

kindlichen Defizite bei dem Verkehrsunfall typischerweise auch ausgewirkt haben, weil es etwa<br />

aufgrund seines Alters Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen konnte. Beruht<br />

der Verkehrsunfall dagegen auf einem Kardinalfehler des Kindes, der ihm ohne weiteres vorgeworfen<br />

werden kann, wie z.B. auf einem Rotlichtverstoß, kann durchaus bereits vor Erreichen der<br />

vorgenannten Altersgrenzen die alleinige Haftung des Kindes in Betracht kommen (GRÜNEBERG a.a.O.).<br />

Üblicherweise wird die Haftungsquote in einem Prozentwert oder als Bruchzahl angegeben. Die einzig<br />

richtige Haftungsquote gibt es nicht. Vielmehr hat das Gericht bei der Abwägung einen Beurteilungsspielraum;<br />

es greift § 287 ZPO ein (BGHZ 60, 177, 184; BGHZ 98, 148, 158). Die Abwägung ist Sache des<br />

Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände<br />

vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt<br />

worden sind (BGH NJW 2017, 1177; <strong>2018</strong>, 3095).<br />

Hinweis:<br />

Als Arbeitshilfen sind verschiedene Handbücher und Quotentabellen auf dem Markt (die ausführlichste<br />

Darstellung mit einer Systematisierung von über 5.100 Entscheidungen enthält GRÜNEBERG, Haftungsquoten<br />

bei Verkehrsunfällen, 15. Aufl. 2017; eine Darstellung der Unfallgrundkonstellationen enthält KUHN, Schadensverteilung<br />

bei Verkehrsunfällen, 9. Aufl. 2016; kürzere Überblicksdarstellungen von BURSCH/JORDAN, „Hamburger<br />

Quotentabelle“, VersR 1985, 512 ff.; THIERMANN/WERTHER/BRÜSEKEN/KRUMBHOLZ, „Münchener Quotentabelle“,<br />

SVR 2012, 41 ff.; NUGEL DAR 2008, 548 ff.; 2009, 105 ff., 346 ff., 721 ff.; 2010, 256 ff.).<br />

III.<br />

Abwägung bei mehreren Beteiligten<br />

1. Mehrere Schädiger<br />

Bei einer Mehrheit von Schädigern enthalten § 17 StVG wie auch § 254 BGB, die auf ein Zwei-Personen-<br />

Verhältnis zugeschnitten sind, keine Regelung. Es kommen verschiedene Lösungen in Betracht. Zum Ersten<br />

könnte man es bei der Einzelabwägung belassen, so dass der Geschädigte seinen Anspruch nach der für ihn<br />

günstigsten Einzelabwägung bemessen könnte, was für ihn im Ergebnis allerdings die schlechteste Lösung<br />

1168 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1069<br />

Haftungsverteilung<br />

wäre. Zum Zweiten könnte man die Schädiger als Einheit ansehen und deren Verursachungs- und<br />

Verschuldensbeiträge in einer Gesamtschau dem Mitverschulden des Geschädigten gegenüberstellen, was<br />

für ihn am günstigsten wäre. Schließlich könnte man zum Dritten die Einzelbetrachtung mit einer Gesamtschau<br />

kombinieren, so dass der Geschädigte insgesamt so viel verlangen könnte wie bei einer Gesamtbetrachtung;<br />

von jedem Schädiger kann er aber nur den jeweils bei einer Einzelabwägung sich<br />

ergebenden Betrag beanspruchen.<br />

Beispiel 1:<br />

Mopedfahrer M fährt an einem geparkten Fahrzeug vorbei, dessen Fahrertür von dem Fahrzeughalter F<br />

sorgfaltswidrig geöffnet wird; dadurch muss M, der zu dicht an dem Fahrzeug vorbeifährt, auf die Fahrbahnmitte<br />

ausweichen, wo er von einem entgegenkommenden Pkw erfasst wird, weil der Pkw-Fahrer P<br />

unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot in der Nähe der Mittellinie gefahren ist. Der Einfachheit halber<br />

soll davon ausgegangen werden, dass der Mitverursachungsanteil jedes Beteiligten gleich schwer wiegt.<br />

Dann erhält M nach dem ersten Vorschlag nur 50 %, nach dem zweiten Vorschlag 66,66 % (seinem Schadensbeitrag<br />

steht ein zweimal so hoher Beitrag der Schädigerseite gegenüber) und nach dem dritten<br />

Vorschlag ebenfalls 66,66 %, wobei F und P aber nur höchstens bis zu 50 % zahlen müssen.<br />

In Rechtsprechung und Literatur wird bei der Lösung dieses Problems danach differenziert, ob es sich bei den<br />

Schädigern um Mittäter, Anstifter und Gehilfen (Zurechnung der Tatbeiträge gem. § 830 Abs. 1 S. 1, Abs. 2<br />

BGB), um Alternativtäter (§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB) oder um Nebentäter handelt. Bei der Haftungsabwägung im<br />

Rahmen eines Verkehrsunfalls werden mehrere Schädiger i.d.R. Nebentäter sein, so dass nur diese Konstellation<br />

näher interessiert. Für Nebentäter, die gem. § 840 BGB als Gesamtschuldner haften, gilt § 830 BGB<br />

nicht, weshalb eine Zurechnung der jeweiligen Verursachungsbeiträge nicht in Betracht kommt. Die<br />

Rechtsprechung folgt der vom BGH entwickelten modifizierten Kombinationstheorie entsprechend dem<br />

dritten Lösungsvorschlag. Danach haben die Schädiger insgesamt den Schadensanteil zu tragen, der bei einer<br />

Gesamtschau ihrem Anteil der Verantwortung entspricht; jeder Schädiger haftet aber nur in Höhe seiner<br />

Quote (BGHZ 30, 203, 207; BGHZ 61, 351, 354; BGH NJW 2011, 292). Der Gesamtschuldanteil der Schädiger<br />

bestimmt sich dabei nicht nach dem Gesamtschaden, sondern nach dem um den Mitverschuldensanteil des<br />

Geschädigten verminderten Schaden, während der Restbetrag auf jeden Schädiger entsprechend seinem<br />

Anteil zu verteilen ist (BGH NJW 2006, 896, 897; PALANDT/GRÜNEBERG, a.a.O., § 254 Rn 69).<br />

Beispiel 2:<br />

Beträgt der Gesamtschaden in o.g. Beispiel (1) 12.000 €, kann M insgesamt 8.000 € beanspruchen, und<br />

zwar 4.000 € von F und P als Gesamtschuldner sowie von jedem einzelnen Schädiger weitere 2.000 €.<br />

Zugleich steht damit der Innenausgleich zwischen den Schädigern F und P fest.<br />

Für die Berechnung ist die von SEDEMUND (ZGS 2003, 337) entwickelte Formel hilfreich:<br />

Summe aller Einzelhaftungsbeträge –<br />

insgesamt ersatzfähiger Schaden<br />

Gesamtschuld =<br />

12.000 €–8.000 €<br />

4.000 € =<br />

Anzahl der Schädiger – 1 2 – 1<br />

Im obigen Beispiel sind die Summe aller Einzelhaftungsbeträge 12.000 € (2 × 6.000 €), der insgesamt<br />

ersatzfähige Schaden 8.000 € und die Anzahl der Schädiger 2, so dass sich für die Gesamtschuld 4.000 €<br />

(= [12.000 €–8.000 €]/[2 – 1]) errechnet.<br />

Keine Gesamtabwägung findet allerdings in zwei Fällen statt:<br />

• Zum einen scheidet sie beim Schmerzensgeldanspruch aus, weil sich die von § 253 Abs. 2 BGB<br />

geforderte „billige Entschädigung“ jedem Schädiger gegenüber nach den besonderen Umständen des<br />

Falles bestimmt (BGHZ 54, 283, 286; OLG Düsseldorf NJW-RR 1995, 281).<br />

• Zum zweiten kommt eine Gesamtschau nicht in Betracht, wenn und soweit mehrere Schädiger eine sog.<br />

Zurechnungs- oder Haftungseinheit bilden. Dies ist u.a. der Fall, wenn die Verhaltensweisen mehrerer<br />

Schädiger zu demselben unfallverursachenden Umstand geführt haben, bevor der Verursachungsbeitrag<br />

des Geschädigten hinzugetreten ist (BGHZ 54, 283, 284; BGHZ 61, 231, 216; BGH NJW 2006, 896 f.). Relevant<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1169


Fach 9, Seite 1070<br />

Haftungsverteilung<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

ist dies gerade bei einem Verkehrsunfall. Es kann für die Haftungsabwägung und die Höhe des<br />

Ersatzanspruchs des Geschädigten keinen Unterschied machen, ob z.B. nur eine Person oder vier Personen<br />

dafür verantwortlich waren, dass ein Anhänger nachts unbeleuchtet auf einer Bundesstraße stand, auf den<br />

der Geschädigte auffuhr. Haftungseinheit besteht daher z.B. zwischen Kfz-Halter und Fahrer sowie<br />

Versicherer (BGH NJW 2006, 896 f.), zwischen Kfz-Halter, Halter des Anhängers und dem jeweiligen<br />

Fahrer (BGH NJW 2011, 447), zwischen Pferdehalter und Reiter (OLG Schleswig zfs 1998, 128) oder zwischen<br />

Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen und Geschäftsherr (BGHZ 6, 3, 27). Auf die Haftungseinheit entfällt<br />

im Rahmen des Schadensausgleichs eine gemeinsame Quote entsprechend ihrem Verantwortungsteil.<br />

Die Haftungseinheit kann auch zwischen dem Geschädigten und einem Schädiger bestehen (BGHZ 61, 213,<br />

217; MDR 1983, 297; NJW 1978, 2392; weitere Einzelfälle bei STEFFEN DAR 1990, 41).<br />

2. Mehrere Geschädigte<br />

Bei einer Mehrheit von Geschädigten ist das Verhältnis des Schädigers zu den verschiedenen Geschädigten je<br />

für sich zu betrachten, so dass eine Einzelabwägung nach den individuellen Quoten von Verursachung,<br />

Verschulden usw. stattfindet (MüKo-BGB/OETKER, a.a.O., § 254 Rn 124; STAUDINGER/SCHIEMANN, a.a.O., § 254<br />

Rn 137). Davon unberührt bleibt natürlich die Möglichkeit, dass ein Geschädigter sich das Mitverschulden eines<br />

Mitgeschädigten nach allgemeinen Grundsätzen als das Verschulden eines Dritten zurechnen lassen muss.<br />

3. Bewahrungsgehilfe<br />

Eine Besonderheit der Haftungszurechnung bei Verkehrsunfällen folgt aus § 9 StVG (ebenso § 4 HPflG,<br />

§ 34 LuftVG). Danach muss sich der Geschädigte bei Beschädigung einer Sache das Mitverschulden<br />

desjenigen, der die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt (sog. Bewahrungsgehilfe), wie eigenes<br />

Verschulden zurechnen lassen. Eine Entlastungsmöglichkeit nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB besteht nicht;<br />

unerheblich ist, ob der Bewahrungsgehilfe zugleich Verrichtungsgehilfe ist. Dies gilt aber nur bei<br />

Beschädigung einer Sache; bei sonstigen Schäden (vor allem Körperschäden) bleibt es bei § 831 BGB. Für<br />

Ansprüche aus Vertrag wie aus Delikt gilt die Zurechnung des Verschuldens des Bewahrungsgehilfen<br />

nicht; der Anspruch aus § 823 BGB wird also nur unter den Voraussetzungen des § 831 BGB gekürzt (BGH<br />

NJW 1992, 1095; OLG Hamm NJW 1995, <strong>22</strong>33; NJW-RR 1996, 282).<br />

4. Auswirkung von Haftungsbeschränkungen<br />

a) Verletzung des Beifahrers<br />

Wird der Beifahrer durch einen vom Fahrer und einem Dritten verursachten Unfall verletzt, haften der<br />

Halter des Kraftfahrzeugs, in dem der Beifahrer gesessen hat, und der Halter des anderen Fahrzeugs<br />

dem Beifahrer gegenüber gem. § 840 Abs. 1 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1 StVG in voller Höhe. Eine<br />

Unfallmitverursachung des Fahrers muss sich der Beifahrer nicht anrechnen lassen. Etwas anderes gilt<br />

nur dann, wenn der Beifahrer selbst Halter des Kraftfahrzeugs ist (BGH NJW 1956, 1067) oder wenn er<br />

sich zu einem erkennbar fahruntüchtigen Fahrer ins Auto gesetzt hat.<br />

Besonderheiten gelten bei einem Haftungsverzicht. Hat der Fahrer den Unfall leicht fahrlässig verursacht,<br />

kann er sich aber gegenüber dem Beifahrer z.B. wegen einer Gefälligkeitsfahrt auf einen stillschweigend<br />

geschlossenen Haftungsverzicht berufen (BGH VersR 1978, 625; 1980, 384, 385; OLG Frankfurt NJW 1998,<br />

1232; OLG München DAR 1998, 17), wobei dieses Haftungsprivileg aber nur im Innenverhältnis gilt. Dies<br />

bedeutet, dass der Beifahrer den Unfallgegner auf vollen Schadensersatz in Anspruch nehmen kann,<br />

während sich der Dritte im Wege des Rückgriffs beim Fahrer bzw. Halter des Fahrzeugs, in dem der<br />

verletzte Beifahrer gesessen hat, nach §§ 7, 17, 18 StVG zumindest teilweise schadlos halten kann (vgl. BGH<br />

NJW 1989, 2386, 2387; MDR 1983, 219; PALANDT/GRÜNEBERG, a.a.O., § 426 Rn 19 ff.; a.A. die h.L., die den<br />

Ersatzanspruch des Beifahrers gegen den Dritten um den Verursachungsanteil des Fahrers kürzt).<br />

Besonders liegt es, wenn für die Verletzung des Beifahrers neben dem Fremdschädiger auch ein<br />

Angehöriger (z.B. der Fahrer oder Halter des Kraftfahrzeugs) haftet. In einem solchen Fall ist der<br />

Anspruch des Geschädigten gegen den angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer gem. § 242 BGB<br />

auf das beschränkt, was er bei einem Erhalt der Leistungen von Seiten des angehörigen Schädigers<br />

analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte (BGH NJW <strong>2018</strong>, 1242<br />

Rn <strong>22</strong> ff.). Haftet nämlich aufgrund des Verkehrsunfalls neben dem angehörigen Schädiger ein<br />

1170 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1071<br />

Haftungsverteilung<br />

Fremdschädiger für denselben kongruenten Schaden, so entstehen infolge der Regelungen des § 116<br />

Abs. 1, 6 SGB X verschiedene Schuldverhältnisse, auf die die Regelungen der §§ 4<strong>22</strong> Abs. 1 S. 1, 426, 430<br />

BGB entsprechend anwendbar sind (BGH NJW <strong>2018</strong>, 1242 Rn 23).<br />

Eine Haftungsersetzung nach §§ 104 ff. SGB VII führt zu einem Haftungsausschluss des Unternehmers für<br />

Personenschäden seiner Arbeitnehmer und zu einem Haftungsausschluss für Personenschäden zwischen<br />

Arbeitskollegen, wobei vor allem auch ein Anspruch auf Schmerzensgeld ausgeschlossen ist. Zu beachten ist,<br />

dass die §§ 104 ff. SGB VII an den Versicherungsfall anknüpfen, wobei der Wegeunfall ausdrücklich vom<br />

Haftungsausschluss ausgenommen ist. Gleichwohl erfasst die Regelung zahlreiche Fälle des Straßenverkehrs,<br />

nämlich sämtliche Unfälle mit gewerblich genutzten Fahrzeugen, bei denen der Beifahrer verletzt<br />

wird. Dies ist z.B. der Fall bei der Beförderung von Arbeitnehmern durch einen Firmenbus von einer<br />

auswärtigen Arbeitsstelle zur Unterkunft (OLG Nürnberg r+s 1996, 61), bei der gemeinsamen Fahrt zur<br />

betrieblich angeordneten Weiterbildung oder Besichtigung (BGH MDR 1998, 596), beim allgemeinen<br />

Verkehr auf dem Werksgelände (OLG Hamm NZV 1994, 233), beim Parkverkehr auf dem Behördenparkplatz<br />

(BGH MDR 1995, 472) oder bei der Fahrt eines Schulkindes mit dem Schulbus (BGH MDR 1982, 479). In diesen<br />

Fällen greift der Haftungsausschluss der §§ 104 ff. SGB VII zu Lasten des geschädigten Beifahrers ein, so<br />

dass sein Anspruch gegen den Dritten um den Verursachungsanteil des Fahrers gekürzt wird (BGH MDR<br />

1987, 749; OLG Köln zfs 1996, 372). Denn in Höhe des Haftungsanteils des Fahrers wird der Geschädigte<br />

durch den Unfallversicherer entschädigt. Haftungsprivilegierung aus familiärer und gesellschaftlicher<br />

Bindung (z.B. §§ 708, 1359, 1664 BGB, § 4 LPartG) sind bei der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr<br />

wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer nicht anwendbar (BGHZ 53, 352,<br />

355; BGHZ 63, 51; OLG Hamm NJW 1993, 542).<br />

b) Verletzung der Aufsichtspflicht<br />

Wird ein Kind im Straßenverkehr verletzt, weil es unachtsam auf die Straße läuft und dort von einem<br />

Kraftfahrzeug erfasst wird, kann es neben einem Schadensersatzanspruch gegen den Kfz-Halter auch einen<br />

Anspruch gegen den Aufsichtspflichtigen aus § 832 BGB haben. Die Eltern können sich dabei auf die<br />

Haftungsprivilegierung des § 1664 BGB berufen, weil es sich bei der Aufsichtspflicht nicht um eine aus dem<br />

Straßenverkehr abgeleitete und gegenüber allen Verkehrsteilnehmern gleichermaßen bestehende Pflicht<br />

handelt (BGH MDR 1988, 766, 767; OLG Hamm NJW 1993, 542; NJW-RR 1994, 415). Wird die Aufsichtspflicht<br />

durch Kindergärtner oder Lehrer ausgeübt, greift die Haftungsersetzung nach § 106 SGB VII ein (OLG<br />

Schleswig NZV 1995, 24). Ob ein Mitverschulden der Aufsichtsperson zu berücksichtigen ist, ist differenziert<br />

zu sehen: Ist das Kind deliktsfähig i.S.d. § 828 Abs. 1, 2 BGB, also älter als 10 Jahre, ist sein Verhalten unter<br />

dem Aspekt des Mitverschuldens nach § 9 StVG, § 254 BGB zu prüfen; zwischen Kind und Aufsichtsperson<br />

besteht nach der Rechtsprechung des BGH eine Haftungseinheit, so dass zu Lasten des Kinds ein<br />

einheitlicher Mitverursachungsanteil zu berechnen ist und ein Gesamtschuldnerausgleich zwischen<br />

Aufsichtsperson und Drittschädiger nicht stattfindet (BGH MDR 1996, 1013; VersR 1978, 735, 736). Ist<br />

das Kind deliktsunfähig, muss sich das Kind im Anwendungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung,<br />

also z.B. bei der Beaufsichtigung durch eine Kindergärtnerin oder einen Lehrer, dessen Mitverursachungsanteil<br />

anspruchsmindernd anrechnen lassen. Dagegen ist eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern dem<br />

Kind nicht anzulasten, so dass es von dem Dritten vollen Schadensersatz verlangen kann (BGH NJW 1980,<br />

