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Berliner Zeitung 18.02.2019

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10 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 41 · M ontag, 18. Februar 2019<br />

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Stadtgeschichte<br />

Partei der weglaufenden Genossen<br />

Dem Zusammenbruch der DDR 1989 war die innere Auflösung der SED vorausgegangen. Wiekonnte das geschehen? Beobachtungen von zehn Jahren Niedergang<br />

VonMaritta Tkalec<br />

Lautlos brach im Herbst 1989<br />

die Herrschaft der Sozialistischen<br />

Einheitspartei<br />

Deutschlands zusammen.<br />

Nirgends rotteten sich zum Widerstand<br />

entschlossene Parteigenossen<br />

zusammen, obwohl diese viel zu verlieren<br />

hatten: Status,Prestige,Posten,<br />

Einkommen, Privilegien –das ganze<br />

eingespielte Leben. Die meisten Außenstehenden,<br />

zumal aus dem Westen,<br />

beobachteten mit Staunen, wie<br />

sich ein für betonhartgehaltenes System<br />

selbst pulverisierte.<br />

Hatte wirklich nichts darauf hingedeutet?<br />

Der erste Satz des Buches<br />

„Woein Genosse ist, da ist die Partei“<br />

der Historikerin Sabine Pannen behauptet<br />

genau das und führt aktenkundige<br />

Fakten an: Die Stasi kannte<br />

eine kleine Opposition mit 150 Basisgruppen,<br />

2400 Aktivisten und 60<br />

„unbelehrbaren Feinden des Sozialismus“.<br />

Dagegen standen 2328 331<br />

Mitglieder und Kandidaten der SED<br />

–Rekordzahl im Herbst 1987. Jeder<br />

sechste Erwachsene. Mehr als alle<br />

bundesdeutschen Parteien zusammen.<br />

Meine eigenen Erinnerungen<br />

legen nahe, wie sehr diese Zahlen<br />

täuschten.<br />

1986, Michail Gorbatschow hatte<br />

gerade den Beginn vonGlasnost und<br />

Perestroika verkündet, drängte mich<br />

ein hoch geschätzter Kollege in der<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>, SED-Genosse: „Du<br />

musst jetzt in die Partei eintreten.<br />

Wir müssen uns vorbereiten auf die<br />

neue Zeit. Die alte geht zu Ende.“<br />

Statt faktischer Ein-Parteien-Herrschaft,<br />

Scheinwahlen und Stasi sollte<br />

ein demokratischer Sozialismus,was<br />

immer das genau sein würde, erstehen.<br />

Reformen müssten sein. So redeten<br />

meine Genossen, die ich dann<br />

erlebte.Nicht in der Parteiversammlung,<br />

aber man redete sonst sehr viel.<br />

Zweifeln am Kulissenstaat<br />

Jeder hatte Erschütterndes aus seinem<br />

Arbeitsumfeld zu berichten:<br />

Zahlen, die vom wirtschaftlichen<br />

Niedergang kündeten, vonGängelei,<br />

wachsendem Anpassungsdruck,<br />

Frustration. Anspruch und Wirklichkeit<br />

hatten immer weniger miteinander<br />

zu tun. Die DDR war zum reinen<br />

Kulissenstaat gesunken, der immer<br />

so tat „als ob“: Als ob er die<br />

zehntgrößte Wirtschaftsnation der<br />

Welt wäre, als ob er richtige Mikroelektronik<br />

hätte,als ob er demokratische<br />

Wahlen durchführte. Soblöd,<br />

dass sie das nicht sahen, waren die<br />

SED-Mitglieder nicht. Doch zumWiderstand<br />

fanden sie nicht. Das Ende<br />

der Greise sei nahe, hieß es abwartend.<br />

Aber verlassen wir das schwankende,<br />

neblige Terrain des Zeitzeugen-Empfindens<br />

und folgen der Historikerin<br />

und ihren Fakten. Und die<br />

zeigen, wie der Erosionsprozess in<br />

den 1980er-Jahren begann, sich verstärkte,<br />

den inneren Zusammenhalt<br />

aushöhlte und schließlich in dem<br />

vonaußen als plötzliches Ereignis erscheinenden<br />

Fall kulminierte.<br />

Schon allein, dass Sabine Pannen<br />

das bislang unterbelichtete Thema<br />

Ein symbolisches Bild aus der DDR 1988 kurz vor ihrem Ende: Leute versuchen im Tagebau Groitzscher Dreieck in Sachsen, einen Kollegen aus dem Schlamm zu befreien.<br />

