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„Wollen wir das wissen<br />
müssen?“ Wolfgang<br />
Jordan denkt manchmal<br />
an Annett Louisans<br />
Liedtext,wenn er bei<br />
einerVerhandlung mal<br />
wieder mit sehr intimen<br />
Lebensumständen<br />
konfrontiertwird.<br />
verhängen. „Aber warum muss<br />
ich solche Klimmzüge machen?“,<br />
fragt Sandra Kaiser. „Da<br />
stellt sich der Justizminister<br />
großspurig hin und verschärft<br />
irgendwelche Strafen. Schöner<br />
wäre es, wenn beim Landeskriminalamt<br />
mehr medizinischtechnische<br />
Assistenten eingestellt<br />
werden, die zeitnah DNA-<br />
Proben aufbereiten. Dann<br />
könnten die Täter schneller<br />
identifiziert werden.“<br />
Auch den Straftatbestand der<br />
Vergewaltigung findet die Richterin<br />
nicht immer praxistauglich.<br />
„Beim Gesetzgeber besteht<br />
die Tendenz, jeden Furz regeln<br />
zu wollen. Aber man kann einfach<br />
nicht so irre denken wie<br />
unsere Kundschaft ist. Wenn etwa<br />
A- und B-Hörnchen etwas<br />
trinken und sich näherkommen,<br />
das A-Hörnchen aber keinen<br />
Zungenkuss mag und das B-<br />
Hörnchen sofort aufhört. Die<br />
Anzeige von A-Hörnchen wird<br />
zur Anklage wegen Vergewaltigung<br />
in einem besonders<br />
schweren Fall. Dem B-Hörnchen<br />
drohen zwei Jahre Mindeststrafe,<br />
weil ein Körperteil<br />
eingeführt wurde. Meinen<br />
Schöffen habe ich erklärt:<br />
Wenn ich mit meinem Finger in<br />
Ihrem Ohr herumpule, brauche<br />
ich einen Anwalt.“<br />
Nach einer verschobenen und<br />
drei abgeschlossenen Verhandlungen<br />
ist der Sitzungstag von<br />
Ildiko Szabados zu Ende. Solche<br />
Tage können sehr anstrengend<br />
sein, findet die Richterin.<br />
„Das Verhandeln verlangt volle<br />
Präsenz. Als Richterin ist man ja<br />
die Person, die durchgehend<br />
die Fäden in der Hand hält.“<br />
Fünf, sechs, zuweilen sogar<br />
acht Stunden lang, manchmal<br />
ohne Pause.<br />
„Wenn ich merke, dassmeine<br />
Kraft nachlässt, gebe ich<br />
mein Fragerecht schon mal<br />
früher an die Staatsanwaltschaft<br />
ab. Dann muss ich<br />
nur noch mitschreiben,<br />
nicht mehr Blickkontakt<br />
halten und mir Fragen<br />
überlegen. Das ist meine<br />
Taktik, um Kraft zu<br />
schöpfen.“<br />
Ist man es irgendwann<br />
leid, jede Woche, Jahr<br />
für Jahr, Straftaten zu<br />
ahnden?<br />
„Es wird nie ausbleiben,<br />
dass Menschen<br />
Straftaten begehen“,<br />
sagt die Richterin.<br />
„Ich mache mir da<br />
keine Illusionen, ich<br />
bin auch nicht resigniert.<br />
Aber es gibt<br />
Verfahren, wo ich<br />
denke, dass die<br />
Sanktionsformen,<br />
die uns zur Verfügung<br />
stehen,<br />
nicht die richtige<br />
Form der Bestrafung<br />
sind, zum<br />
Beispiel bei der<br />
Beschaffungskriminalität.<br />
Unser Umgang damit<br />
ist nicht mehr zeitgemäß. Es<br />
wird immer Menschen geben,<br />
die es nicht schaffen, aus der<br />
Sucht herauszukommen. Die<br />
Junkies schädigen ja nur sich<br />
selbst: Die führen sich Gift zu<br />