2090; VersR 1974, 34, 35; OLG Düsseldorf VersR 1982, 300, 301); liegen die Voraussetzungen des § 1664 BGB<br />

vor, kann der Dritte mangels Anspruchsgrundlage gegen die Eltern auch keinen Rückgriff nehmen (BGH<br />

MDR 1988, 766, 767; OLG Hamm NJW-RR 1994, 415; NJW 1993, 542).<br />

IV. Quotenvorrecht des mitverantwortlichen Geschädigten<br />

Hat der mitverantwortliche Geschädigte bereits von dritter Stelle (z.B. Kaskoversicherung, Sozialversicherung,<br />

Lohnfortzahlung, Unfallversicherung) teilweise Ersatz seines Schadens erhalten, kann ihm<br />

dies nicht – etwa im Wege der Vorteilsausgleichung – auf seinen um den Mitverschuldensanteil<br />

gekürzten Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger entgegengehalten werden. Zwar ist, damit der<br />

Geschädigte nicht an dem Schadensfall verdient, in zahlreichen Gesetzen ein Forderungsübergang<br />

vorgesehen, wie z.B. in § 86 VVG, § 6 EFZG, § 76 BBG, § 116 SGB X, § 127 AFG. Umgekehrt darf die<br />

Schadensersatzleistung durch Dritte den Geschädigten aber auch nicht benachteiligen, weshalb in<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1171


Fach 9, Seite 1072<br />

Haftungsverteilung<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

solchen Fällen nach allen Regelungen der Forderungsübergang nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers/Geschädigten<br />

geltend gemacht werden kann (z.B. § 86 Abs. 1 S. 2 VVG). Insoweit spricht man<br />

vom Quotenvorrecht des Geschädigten (für Kaskoversicherung: BGHZ 13, 28, 29; BGHZ 82, 338, 340; für<br />

Leistungen nach dem Beamtengesetz: BGHZ <strong>22</strong>, 136, 138; BGH VersR 1967, 902).<br />

Beispiel:<br />

Hat der Geschädigte bei einem Verkehrsunfall einen Fahrzeugschaden von 10.000 € erlitten und hat ihm<br />

seine Kaskoversicherung 6.000 € ersetzt, kann er von dem Schädiger die übrigen 4.000 € verlangen,<br />

wenn dieser zu 40 % haftet; haftet der Schädiger zu 20 %, kann der Geschädigte 2.000 € verlangen. In<br />

beiden Fällen hat kein Anspruchsübergang auf den Kaskoversicherer stattgefunden. Haftet der Schädiger<br />

zu 60 %, kann der Geschädigte von ihm seinen Restschaden i.H.v. 4.000 € verlangen, während i.H.v.<br />

2.000 € der Schadensersatzanspruch gem. § 86 VVG auf den Kaskoversicherer übergegangen ist.<br />

Das Quotenvorrecht bezieht sich aber nur auf die sog. kongruenten Schadenspositionen, d.h.<br />

diejenigen, für die der Dritte bzw. die jeweilige Versicherung einstandspflichtig ist (BGHZ 25, 340, 342,<br />

180; BGHZ 82, 338, 340; OLG Celle NZV 2011, 505; vgl. auch BGH NJW 2010, 677 für Fahrzeugvermietung).<br />

In der Kaskoversicherung fallen unter die kongruenten Schäden: Reparaturkosten, Minderwert, Sachverständigenkosten,<br />

Abschleppkosten, Umbaukosten und Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert.<br />

Inkongruente Schäden sind dagegen: Nutzungsausfall, Mietwagenkosten, Unkostenpauschale, Anwaltskosten,<br />

Ummeldekosten, Schadensfreiheitsrabatt, Prämiennachteile aus der Hochstufung der<br />

Kaskoversicherung, Behandlungskosten und Schmerzensgeld.<br />

Beispiel:<br />

Hat z.B. A bei einem Verkehrsunfall einen Schaden von 10.000 € erlitten (Reparaturkosten: 5.000 €, Wertminderung:<br />

500 €, SV-Kosten: 500 €; Mietwagenkosten: 1.000 €; Schmerzensgeld: 3.000 €), wobei ihm sein<br />

Kaskoversicherer auf Reparaturkosten, Wertminderung und SV-Kosten 5.000 € bezahlt hat, kann A bei einem<br />

Mitverschulden von 50 % von seinem Unfallgegner noch 3.000 € verlangen, nämlich 1.000 € auf Reparaturkosten,<br />

Wertminderung und SV-Kosten sowie 500 € Mietwagenkosten und 1.500 € Schmerzensgeld.<br />

Praxishinweis:<br />

Um Nachteile für den Mandanten zu vermeiden, muss der Anwalt ihn stets nach einer Kfz-Schadensmeldung<br />

bei seinem Kaskoversicherer und nach etwaigen Versicherungsleistungen fragen. Im Falle einer Zahlung sollten<br />

die einzelnen Schadenspositionen – wie in einer Checkliste – nach Kongruenz und Inkongruenz getrennt<br />

aufgeführt werden. Nach Berücksichtigung des Mitverursachungsanteils des Mandanten darf die Zahlung des<br />

Kaskoversicherers nur den kongruenten Schadenspositionen, und zwar zunächst nur dem Haftungsanteil<br />

(Eigenschaden) des Mandanten, zugeordnet werden. Erst eine überschießende Zahlung des Versicherers ist<br />

dem Geschädigten anzurechnen, allerdings nur auf die kongruenten Schadenspositionen. Im Hinblick auf die<br />

inkongruenten Schadenspositionen kommt also eine Anrechnung der Leistung des Kaskoversicherers niemals<br />

in Betracht.<br />

Besonders liegt es, wenn der durch einen Verkehrsunfall Geschädigte mit dem angehörigen Schädiger in<br />

häuslicher Gemeinschaft lebt. Dann ist er gegenüber dem Schädiger und dessen Haftpflichtversicherer<br />

grundsätzlich auch insoweit aktivlegitimiert, als er Schadensersatzleistungen verlangt, die mit den ihm<br />

vom Sozialversicherungsträger zu erbringenden Sozialleistungen kongruent sind. Ein Verlust der<br />

Aktivlegitimation durch Übergang seiner diesbezüglichen Forderung auf den Sozialversicherungsträger<br />

gem. § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X ist aufgrund des Familienprivilegs des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ausgeschlossen.<br />

Eine Übertragung des Regelungsinhalts des § 83 Abs. 3 VVG auf § 116 Abs. 6 SGB X im Wege der<br />

Auslegung oder Analogie ist ausgeschlossen (BGH NJW <strong>2018</strong>, 1242 Rn 11 ff.). Zur Rechtsfolge bei<br />

Unfallverursachung auch durch einen Fremdschädiger s. oben unter III. 4. a).<br />

1172 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 479<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungsübersicht zum öffentlichen Recht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong><br />

Von Rechtsanwalt Prof. Dr. BERND ANDRICK, VorsRiVG a.D., Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Abgabenrecht<br />

1. Rundfunkbeitragspflicht der Betriebsstätteninhaber<br />

für Gästezimmer und Ferienwohnungen<br />

2. Für Um- und Ausbau öffentlicher Straßen<br />

erhobene Beiträge<br />

3. Entstehen der Straßenausbaubeitragspflicht<br />

bei nachträglicher Widmung einer<br />

Straße<br />

II. Ausländer- und Asylrecht<br />

1. Verknüpfung von (möglicher) Verfolgungshandlung<br />

mit dem Verfolgungsgrund<br />

2. Zur Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung<br />

III. Baurecht<br />

1. Vorhabenbezogener Bebauungsplan<br />

2. Prägung der näheren Umgebung i.S.d. § 34<br />

Abs. 1 S. 1 BauGB durch verwirklichte<br />

Bebauung<br />

IV. Informationsfreiheitsrecht<br />

V. Öffentliches Dienstrecht<br />

1. Streikverbot für Beamte<br />

2. Dienstliche Beurteilung von Beamten und<br />

Begründung des Gesamturteils<br />

3. Inhaltliche Anforderungen an die Aufforderung,<br />

sich einer amtsärztlichen Untersuchung<br />

zu unterziehen<br />

4. Entfernung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis<br />

bei unangemessener Dauer<br />

eines Disziplinarverfahrens<br />

VI. Personalvertretungsrecht<br />

VII. Personenstandsrecht<br />

1. Einbürgerung: Rücknahme wegen<br />

Mehrehe<br />

2. Einbürgerung: Bedeutung einer angeordneten<br />

Maßnahmeregelung in einem<br />

strafgerichtlichen Urteil<br />

VIII. Polizei- und Ordnungsrecht<br />

1. Erkennungsdienstliche Maßnahmen trotz<br />

Beendigung des Strafverfahrens<br />

2. Kosten für verwahrte Fundtiere<br />

3. Abschleppen aus einer nachträglich eingerichteten<br />

Halteverbotszone<br />

IX. Prüfungsrecht<br />

1. Bewertungsspielraum eines Prüfers<br />

2. Rücktritt von abgelegten Prüfungen wegen<br />

Erkrankung<br />

X. Verwaltungsprozessrecht<br />

1. Allgemeine Lebenserfahrung und Beweiswürdigung<br />

2. Einreichung eines Rechtsmittels bei einem<br />

unzuständigen Gericht<br />

3. Unangemessene Verfahrensdauer bei Aussetzung<br />

des Verfahrens nach § 94 VwGO<br />

XI. Wirtschaftsverwaltungsrecht<br />

I. Abgabenrecht<br />

1. Rundfunkbeitragspflicht der Betriebsstätteninhaber für Gästezimmer und Ferienwohnungen<br />

Gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 RBStV ist im nicht privaten Bereich für jede Betriebsstätte von deren Inhaber<br />

(Beitragsschuldner) ein Rundfunkbeitrag nach Maßgabe der in Satz 2 festgelegten Staffelung zu<br />

entrichten. Nach § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 RBStV ist vom Inhaber einer Betriebsstätte unbeschadet der<br />

Beitragspflicht für Betriebsstätten nach Absatz 1 jeweils ein Drittel des Rundfunkbeitrags zu entrichten<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1173


Fach 19 R, Seite 480<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

für jedes darin befindliche Hotel- und Gästezimmer sowie für jede Ferienwohnung zur vorübergehenden<br />

entgeltlichen Beherbergung Dritter ab der zweiten Raumeinheit.<br />

Das BVerwG hat durch Urteil vom 21.3.<strong>2018</strong> (6 C 53.16) entschieden, dass die zusätzliche Rundfunkbeitragspflicht<br />

der Betriebsstätteninhaber für Gästezimmer und Ferienwohnungen mit dem Grundgesetz<br />

vereinbar sei, wenn der Inhaber die Zimmer und Ferienwohnungen mit einem Empfangsgerät<br />

oder einem Internetzugang ausstattet und so den Gästen die Nutzung des öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunkprogrammangebots ermögliche.<br />

Hinweis:<br />

Für diejenigen Betriebsstätteninhaber, die ihren Gästen in den Zimmern und Ferienwohnungen keine Rundfunkempfangsmöglichkeit<br />

zur Verfügung stellten, bedürfe es einer Ausnahmeregelung; ihre Beitragspflicht erweise<br />

sich ohne Befreiungsmöglichkeit als teilweise verfassungswidrig (im Anschluss an BVerwG GewArch <strong>2018</strong>, 76).<br />

2. Für Um- und Ausbau öffentlicher Straßen erhobene Beiträge<br />

Nach den Kommunalabgabengesetzen der Länder (z.B. § 11 Abs. 1 S. 2 KAG HE) sollen die Gemeinden für<br />

den Umbau und Ausbau der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze (Verkehrsanlagen), der über die<br />

laufende Unterhaltung und Instandsetzung hinausgeht, Beiträge erheben. Beitragspflichtig sind die<br />

Grundstückseigentümer, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme nicht nur vorübergehende<br />

Vorteile bietet (z.B. § 11 Abs. 1 S. 4 KAG HE). Die Beiträge sind nach den Vorteilen zu bemessen. Vom<br />

Aufwand bleiben mindestens 25 % außer Ansatz, wenn die Verkehrsanlage überwiegend dem<br />

Anliegerverkehr, mindestens 50 %, wenn sie überwiegend dem innerörtlichen Durchgangsverkehr,<br />

und mindestens 75 %, wenn sie überwiegend dem überörtlichen Durchgangsverkehr dient (z.B. § 11<br />

Abs. 4, 5 KAG HE). Die Beitragspflicht entsteht mit Fertigstellung; Vorausleistungen können ab Beginn<br />

der beitragsfähigen Maßnahme erhoben werden.<br />

Hinweis:<br />

Ein Straßenbaubeitrag ist grundsätzlich als nichtsteuerliche Abgabe mit Gegenleistungscharakter gerechtfertigt.<br />

Er genügt den Anforderungen, welche die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung<br />

an solche Abgaben stellt. Während Gebühren die Kosten individuell zurechenbarer Leistungen ganz oder<br />

teilweise decken sollen, gelten Beiträge die potenzielle Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung ab.<br />

Der Straßenbaubeitrag wird zur Finanzierung des Straßenausbaus oder -umbaus, also für einen besonderen<br />

Finanzbedarf, gegenleistungsbezogen erhoben (BVerfGE 137, 1 Rn 38 ff.).<br />

Nach dem Urteil des BVerwG vom 21.6.<strong>2018</strong> (9 C 2.17) besteht der durch den Straßenbaubeitrag<br />

ausgeglichene Sondervorteil des Grundstückseigentümers in der rechtlichen und tatsächlichen<br />

Möglichkeit der Zufahrt oder des Zugangs zu einer öffentlichen Verkehrsanlage. Entgolten werde nicht<br />

die schlichte, auch der Allgemeinheit zustehende Straßenbenutzungsmöglichkeit, sondern die einem<br />

Grundstück, insbesondere einem solchen mit Baulandqualität, zugutekommende Erhaltung der wegemäßigen<br />

Erschließung. Dieser Vorteil sei geeignet, den Gebrauchswert der begünstigten Grundstücke<br />

positiv zu beeinflussen; er sei ihnen individuell zurechenbar (BVerfGE 137, 1 Rn 56, 58 f.; a.A. NIEMEIER<br />

BayVBl. <strong>2018</strong>, <strong>22</strong>9, 232 f.). Der die Beitragspflicht begründende Vorteil müsse auch nicht im jeweiligen<br />

Einzelfall konkret quantifiziert werden (ebenso KStZ 2017, 136). Vielmehr reiche es im Rahmen des<br />

weiten, dem Normgeber zustehenden Gestaltungsspielraums aus, dass die Gemeinde ihren den<br />

Allgemeinnutzen abbildenden Eigenanteil in Abgrenzung zum grundstücksbezogenen Sondervorteil je<br />

nach der Verkehrsbedeutung der Straße pauschal etwa auf 25 %, 50 % bzw. 75 % festlege.<br />

Hinweis:<br />

Der Umbau bzw. Ausbau kommunaler Straßen ist nur beitragspflichtig, soweit die Maßnahmen über die<br />

laufende Unterhaltung und Instandsetzung hinausgehen.<br />

1174 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 481<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Das BVerwG hebt hervor, die Voraussetzung, dass der Um- oder Ausbau der Straße – sowohl im Fall der<br />

grundlegenden Erneuerung als auch in dem der Verbesserung – stets erforderlich sein müsse, erstrecke<br />

sich auch und gerade auf den Kostenaufwand und verhindere so eine „Luxussanierung“ auf Kosten der<br />

Beitragspflichtigen (vgl. auch DRIEHAUS, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl. 2012, § 33 Rn 44;<br />

SCHAUPP-HAAG, in: CHRIST/OEBBECKE, Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2016, Kap. E Rn 420 f.). Diese<br />

seien regelmäßig berechtigt, in die Beitragskalkulation und die Aufwandsermittlung Einsicht zu nehmen<br />

(z.B. § 11 Abs. 9 KAG HE) und könnten somit ggf. konkrete Einwände erheben. Die Kommune habe<br />

zudem stets einen Eigenanteil an den Kosten der Baumaßnahme zu tragen. Dieser Eigenanteil in<br />

Verbindung mit dem Grundsatz der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung habe einen<br />

disziplinierenden Einfluss auf die Gemeinde.<br />

3. Entstehen der Straßenausbaubeitragspflicht bei nachträglicher Widmung einer Straße<br />

Der Regelfall bei der Straßenausbaubeitragspflicht ist der, dass bereits eine Straße mit entsprechender<br />

Widmung vorhanden ist. Es stellt sich die Frage, ob auch eine erst nach Abschluss der Ausbaumaßnahme<br />

erfolgte Widmung die Straßenausbaubeitragspflicht entstehen lassen kann. Diese Frage wird<br />

vom BVerwG in seinem Beschluss vom 30.1.<strong>2018</strong> (9 B 10.17, ZKF <strong>2018</strong>, 141) dahin beleuchtet, ob Art. 20<br />

Abs. 3 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG der Beitragserhebung Grenzen setzt. Das BVerwG geht davon aus,<br />

dass dem Rechtsstaatsprinzip indes keine Vorgaben zu entnehmen sind, in welcher Reihenfolge die<br />

Voraussetzungen für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht erfüllt werden müssen. Es lasse<br />

danach – etwa im Erschließungsbeitragsrecht – Raum dafür, dass die Beitragspflicht auch bei einer<br />

technisch bereits fertiggestellten Anlage erst mit der nachträglichen Widmung entstehe (ebenso für<br />

das Ausbaubeitragsrecht: DRIEHAUS, a.a.O., § 31 Rn 3 m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Hinsichtlich der Grenze des verfassungsrechtlich Zumutbaren in Bezug auf den Erlass des Beitragsbescheids<br />

und der Möglichkeit der Beitragsberechnung nach Eingang der letzten Rechnung hinsichtlich der<br />

Ausbaumaßnahme nimmt das BVerwG an, dass sich innerhalb einer Zeitspanne von knapp drei Jahren kein<br />

schützenswertes Vertrauen entwickeln könne, nicht mehr zu Beiträgen herangezogen zu werden.<br />

II.<br />

Ausländer- und Asylrecht<br />

1. Verknüpfung von (möglicher) Verfolgungshandlung mit dem Verfolgungsgrund<br />

Das BVerwG stellt in seinem Beschluss vom 30.5.<strong>2018</strong> (1 B 13.18) heraus, dass für die nach § 3a Abs. 3<br />

AsylG geforderte Verknüpfung von (möglicher) Verfolgungshandlung mit dem Verfolgungsgrund<br />

ausreiche, dass das Regime einem Rückkehrer eine bestimmte politische Überzeugung bzw. Regimegegnerschaft<br />

lediglich zuschreibe (§ 3b Abs. 2 AsylG), wie auch sonst „unerheblich ist, ob er aufgrund<br />

dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist“ (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). § 3b AsylG<br />

stelle klar, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung<br />

begründet sei, unerheblich sei, ob er tatsächlich die Merkmale aufweise, die zur Verfolgung führten.<br />

Entscheidend sei die Kausalität im Sinne der erkennbaren Gerichtetheit der Verfolgung. Anspruch auf<br />

Flüchtlingsschutz habe daher auch derjenige Ausländer, der die verfolgungsbegründenden Merkmale<br />

tatsächlich nicht aufweise, wenn sie ihm von den in § 3c AsylG aufgeführten Verfolgungsakteuren<br />

zugeschrieben würden. Der (asylrelevante) Zugriff auf die vermutete politische Überzeugung sei<br />

ausreichend für den Nachweis der politischen Verfolgungsmotivation und eine daraus resultierende<br />

Verfolgungsgefahr (BVerwGE 90, 127, 134).<br />

2. Zur Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung<br />

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die<br />

Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 S. 1<br />

AufenthG oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat nach § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG von der<br />

Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im<br />

Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II, S. 559, 560),<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1175


Fach 19 R, Seite 482<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität,<br />

politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des<br />

Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in<br />

Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 3a Abs. 1 AsylG<br />

gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung<br />

so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte<br />

darstellen.<br />

Das BVerwG stellt in seinem Urteil vom 19.4.<strong>2018</strong> (1 C 29.17, Asylmagazin <strong>2018</strong>, 257 ff.) heraus, dass die<br />

Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt worden sei oder einen sonstigen ernsthaften Schaden<br />

erlitten habe bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht gewesen<br />

sei, gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf sei, dass die Furcht des<br />

Antragstellers vor Verfolgung begründet sei, es sei denn, stichhaltige Gründe sprächen dagegen, dass<br />

der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht werde. Die Vorschrift messe den in der<br />

Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. DÖRIG,<br />

Asylum Qualification Directive 2011/95/EU, Art. 4 Rn 30, in: HAILBRONNER/THYM, EU Immigration and<br />

Asylum Law, 2. Aufl. 2016). Liegen beim Ausländer frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen<br />

mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht vor erneuter Verfolgung im Falle<br />

der Rückkehr in sein Heimatland vor, so kommt ihm nach dem BVerwG die Beweiserleichterung des<br />

Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute. Die widerlegliche Vermutung entlaste den Vorverfolgten von<br />

der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden<br />

Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren würden. Sie sei widerlegt, wenn<br />

stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräfteten. Diese Beurteilung<br />

unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urt. v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE<br />

136, 377 Rn 23).<br />

III.<br />

Baurecht<br />

1. Vorhabenbezogener Bebauungsplan<br />

Nach § 12 Abs. 1 S. 1 BauGB setzt ein vorhabenbezogener Bebauungsplan voraus, dass der<br />

Vorhabenträger zur Durchführung des Vorhabens und der Erschließungsmaßnahmen bereit und in<br />

der Lage ist. Gefordert ist eine Prognoseentscheidung. Sie soll der Gemeinde eine gewisse Sicherheit<br />

verschaffen, dass der Vorhabenträger die im Durchführungsvertrag übernommenen Verpflichtungen<br />

erfüllen und das geplante Vorhaben zu Ende führen kann. Die Prognose betrifft nach dem Beschluss<br />

des BVerwG vom 6.3.<strong>2018</strong> (4 BN 13.17; ZfBR <strong>2018</strong>, 376 ff. = BauR <strong>2018</strong>, 1086 ff.) zum einen die<br />

finanziellen Mittel, die erforderlich sind, damit der Vorhabenträger die übernommenen Verpflichtungen<br />

umsetzen kann. Zum Nachweis der finanziellen Leistungsfähigkeit grundsätzlich geeignet sind<br />

hierdurch wirtschaftlich belastbare Finanzierungs- und Fördermittelzusagen, die aber durch<br />

gewichtige andere Indizien ersetzt werden können (VGH München, BauR 2011, 1775). Zum anderen<br />

muss der Vorhabenträger Zugriff auf die zur Verwirklichung des Vorhabens erforderlichen Grundstücke<br />

haben. Das setzt nicht notwendigerweise voraus, dass der Vorhabenträger die betreffenden<br />

Grundstücke bereits im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses zu Eigentum hat, wohl aber, dass er sie<br />

alsbald erwirbt oder sich eine aus dem Eigentum (§ 903 S. 1 BGB) abgeleitete sonstige private<br />

Rechtsmacht verschafft (GATZ, in: Berliner Kommentar zum BauGB, Stand: September 2017, § 12 Rn 8;<br />

KUKK, in: SCHRÖDTER, BauGB, 8. Aufl. 2015, § 12 Rn 38). Unter welchen Voraussetzungen die Prognose<br />

eines alsbaldigen Erwerbs der erforderlichen Rechtsmacht gerechtfertigt erscheint, hängt von den<br />

Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer verallgemeinernden Klärung. Im Regelfall<br />

werden gesicherte Anwartschaften zu verlangen sein (vgl. SPIEß, in: JÄDE/DIRNBERGER, BauGB/BauNVO,<br />

8. Aufl. 2017, § 12 Rn 16), in besonders gelagerten Einzelfällen können aber auch hier gewichtige andere<br />

Indizien wie etwa eindeutige Interessenlagen oder Verhaltensweisen ausreichen.<br />

Das BVerwG nimmt darüber hinaus an, dass vorhabenbezogene Bebauungspläne einer Lärmemissionskontingentierung<br />

zugänglich seien. Bei der Bestimmung, welches Vorhaben zulässig sei, sei die<br />

1176 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 483<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Gemeinde gem. § 12 Abs. 3 S. 2 BauGB nicht an die Festsetzungen nach § 9 BauGB und nach der aufgrund<br />

von § 9a BauGB erlassenen Baunutzungsverordnung gebunden. Ein wesentlicher Unterschied zum<br />

qualifizierten Bebauungsplan liege deshalb gerade in der gestalterischen Breite des vorhabenbezogenen<br />

Bebauungsplans (BUSSE, in: SPANNOWSKY/UECHTRITZ, BauGB, 3. Aufl. <strong>2018</strong>, § 12 Rn 3). Es stehe deshalb außer<br />

Frage, dass der vorhabenbezogene Bebauungsplan auch die Festsetzung von Lärmemissionskontingenten<br />

gestatte, wenn dies im Sinne einer geordneten städtebaulichen Entwicklung und Ordnung (§ 1<br />

Abs. 3 S. 1 BauGB) zur Beschreibung des Vorhabens erforderlich sei.<br />

2. Prägung der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB durch verwirklichte Bebauung<br />

Nach § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben<br />

zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche,<br />

die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung<br />

gesichert ist. Das BVerwG hebt durch seinen Beschluss vom 27.3.<strong>2018</strong> (4 B 60.17, ZfBR <strong>2018</strong>, 479 f.)<br />

hervor, dass der die nähere Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB bildende Bereich so weit reiche, wie<br />

sich die Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken könne und wie die<br />

Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks präge oder doch beeinflusse,<br />

wobei auf das abzustellen sei, was in der Umgebung tatsächlich vorhanden sei. Hierzu könne auch eine<br />

bereits verwirklichte Bebauung in einem durch (einfachen, vorhabenbezogenen oder qualifizierten)<br />

Bebauungsplan überplanten Gebiet gehören.<br />

IV. Informationsfreiheitsrecht<br />

Informationsansprüche des Insolvenzverwalters, die der Prüfung von Insolvenzanfechtungsansprüchen<br />

dienen sollen<br />

Im vorliegenden Verfahren hat der Insovenzverwalter steuerliche Auskünfte von dem für die<br />

Insolvenzschuldnerin zuständigen Finanzamt begehrt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage,<br />

ob der Informationsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG; hier: § 4 Abs. 1 IFG NRW)<br />

durch die Subsidiaritätsklausel (hier: § 4 Abs. 2 S. 1 IFG NRW) ausgeschlossen ist. Dies gilt vornehmlich<br />

durch die das Steuergeheimnis wahrenden Regelungen des § 30 Abs. 4–6 AO. Das BVerwG hat durch<br />

sein Urteil vom 26.4.<strong>2018</strong> (7 C 3.16) lediglich eine eingeschränkte Reichweite des Regelungskonzepts<br />

der Abgabenordnung angenommen. Denn der Insolvenzverwalter mache den Informationsanspruch<br />

nicht gem. § 80 Abs. 1 InsO und § 34 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 AO an der Stelle des Insolvenzschuldners im<br />

Rahmen eines bestehenden Steuerrechtsverhältnisses geltend. Vielmehr ziele der Informationszugang<br />

auf die Prüfung von Anfechtungsansprüchen nach §§ 129 ff. InsO. Die Angaben seien nicht<br />

für die materiell-rechtlichen Steueransprüche, sondern in erster Linie für die insolvenzrechtlich<br />

relevanten Zahlungsflüsse als ggf. anfechtbare Rechtshandlungen i.S.v. § 129 Abs. 1 InsO von Interesse.<br />

Der gegen das Finanzamt gerichtete Anspruch des Insolvenzverwalters auf Rückgewähr insolvenzrechtlich<br />

angefochtener Leistungen zähle folglich nicht zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis<br />

(BFHE 238, 325 Rn 8 f.; BGH, NZI 2016, 86 Rn 23 m.w.N.). Die Insolvenzanfechtung führe<br />

lediglich zur Unwirksamkeit der die Gläubiger benachteiligenden Rechtshandlung, jedoch nicht zur<br />

Unwirksamkeit der dieser zugrunde liegenden Verpflichtung. Vielmehr bleibe der Rechtsgrund einer<br />

angefochtenen Leistung – hier die steuerlichen Ansprüche – von der Insolvenzanfechtung unberührt.<br />

Der Anfechtungsgegner müsse die ihm vom Insolvenzschuldner erbrachte Leistung zurückgewähren,<br />

behalte aber seine zunächst erfüllte, nunmehr wieder offene Forderung (§ 144 Abs. 1 InsO), die er zur<br />

Insolvenztabelle anmelden könne.<br />

V. Öffentliches Dienstrecht<br />

1. Streikverbot für Beamte<br />

Im Arbeitsrecht gilt das Streikrecht der Arbeitnehmer als Ausdruck der Waffengleichheit zwischen<br />

Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Maßgebliche – den Streik rechtfertigende – Verfassungsnorm ist Art. 9<br />

Abs. 3 GG. Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet und<br />

umfasst auch die Koalition als solche und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in<br />

Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1177


Fach 19 R, Seite 484<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

wahren und zu fördern (vgl. BVerfGE 4, 96, 107; 17, 319, 333; 18, 18, 25 f.; 50, 290, 367). Die<br />

Koalitionsfreiheit schützt alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Berufsangehörige (Arbeitnehmer oder<br />

Arbeitgeber) und enthält keinen Ausschluss für bestimmte berufliche Bereiche. Damit werden neben<br />

Angestellten des öffentlichen Dienstes auch Beamte vom persönlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3<br />

GG umfasst (vgl. BVerfGE 19, 303, 312, 3<strong>22</strong>).<br />

Eine stets diskutierte Frage ist die, ob auch Beamten das aus diesem Grundrecht herzuleitende<br />

Streikrecht zusteht. Diese Frage hat das BVerfG in seinem Urteil vom 12.6.<strong>2018</strong> (2 BvR 1738/12, 2 BvR<br />

1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 346/<strong>2018</strong> = NVwZ <strong>2018</strong>, 1121 ff. = ZBR <strong>2018</strong>, 238 ff. =<br />

RiA <strong>2018</strong>, 174 ff. = NJW <strong>2018</strong>, 2695 ff.) verneint. Zur Begründung führt es aus, das Streikverbot<br />

für Beamte stelle einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums i.S.d.<br />

Art. 33 Abs. 5 GG dar. Es erfülle die für eine Qualifikation als hergebrachter Grundsatz notwendigen<br />

Voraussetzungen der Traditionalität und Substanzialität. Das Streikverbot für Beamte sei als<br />

hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums vom Gesetzgeber zu beachten. Es weise eine enge<br />

Verbindung auf mit dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip, der Treuepflicht, dem<br />

Lebenszeitprinzip sowie dem Grundsatz der Regelung des beamtenrechtlichen Rechtsverhältnisses<br />

einschließlich der Besoldung durch den Gesetzgeber. Es handele sich bei dem Streikverbot des Art. 33<br />

Abs. 5 GG um ein eigenständiges, systemnotwendiges und damit fundamentales Strukturprinzip des<br />

Berufsbeamtentums. Seine Preisgabe würde die in der Bundesrepublik Deutschland bestehende<br />

Ordnung des Berufsbeamtentums grundsätzlich in Frage stellen. Die hergebrachten Grundsätze des<br />

Berufsbeamtentums stellten kollidierendes Verfassungsrecht zur Rechtfertigung von Beschränkungen<br />

des Art. 9 Abs. 3 GG dar. Das statusbezogene Streikverbot für Beamte greife nicht in unverhältnismäßiger<br />

Weise in die Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG ein; es trage dem auf einen schonenden<br />

Ausgleich von kollidierendem Verfassungsrecht angelegten Grundsatz der praktischen Konkordanz<br />

Rechnung.<br />

2. Dienstliche Beurteilung von Beamten und Begründung des Gesamturteils<br />

Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 1.3.<strong>2018</strong> (2 A 10.17, IÖD <strong>2018</strong>, 1<strong>22</strong> ff. = DÖD <strong>2018</strong>, 195 ff. =<br />

ZBR <strong>2018</strong>, 251 ff. = ZTR <strong>2018</strong>, 491 f.) in Bezug auf die dienstliche Beurteilung der Beamten, die in erster<br />

Linie dem Einsatz- und Förderungszweck dient, mehrere Maßgaben vorgegeben. In Bezug auf<br />

den zuständigen Beurteiler geht das BVerwG zunächst davon aus, dass seine Festlegung im Organisationsermessen<br />

des Dienstherrn steht. Ausgeschlossen sei es allerdings, einen Beurteiler mit<br />

einem gleichrangigen oder einem niedrigeren Statusamt zu bestimmen. Ein Beurteiler im gleichen<br />

Statusamt scheide i.d.R. aus, weil die potenzielle Konkurrenzsituation zwischen Beurteiler und zu<br />

beurteilendem Beamten die erforderliche Neutralität und Objektivität des Beurteilers beeinträchtigen<br />

könne. Rangniedrigeren Beamten fehle im Regelfall der Überblick über die Leistungsfähigkeit der in<br />

der Behörde beschäftigten Beamten einer höheren Besoldungsgruppe; sie seien dann nicht in der<br />

Lage, die Leistungen des Beamten gemessen an dessen Statusamt, das sie selbst nicht innehaben und<br />

dessen Anforderungen sie nicht notwendig kennen, zu bewerten und gleichzeitig diese Leistungen ins<br />

Verhältnis zu den Leistungen anderer Beamter mit demselben – höheren – Statusamt zu setzen<br />

(BVerwG NVwZ 2017, 1558 Rn 7).<br />

Hinweis:<br />

Die Eignung von dienstlichen Beurteilungen als Vergleichsgrundlage setzt voraus, dass sie inhaltlich aussagekräftig<br />

sind. Sie müssen eine tragfähige Grundlage für die Auswahlentscheidung vermitteln (BVerfG<br />

NVwZ 2013, 1603 Rn 21). Hierfür ist erforderlich, dass sie die dienstliche Tätigkeit im maßgebenden Beurteilungszeitraum<br />

vollständig erfassen, auf zuverlässige Erkenntnisquellen gestützt sind, die Leistungen hinreichend<br />

differenziert darstellen sowie auf gleichen Bewertungsmaßstäben beruhen (st. Rspr., BVerwGE 153,<br />

48 Rn 13 f.).<br />

Hinsichtlich der Einholung von Beurteilungsbeiträgen bemerkt das BVerwG, ihre Einholung diene dazu,<br />

den Beurteiler in die Lage zu versetzen, die dienstliche Beurteilung in der erforderlichen Differenzierung<br />

1178 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 485<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

erstellen zu können. Die Auswahl der heranzuziehenden Erkenntnisquellen unterliege dabei grundsätzlich<br />

seiner gerichtlich überprüfbaren Einschätzung. Für den Beurteilungszeitraum wesentliche<br />

Erkenntnisquellen werde er regelmäßig nicht außer Acht lassen können. Jedoch schwinde mit der<br />

Bedeutung, die die einzelne Erkenntnisquelle für den Inhalt der Beurteilung habe, die Notwendigkeit, alle<br />

erdenklichen Erkenntnisquellen in ihrer Vollständigkeit heranzuziehen. Ihre Auswertung sei namentlich<br />

dann entbehrlich, wenn die bereits in Anspruch genommenen, wesentlich gewichtigeren Erkenntnisquellen<br />

eine hinreichend differenzierte Aussage über die dienstliche Tätigkeit des zu beurteilenden<br />

Beamten zuließen.<br />

Hinweis:<br />

Beruht die dienstliche Beurteilung vollständig oder teilweise auf Beurteilungsbeiträgen Dritter, umfasst die<br />

Pflicht zur Plausibilisierung der Beurteilung auch eine Erläuterung, wie aus diesen Beiträgen die in der<br />

dienstlichen Beurteilung enthaltenen Werturteile entwickelt wurden. Abweichungen von den in den Beurteilungsbeiträgen<br />

enthaltenen Tatsachen oder Wertungen sind zu erläutern. Übernimmt der Beurteiler<br />

schlicht einen solchen Beitrag, bedarf es hierfür keiner Begründung (st. Rspr., vgl. BVerwG Buchholz 232.0<br />

§ 21 BBG 2009 Nr. 4 Rn 27 m.w.N.).<br />

Zu der Gewichtung in einer dienstlichen Beurteilung führt das BVerwG aus, es sei Sache des Dienstherrn<br />

festzulegen, welches Gewicht er den einzelnen Merkmalen einer dienstlichen Beurteilung zumessen<br />

wolle. Das abschließende Gesamturteil dürfe sich nicht auf die Bildung des arithmetischen Mittels<br />

aus den einzelnen Leistungsmerkmalen beschränken. Vielmehr komme im Gesamturteil die unterschiedliche<br />

Bedeutung der Einzelbewertungen durch ihre entsprechende Gewichtung zum Ausdruck.<br />

Das abschließende Gesamturteil sei danach durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung<br />

der einzelnen bestenauswahlbezogenen Gesichtspunkte zu bilden. Diese Gewichtung bedürfe bei<br />

sog. Ankreuzbeurteilungen schon deshalb einer Begründung, weil nur so die Einhaltung gleicher<br />

Maßstäbe gewährleistet und das Gesamturteil nachvollzogen und einer gerichtlichen Überprüfung<br />

zugeführt werden könne. Einer – ggf. kurzen – Begründung bedürfe es insbesondere dann, wenn die<br />

Beurteilungsrichtlinien für die Einzelbewertungen einerseits und für das Gesamturteil andererseits<br />

unterschiedliche Bewertungsskalen vorsähen. Denn hier müsse erläutert werden, wie sich die<br />

unterschiedlichen Bewertungsskalen zueinander verhielten und wie das Gesamturteil aus den Einzelbewertungen<br />

gebildet worden sei. Im Übrigen seien die Anforderungen an die Begründung für das<br />

Gesamturteil umso geringer, je einheitlicher das Leistungsbild bei den Einzelbewertungen sei. Gänzlich<br />

entbehrlich sei eine Begründung für das Gesamturteil jedoch nur dann, wenn im konkreten Fall eine<br />

andere Note nicht in Betracht komme, weil sich die vergebene Note – vergleichbar einer Ermessensreduzierung<br />

auf Null – geradezu aufdränge.<br />

3. Inhaltliche Anforderungen an die Aufforderung, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu<br />

unterziehen<br />

Eine an den Beamten gerichtete Aufforderung, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen,<br />

um seine Dienstfähigkeit zu überprüfen, unterliegt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

folgenden formellen und inhaltlichen Anforderungen. Diese betreffen die Angabe der Gründe, aus denen<br />

sich die Zweifel an der Dienstfähigkeit des Beamten ergeben, und die Bestimmung von Art und Umfang<br />

der ärztlichen Untersuchung (vgl. BVerwGE 146, 347 Rn 18 ff.). Diese Anforderungen gelten nach dem<br />

Beschluss des BVerwG vom 16.5.<strong>2018</strong> (2 VR 3.18) jedoch nicht absolut, sondern können vom Dienstherrn<br />

nur nach dem ihm vorliegenden Erkenntnisstand erfüllt werden. Habe die Behörde keinerlei weitergehende<br />

