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Rubrik<br />
104 THE NØRD TIMES<br />
THE NØRD TIMES<br />
105<br />
Rubrik<br />
Im Auftrag dieser Firma bin ich 2009 nach<br />
Kiel gekommen. Es gefiel mir so gut, dass<br />
ich hiergeblieben bin. Beruflich musste ich<br />
mich dann neu orientieren. Dabei hatte ich<br />
zwei Wünsche: Ich wollte selbständig sein<br />
und etwas Sinnvolles tun!<br />
Interview mit Marie Delaperrière,<br />
Gründerin des Kieler Zero-Waste-Ladens<br />
„Unverpackt“.<br />
Hallo Marie. In deinem Geschäft „Unverpackt“<br />
verkaufst du Lebensmittel und<br />
andere Waren – verpackungsfrei – an<br />
deine Kunden. Im Februar 2019 steht das<br />
fünfjährige Firmenjubiläum an. Welche<br />
Schlagzeile würdest du dann gern lesen?<br />
„Marie hat sich nicht geirrt!“<br />
Diese Überschrift scheint dir sicher. Seit<br />
der Eröffnung im Jahr 2014 hat sich „Unverpackt“<br />
in Kiel etabliert. Wie kamst du<br />
zu dieser Geschäftsidee und mit welchen<br />
Produkten hast du angefangen?<br />
Die Idee entstand Ende 2012, nachdem ich<br />
einen Bericht über eine Familie gelesen<br />
hatte, die vier Jahre lang Müll vermeiden<br />
wollte und daran gescheitert war. In einem<br />
Selbstversuch stellte ich anschließend fest:<br />
In Deutschland ist es nahezu unmöglich, Lebensmittel<br />
unverpackt einzukaufen! Damit<br />
wollte ich mich nicht abfinden, entwickelte<br />
einen Businessplan für den Verkauf unverpackter<br />
Waren, erhielt Unterstützung von<br />
der Industrie- und Handelskammer Kiel und<br />
gründete das erste Geschäft in der Waitz-<br />
straße. Getreide, Müsli, Trockenfrüchte, Tee,<br />
Gewürze und Süßigkeiten … mit 250 Produkten<br />
und wenigen Lieferanten sind wir<br />
gestartet. Heute umfasst unser Sortiment<br />
über 800 Artikel!<br />
Erläutere uns bitte kurz das „Unverpackt“-Konzept.<br />
Wie kauft man bei dir ein?<br />
Bei uns gibt es unverpackte Lebensmittel,<br />
Kosmetika, Reinigungsmittel und Zubehörwaren<br />
in loser Form. Um sie transportieren<br />
zu können, bringen Kunden entweder ihre<br />
Dosen, Schachteln und Gläser mit oder können<br />
umweltgerechte Behälter bei uns erwerben.<br />
Wir wiegen deren Leergewicht, sodass<br />
am Ende nur die Netto-Ware berechnet wird.<br />
Vorher sollte man sich überlegen, welche<br />
Produkte man benötigt und in welchen Mengen.<br />
Möchte ich beispielsweise einen Kuchen<br />
backe, dann überlege ich mir, wie viel Mehl,<br />
Eier und Nüsse ich brauche. Dies führt dazu,<br />
dass weder Verpackungsmüll anfällt noch<br />
Lebensmittel verschwendet werden. Und da<br />
wir gleichzeitig großen Wert auf regionale<br />
Lieferanten legen, bieten unsere Produkte<br />
eine hohe Qualität.<br />
Was sind die Bestseller in deinem Sortiment?<br />
Das ist schwer zu sagen, denn alle Produkte<br />
finden ihre Abnehmer. Feine Haferflocken<br />
füllen wir ständig nach, Nüsse sind besonders<br />
bei vegan lebenden Kunden beliebt,<br />
im Trend liegen außerdem Zutaten für<br />
Do-it-yourself-Rezepte, wie beispielsweise<br />
Natron für Kosmetik und unsere Shampoo-<br />
Blöcke.<br />
Wie würdest du deine Kunden beschreiben?<br />
Studierende? Doppelverdiener?<br />
Öko-Freaks?<br />
Es kommen etwas mehr Frauen als Männer,<br />
aber vom Anzugträger bis zur barfüßigen<br />
Studentin ist alles vertreten. Ich finde das<br />
super! Manchmal fühle ich mich an die Gäste<br />
in süddeutschen Biergärten erinnert. Dort<br />
treffen sich auch Menschen aus allen Bevölkerungsschichten.<br />
Du bist gebürtige Französin, lebst und arbeitest<br />
aber schon lange in Deutschland.<br />
Wie bist du nach Kiel gekommen?<br />
Auf einem langen Marsch von Süden nach<br />
Norden! Geboren und aufgewachsen bin ich<br />
als Landkind, umgeben von Natur, in einem<br />
kleinen Dorf in den französischen Pyrenäen.<br />
Ursprünglich wollte ich nach der Schule<br />