und sterben irgendwann. Das<br />
darf jeder selbst entscheiden, ob<br />
er das machen will oder nicht.<br />
Es sollte geprüft werden, ob<br />
man Betäubungsmittel legalisieren<br />
kann. Dann würde auch<br />
die Beschaffungskriminalität<br />
wegfallen.“<br />
Im Laufe der Jahre sei er demütiger<br />
vor sich selbst geworden,<br />
sagt Wolfgang Jordan: „Ich<br />
kann mir heute leichter vorstellen,<br />
dass jemand mal versagt.“<br />
Kritisch sieht er, dass die Justiz<br />
den kleinen Straftäter, der etwas<br />
leicht Nachzuweisendes<br />
tut, viel härter bestraft als denjenigen,<br />
der raffinierter vorgeht:<br />
„Als Richter diene ich der<br />
Gerechtigkeit. Da muss man<br />
aufpassen, dass man die Kleinen<br />
nicht zu hart anfasst.“<br />
Sandra Kaiser stimmt ihm zu.<br />
Das neue Wertabschöpfungsgesetz<br />
etwa schreibt vor, dass die<br />
Staatsanwaltschaft dem Täter<br />
das Geld oder den geldwerten<br />
Vorteil aus einer Straftat abnehmen<br />
soll.<br />
„Aber dort, wo wirklich Asche<br />
ist, bei Drogen und Immobilien,<br />
da ist es kompliziert. Wie wollen<br />
Sie herausfinden, von welchem<br />
Geld was bezahlt worden<br />
ist? Bei Hartz IV geht das. Aber<br />
der Profi-Steuerhinterzieher<br />
kommt mit 37 Anwälten und<br />
sagt: ‚Moment mal! Weist mir<br />
das mal nach!‘ Bei den Kleinen<br />
werden 3,37 Euro als Wertersatz<br />
ermittelt, den die nicht zahlen<br />
können und bei den Großen<br />
ist es immer noch schwierig.“<br />
Problematisch findet die<br />
Amtsrichterin auch die vielen<br />
ausländischen Straftäter. „Früher<br />
habe ich gedacht, das seien<br />
Vorurteile. Heute nehme ich es<br />
als Lebenserfahrung.“ Bei Teodora<br />
V. etwa, die mit ihrer minderjährigen<br />
Tochter auf Klautour<br />
erwischt wurde und nicht<br />
zur Gerichtsverhandlung erschienen<br />
ist, ahnt sie jetzt<br />
schon, wie die Erklärung lauten<br />
wird: Sie sei nach Roma-Sitte<br />
verheiratet und habe fünf Kinder.<br />
Sie könne nicht lesen und<br />
nicht schreiben. „Das kann<br />
doch aber kein Grund sein, die<br />
deutsche Omi zu beklauen! Die<br />
kann auch nichts dafür. Warum<br />
nutzen die Roma-Familien<br />
nicht die Bildungsmöglichkeiten,<br />
wenigstens für ihre Kinder?“<br />
Nur einmal habe sie von einer<br />
Roma-Frau eine andere Geschichte<br />
gehört. Die hatte sich<br />
gemeinsam mit ihrem Mann ein<br />
Haus gekauft, direkt neben einem<br />
tyrannischen Nachbarn,<br />
der sich über ihre Verwandten<br />
und ihre Kinder aufregte.<br />
Die Bälle, die über seinen<br />
Zaun flogen, zerstörte er. Als er<br />
sich wieder mal bei ihr beschwerte,<br />
nahm sie ein paar<br />
Kieselsteine aus der Rabatte<br />
und warf damit nach dem Stänkerer.<br />
„DasBittere ist, dasssie bislang<br />
die Einzige aus dieser Volksgruppe<br />
war, die ich verstehen konnte“,sagt<br />
Sandra Kaiser. „Da ist es<br />
schwierig, nicht zynisch zuwerden.<br />
Man muss sich immer wieder<br />
bewusst machen: Ich sehe<br />
nur einen Ausschnitt. Es gibt<br />
auchandere.“<br />
Uta Eisenhardt