Erkenntnisse als die, dass und in welchem Umfang der Beamte krankheitsbedingte Fehltage<br />

aufweise, könne sie auch nur dies als Grund für ihre Zweifel an der dauernden Dienst(un-)fähigkeit des<br />

Beamten anführen; sei den vom Beamten eingereichten ärztlichen Attesten (Arbeitsunfähigkeits-<br />

Bescheinigungen, „Krankschreibungen“) – wie vielfach – kein Grund der gesundheitlichen Beeinträchtigung<br />

zu entnehmen und sei ein solcher Grund von dem Beamten auch nicht anderweitig freiwillig<br />

offenbart oder sonst wie bekannt geworden, könne die Behörde – naturgemäß – auch die Art und den<br />

Umfang der ärztlichen Untersuchung nicht näher eingrenzen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1179


Fach 19 R, Seite 486<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Hinweis:<br />

Zu erwägen ist, ob der Dienstherr vor Erlass einer Untersuchungsanordnung gehalten ist, bei dem Beamten<br />

anzufragen, ob dieser zur Offenbarung solcher Angaben bereit ist (obwohl der Beamte hierzu<br />

i.d.R. nicht verpflichtet ist; vgl. hierzu auch OVG Berlin-Brandenburg NVwZ-RR 2017, 300 Rn 3 ff.;<br />

VGH München, Beschl. v. 18.2.2016 – 3CE15.2768,jurisRn26ff.; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 7.7.2015 –<br />

1L1128/15,jurisRn11ff.).<br />

4. Entfernung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis bei unangemessener Dauer eines<br />

Disziplinarverfahrens<br />

Das BVerwG hat durch Beschluss vom 26.1.<strong>2018</strong> (2 B 47.17) entschieden, dass die unangemessene Dauer<br />

eines Disziplinarverfahrens es nicht rechtfertige, von der Entfernung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis<br />

abzusehen, wenn diese Maßnahme disziplinarrechtlich geboten sei (BVerfG NVwZ 2013, 788).<br />

Hintergrund sei die Überlegung, dass das Disziplinarverfahren der Sicherung der Funktionsfähigkeit der<br />

öffentlichen Verwaltung diene und das für den Bestand des Beamtenverhältnisses erforderliche<br />

Vertrauen, das durch das Dienstvergehen des Beamten zerstört worden sei, durch den reinen Zeitablauf<br />

infolge einer etwaigen verzögerten disziplinarrechtlichen Ahndung nicht wiederhergestellt werden<br />

könne.<br />

VI. Personalvertretungsrecht<br />

Wegstreckenentschädigung für Fahrten freigestellter Personalratsmitglieder zum Sitz des<br />

Personalrats<br />

Nach den einzelnen Personalvertretungsgesetzen (vgl. z.B. § 45 Abs. 1 S. 1 SächsPersVG) trägt die<br />

Dienststelle die durch die Tätigkeit des Personalrats entstehenden Kosten. Mitglieder des Personalrats<br />

erhalten bei Reisen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind, Reisekostenvergütung. Nach<br />

der Rechtsprechung des BVerwG steht Personalratsmitgliedern bei der entsprechenden Anwendung<br />

reisekostenrechtlicher Bestimmungen, soweit diese unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, ein<br />

begrenzter Beurteilungsspielraum zu, der sich auch auf die Ausführung der Reise erstreckt, also<br />

insbesondere auf die Frage, ob die Aufgaben des Personalrats nicht auf andere, kostensparendere<br />

Weise als durch die Nutzung eines privaten Kraftfahrzeugs hätten erfüllt werden können. Die nach<br />

pflichtgemäßer Abwägung der für und gegen die Benutzung des privaten Kraftfahrzeugs sprechenden<br />

Umstände getroffene Entscheidung, dieses zu nutzen, ist gerichtlich nur auf Vertretbarkeit zu<br />

überprüfen (vgl. BVerwG Buchholz 250 § 44 BPersVG Nr. 36 Rn 4 ff.).<br />

Das BVerwG hat in seinem Beschluss vom 1.3.<strong>2018</strong> (5 P 5.17; ZfPR online <strong>2018</strong>, Nr. 5, 2–4 = ZTR <strong>2018</strong>,<br />

359–362 = NZA-RR <strong>2018</strong>, 386–388 = LKV <strong>2018</strong>, 273–276) für ein freigestelltes Personalratsmitglied für<br />

Fahrten zwischen Wohnung und Sitz des Personalrats außerhalb des Wohnortes und des bisherigen<br />

Dienstortes Reisekostenvergütung in Gestalt der „großen Wegstreckenentschädigung“ in entsprechender<br />

Anwendung des maßgeblichen Reisekostenrechts angenommen, wenn die Nutzung des<br />

privaten Kraftfahrzeugs im Vergleich zur Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel sowohl<br />

absolut als auch im Verhältnis zur Gesamtwegezeit zu einer gewichtigen Zeitersparnis führe (hier:<br />

täglich bis zu 80 Minuten bei einer Gesamtwegezeit von bis zu drei Stunden). Das im Personalvertretungsrecht<br />

geltende Benachteiligungsverbot, wonach Personen, die Aufgaben oder Befugnisse<br />

nach dem Personalvertretungsgesetz wahrnähmen, darin nicht behindert und wegen ihrer Tätigkeit<br />

nicht benachteiligt oder begünstigt werden dürften, bedeute, dass Personalratsmitglieder nicht<br />

schlechter behandelt werden dürften als vergleichbare Beschäftigte ohne Personalratsmandat (vgl.<br />

BVerwG Buchholz 250 § 44 BPersVG Nr. 33 S. 15 f.). Aus diesem Verbot folge auch, den Beschäftigten<br />

vor Kosten zu bewahren, die er bei ordnungsgemäßer Wahrnehmung seines Personalratsmandats<br />

nicht vermeiden könne. Eine derartige finanzielle Schlechterstellung wäre geeignet, qualifizierte<br />

Personen von der Wahrnehmung des Amtes eines von der dienstlichen Tätigkeit ganz freigestellten<br />

Mitglieds des Personalrats abzuhalten. Damit würde die Institution Personalvertretung insgesamt<br />

geschwächt.<br />

1180 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 487<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Hinweis:<br />

Bei der Bemessung der Wegstreckenentschädigung für solche Fahrten sind die fiktiven Kosten für Fahrten<br />

von der Wohnung zur bisherigen Dienststelle und zurück anzurechnen.<br />

VII. Personenstandsrecht<br />

1. Einbürgerung: Rücknahme wegen Mehrehe<br />

Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Einbürgerung ist § 35 Abs. 1 StAG. Hiernach kann eine von<br />

Anbeginn an rechtswidrige Einbürgerung nur dann zurückgenommen werden, wenn der Verwaltungsakt<br />

u.a. durch arglistige Täuschung oder durch vorsätzlich unvollständige Angaben, die wesentlich für<br />

seinen Erlass gewesen sind, erwirkt worden ist. Die Rechtswidrigkeit der Einbürgerung kann sich<br />

daraus ergeben, dass es bereits an der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse i.S.d. § 9 Abs. 1<br />

Nr. 2 StAG mangelt. Denn nach § 9 Abs. 1 StAG sollen Ehegatten oder Lebenspartner Deutscher unter<br />

den Voraussetzungen des § 8 StAG u.a. dann eingebürgert werden, wenn gewährleistet ist, dass sie sich<br />

in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen; dies gilt nicht, wenn sie nicht über ausreichende<br />

Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, ohne dass ein Ausnahmegrund erfüllt ist (§ 9 Abs. 1 letzter<br />

Hs. StAG). Nach dem Urteil des BVerwG vom 29.5.<strong>2018</strong> (1 C 15.17) besteht wegen einer vom<br />

Einbürgerungsbewerber geschlossenen Doppelehe keine Gewähr, sich in die deutschen Lebensverhältnisse<br />

„einzuordnen“.<br />

Hinweis:<br />

„Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (BVerwGE 79, 94,<br />

96). Eine „Einordnung“ ist allein durch die Beachtung strafrechtlicher Ge- und Verbote nicht gewährleistet.<br />

Die „Einordnung“ in die deutschen Lebensverhältnisse muss zwar nach den Umständen des Falls<br />

in absehbarer Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwGE 79, 94,<br />

96), sie muss aber im Einberufungszeitpunkt noch nicht abgeschlossen, sondern lediglich für die Zukunft<br />

gewährleistet sein (HAILBRONNER/HECKER, in: HAILBRONNER/MAAßEN/HECKER/KAU, Staatsangehörigkeitsrecht,<br />

6. Aufl. 2017, § 9 StAG Rn 20; MARX, in: GK-StAR, Stand Oktober 2009, § 9 StAG Rn 86 ff.). Eine Einordnung<br />

erfordert neben einer gewissen Mindestaufenthaltsdauer und ausreichenden Kenntnissen der<br />

deutschen Sprache auch Mindestkenntnisse der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung (s.a. § 10<br />

Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG).<br />

Schließlich stellt das BVerwG heraus, dass eine vom Einbürgerungsbewerber rechtswirksam im Ausland<br />

geschlossene weitere Ehe einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung<br />

i.S.d. § 10 Abs. 1 S. 1 StAG nicht entgegenstehe.<br />

Hinweis:<br />

Die Schließung einer Zweitehe stellt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht die Befugnis des<br />

deutschen Gesetzgebers zum Verbot der Mehrehe und zum Schutz der Einehe grundsätzlich infrage.<br />

Allein im Abschluss einer Zweitehe liege keine Handlung, die darauf ziele, dieses Verbot grundlegend<br />

infrage zu stellen, oder die auf dessen Aufhebung gerichtet sei. Zunächst einmal sei eine – allzumal im<br />

Ausland – geschlossene Zweitehe dem Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen.<br />

2. Einbürgerung: Bedeutung einer angeordneten Maßnahmeregelung in einem strafgerichtlichen<br />

Urteil<br />

Wurde der Einbürgerungsbewerber strafgerichtlich verurteilt und erfolgte in dem Strafurteil zusätzlich<br />

eine (unselbstständig) angeordnete Maßregel der Besserung und Sicherung (hier: Entziehung<br />

der Fahrerlaubnis), stellt sich die Frage der Auswirkung der Maßnahmeregelung auf die Einbürgerung,<br />

wenn ansonsten die Unbeachtlichkeitsgrenze des § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StAG nicht überschritten<br />

worden ist.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1181


Fach 19 R, Seite 488<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen<br />

Union vom 19.8.2007 (BGBl I, S. 1970) – EU-RichtlinienumsetzungsG 2007 – neugefasste Vorschrift des<br />

§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StAG knüpft ihrem Wortlaut nach an das zweispurige System von Strafen (§§ 38 ff.<br />

StGB) einerseits und Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) andererseits an, welches<br />

das Strafrecht prägt. Vor diesem Hintergrund nimmt das BVerwG in seinem Urteil vom <strong>22</strong>.2.<strong>2018</strong> (1 C<br />

4.17, ZAR <strong>2018</strong>, <strong>22</strong>0 ff. = EzAR-NF 75 Nr. 14) bei schuldfähigen Tätern, die von der ersten Tatbestandsalternative<br />

erfasst würden, an, dass der einbürgerungsrechtlich relevante Anknüpfungspunkt nur die<br />

Verurteilung zu einer Strafe und nicht auch eine zusätzlich (unselbstständig) angeordnete Maßregel der<br />

Besserung und Sicherung sei. Maßregeln der Besserung und Sicherung habe der Gesetzgeber einbürgerungsrechtlich<br />

nur bei schuldunfähigen Straftätern Bedeutung beigemessen, bei denen es mangels einer<br />

verhängten Strafe an einem anderweitigen Kriterium für die Bemessung des Gewichts der Straftat<br />

fehle.<br />

VIII. Polizei- und Ordnungsrecht<br />

1. Erkennungsdienstliche Maßnahmen trotz Beendigung des Strafverfahrens<br />

Nach § 81b StPO dürfen, soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die<br />

Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch<br />

gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen<br />

werden. In der Rechtsprechung des BVerwG zu § 81b Alt. 2 StPO wird der weite Beschuldigtenbegriff als<br />

Oberbegriff zugrunde gelegt, der – die verschiedenen Phasen des Ermittlungs- und Strafverfahrens<br />

übergreifend – auch den Angeschuldigten und Angeklagten umfasst (BVerwGE 66, 192, 195; vgl. auch<br />

BEULKE in: LÖWE-ROSENBERG, Strafprozessordnung, 26. Aufl. 2007, § 157 StPO Rn 2).<br />

Nach dem Urteil des BVerwG vom 27.6.<strong>2018</strong> (6 C 39.16) ist die Anordnung zu erkennungsdienstlichen<br />

Maßnahmen nicht deswegen rechtswidrig, weil das eingeleitete Strafverfahren bereits vor Erlass des<br />

Widerspruchsbescheids rechtskräftig beendet war und der Betroffene zu diesem Zeitpunkt nicht mehr<br />

Beschuldigter i.S.v. § 81b Alt. 2 StPO gewesen ist. Für die Rechtmäßigkeit einer auf diese Variante<br />

der Vorschrift gestützten Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen reiche es aus, dass der<br />

Betroffene im Anordnungszeitpunkt Beschuldigter gewesen sei. Fällt die Beschuldigteneigenschaft vor<br />

Erlass des Widerspruchsbescheids infolge strafrechtlicher Verurteilung, Einstellung des Verfahrens oder<br />

Freispruchs weg, werde die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 2 StPO dadurch nicht<br />

zwingend infrage gestellt.<br />

Hinweis:<br />

Anders als in der ersten Alternative des § 81b StPO werden erkennungsdienstliche Maßnahmen in der<br />

zweiten Alternative der Vorschrift nicht für die Zwecke eines aktuell gegen den Betroffenen gerichteten<br />

Strafverfahrens vorgenommen. Die Datenerhebung und Speicherung dient vielmehr – ohne unmittelbaren<br />

Bezug zu einem konkreten Strafverfahren – der Strafverfolgungsvorsorge durch Bereitstellung<br />

sächlicher Hilfsmittel für die Erforschung und Aufklärung von Straftaten als der Kriminalpolizei durch § 163<br />

StPO zugewiesener Aufgabe (BVerwG NJW 2006, 1<strong>22</strong>5 Rn 18; NVwZ-RR 2011, 710 Rn 3). Deshalb besteht<br />

bei § 81b Alt. 2. StPO kein unmittelbarer Zweckzusammenhang zwischen der Beschuldigteneigenschaft<br />

des Betroffenen und den gesetzlichen Zielen der Aufnahme und Aufbewahrung erkennungsdienstlicher<br />

Unterlagen.<br />

2. Kosten für verwahrte Fundtiere<br />

Nimmt ein Tierheim oder eine entsprechende Organisation Fundtiere auf oder entgegen und werden<br />

diese entsprechend versorgt, stellt sich die Frage, ob die Kommune (i.d.R. Ordnungsamt) den Aufwand<br />

zu ersetzen hat. Besteht keine Vereinbarung und damit kein Auftragsverhältnis zwischen Geschäftsführer<br />

und Geschäftsherrn, so kann sich aus der entsprechenden Anwendung der Vorschriften des<br />

Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Geschäftsführung ohne Auftrag (§ 677 ff. BGB) ein Aufwendungsersatzanspruch<br />

ergeben (§§ 683, 670 BGB).<br />

1182 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 489<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Das BVerwG hat durch Urteil vom 26.4.<strong>2018</strong> (3 C 6.16) einen solchen Aufwendungsersatzanspruch<br />

verneint, weil die Verwahrung des Tiers nicht zu den Aufgaben der Fundbehörde gehöre. Den<br />

Finder einer verlorenen Sache treffe eine Anzeige- und Verwahrungspflicht (§§ 965, 966 Abs. 1 BGB).<br />

Dem korrespondierend habe die zuständige Fundbehörde die Aufgabe, die Rückgabe zu vermitteln<br />

und nach Maßgabe des Gesetzes zu gewährleisten. So sei der Finder berechtigt, die Fundsache bei<br />

der Fundbehörde abzuliefern und sich auf diese Weise von seiner Verwahrungspflicht zu befreien.<br />

Umgekehrt habe die Fundbehörde die Befugnis, „im Interesse der öffentlichen Ordnung bzw. zum<br />

Schutze des Eigentums“ anzuordnen, dass der Fund an sie abzuliefern sei.<br />

Hinweis:<br />

Eine Ausnahme hiervon kommt allerdings dort in Betracht, wo Gründe des Tierschutzes einer Ablieferung<br />

im Sinne einer Übergabe des Fundtiers an die Fundbehörde entgegenstehen.<br />

In einem weiteren Urteil vom gleichen Tag (3 C 7.16) hat das BVerwG allerdings hervorgehoben, dass<br />

in dem Fall, in dem ein Fundtier bei der Fundbehörde abgeliefert werde, sie das Tier zu verwahren,<br />

d.h. tierschutzgerecht unterzubringen und zu versorgen, habe. Stünden der Ablieferung Gründe des<br />

Tierschutzes entgegen, genüge es zur Begründung der Verwahrungspflicht, die Fundbehörde über den<br />

Fund und die Hinderungsgründe für die Ablieferung unverzüglich zu unterrichten. Anderenfalls müsse die<br />

Fundbehörde einem Tierschutzverein die Aufwendungen für die Inobhutnahme des Tiers grundsätzlich<br />

nur ersetzen, wenn sie ihn mit der Inobhutnahme beauftragt habe.<br />

3. Abschleppen aus einer nachträglich eingerichteten Halteverbotszone<br />

Es kommt immer wieder vor, dass ein Kraftfahrzeug in einer Straßenzone geparkt wird, in der es zum<br />

Zeitpunkt des Abstellens des Fahrzeugs keine Parkeinschränkungen gegeben hat. Ein Problem entsteht,<br />

wenn nachträglich ein mobiles Halteverbotsschild aufgestellt wird, gleich aus welchen Gründen (z.B.<br />

Straßenerneuerung, Umzug). Folge dieses Vorgangs kann sein, dass auf Veranlassung der Behörde das<br />

abgestellte Fahrzeug abgeschleppt wird und für das Abschleppen von der Behörde entsprechende<br />

Abschleppkosten verlangt werden. Voraussetzung für das Abschleppen des Fahrzeugs aus einer Haltverbotszone<br />

und der daran anknüpfenden Gebührenerhebung und Kostenerstattung ist zunächst, dass das<br />

durch die Abschleppmaßnahme vollstreckte Haltverbot wirksam bekannt gemacht worden ist (BVerwGE<br />

154, 365 Rn 10). Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist das mobile Haltverbotsschild nach Zeichen 283<br />

(Nr. 62 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO) wie jedes andere Verkehrszeichen ein Verwaltungsakt in der Form<br />

der Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 VwVfG. Es enthält nicht nur das Verbot, an der gekennzeichneten<br />

Stelle zu halten, sondern zugleich ein – entsprechend § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO sofort vollziehbares –<br />

Wegfahrgebot für unerlaubt haltende Fahrzeuge (Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 255 S. 87 f.).<br />

Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Vorschriften der StVO durch Aufstellung des<br />

Verkehrszeichens (vgl. §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 4 StVO); dies ist eine besondere Form der öffentlichen<br />

Bekanntgabe (BVerwGE 154, 365 Rn 16). Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie<br />

ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon „mit<br />

einem raschen und beiläufigen Blick“ erfassen kann, so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem<br />

von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich<br />

wahrnimmt oder nicht. Sie entfalten ihre Rechtswirkungen für den Halter deshalb auch dann, wenn die<br />