Dolmetscherin und Übersetzerin werden.<br />
Tatsächlich habe ich aber Wirtschaft und<br />
Projektmanagement in Paris studiert. Im<br />
Anschluss arbeitete ich für ein medizintechnisches<br />
Unternehmen in Süddeutschland.<br />
Wir danken dir sehr für deine sinnvolle<br />
Idee! Irgendwie müssen wir den Verpackungsirrsinn<br />
stoppen: Mit fast 12 Millionen<br />
Tonnen verbraucht Deutschland mehr<br />
Plastik als jedes andere Land Europas!<br />
35 Prozent sind allein auf Verpackungen<br />
zurückzuführen. Wie gut gelingt es dir,<br />
selbst auf Verpackungen zu verzichten?<br />
Das gelingt mir sehr gut. Natürlich bin ich<br />
auch Kundin im eigenen Geschäft und kaufe<br />
die meisten Lebensmittel in loser Form.<br />
Mein Mann und ich sowie unsere drei Kinder<br />
achten auf Nachhaltigkeit und versuchen,<br />
sinnvoll zu konsumieren. Bevor wir<br />
etwas kaufen, fragen wir uns grundsätzlich:<br />
Brauchen wir das wirklich? Wenn ja,<br />
brauchen wir das als Neuware oder reicht<br />
vielleicht ein Gebrauchtartikel? Wo und wie<br />
ist das Produkt hergestellt? Welche Konsequenzen<br />
hat der Erwerb dieses Produkts?<br />
Auf diese Weise reduzieren wir ständig unseren<br />
Müll. Früher haben wir zwei gelbe<br />
Säcke pro Woche abgegeben, heute ist es<br />
nur noch ein 10 Liter Sack alle vier bis fünf<br />
Wochen. Wir betrachten Natur und Umwelt<br />
ganzheitlich. Auf ein eigenes Auto verzichten<br />
wir zum Beispiel schon seit Jahren und<br />
nutzen stattdessen ein Car-Sharing-Modell.<br />
Was denken deine Kinder? Sind sie von<br />
„Unverpackt“ genervt? Immerhin sind<br />
viele Süßigkeiten attraktiv verpackt und<br />
durch Zusatzstoffe gesüßt.<br />
Nein, sie verstehen das. Wir verbieten unseren<br />
Kindern nichts. Sie sollen lernen, nachhaltige<br />
Konsumentscheidungen zu treffen. Wenn sie<br />
etwas kaufen, was weniger umweltgerecht ist,<br />
erklären wir ihnen, welche Alternativen es<br />
gibt. Mittlerweile merken sie schnell, ob sie<br />
eine tiefgekühlte Fertigpizza oder eine selbstgemachte<br />
Pizza essen und loben uns dafür,<br />
dass unser Essen viel besser schmeckt!<br />
Von deinen Kunden und den Medien erhältst<br />
du viel Lob und Zuspruch. Ein Kritikpunkt<br />
ist, dass die Produkte etwas teurer als im<br />
Supermarkt sind. Was sagst du dazu?<br />
Ich finde es schade, dass wir uns über Preise<br />
von Lebensmitteln beschweren, die eine<br />
hohe Qualität haben. Für einen Liter Motoröl<br />
blättern wir 15 Euro hin. Da kaufen wir das<br />
Teuerste, damit der Motor lange lebt! Bei<br />
Olivenöl kann es hingegen ruhig das Billigste<br />
sein. Wir müssen verstehen, dass es bei<br />
Lebensmitteln um unsere eigene Gesundheit<br />
geht! Außerdem sollten Preise vergleichbar<br />
sein. Unsere Produkte sind überwiegend regional<br />
und entsprechen einer Bio-Qualität.<br />
Und auch die Psychologie spielt eine Rolle.<br />
Warum empfinden wir eine 100-Gramm-<br />
Packung Nüsse für 5 Euro als teuer, wenn<br />
der Kilopreis bei 50 Euro liegt?<br />
Zum Schluss noch ein paar persönliche<br />
Fragen: Was ist dein Lieblingsgericht?<br />
Ach, wie gemein! Ich mag so viel. Mein Lieblingsdessert<br />
ist ‚Tarte au citron meringuée.’<br />
Ansonsten liebe ich alle Formen von frischen<br />
Salaten mit einer schönen Vinaigrette, aber<br />
auch Topfgerichte, etwa Chili con Carne. Nur<br />
in der deutschen Küche kenne ich mich leider<br />
nicht so gut aus!<br />
Was fehlt dir an Frankreich? Was schätzt<br />
du an Kiel?<br />
Was mir fehlt, sind die französische Patisserie<br />
und die Käseläden. In Frankreich sind<br />
auch die Märkte bunter, lebendiger und bieten<br />
mehr Auswahl. An Kiel schätze ich die<br />
Nähe zum Wasser und die freundliche Gelassenheit<br />
der Menschen.<br />
Marie, vielen Dank für das Gespräch und<br />
weiterhin viel Erfolg für „Unverpackt“!<br />
Text Christian Dorbandt<br />
Fotos Jan-Michael Böckmann