Verkehrsregelung in dem Zeitpunkt noch nicht bestand, als das Fahrzeug abgestellt wurde (vgl.<br />

BVerwGE 102, 316, 318 f.). Bei Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr regeln, gehört zu der nach § 1<br />

StVO erforderlichen Sorgfalt des Fahrers eine einfache Umschau nach dem Verlassen seines Fahrzeugs<br />

(BVerwGE 154, 365 Rn 19).<br />

Nach dem Urteil des BVerwG vom 24.5.<strong>2018</strong> (3 C 25.16) ist eine kostenrechtliche Inanspruchnahme des<br />

Fahrzeugverantwortlichen aber erst am vierten Tage nach der Aufstellung des Haltverbotszeichens<br />

möglich. Aus der Rechtmäßigkeit der Abschleppmaßnahme folge grundsätzlich die Möglichkeit einer<br />

kostenrechtlichen Inpflichtnahme des Verantwortlichen. Dies gelte auch für die unmittelbar an den<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1183


Fach 19 R, Seite 490<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Abschleppunternehmer geleistete Zahlung, die ihren Rechtsgrund in den landesrechtlichen Vorschriften<br />

zur Kostenerstattung finde (BGH, NVwZ 2006, 964 Rn 16 f.). Ausnahmen hiervon seien aber geboten,<br />

wenn ein Fahrzeug ursprünglich ordnungsgemäß und erlaubt geparkt worden sei und sich die<br />

Verkehrslage durch das Aufstellen neuer Verkehrszeichen erst nachträglich ändere. Die Rechtsordnung<br />

gewähre zwar grundsätzlich keinen Schutz der allgemeinen Erwartung, die geltende Rechtslage werde<br />

zukünftig unverändert fortbestehen. Knüpften künftige Rechtsfolgen aber an zurückliegende Sachverhalte<br />

an, müsse das betätigte Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage unter Wahrung des<br />

Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes berücksichtigt werden (st. Rspr., vgl. BVerfGE 132, 302 Rn 46 m.w.N.).<br />

IX.<br />

Prüfungsrecht<br />

1. Bewertungsspielraum eines Prüfers<br />

In der Prüfungspraxis wird insbesondere dann, wenn der Prüfling sich nicht gerecht bewertet fühlt,<br />

nach der Rechtmäßigkeit der durchgeführten Prüfung gefragt. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass<br />

Leistungsbewertungen ausschließlich den dafür bestimmten Prüfern obliegen, die diese Aufgabe<br />

eigenständig und unabhängig wahrzunehmen haben. Nur die Prüfer, nicht die Prüfungsbehörden<br />

üben den prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraum aus (BVerfG NVwZ 1995, 469, 470 f.; BVerwG<br />

NVwZ-RR 2013, 44 Rn 7). Die Prüfertätigkeit lässt sich aufgrund ihrer Komplexität weitgehend<br />

nicht durch allgemeingültige Regeln erfassen. Vielmehr nimmt der jeweilige Prüfer die Bewertung<br />

anhand von Maßstäben vor, die er in Bezug auf die konkrete Prüfungsaufgabe autonom erstellt.<br />

Aufgrund der Gewichtung der einzelnen Vorzüge und Nachteile der Prüfungsleistung und deren<br />

Vergleich mit anderen Bearbeitungen vergibt der Prüfer die Note, d.h. er ordnet die Prüfungsleistung<br />

in eine normativ vorgegebene Notenskala ein (vgl. BVerfGE 84, 34, 50 ff., BVerfG, NVwZ 1995, 469,<br />

470).<br />

In seinem Beschluss vom 5.3.<strong>2018</strong> (6 B 71.17, 6 PKH 6.17, NJW <strong>2018</strong>, 2142 ff. = Buchholz 421.0<br />

Prüfungswesen Nr. 429) stellt das BVerwG hinsichtlich des Wertungsspielraums des Prüfers heraus,<br />

dass dessen Wertungen, die sich damit befassten, ob der Prüfungsteilnehmer alle in Betracht<br />

kommenden fachlichen Fragen behandelt habe, nur dann fachliche Wertungen darstellten, wenn sie<br />

einer Richtigkeitskontrolle anhand des fachwissenschaftlichen Meinungsstands zugänglich seien.<br />

Dies sei nicht der Fall bei Wertungen, die sich damit befassten, ob der Bearbeiter die von der<br />

Prüfungsaufgabe aufgeworfenen Fragen vollständig oder nur lückenhaft erkannt habe. Derartigen<br />

Wertungen liege die Einschätzung des Prüfers zugrunde, welche Anforderungen die konkrete<br />

Aufgabenstellung an die Bearbeitung stelle. Sie seien prüfungsspezifischer Natur, weil dies nicht<br />

anhand fachwissenschaftlicher Kriterien beurteilt werden könne. Dementsprechend hätten die<br />

Verwaltungsgerichte Wertungen des Prüfers, der Bearbeiter habe nicht alle Fragen erkannt, deren<br />

Behandlung nach der Aufgabenstellung gefordert sei, daraufhin nachzuprüfen, ob sich der Prüfer<br />

innerhalb der Grenzen des Bewertungsspielraums gehalten habe. Dies hänge vor allem davon ab, ob<br />

er die Aufgabenstellung nachvollziehbar interpretiert habe.<br />

2. Rücktritt von abgelegten Prüfungen wegen Erkrankung<br />

Wie sich ein Prüfling zu verhalten hat, der bei seiner Prüfung eine Leistungsminderung infolge<br />

versteckter oder offener Erkrankung zu haben glaubt, ist ein sensibles und nicht immer verifizierbares<br />

Thema in der Prüfungspraxis. Nach der Rechtsprechung des BVerwG hat sich der Prüfling bei<br />

etwaigen für eine Leistungsminderung sprechenden Anzeichen, etwa Krankheitssymptomen, die ihm<br />

im Sinne einer Parallelwertung in der Laiensphäre nicht verborgen geblieben sind, Klarheit darüber<br />

zu verschaffen hat, ob seine Leistungsfähigkeit durch außergewöhnliche Umstände, insbesondere<br />

durch Krankheit, erheblich beeinträchtigt ist. Der Prüfling muss seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen,<br />

die ihn prüfungsunfähig machen, erkennen. Steht danach fest, dass seine Leistungsfähigkeit<br />

durch derartige Umstände erheblich beeinträchtigt war, hat der Prüfling daraus unverzüglich<br />

die in der jeweiligen Prüfungsordnung vorgesehenen Konsequenzen zu ziehen, und zwar bei<br />

krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit, zu dem Zeitpunkt, in dem er sich ihrer bewusst geworden<br />

ist. Ob der Prüfling die Art seiner Erkrankung richtig einordnen konnte und ob er die Erkrankungs-<br />

1184 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht Fach 19 R, Seite 491<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

symptome richtig gedeutet hat, ist unerheblich (vgl. BVerwGE 80, 282, 285, BVerwG NVwZ-RR 1994,<br />

442, 444). Hierbei hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob der Prüfling seinen<br />

Sorgfaltspflichten nicht genügt, wenn er Symptome, die auf eine Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit<br />

hindeuten, nicht mit ärztlicher Hilfe klärt und sich der Prüfung unterzieht (so BVerwG<br />

Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 401 S. 44).<br />

Das BVerwG hat in seinem Beschluss vom 25.1.<strong>2018</strong> (6 B 36.17) herausgestellt, dass es für die Angabe<br />

des Rücktrittsgrunds nicht darauf ankomme, ob es sich um eine – zum Zeitpunkt der Prüfung –<br />

unerkannte Erkrankung handele, aufgrund derer der Prüfling die Prüfungsunfähigkeit herleiten<br />

möchte, oder aber um eine bereits bekannte Erkrankung, die unerkannt zur Prüfungsunfähigkeit<br />

geführt haben solle. Entscheidend sei am Maßstab des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1<br />

i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG, dass die Rücktrittsanzeige die von der Prüfungsbehörde geforderte<br />

Überprüfung ermögliche. Dabei obliege es der Würdigung des Einzelfalls, ob eine Rücktrittserklärung<br />

den Anforderungen genüge.<br />

X. Verwaltungsprozessrecht<br />

1. Allgemeine Lebenserfahrung und Beweiswürdigung<br />

Die richterliche Beweiswürdigung weist viele Facetten auf. Der Bogen spannt sich von der Würdigung<br />

einzelner Beweismittel bis hin zum Anscheinsbeweis. Das BVerwG widmet sich in seinem Beschluss<br />

vom 31.1.<strong>2018</strong> (9 B 11.17) der allgemeinen Lebenserfahrung und ordnet diese in das Spektrum möglicher<br />

Beweiswürdigung ein. Danach beschreibt der Topos der allgemeinen Lebenserfahrung die Wahrscheinlichkeit<br />

bestimmter Tatsachen einschließlich ihrer Ursachen- und Wirkungszusammenhänge.<br />

Diese Wahrscheinlichkeit könne sich so stark verdichten, dass Erfahrungssätze nicht nur auf eine<br />

bestimmte Tatsachenfeststellung hinführten, sondern – wenngleich sie weder zu einer Umkehr der<br />

Beweislast führten noch das Gericht von der Pflicht zur Amtsermittlung entbänden – selbst zum<br />

Maßstab richterlicher Überzeugung würden. Die allgemeine Lebenserfahrung sei mit dem typischen<br />

Geschehensablauf identisch.<br />

2. Einreichung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht<br />

Nicht selten kommt es in der gerichtlichen Praxis vor, dass eine fristgebundene Klage oder ein<br />

Rechtsmittel beim unzuständigen Gericht eingereicht wird. Die Einreichung eines Rechtsmittels bei<br />

einem unzuständigen Gericht wahrt nicht die Fristen im Rechtsmittelverfahren. Dieses ist nicht<br />

verpflichtet, die Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten auf seine Unzuständigkeit hinzuweisen.<br />

Jedoch hat das Gericht jedenfalls dann, wenn es bereits mit der Sache befasst war, den Schriftsatz im<br />

ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Einen hinreichenden zeitlichen<br />

Abstand zwischen der Einlegung des Rechtsmittels und dem Ablauf der Rechtsmittelfrist vorausgesetzt,<br />

darf die Partei nicht nur auf die Weiterleitung des Schriftsatzes, sondern auch darauf vertrauen, dass<br />

dieser noch fristgerecht beim zuständigen Gericht eingeht (vgl. BVerfGE 93, 99, 115; BVerfG NJW 2005,<br />

2137, 2138). Diese Grundsätze gelten nicht nur im Zivil-, sondern auch im Verwaltungsprozess (vgl.<br />

BVerfG NVwZ 2003, 728, 729; a.A. zuvor OVG Greifswald NVwZ 1999, 201; offen gelassen von OVG<br />

Hamburg NJW 1998, 696), und zwar auch dann, wenn die Rechtsmittelbelehrung ordnungsgemäß<br />

erfolgte.<br />

Das BVerwG nimmt in seinem Beschluss vom 30.1.<strong>2018</strong> (9 B 20.17, NJW <strong>2018</strong>, 1272 f. = BWV <strong>2018</strong>, 134 f.<br />

= BayVBl <strong>2018</strong>, 567 f.) an, dass bei einem Verstoß gegen die vorbezeichnete Weiterleitungspflicht sich<br />

nicht automatisch die Unbeachtlichkeit der fehlenden Einlegung des Rechtsmittels ergebe. Allerdings sei<br />

Folge einer Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens, dass dem Betroffenen Wiedereinsetzung<br />

in den vorigen Stand gem. § 60 VwGO zu gewähren sei.<br />

3. Unangemessene Verfahrensdauer bei Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO<br />

Die Dauer eines gerichtlichen Verfahrens findet ihre Grenze in der zeitlichen Unangemessenheit. Für<br />

diesen Fall sieht § 198 Abs. 1 GVG einen Anspruch gegen den Staat vor. Nach der Rechtsprechung des<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1185


Fach 19 R, Seite 492<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

BVerwG ist bei der Frage, ob die Verfahrensdauer unangemessen i.S.d. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist, vor<br />

allem auch zu prüfen ist, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eintreten,<br />

bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums<br />

sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwGE 147, 146 Rn 37; 156, <strong>22</strong>9 Rn 135 m.w.N.). Zur Ausübung seiner<br />

verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche<br />

Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Verfahrenslaufzeiten,<br />

die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur dann zu einer unangemessenen<br />

Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums –<br />

sachlich nicht mehr gerechtfertigt sind (vgl. BVerwGE 147, 146 Rn 42; BVerwG NJW 2016, 3464 Rn 15,<br />

jeweils m.w.N.).<br />

Die Gestaltungsfreiheit umfasst nach dem Beschluss des BVerwG vom 12.3.<strong>2018</strong> (5 B 26.17 D) auch<br />

die Befugnis, mit Blick auf einen parallel anhängigen Rechtsstreit, der für die Entscheidung<br />

des Ausgangsverfahrens von rechtlicher Relevanz ist, dieses zeitweise „faktisch“, d.h. ohne förmliche<br />

Anordnung nach § 94 VwGO auszusetzen. Erweise sich eine solche Verfahrensweise bei Zugrundelegung<br />

einer objektivierenden Betrachtung als vertretbar, könne etwa die mit der Bearbeitung<br />

oder Förderung eines Leitverfahrens korrespondierende Zeit der faktischen Aussetzung bei der<br />

Bewertung der angemessenen Dauer des parallel anhängigen Ausgangsverfahrens nicht zu Lasten des<br />

Staates gehen. Es dränge sich auf, dass dies für den Fall einer „förmlichen“ Aussetzung nach § 94<br />

VwGO entsprechend gelte.<br />

Hinweis:<br />

Die Aussetzung des Verfahrens ist nicht schon deshalb unvertretbar, weil die Beteiligten dem nicht<br />

zugestimmt oder widersprochen haben.<br />

XI. Wirtschaftsverwaltungsrecht<br />

Versagung staatlicher Zuwendungen bei Insolvenz des Antragstellers<br />

Bei der vielfach projektbezogenen Förderung von Vorhaben der Wirtschaft durch den Staat handelt<br />

es sich um freiwillige Leistungen des Staates, deren Gewährung typischerweise auf vom Staat<br />

erlassenen Förderrichtlinien beruhen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG stellen Richtlinien<br />

wie die Förderrichtlinie keine Rechtsnormen, sondern lediglich verwaltungsinterne, das Ermessen der<br />

für die Verteilung der staatlichen Leistungen zuständigen Stellen steuernde Weisungen und damit<br />

Verwaltungsvorschriften dar. Sie vermögen eine anspruchsbegründende Außenwirkung – nur –<br />

vermittels des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebots<br />

des Vertrauensschutzes (Art. 20 und 28 GG) zu begründen (BVerwGE 104, <strong>22</strong>0, <strong>22</strong>2 f.; Buchholz 451.55<br />

Subventionsrecht Nr. 104 S. 13). Förderrichtlinien müssen aber in sich den Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

wahren. Allerdings ist der Normgeber bei der Entscheidung darüber, welche Personen oder<br />

Unternehmen durch finanzielle Zuwendungen des Staates gefördert werden sollen, weitgehend frei<br />

(st. Rspr., vgl. BVerfGE 17, 210, 216, 93, 319, 350; BVerfGK 3, 178 Rn 7).<br />

Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 14.3.<strong>2018</strong> (10 C 1.17, ZInsO <strong>2018</strong>, 1411 ff. = ZIP <strong>2018</strong>, 1189 ff. =<br />

DZWIR <strong>2018</strong>, 327 ff. = InsbürO <strong>2018</strong>, 362) angenommen, dass die Unterscheidung zwischen insolventen<br />

und nicht insolventen Antragstellern sachangemessen und nicht willkürlich sei. Die Eröffnung des<br />

Insolvenzverfahrens setze einen Eröffnungsgrund voraus (§ 16 InsO), der in der Zahlungsunfähigkeit, der<br />

drohenden Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung bestehen könne (§§ 17 ff. InsO). Alle diese<br />

Eröffnungsgründe ließen auf die eingeschränkte finanzielle Leistungsfähigkeit des insolventen Unternehmens<br />

schließen, die ihrerseits das Erreichen des mit der Förderung verfolgten Zwecks gefährde. Eine<br />

hieran anknüpfende Versagung der Förderung sei sachgerecht.<br />

1186 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 311<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

OWi-Verfahren<br />

Folgen des Ausbleibens des Angeklagten in der Hauptverhandlung im<br />

Bußgeldverfahren (insbesondere Entbindung und Einspruchsverwerfung)<br />

Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Anwesenheitspflicht des Betroffenen<br />

II. Entbindung des Betroffenen von der<br />

Anwesenheitspflicht<br />

1. Allgemeines<br />

2. Ermessen des Gerichts?<br />

3. Zeitpunkt der Antragstellung<br />

4. Vertretungsvollmacht<br />

5. Voraussetzungen für eine Entbindung<br />

III. Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung/Abwesenheitsverhandlung<br />

1. Vertretung des Betroffenen<br />

2. Abwesenheitsverhandlung<br />

IV. Verwerfung des Einspruchs (§ 74 Abs. 1 OWiG)<br />

1. Allgemeines<br />

2. Voraussetzungen der Verwerfung<br />

V. Rechtsmittel<br />

I. Anwesenheitspflicht des Betroffenen<br />

Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung des Bußgeldverfahrens nach dem OWiG<br />

richtet sich nach § 73 OWiG. Danach gilt – ebenso wie für die Hauptverhandlung des Strafverfahrens –<br />

auch in der Hauptverhandlung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens (OWi-Verfahren) für den Betroffenen<br />

eine Anwesenheitspflicht (vgl. zum Strafverfahren BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. <strong>22</strong>, S. 939). Das Gesetz<br />

verlangt grundsätzlich, dass der Betroffene während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung<br />

anwesend ist. Mit dieser Anwesenheitspflicht korrespondiert das Recht des Betroffenen auf Teilnahme<br />

an der Hauptverhandlung als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (OLG Jena zfs 2010,<br />

109 ff. = VRS 117, 342). § 231 StPO gilt im Bußgeldverfahren i.Ü. nicht (OLG Bamberg VRR 2012, 276).<br />

II.<br />

Entbindung des Betroffenen von der Anwesenheitspflicht<br />

1. Allgemeines<br />

Zwar besteht gem. § 73 Abs. 1 OWiG die Pflicht des Betroffenen, in der Hauptverhandlung zu erscheinen<br />

(zur Anwesenheitspflicht ausländischer „Verkehrssünder“ s. MITSCH ZIS 2011, 502). Nach § 73 Abs. 2 OWiG ist<br />

das Gericht aber verpflichtet, den Betroffenen auf seinen Antrag hin von dieser Verpflichtung zu<br />

entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert hat oder erklärt, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht<br />

zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des<br />

Sachverhalts nicht erforderlich ist (vgl. dazu unten II. 5.; wegen weiterer Einzelheiten s. auch BURHOFF,<br />

Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 1393 ff. [im Folgenden kurz:<br />

BURHOFF, EV]; BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 1389 ff. [im<br />

Folgenden kurz: BURHOFF, HV]; STEPHAN/NIEHAUS, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-<br />

Verfahren, 5. Aufl. <strong>2018</strong>, Rn 2351 ff. [im Folgenden kurz: BURHOFF/Bearbeiter, OWi]).<br />

Das Gericht darf den Betroffenen nicht ohne Antrag des Verteidigers vom Erscheinen in der Hauptverhandlung<br />

entbinden und dann ohne ihn verhandeln (BayObLG NStZ-RR 2000, 149; 2005, 82). Es kann<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1187


Fach 21, Seite 312<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

auch nicht einen Verlegungsantrag in einen Entbindungsantrag umdeuten, da mit diesem gerade nicht<br />

zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen will<br />

(OLG Hamm VRS 108, 274). Hat der Betroffene einen Entbindungsantrag nicht gestellt, wird er aber<br />

dennoch von der Anwesenheitspflicht entbunden, darf eine Abwesenheitsverhandlung nicht stattfinden<br />

(OLG Jena zfs 2006, 348). Stellt der Betroffene allerdings nach einem Antrag auf Terminsverlegung wegen<br />

Krankheit einen Antrag auf Entbindung von der Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung, überholt<br />

sich der Antrag auf Terminsverlegung (Fall der Erledigung), so dass das Amtsgericht (AG) nur noch über den<br />

Antrag auf Entbindung von der Anwesenheitspflicht zu entscheiden und ggf. ohne den Betroffenen die<br />

Hauptverhandlung durchzuführen hat (OLG Brandenburg VRR 2014, 443 [Ls.]).<br />

2. Ermessen des Gerichts?<br />

Liegen die Voraussetzungen für die Entbindung vor (vgl. II. 5.), muss das AG den Betroffenen von der<br />

Anwesenheitspflicht entbinden. Das AG hat in dieser Frage kein Ermessen (so schon BayObLG DAR<br />

2001, 371; st. OLG-Rspr., vgl. aus neuerer Zeit KG VRS 113, 63; NStZ 2011, 584; VA 2017, 50; OLG Bamberg<br />

DAR 2013, 90; NZV 2013, 612; VRR 2013, 350; OLG Düsseldorf VA 2016, 176; OLG Hamburg, Beschl. v.<br />

5.3.<strong>2018</strong> – 6 RB 3/18; OLG Hamm DAR 2016, 595; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 – 1 Ss 78/09; OLG<br />

Karlsruhe StraFo 2010, 494; VA 2016, 176; OLG Köln StraFo 2009, 76 m.w.N.; NZV 2013, 50; OLG<br />

Naumburg VA 2015, 195; s. weitere Nachweise bei BURHOFF/STEPHAN/NIEHAUS, OWi, Rn 2435; SEITZ/BAUER, in:<br />

GÖHLER, OWiG, 17. Aufl. 2017, § 73 Rn 5 [im Folgenden kurz: GÖHLER/Bearbeiter]).<br />

Hinweis:<br />

Die Ablehnung des Entbindungsantrags ohne nachvollziehbare Gründe verletzt den Anspruch des Betroffenen<br />

auf rechtliches Gehör und kann/muss mit der Rechtsbeschwerde geltend gemacht werden, und<br />

zwar mit der Verfahrensrüge (st. OLG-Rspr., vgl. u.a. OLG Bamberg zfs 2008, 413 m.w.N.; OLG Dresden NZV<br />

2013, 613; OLG Köln zfs 2004, 335; OLG Rostock, Beschl. v. 27.4.2011 – Ss OWi 50/11 I 63/11; BURHOFF VRR 2007,<br />

250, 255; KRENBERGER zfs 2013, 374; BURHOFF/STEPHAN/NIEHAUS, OWi, Rn 2439 f.; BURHOFF/JUNKER, OWi, Rn 3069).<br />

Zulässig ist über § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Rechtsbeschwerde, dann ggf. auch im sog. zulassungsfreien<br />

Raum.<br />

Besteht der Richter trotz eines begründeten Entbindungsantrags auf das Erscheinen des Betroffenen in<br />

der Hauptverhandlung, kann das die Besorgnis der Befangenheit begründen (AG Fulda StRR 2011, 401;<br />

AG Recklinghausen StRR 2010, 363 [Ls.]; s. auch BURHOFF, HV, Rn 104).<br />

3. Zeitpunkt der Antragstellung<br />

Der Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung kann<br />

frühestens zusammen mit der Einlegung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid wirksam gestellt<br />

werden (OLG Bamberg StraFo 2016, 348). Ein Antrag des Betroffenen hat nur Wirkung für die konkret<br />

bevorstehende Hauptverhandlung. Nach einer Aussetzung der Hauptverhandlung muss der Antrag ggf.<br />

wiederholt werden (KG DAR 2017, 714; VRS 99, 372; OLG Bamberg DAR 2012, 393; OLG Brandenburg VRS<br />

116, 276; OLG Hamm, DAR 2006, 5<strong>22</strong>; OLG Jena VRS 117, 342; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.4.2015 – 2 (7)<br />

SsRs 76/15), nicht jedoch nach einer bloßen Terminsverlegung (OLG Bamberg StraFo 2016, 212). In den<br />

Fällen der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das AG muss der Antrag ebenfalls<br />

erneut gestellt werden (OLG Bamberg StraFo 2016, 524 = NStZ-RR 2017, 26).<br />

Hinweis:<br />

Hat der Betroffene allerdings einen allgemeinen, nicht terminsbezogenen Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG<br />

gestellt und hat das AG dem Antrag für den tatsächlich stattgefundenen Hauptverhandlungstermin stattgegeben,<br />

kann nach § 74 Abs. 1 S. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen verhandelt werden, wenn der<br />

ursprünglich vorgesehene Termin verlegt worden war (vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2015, 258).<br />

Kann der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen, müssen die Entschuldigungsgründe<br />

unverzüglich dem Gericht vorgetragen werden (zum Inhalt des Antrags s. unten II. 5; OLG Bamberg<br />

1188 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 313<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

VRR 2009, 230). Ein möglichst frühzeitiger Entbindungsantrag empfiehlt sich vor allem auch deshalb,<br />

weil nach der Neufassung des § 74 Abs. 1 S. 1 OWiG („entbunden war“) die Auffassung vertreten werden<br />

könnte, dass ein Entbindungsantrag in der Hauptverhandlung nicht mehr zulässig sei, sondern der<br />

Antrag vor der Hauptverhandlung eingegangen sein müsse (so GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 4; s. dazu<br />

aber unten IV. 2. b cc).<br />

Der Entbindungsantrag sollte so rechtzeitig an das AG geschickt werden, dass er dem Richter noch<br />

rechtzeitig vor dem Termin vorgelegt werden kann (OLG Bamberg StraFo 2017, 510; zur Kontroverse in<br />

der obergerichtlichen Rechtsprechung um den rechtzeitigen Eingang des Antrags s. einerseits OLG<br />

Hamm DAR 2011, 539 [1 ½ Stunden nicht ausreichend] m. abl. Anm. DEUTSCHER VRR 2011, 473; andererseits<br />

OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2008 – 3 Ss OWi 1326/08 [30 Minuten vor Hauptverhandlung-Beginn<br />

reichen aus] und NZV 2011, 409; s. auch noch KG VRR 2012, 195 [2 Stunden ausreichend]).<br />

Hinweis:<br />

Ob allerdings dem Amtsrichter der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung<br />

tatsächlich zur Kenntnis gelangt war, ist unerheblich, maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger<br />

gerichtsinterner Organisation dem Richter hätte rechtzeitig zugeleitet werden können (OLG Naumburg<br />

VA 2015, 195).<br />

Über den Antrag des Betroffenen, ihn vom Erscheinen zu entbinden, muss grundsätzlich rechtzeitig vor<br />

der Hauptverhandlung entschieden werden, damit der Betroffene sich auf die getroffene Entscheidung<br />

einstellen kann (ähnlich OLG Braunschweig, Beschl. v. 12.7.2012 – Ss [OWi] 113/12 für Terminsverlegungsantrag).<br />

Ist über den rechtzeitig gestellten Antrag des Betroffenen nicht entschieden worden, kann das<br />

ggf. sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung entschuldigen (OLG Hamm VRR 2008, 123 [Ls.]; OLG<br />

Karlsruhe zfs 1999, 538 [Antrag bereits einen Monat vor der Hauptverhandlung]; OLG Zweibrücken<br />

StraFo 1997, 81 [zumindest dann, wenn zusätzliche Tatsachen belegen, dass der Betroffene davon<br />

ausgegangen ist, seine Anwesenheitspflicht sei aufgehoben]). Zudem liegt in der unterlassenen<br />

Entscheidung eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör (OLG Bamberg<br />

NStZ-RR 2008, 86; OLG Zweibrücken zfs 2012, <strong>22</strong>9).<br />

4. Vertretungsvollmacht<br />

Für das Stellen des Entbindungsantrags, ggf. noch in der Hauptverhandlung (vgl. unten IV. 2. b cc),<br />

bedarf der Verteidiger eine über die Verteidigungsvollmacht hinausgehende Vertretungsvollmacht<br />

(st. OLG-Rspr., vgl. u.a. KG zfs 2015, 468; VRR 2014, 435; OLG Bamberg DAR 2009, 155; OLG Hamm<br />

NStZ-RR 2009, 353 [Ls.]; zfs 2004, 42; OLG Köln NStZ 2002, 268; jeweils m.w.N. aus der Rspr.; zur<br />

Vollmacht des Verteidigers allgemein BURHOFF, EV, Rn 4677; BURHOFF, HV, Rn 3557 ff.). Eine Telefaxkopie<br />

genügt (OLG Hamm a.a.O.). Die Erteilung der umfassenden Vertretungsvollmacht bedarf keiner<br />

besonderen Form; die Vollmacht kann auch mündlich erteilt werden. Das gilt auch für den<br />

Pflichtverteidiger; die diesem ggf. zuvor als Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht erlischt<br />

mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger (OLG München VRR 2010, 393).<br />

In der Vertretungsvollmacht kann zugleich die Ermächtigung enthalten sein, eine etwa erforderliche<br />

Vollmachtsurkunde im Namen des Vollmachtgebers zu unterzeichnen. In der Vergangenheit ist die<br />

obergerichtliche Rechtsprechung davon ausgegangen, dass eine so unterzeichnete Vollmacht für die<br />

Vertretung in der Hauptverhandlung reicht (vgl. BayObLG NStZ 2002, 277; KG zfs 2015, 468; KG StRR<br />

2014, 38; VA 2017, 50; OLG Brandenburg zfs 2015, 470; OLG Celle, Beschl. v. 20.1.2014 – 3<strong>22</strong> SsRs 24/13;<br />

OLG Dresden StRR 2013, 261 m. Anm. REICHLING).<br />

Hinweis:<br />

Daran wird nach der Neuregelung in § 329 StPO für das strafrechtliche Berufungsverfahren allerdings<br />

nicht mehr festgehalten (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 818 ff.; für das Berufungsverfahren KG StraFo <strong>2018</strong>,<br />

71; OLG Hamburg StV <strong>2018</strong>, 151 [Ls.] m. Anm. BURHOFF StRR 9/2017, 13).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1189


Fach 21, Seite 314<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

5. Voraussetzungen für eine Entbindung<br />

a) Allgemeines<br />

Die Entbindung von der Anwesenheitspflicht setzt gem. § 73 Abs. 2 OWiG voraus, dass eine Äußerung<br />

des Betroffenen zur Sache vorliegt oder dieser erklärt, dass er sich nicht zur Sache äußern werde und<br />

seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist<br />

(vgl. dazu BURHOFF/STEPHAN/NIEHAUS, OWi, Rn 2578 ff.; BURHOFF, EV, Rn 1393; BURHOFF, HV, Rn 1389;<br />

eingehend auch BURHOFF VRR 2007, 250; die Rspr.-Übersicht von KRENBERGER zfs 2012, 424 ff.; DERS., zfs<br />

2013, 364; FROMM DAR 2013, 368).<br />

Hinweis:<br />

Die Nichtentbindung von der Pflicht zum Erscheinen darf nicht dazu dienen, die – nach der Neuregelung<br />

des § 74 Abs. 2 OWiG dann ggf. zwingende – Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen „vorzubereiten“.<br />

b) Äußerung des Betroffenen zur Sache<br />

Die Entbindung von der Anwesenheitspflicht setzt zunächst voraus, dass eine Äußerung des<br />

Betroffenen zur Sache vorliegt oder dieser erklärt, dass er sich nicht zur Sache äußern werde. Eine<br />

Äußerung des Betroffenen zur Sache i.S.d. § 73 Abs. 2 OWiG liegt dann vor, wenn eine im Vorverfahren<br />

abgegebene Äußerung des Betroffenen in der Hauptverhandlung verwertbar ist (vgl. dazu GÖHLER/SEITZ/<br />

BAUER, § 73 Rn 6). Das hängt nicht davon ab, ob die bislang vom Betroffenen abgegebenen Erklärungen<br />

inhaltlich zur Sachaufklärung beitragen können. Die Frage nach der inhaltlichen Qualität einer<br />

vorliegenden Äußerung des Betroffenen ist zu unterscheiden von der Frage, ob die Anwesenheit des<br />

Betroffenen zur Sachaufklärung erforderlich ist (vgl. dazu unten II. 5. c). Also steht eine Erklärung, mit<br />

der der Betroffene Beweisergebnisse bezweifelt hat, der Entbindung nicht entgegen. Entsprechendes<br />

gilt für die Erklärung, er könne sich an den Vorfall nicht erinnern. Auch ein ggf. der Verwertung in der<br />

Hauptverhandlung an sich entgegenstehendes Beweisverwertungsverbot, z.B. weil der Betroffene<br />

nicht oder nicht ausreichend belehrt worden ist, wird – zumindest bei dem verteidigten Betroffenen –<br />

der Entbindung nicht entgegenstehen.<br />

c) Anwesenheit des Betroffenen nicht erforderlich<br />

Entscheidend für die Frage, ob der Betroffene von seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung<br />

entbunden werden kann/muss, ist weiter, ob von seiner Anwesenheit ein Aufklärungsbeitrag zu<br />

erwarten ist (OLG Bamberg NZV 2013, 612; vgl. auch die Rspr.-Nachw. bei KRENBERGER zfs 2012, 424, 426;<br />

DERS., zfs 2013, 364 f.; FROMM DAR 2013, 368, 369 f.). Ist der Betroffene geständig, kann z.B. eine nicht<br />

erfolgende Entbindung allein schon deshalb unwirksam sein (BayObLG NStZ-RR 1996, 179; OLG Hamm<br />

NZV 1997, 90; OLG Frankfurt NStZ 1997, 39 [jew. zum alten Recht]), und zwar auch dann, wenn es um die<br />

Verhängung eines Fahrverbots geht (s. aber OLG Frankfurt NZV 2012, 193; zfs 2012, 291; OLG Koblenz<br />

zfs 2001, 476; OLG Oldenburg NStZ 2010, 458).<br />

Hinweise:<br />

Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung und auch der Formulierung in § 73 Abs. 2 OWiG („erforderlich<br />

ist“) müssen konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Anwesenheit des Betroffenen zumindest<br />

Auswirkungen auf die Aufklärung des Sachverhalts hat (vgl. KG NStZ 2011, 584). Allein die theoretische<br />

Möglichkeit, dass der Betroffene seinen Entschluss zum Schweigen überdenkt, reicht nicht (OLG<br />

Düsseldorf zfs 2008, 594; VRR 2013, 158 m. Anm. BURHOFF; VA 2016, 176; OLG Hamm DAR 2016, 595; OLG Köln<br />

NZV 2013, 50; OLG Naumburg zfs 2015, 534; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; 2014, 100 m. Anm. HILLENBRAND<br />

VRR 2014, 35).<br />

Zu beachten ist, dass es bei der Beurteilung dieser Frage, ob von der Anwesenheit des Betroffenen ein<br />

Aufklärungsbeitrag zu erwarten ist, keinen Unterschied macht, ob eine Erklärung vom Betroffenen selbst<br />

oder von seinem mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger stammt (vgl. OLG Hamm StraFo<br />

2004, 281 m.w.N.; LG Meiningen zfs 2006, 115; GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 11a).<br />

1190 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 315<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Nach der Rechtsprechung des BGH zu § 73 Abs. 2 OWiG a.F. (zur Frage der Zulässigkeit der Anordnung<br />

des persönlichen Erscheinens) musste von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung<br />

ein Beitrag zur Aufklärung zumindest zu erwarten sein (BGHSt 38, 251, 255). Das soll auch nach der<br />

Neufassung noch gelten (GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 8). Insoweit reichen aber rein spekulative<br />

Überlegungen nicht aus (s. auch KG NStZ 2011, 584; OLG Naumburg StraFo 2007, 207; OLG Stuttgart<br />

DAR 2004, 542; OLG Rostock DAR 2003, 530; OLG Zweibrücken NZV 2000, 304; SCHNEIDER NZV 1999, 16),<br />

sondern es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Anwesenheit des Betroffenen in<br />

der Hauptverhandlung auf die Sachaufklärung Einfluss ausüben wird (so wohl auch GÖHLER/SEITZ/BAUER,<br />

§ 73 Rn 8). Zudem muss das Bestehen auf der Anwesenheit des Betroffenen verhältnismäßig sein (KG<br />

zfs 1999, 536), was bei weiterer Entfernung des Wohnorts des Betroffenen zum Gerichtsort eine Rolle<br />

spielen kann (s. auch GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 8; s. aber OLG Köln NJW 2002, 3791). Ergeben sich die<br />

erforderlichen Feststellungen aufgrund von Urkunden oder aus schriftlichen Auskünften des<br />

Betroffenen, dürfte seine Anwesenheit entbehrlich sein (KG zfs 1999, 536; OLG Karlsruhe zfs 1999, 538).<br />

Rechtsprechungsbeispiele, in denen eine Anwesenheit erforderlich ist:<br />

• der Betroffene beruft sich auf ein „Augenblicksversagen“ (OLG Jena zfs 2013, 174), auch wenn er<br />

erklärt, keine weiteren Angaben zur Sache machen zu wollen;<br />

• die Identifizierung des Betroffenen ist in der Hauptverhandlung anhand von Lichtbildern oder durch<br />

Zeugenaussagen erforderlich (BGHSt 30, 172, 175 [zum alten Recht]; BayObLG StraFo 1998, 315; OLG<br />

Hamm NZV 2005, 386; OLG Zweibrücken NZV 2011, 97, ähnlich aber zweifelhaft OLG Düsseldorf VRR<br />

2012, 233 (für einen Verstoß gegen das Verbot der Benutzung des Mobiltelefons im Straßenverkehr;<br />

s. auch oben);<br />

• der Betroffene bestreitet lediglich, nicht Fahrer des Pkw gewesen zu sein, da ein bloßes Nichtbestreiten<br />

kein Geständnis darstellt und keine hinreichende Tatsachengrundlage für die richterliche Überzeugungsbildung<br />

bildet (OLG Düsseldorf VRR 2007, 192 [m.E. zweifelhaft]; ähnlich OLG Brandenburg NStZ 2014, 672;<br />

zutreffende a.A. OLG Hamm, Beschl. v. 1.7.2008 – 5 Ss OWi 415/08);<br />

• die näheren Umstände, die für die Verhängung eines Fahrverbots von Bedeutung sind, müssen/sollen<br />

aufgeklärt werden (OLG Karlsruhe zfs 2001, 476; OLG Oldenburg NStZ 2010, 458; GÖHLER/SEITZ/BAUER, a.a.O.;<br />

s. aber OLG Frankfurt NZV 2012, 193; zfs 2012, 291; OLG Koblenz zfs 2001, 476);<br />

• der Betroffene hat zwar angeregt, das Fahrverbot aus beruflichen Gründen entfallen zu lassen, seine<br />

Angaben hierzu sind aber unzureichend und er hat nicht unmissverständlich klargestellt, auch hierzu<br />

keine weiteren Angaben machen zu wollen (OLG Oldenburg NStZ 2010, 458);<br />

• der Verteidiger teilt lediglich mit, dass er das Erscheinen des Betroffenen für entbehrlich halte, da das<br />

Verfahren seines Erachtens auch ohne mündliche Verhandlung im Rahmen einer Einstellung erledigt<br />

werden könne (OLG Hamm VA 2010, 17);<br />

• die bloße physische Präsenz des berechtigterweise schweigenden Betroffenen dient zur weiteren<br />

Sachaufklärung, z.B. um die Erinnerung eines Zeugen aufzufrischen (OLG Bamberg VA 2015, 14; OLG<br />

Karlsruhe StraFo 2010, 494; ähnlich wohl OLG Düsseldorf VRR 2012, 233 m. abl. Anm. BURHOFF).<br />

Rechtsprechungsbeispiele, in denen eine Anwesenheit nicht erforderlich ist:<br />

• i.d.R. um den Betroffenen mit dem Polizeibeamten gegenüberzustellen, der ein Geschwindigkeitsmessgerät<br />

bedient hat (vgl. z.B. OLG Köln StraFo 2009, 76; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 273; ähnlich<br />

OLG Bamberg VRR 2010, 231 m. Anm. GIEG; OLG Hamm DAR 2016, 595; s. aber auch OLG Düsseldorf VRR<br />

2012, 233 für einen Verstoß gegen das Verbot der Benutzung des Mobiltelefons im Straßenverkehr);<br />

• in einem Regelfall auch nicht, um die Verhältnismäßigkeit der Anordnung des Fahrverbots überprüfen<br />

zu können (OLG Bamberg NZV 2013, 612; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.6.2007 – 2 Ss (OWi) 5 B/07;<br />

OLG Frankfurt NZV 2012, 193; zfs 2012, 291; OLG Hamm VRR 2007, 435; Beschl. v. 1.7.2008 – 5 Ss OWi<br />

415/08; s. aber OLG Karlsruhe StraFo 2010, 494; zfs 2001, 476; OLG Oldenburg NStZ 2010, 458);<br />

• wenn sich das Gericht ein Bild vom Betroffenen machen will (OLG Düsseldorf NZV 2007, 586 [Ls.]);<br />

• wenn der Betroffene einräumt, Fahrer gewesen zu sein, und darüber hinaus von seinem Schweigerecht<br />

Gebrauch machen will (z.B. KG VRR 2013, 157; VA 2017, 50; OLG Bamberg VRR 2013, 350; OLG<br />

Brandenburg VA 2016, 121; OLG Dresden zfs 2017, 530; OLG Düsseldorf VRR 2013, 158 m. Anm. BURHOFF;<br />

VA 2016, 176; OLG Frankfurt zfs 2012, 291; OLG Hamburg, Beschl. v. 5.3.<strong>2018</strong> – 6 RB 3/18; OLG Hamm<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1191


Fach 21, Seite 316<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

DAR 2016, 595; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 – 1 Ss 78/09; OLG Karlsruhe StraFo 2010, 494; OLG<br />

Schleswig SchlHA 2011, 311 [Dö/Dr]; OLG Stuttgart zfs 2007, 654; DAR 2014, 100 m. Anm. HILLENBRAND;<br />

VRR 2014, 35; OLG Zweibrücken NZV 2011, 97; VA 2008, 198; LG Wuppertal zfs 2014, 653), und zwar<br />

auch bei einem Jugendlichen (OLG Frankfurt a.a.O.);<br />

• wenn der Betroffene nur über die Funktionsweise von Messgeräten („schulmeisterlich“) belehrt<br />

werden soll (OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 350);<br />

• nur weil das Gericht eine Verfahrensverbindung vornehmen will (OLG Bamberg VRR 2011, 472);<br />

• weil das AG in der Hauptverhandlung einen rechtlichen Hinweis erteilen will (OLG Karlsruhe zfs 2013, 653);<br />

• allein deshalb, weil (theoretisch) der Betroffene seinen Entschluss zum Schweigen in der Hauptverhandlung<br />

überdenken könnte (KG NStZ 2011, 584; NStZ-RR 2007, 184; OLG Düsseldorf VRR 2013,<br />

158 m. Anm. BURHOFF; OLG Koblenz NZV 2007, 587; ähnl. für bloße Spekulationen OLG Karlsruhe StRR<br />

2012, 283 [Ls.]; OLG Köln NZV 2013, 50; OLG Naumburg StraFo 2007, 207; OLG Stuttgart DAR 2014, 100<br />

m. Anm. HILLENBRAND VRR 2014, 35);<br />

• um die wirtschaftlichen Verhältnisse aufzuklären (OLG Frankfurt NZV 2012, 192; zfs 2012, 291; OLG<br />

Karlsruhe VRR 2012, 177; ähnlich OLG Bamberg NZV 2013, 612; s. aber, wenn eine deutliche Erhöhung<br />

der Regelgeldbuße in Betracht zu ziehen ist, BayObLG NJW 1999, <strong>22</strong>92; OLG Hamm, Beschl. v. 3.8.2009<br />

– 3 Ss OWi 348/09);<br />

• weil ggf. von einem Zeugen in Anwesenheit des Betroffenen zuverlässigere Angaben zu erwarten<br />

wären (OLG Bamberg zfs 2006, 413);<br />

• weil das Gericht dem Betroffenen Gelegenheit gegeben will, „seine Entscheidung zu überdenken“<br />

(OLG Stuttgart DAR 2005, 542; a.A. GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 8).<br />

d) Zumutbarkeit des Erscheinens<br />

Dem Betroffenen muss das Erscheinen auch zumutbar sein (KG zfs 1999, 536; vgl. dazu bei großer<br />

Entfernung aber OLG Köln NJW 2002, 3791). Das ist der Fall, wenn die Sache nicht geringfügig ist und der<br />

Betroffene in der Nähe des Gerichts wohnt oder sich dort aufhält (GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 8). Ist die<br />

Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung des Sachverhalts nicht notwendig und handelt es sich um<br />

eine geringfügige OWi (Geldbuße bis zu 100 €), so wird, auch wenn der Betroffene in der Nähe des<br />

Gerichts wohnt, das Erscheinen i.d.R. nicht zumutbar sein. Das gilt erst recht, wenn der Betroffene seinen<br />

Wohnort weit entfernt vom Gerichtsort hat (BayObLG NJW 1997, 3455 [Ls]; vgl. aber BayObLG StraFo 1998,<br />

315 [zum alten Recht; persönliches Erscheinen erforderlich zum Zwecke der Identifizierung]).<br />

e) Formulierung des Entbindungsantrags<br />

aa) Unmissverständliche Formulierung<br />

Der Verteidiger muss auf die Formulierung des Antrags große Sorgfalt verwenden. Der Antrag nach<br />

§ 73 Abs. 2 OWiG muss zwar nicht als solcher formuliert sein und es genügt, wenn der Betroffene zum<br />

Ausdruck bringt, von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung befreit werden zu wollen<br />

(OLG Brandenburg zfs <strong>2018</strong>, 50; GÖHLER/SEITZ/BAUER, OWiG, § 73 Rn 4). Der Betroffene ist aber – so die<br />

obergerichtliche Rechtsprechung – verpflichtet, einen Sachverhalt vorzutragen, der geeignet ist, sein<br />

Ausbleiben zu entschuldigen (vgl. OLG Bamberg VRR 2009, 231 m. Anm. GIEG; OLG Oldenburg NStZ<br />

2010, 458). Nach Auffassung des OLG Düsseldorf (VRR 2007, 192) reicht es zur Begründung des Antrags,<br />

von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu dessen Identifizierung abzusehen,<br />

daher nicht, wenn er bei einem durch ein Lichtbild erfassten Verkehrsverstoß lediglich vorträgt, dass er<br />

„nicht bestreitet“, zum Tatzeitpunkt der Fahrer des Fahrzeugs gewesen zu sein. Der Entbindungsantrag<br />

ist auch abzugrenzen vom Antrag auf Terminsverlegung (OLG Hamm VRS 108, 274).<br />

Hinweis:<br />

Der Verteidiger muss darauf achten, dass ein Entbindungsantrag unmissverständlich formuliert ist. Ist/<br />

war das nicht der Fall und führt das zu Nachfragen des AG, obliegt dem Betroffenen eine Mitwirkungspflicht.<br />

Er muss daher, wenn sich aus der Nachfrage des Gerichts ergibt, dass dieses ein missverständlich<br />

formuliertes Schreiben des Betroffenen anders als von diesem gewollt nicht als Entbindungsantrag auslegt,<br />

das Missverständnis aufklären. Tut er das nicht, muss er sich an dem Erklärungsgehalt, den das Gericht<br />

dem Schreiben beimisst, festhalten lassen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.12.2014 – 1 (8) SsRs 662/14).<br />

1192 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 317<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

bb) „Gehörsrügenfalle“<br />

Das „Entbindungsbegehren“ muss im Antrag also eindeutig und unmissverständlich zum Ausdruck<br />

kommen. Der Verteidiger sollte sich davor hüten, den Entbindungsantrag verklausuliert und ggf. in viel<br />

anderem Text „versteckt“ zu stellen. Denn die OLG-Rechtsprechung diskutiert inzwischen ein solches<br />

Antragsverhalten unter dem Stichwort der „Gehörsrügenfalle“ und sieht es als rechtsmissbräuchlich an,<br />

wenn die ausdrückliche und unmissverständliche Stellung eines Antrags möglich war (OLG Düsseldorf<br />

StRR 6/2017, 19; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259; OLG Oldenburg NJW <strong>2018</strong>, 681; OLG Rostock NJW 2015,<br />

1770; s. auch OLG Zweibrücken zfs <strong>2018</strong>, 50). Folge davon ist dann, dass das AG den Antrag nicht<br />

bescheiden muss und in der unterlassenen Bescheidung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 80<br />

Abs. 1 Nr. 2 OWiG) liegt.<br />

Allerdings darf, wenn der Antrag nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ oder<br />

„verklausuliert“ eingereicht wird, aus dem Umstand, dass der Antrag erst am Sitzungstag kurz vor dem<br />

anberaumten Hauptverhandlungstermin beim AG eingeht, nicht auf eine „Gehörsrügenfalle“ geschlossen<br />

werden mit der Folge, dass über den Antrag nicht (mehr) entschieden werden müsste (OLG<br />

Bamberg StraFo 2017, 510).<br />

III.<br />

Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung/Abwesenheitsverhandlung<br />

1. Vertretung des Betroffenen<br />

Hat das Gericht den Betroffenen von der Pflicht zum Erscheinen entbunden, kann er sich gem. § 73<br />

Abs. 3 OWiG in der Hauptverhandlung durch einen schriftlich zur Vertretung bevollmächtigten<br />

Verteidiger vertreten lassen (zur Vertretung des Betroffenen durch den Verteidiger BURHOFF, HV, Rn 3539<br />

und Rn 3574; zur Vertretungsvollmacht oben II. 4.). Erscheint der Betroffene nicht und ist er auch nicht<br />

durch einen Verteidiger vertreten, kann das Gericht entweder die Hauptverhandlung vertagen oder aber<br />

auch das Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchführen.<br />

Hinweis:<br />

Eine Verwerfung des Einspruchs kommt nicht in Betracht, auch nicht, wenn der Verteidiger nicht erschienen<br />

ist (OLG Frankfurt zfs 2000, 272; OLG Hamm NZV 2001, 491; zfs 2011, 411; VA 2016, 176; OLG<br />

Jena StraFo 2004, 176; OLG Köln StRR 2009, 316; OLG Naumburg, Beschl. v. 12.1.2016 – 2 Ws 5/16).<br />

2. Abwesenheitsverhandlung<br />

Eine Abwesenheitsverhandlung ist nach § 74 Abs. 1 OWiG nur zulässig, wenn der Betroffene aufgrund eines<br />

Entbindungsantrags von der Anwesenheitspflicht entbunden worden ist (OLG Jena zfs 2006, 348; vgl. auch<br />

noch OLG Hamm zfs 2011, 411). Für die Abwesenheitsverhandlung gelten folgende Besonderheiten:<br />

a) Besonderheiten<br />

Nach § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG sind frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder<br />

protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die<br />

Hauptverhandlung einzuführen. Nicht ausreichend ist die Einführung des Inhalts einer dienstlichen<br />

Äußerung eines Polizeibeamten, da es sich dabei nicht um eine schriftliche Erklärung des Betroffenen<br />

handelt. Entscheidend für die Einführung in die Hauptverhandlung ist, dass es sich um vom Betroffenen<br />

genehmigte Äußerungen handelt (so wohl auch GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 12). Auch die in einem<br />

Schriftsatz des Verteidigers vorgetragenen Angaben des Betroffenen können bekannt gegeben werden<br />

(OLG Frankfurt NJW 1993, 2129 [Ls.]; OLG Zweibrücken NZV 1994, 372).<br />

Eine schriftliche, ggf. durch die Verteidigung weitergeleitete, Sacheinlassung des von der Erscheinenspflicht<br />

in der Hauptverhandlung entbundenen (abwesenden) Betroffenen ist auch dann zu berücksichtigen, wenn<br />

sie dem AG erst am Sitzungstag unmittelbar vor dem anberaumten Termin übermittelt wird. Darauf, ob<br />

die Sacheinlassung bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung dem Gericht vorgelegt wird oder ihr<br />

Inhalt tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist, kommt es nicht an. Wird die Einlassung nicht<br />

berücksichtigt, liegt ein Gehörsverstoß vor (OLG Bamberg VRR 8/<strong>2018</strong>, 3 [Ls.]).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1193


Fach 21, Seite 318<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Vor der Hauptverhandlung schriftlich gestellte Beweisanträge sind nur Beweisanregungen, über die<br />

nicht gem. § 244 Abs. 3, 4, 6 StPO, sondern im Rahmen der Aufklärungspflicht zu befinden ist (GÖHLER/<br />

SEITZ/BAUER, § 74 Rn 17a). Vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich gestellte Anträge des Betroffenen<br />

müssen aber in einer Abwesenheitsverhandlung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht<br />

werden (OLG Celle VRR 3/2017, 21). Dem Betroffenen unbekannte Beweismittel dürfen in seiner<br />

Abwesenheit nicht verwendet/verwertet werden (OLG Bamberg zfs 2014, <strong>22</strong>9 m. Anm. KRENBERGER; OLG<br />

Jena NStZ-RR 2010, 352; OLG Stuttgart zfs 2010, 48).<br />

Das gilt z.B. für einen Computerberechnungsbogen (OLG Hamm NJW 1996, 534; VRS 93, 3599), für<br />

Lichtbilder (OLG Bamberg zfs 2014, <strong>22</strong>9 m. Anm. KRENBERGER), für eine Meldeauskunft (OLG Stuttgart<br />

DAR 2010, 590; zfs 2010, 48), für das Messprotokoll beim Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

(OLG Köln NJW 1996, 535), für eine PTB-Auskunft (OLG Düsseldorf zfs 2008, 535), für<br />

Zeugenaussagen, die weder dem Betroffenen noch seinem Verteidiger bekannt sind, auch wenn das<br />

Beweismittel im Bußgeldbescheid aufgeführt war (OLG Bamberg DAR 2011, 401; ähnlich OLG Stuttgart<br />

zfs 2010, 48).<br />

Hinweis:<br />

Beabsichtigt der Richter die Einführung und Verwertung von Beweismitteln, zu denen sich der Betroffene<br />

bisher noch nicht äußern konnte, muss er die Hauptverhandlung unterbrechen oder aussetzen und den<br />

Betroffenen und dessen Verteidiger entsprechend unterrichten (OLG Stuttgart a.a.O.).<br />

Für die Vertretung des Betroffenen durch den Verteidiger gelten die Grundsätze, die zu den §§ 234, 411<br />

Abs. 2 StPO entwickelt worden sind; es wird insoweit auf BURHOFF, HV, Rn 3557 verwiesen. § 74 Abs. 1<br />

S. 3 OWiG bestimmt ausdrücklich, dass ein nach § 265 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO erforderlicher Hinweis<br />

dem Verteidiger erteilt werden kann (zur Aussetzung der Hauptverhandlung u.a. OLG Naumburg VA<br />

2016, 85). Hat der Verteidiger keine Vertretungsvollmacht i.S.d. § 73 Abs. 3 OWiG kann er den<br />

Betroffenen in der Abwesenheitsverhandlung nicht vertreten, d.h. er kann für diesen keine<br />

Erklärungen abgeben und entgegennehmen. Der mit der Verteidigung beauftragte Rechtsanwalt<br />

hat aber sämtliche ihm als Verteidiger zustehenden Befugnisse (vgl. KG, Beschl. v. 2.9.2015 – 3 Ws (B)<br />

447/15; v. 2.3.<strong>2018</strong> – 3 Ws (B) 71/18 unter Hinw. auf. BayObLG VRS 61, 39). Dazu gehört auch das Recht,<br />

in der Hauptverhandlung im eigenen Namen Anträge zu stellen (KG a.a.O.).<br />

b) Entschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen<br />

Bleibt der Betroffene in der Hauptverhandlung entschuldigt aus, darf die Hauptverhandlung nicht<br />

durchgeführt werden (GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 19 m.w.N. aus der früheren Rspr.; zur a.A. in der Lit.<br />

vgl. z.B. KRUMM DAR 2008, 413, der sich zu Unrecht auf den Wortlaut des § 74 Abs. 1 OWiG bezieht). Das<br />

gilt auch, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten ist (OLG Hamm NJW 1976, 303), es sei<br />

denn, dieser erklärt, er sei mit der Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden (OLG<br />

Hamm VRS 39, 359). Voraussetzung dürfte es dann aber sein, dass der Verteidiger eine (besondere)<br />

Vertretungsvollmacht für den Angeklagten hat (BayObLG NStZ 2001, 585 [Ls.]).<br />

IV.<br />

Verwerfung des Einspruchs (§ 74 Abs. 1 OWiG)<br />

1. Allgemeines<br />

Hat das Gericht den Betroffenen nicht vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, erscheint<br />

der Betroffene aber dennoch in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht, ist das<br />

Gericht nach § 74 Abs. 2 OWiG verpflichtet/gezwungen, den Einspruch durch Urteil zu verwerfen (OLG<br />

Dresden zfs 2014, 590; OLG Hamm NZV 2012, 354). Die nach altem Recht mögliche Vorführung des<br />

Betroffenen oder die Verhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG in seiner Abwesenheit sind nicht (mehr)<br />

möglich (OLG Hamm VRS 121, 335; GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 34).<br />

1194 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 319<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Hinweis:<br />

Der Einspruch darf auch (noch) verworfen werden, wenn der Betroffene in der Hauptverhandlung<br />

ausbleibt, die nach Zurückverweisung durch das OLG anberaumt worden ist, nachdem ein vom AG<br />

zunächst erlassenes Sachurteil (nur) im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben worden ist (BGHSt 57, 282;<br />

vgl. dazu einerseits OLG Celle [Vorlagebeschluss] NZV 2012, 44 m.w.N.; andererseits OLG Hamm VRR<br />

2007, 155).<br />

Inzwischen wird die Frage diskutiert, ob und welche Auswirkungen das Urteil des EGMR vom 8.11.2012<br />

in Sachen NEZIRAJ im Bußgeldverfahren hat (EGMR NStZ 2013, 350 m. Anm. PÜSCHEL; StraFo 2012, 490).<br />

Dieses ist zwar für das Verfahren nach § 329 Abs. 1 StPO ergangen (vgl. dazu eingehender BURHOFF, HV,<br />

Rn 8<strong>22</strong> m.w.N.). Es stellt sich aber auch im Bußgeldverfahren die Frage, ob der Einspruch des<br />

Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden kann/muss, wenn für den Betroffenen ein<br />

vertretungsberechtigter und -williger Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend ist. Die OLG-Rspr.<br />

hat die Übertragung der Grundsätze des Urteils des EGMR auf das Bußgeldverfahren und die<br />

Zulässigkeit der Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG abgelehnt (vgl. OLG Brandenburg<br />

NStZ 2014, 672; zfs 2014, 590 m. zust. Anm. KRENBERGER; OLG Dresden zfs 2014, 591; VRR 2014, 272 m.<br />

Anm. DEUTSCHER; s. dazu auch SITZER StraFo 2014, 1).<br />

Hinweis:<br />

Anders als bei § 329 Abs. 1 StPO hat das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in<br />

der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“<br />

(vgl. BGBl I, S. 1382; BT-Drucks 18/3562 u. 18/5254) im OWiG Änderungen bzw. Anpassungen an die Rspr. des<br />

EGMR nicht vorgenommen. Insbesondere ist § 74 Abs. 2 OWiG nicht geändert worden. Der Streit um die<br />

Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR wird sich also fortsetzen.<br />

2. Voraussetzungen der Verwerfung<br />

Für die (zwingende) Verwerfung des Einspruchs (vgl. wegen der Einzelheiten GÖHLER/SEITZ/BAUER, §74<br />

Rn 19 ff. m.w.N.; BURHOFF, HV, Rn 1389 ff.) gelten folgende Voraussetzungen:<br />

a) Ordnungsgemäße Ladung<br />

Der Betroffene muss ordnungsgemäß unter Hinweis auf die Folgen des unentschuldigten Ausbleibens<br />

(§ 74 Abs. 3 OWiG; zur Belehrung s. GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 21 ff.) geladen worden sein<br />

(vgl. dazu BVerfG NStZ-RR 2004, 372; s. OLG Zweibrücken NStZ 1996, 239 [bei kurzfristiger<br />

Vorverlegung der Terminsstunde kann der Hinweis unterbleiben]; OLG Hamburg NStZ-RR 1998, 183<br />

[Sache, in der verhandelt werden soll, muss angegeben werden]; zur [verneinten] Frage, ob die<br />

Belehrung in einer früheren Ladung ausreicht, s. BayObLG NZV 1999, 306 und GÖHLER/SEITZ/BAUER, §74<br />

Rn <strong>22</strong> m.w.N.), wobei Zweifel am Vorliegen einer ordnungsgemäßen Ladung ausnahmsweise nicht<br />

zulasten des Betroffenen gehen (OLG Jena StraFo 2004, 357; zur ordnungsgemäßen Ladung s. auch<br />

BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. <strong>22</strong>, S. 940).<br />

Hinweis:<br />

Ist der gewählte Verteidiger nicht ordnungsgemäß oder überhaupt nicht geladen worden, kann<br />

der Einspruch nicht verworfen werden (BayObLG DAR 2001, 37; NStZ-RR 2001, 377; VRR 2012, 430).<br />

b) Ausbleiben des Betroffenen<br />

aa) Genügende Entschuldigung<br />

Der Betroffene muss bei Beginn der Hauptverhandlung (s. BURHOFF <strong>ZAP</strong> F <strong>22</strong>, S. 944; BURHOFF, HV, Rn 1416<br />

1803), auch bei Beginn einer Fortsetzungsverhandlung (OLG Jena NStZ-RR 2003, 212 [Ls.]; s. aber LG Kiel<br />

VRR 2008, 38), ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sein. Insoweit gelten grundsätzlich die<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1195


Fach 21, Seite 320<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

zum Ausbleiben des Angeklagten, vor allem zu den §§ 329, 412 StPO für die Berufungsverwerfung wegen<br />

Ausbleibens des Angeklagten entwickelten Grundsätze (GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 29, 30 ff. m.w.N.; vgl.<br />

zur genügenden Entschuldigung auch BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. <strong>22</strong>, S. 944; s. auch OLG Bamberg VRR 2012, 276<br />

[kurzfristiges Überschreiten der bei einer Unterbrechung der Hauptverhandlung vorgesehenen Unterbrechungszeit]).<br />

Genügend entschuldigt ist der Betroffene z.B. auch, wenn ihm in der Ladung mitgeteilt<br />

worden ist, er sei zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht verpflichtet (OLG Hamm NZV 1999,<br />

307). Gegebenenfalls besteht eine Wartepflicht des Gerichts (vgl. BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. <strong>22</strong>, S. 949 und aus<br />

neuerer Zeit KG VRR 2/2017, 18; JurBüro 2015, 604). Allerdings ist die Nichtbescheidung eines<br />

Akteneinsichtsgesuchs allein kein Grund, der Hauptverhandlung fernzubleiben (OLG Karlsruhe NStZ-<br />

RR 2010, 287; s. aber OLG Koblenz StV 2009, 477).<br />

Hinweis:<br />

Ist die Hauptverhandlung ohne ausdrückliche Befristung unterbrochen worden, um z.B. dem Betroffenen<br />

die Möglichkeit zu geben, ein gerichtliches Hinweisschreiben mit seinem Verteidiger zu erörtern, darf der<br />

Einspruch ohne Hinzutreten weiterer Umstände auch dann nicht verworfen werden, wenn der Betroffene<br />

und sein Verteidiger bei Wiederaufruf der Sache nicht erscheinen und die Unterbrechung bis zum Wiederaufruf<br />

nur kurze Zeit gedauert hat (KG NStZ-RR 2015, 55).<br />

Die genügende Entschuldigung des Betroffenen prüft das Gericht im Wege des Freibeweisverfahrens<br />

(OLG Oldenburg VRS 88, 295). Hat es Zweifel an der genügenden Entschuldigung, sind die<br />

Voraussetzungen für die Einspruchsverwerfung nicht gegeben (s. u.a. OLG Düsseldorf StraFo 1996,<br />

156; 1997, 82; zu allem auch GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 74 Rn 31 ff. m.w.N.; zur genügenden Entschuldigung bei<br />

verspäteter Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags OLG Düsseldorf VRS 88, 137). Das Gericht hat<br />

ggf. eine Aufklärungspflicht (s. IV. 2 b) bb). Ob der Betroffene entschuldigt ist, richtet sich i.Ü. nicht<br />

danach, was er selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat, maßgebend ist, ob sich aus den Umständen,<br />

die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar<br />

waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt (KG VRS 129, 15 m.w.N.).<br />

bb) Aufklärungspflicht des Gerichts<br />

Das Gericht hat eine Aufklärungspflicht über die Gründe für das Ausbleiben des Betroffenen (vgl. u.a.<br />

KG StraFo 2015, 255; DAR 2011, 146; OLG Koblenz, Beschl. v. 23.10.2013 – 2 SsRs 90/13 [Vorlage eines<br />

Attestes]; OLG Schleswig zfs 2006, 53; OLG Zweibrücken zfs 2006, 233; LG Bielefeld VA 2016, 86); auch<br />

insoweit gelten die für das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens<br />

entwickelten Grundsätze entsprechend (vgl. dazu u.a. BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. <strong>22</strong>, S. 940 ff.). Über die Gründe<br />

muss sich das Gericht vor der Verwerfung des Einspruchs erkundigen, und zwar auf der Geschäftsstelle<br />

(KG StraFo 2014, 467; 2014, 468; NZV 2009, 518; DAR 2012, 394; OLG Köln NStZ-RR 2003, 54; OLG<br />

Rostock VRS 126, 208), aber nicht auch noch bei der allgemeinen gerichtlichen Eingangsstelle (OLG<br />

Bamberg NStZ-RR 2009, 149; KG a.a.O.).<br />

Der Betroffene ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe<br />

verpflichtet. Vielmehr muss der Amtsrichter konkreten Anhaltspunkten für mögliche<br />

Entschuldigungsgründe von Amts wegen nachgehen (KG StraFo 2015, 256; OLG Brandenburg, Beschl. v.<br />

30.8.2016 – (2 B) 53 Ss-OWi 491/16). Ein konkreter Anhaltspunkt für einen möglichen Entschuldigungsgrund<br />

liegt z.B. vor, wenn dem Betroffenen in einem eingereichten ärztlichen Attest Verhandlungsunfähigkeit<br />

bescheinigt wird (KG, Beschl. v. 16.11.2015 – 3 Ws (B) 541/15; OLG Brandenburg a.a.O.; OLG<br />

Zweibrücken, Beschl. v. 19.1.<strong>2018</strong> – 1 OWi 2 SsBs 84/17). Ein möglicher Entschuldigungsgrund ist auch die<br />

bevorstehende Niederkunft der Ehefrau (KG VA 2016, 14; zum Urlaub s. OLG Hamm, Beschl. v. 4.11.2015 –<br />

1 RBs 162/15).<br />

cc) Entbindungsantrag noch in der Hauptverhandlung<br />

Erscheint der Verteidiger des persönlich geladenen Betroffenen im Termin, kann der Einspruch vom AG<br />

dennoch verworfen werden, da – anders als im Fall des § 412 StPO – der Betroffene, dessen Entbin-<br />

1196 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>


Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten Fach 21, Seite 321<br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

dungsantrag abgelehnt worden ist, sich nicht vertreten lassen kann (§ 73 Abs. 3 OWiG; GÖHLER/SEITZ/<br />

BAUER, § 74 Rn 33). Der Verteidiger kann aber noch zu Beginn der Hauptverhandlung den Antrag stellen,<br />

den Betroffenen jetzt noch vom persönlichen Erscheinen zu entbinden, etwa weil die Ablehnung<br />

des Antrags im Vorverfahren unzulässig war (st. Rspr. aller OLG: KG NZV 2017, 290; zfs 2015, 468<br />

m. Anm. KRENBERGER; VRR 2007, 116; 2014, 435; VA 2017, 50; OLG Bamberg StraFo 2014, 467; zfs 2015, 50;<br />

OLG Brandenburg zfs 2004, 235; OLG Celle StraFo 2009, 340; OLG Düsseldorf VRR 2012, 82 [Ls.]; OLG<br />

Hamm StraFo 2006, 425; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 – 1 Ss 78/09; OLG Naumburg zfs 2002, 251<br />

[Vorlage an den BGH]; zfs 2002, 595; OLG Köln NStZ-RR 2002, 114; NStZ 2002, 268; OLG Zweibrücken<br />

zfs 2011, 708; BURHOFF/STEPHAN/NIEHAUS, OWi, Rn 24<strong>22</strong> m.w.N.; BURHOFF, HV, Rn 1389 ff.; BURHOFF VRR 2007,<br />

250, 252; a.A. immer noch GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 4; offengelassen vom BGH NStZ 2004, 21 [Ls.],<br />

der die Vorlage des OLG Naumburg [a.a.O.] als unzulässig angesehen hat). Denn wenn kurzfristig<br />

eingegangene Entschuldigungen bei der Verwerfung zu berücksichtigen sind (vgl. dazu GÖHLER/SEITZ/<br />

BAUER, § 74 Rn 31) und der Verteidiger bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen auf dessen<br />

Anwesenheit verzichten können soll (so GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 73 Rn 4), besteht kein Grund, die für<br />

einen (kurzfristigen) Entbindungsantrag – noch in der Hauptverhandlung – vorgetragenen Umstände<br />

jetzt ebenfalls nicht noch im Rahmen der Entscheidung über einen Entbindungsantrag zu berücksichtigen.<br />

Dieser empfiehlt sich besonders, wenn der Betroffene ausbleibt und der Verteidiger<br />

damit rechnet, dass er sein Ausbleiben ggf. nicht genügend entschuldigen kann. Lehnt das Gericht<br />

den Antrag durch Beschluss ab, kann es anschließend aber sogleich den Einspruch verwerfen (OLG<br />

Hamm VRS 49, 207).<br />

Der Verteidiger kann den Entbindungsantrag in der Hauptverhandlung aber nur stellen, wenn er eine<br />

über die Verteidigervollmacht hinausgehende (schriftliche) Vertretungsvollmacht hat (u.a. KG VRR<br />

2014, 435; OLG Bamberg DAR 2011, 401; StraFo 2014, 467; OLG Köln NJW 2002, 3791; NStZ 2002, 268;<br />

OLG Hamm zfs 2004, 42; 2015, 52; OLG Zweibrücken zfs 2011, 708; weitere Nachweise aus der Rspr.<br />

s. oben unter II. 4.). Allerdings umfasst die (allgemeine) Vollmacht, den Betroffenen vertreten zu dürfen,<br />

auch die Ermächtigung zur Stellung eines Entbindungsantrags (OLG Köln a.a.O.). Es reicht aus, wenn die<br />

Vollmacht in Form einer Telefaxkopie vorliegt (OLG Hamm a.a.O.). Die Erteilung der umfassenden<br />

Vertretungsvollmacht bedarf i.Ü. keiner besonderen Form und kann auch mündlich erteilt werden. In<br />

ihr kann – nach der früheren Rspr. – zugleich die Ermächtigung enthalten sein, eine etwa erforderliche<br />

Vollmachtsurkunde im Namen des Vollmachtgebers zu unterzeichnen (vgl. BayObLG NStZ 2002, 277; KG<br />

StRR 2014, 38; OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2015 – (1 Z) 53 Ss-OWi 619/14 (351/14); OLG Celle, Beschl.<br />

v. 20.1.2014 – 3<strong>22</strong> SsRs 24/13; OLG Dresden StRR 2013, 261 m. Anm. REICHLING). Ist der (Wahl-)Verteidiger<br />

vertretungsberechtigt und erteilt er einem anderen Rechtsanwalt Untervollmacht, bedarf diese nicht<br />

der Schriftform (s. BayObLG VRS 81, 34 m.w.N.; für das Bußgeldverfahren OLG Celle VRR 2011, 116<br />

m. Anm. BURHOFF).<br />

Hinweis:<br />

Da an diesen Grundsätzen nach der Neuregelung in § 329 StPO für das strafrechtliche Berufungsverfahren<br />

nicht mehr festgehalten wird (vgl. BURHOFF, HV, Rn 825), sollte der Verteidiger auch im<br />

Bußgeldverfahren nach Möglichkeit eine vom Betroffenen unterzeichnete Vertretungsvollmacht<br />

vorlegen (können).<br />

Auf die Formulierung der Vertretungsvollmacht ist besondere Sorgfalt zu verwenden. Insbesondere<br />

ist darauf zu achten, dass ggf. nicht nur eine Vertretungsvollmacht für das Strafverfahren, sondern auch<br />

für das Bußgeldverfahren erteilt wird (vgl. dazu OLG Bamberg NJW 2007, 1477 [Ls.]; VRR 2011, 472;<br />

OLG Hamm StraFo 2006, 425; BURHOFF, EV, Rn 4048 4070; SPITZER StV 2016, 48 f.). Nach Auffassung einiger<br />

OLG gilt eine ausdrücklich für das Strafverfahren erteilte Vollmacht auch nicht ohne Weiteres in<br />

einem nachfolgenden Bußgeldverfahren (OLG Brandenburg StRR 2009, 261, OLG Zweibrücken NStZ-RR<br />

2016, 183).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong> 1197


Fach 21, Seite 3<strong>22</strong><br />

Ausbleiben des Angeklagten<br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

V. Rechtsmittel<br />

Gegen das in Abwesenheit des Betroffenen ergangene Urteil ist Rechtsbeschwerde nach den<br />

allgemeinen Regeln der §§ 79 ff. OWiG zu erheben (vgl. dazu BURHOFF/JUNKER, OWi, Rn 2929; JUNKER in:<br />

BURHOFF (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil A<br />

Rn 1053 ff.).<br />

Ist ein Entbindungsantrag nicht oder nicht richtig beschieden, kann das ebenfalls mit der Rechtsbeschwerde<br />

gerügt werden. Entsprechendes gilt, wenn das AG den Einspruch des Betroffenen nach § 74<br />

Abs. 2 OWiG verworfen hat, obwohl dieser „genügend entschuldigt“ war.<br />

Hinweis:<br />

Der Verteidiger muss in diesen Fällen grundsätzlich immer die Verfahrensrüge erheben (vgl. BayObLG<br />

DAR 2000, 578; GÖHLER/SEITZ/BAUER, § 80 Rn 16b). Bei den sog. geringen Geldbußen (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 1<br />

OWiG), bei denen eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Verletzung des formellen Rechts nicht<br />

in Betracht kommt, ist eine Versagung/Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG<br />

geltend zu machen.<br />

Das bedeutet, dass nach §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO der Tatsachenvortrag<br />

so vollständig sein muss, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift<br />

prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen des Betroffenen zutrifft<br />

(vgl. dazu u.a. OLG Hamm StraFo 2004, 281 = VRS 107, 120 = zfs 2004, 584; GÖHLER/SEITZ/BAUER, §79<br />

Rn 27d; BURHOFF/JUNKER, OWi, Rn 3069 ff.). Es muss also in der Begründungsschrift durch entsprechenden<br />

Tatsachenvortrag schlüssig dargelegt werden, dass ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt. Soll<br />

geltend gemacht werden, dass die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen<br />

unzulässigerweise unterblieben ist, muss dargelegt werden, aus welchen Gründen das AG dem<br />

Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG hätte stattgeben müssen.<br />

Im Einzelnen muss der Verteidiger<br />

• darlegen, aus welchen Gründen der Tatrichter von der Anwesenheit des Betroffenen in der<br />

Hauptverhandlung einen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts unter keinen Umständen hätte<br />

erwarten dürfen (OLG Hamm NZV 2006, 667 = zfs 2006, 710 = VRS 111, 370),<br />

• darlegen, wie sich der Betroffene bislang zum Tatvorwurf geäußert hat und was er bzw. sein<br />

Verteidiger im Falle seiner Anhörung in der Hauptverhandlung zur Sache vorgebracht hätte (OLG<br />

Karlsruhe VRR 2005, 392),<br />

• den im Bußgeldbescheid erhobenen Tatvorwurf und die konkrete Beweislage im Einzelnen vortragen<br />

(vgl. OLG Hamm StraFo 2004, 281 = VRS 107, 120 = zfs 2004, 584; OLG Köln NZV 1998, 474; GÖHLER/<br />

SEITZ/BAUER, § 74 Rn 48 c),<br />

• i.d.R. darlegen, wann und mit welcher Begründung der Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung<br />

zum persönlichen Erscheinen gestellt worden ist und wie das Gericht diesen Antrag beschieden hat<br />

(OLG Hamm a.a.O.),<br />

• konkret die Tatsachen darlegen, anhand derer die Beruhensfrage geprüft werden kann (vgl. BVerfG<br />

NJW 1992, 2811; BGHSt 30, 331; OLG Hamm a.a.O.; OLG Köln NZV 1992, 419),<br />

• wenn der Entbindungsantrag erst zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt worden ist, darlegen,<br />

dass der Verteidiger zur Stellung des Entbindungsantrags eine über die Verteidigervollmacht hinausgehende<br />

Vertretungsvollmacht hatte (vgl. OLG Köln NZV 1999, 436; OLG Rostock VRR 2006, 397)<br />

und zur Sicherheit darlegen, dass sich der Verteidiger auch gegenüber dem AG als zur Vertretung<br />

legitimiert ausgewiesen hat (OLG Hamm VRR 2006, 395; OLG Köln NZV 2002, 466 u. NStZ 2002,<br />

268; vgl. dazu auch STEPHAN VRR 2006, 396 in der Anm. zu OLG Hamm a.a.O.).<br />

1198 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>22</strong> 21.11.<strong>2018</strong>

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