aufgreift und ebenso detailliert wie<br />

sachlich untersucht, muss ihr als<br />

enormes Verdienst angerechnet werden.<br />

Die von Zeithistorikern angekündigte<br />

Neubewertung der DDR<br />

kommt mit Arbeiten wie dieser voran.<br />

Das Buch geht der Frage nach, was<br />

die SED im Innersten zusammenhielt,<br />

um dann auf mehr als hundert<br />

Seiten den Zerfall zu betrachten.<br />

Festgestellt wird: „Schon bevor<br />

Gorbatschow und seine Reformen<br />

die Gemüter bewegten, führten Versorgungsmangel<br />

und der ungleiche<br />

Zugang zu Westmarkund Westreisen<br />

zu Unmut.“ Doch mit dem Auftauchen<br />

des jungen KPdSU-Generalsekretärs<br />

1985 wurde nicht mehr nur<br />

über Konsumlücken aller Art genörgelt,<br />

sondern „das Politische kehrte<br />

zurück in den gesellschaftlichen Diskurs“.<br />

Als Vorbote war 1977 das SED-<br />

Mitglied Rudolf Bahro aufgetreten.<br />

In seiner Schrift „Die Alternative“<br />

hatte der Philosoph, seinerzeit Abteilungsleiter<br />

im VEB Gummikombinat,<br />

den DDR-Sozialismus als „erstarrte<br />

Parteibürokratie“ kritisiert.<br />

Damit traf er den Parteiapparat ins<br />

Mark und elektrisierte die Intellektuellen<br />

unter den Mitgliedern. DieKritik<br />

brachte ihm Bautzen-Haft ein.<br />

Sechs Monate später veröffentlichte<br />

der Spiegel ein „Manifest der<br />

Opposition“, das sich als Alleingang<br />

einesWissenschaftlers aus einer kleinen<br />

informellen Gruppe heraus erwies.<br />

Die Zentrale Parteikontrollkommission<br />

stellte fest, beide Aktionen<br />

hätten keine Wirkung in der<br />

Ein Bild, wie es die Partei mochte und produzierte: Arbeiter und Arbeiterinnen des VEB<br />

Stahl- und Walzwerks Riesa 1984, angetreten, um den Tagder Republik zu feiern. IMAGO<br />

DIE QUELLE<br />

Sabine Pannen:<br />

Wo ein Genosse ist, da ist die Partei –Der innere Zerfall der SED-Parteibasis<br />

Band 7der Reihe „Kommunismus und Gesellschaft“, Zentrum für<br />

Zeithistorische Forschung Potsdam, Ch. Links Verlag,360 Seiten, 40 Euro<br />

IMAGO<br />

SED-Basis gehabt. So schreibt es Sabine<br />

Pannen, und für die Masse der<br />

Produktionsarbeiter traf das sicherlich<br />

zu –das war für den Machtsicherungsapparat<br />

das Entscheidende.<br />

Ich erinnere mich an monatelange,<br />

hitzige Diskussionen. Das Manuskript<br />

ging stillschweigend vonHand<br />

zu Hand. Die Kontrollkommission<br />

hat womöglich nicht mitbekommen,<br />

was da in Wohnzimmern bei reichlichem<br />

Konsum von Stierblut oder<br />

Gamza vor sich ging. In den Betrieben<br />

debattierte man derweil über<br />

die Verknappung und Verteuerung<br />

von„richtigem Bohnenkaffee“, nicht<br />

über Demokratiedefizite.<br />

Das Buch beschreibt das anschwellende<br />

Murren der Basis. Die<br />

auf Gerechtigkeit getrimmten Genossen<br />

beklagten zum Beispiel die<br />

Ungerechtigkeit in der Versorgungshierarchie,<br />

die entstand, weil die einen<br />

Westgeld für den Intershop hatten,<br />

die anderen genug DDR-Mark<br />

für Delikat und Exquisit –und der<br />

große Rest keins vonbeidem.<br />

Aus dem Leben schöpfend zitiert<br />

die Autorin Hans Plischka, Parteisekretär<br />

im Stahlwerk inBrandenburg,<br />

der seine Leute von funktionierender<br />

Versorgung überzeugen sollte,<br />

aber keine Argumente hatte: „Du<br />

kannst erzählen, wat de willst,<br />

wenn’s trotzdem draußen für die<br />

Frauen Schlüpfer, keene Schlüpfer,<br />

jab, jab ja keene…“ Die Presse<br />

schwieg, von dort kam keine argumentative<br />

Hilfe für das politische<br />

Gespräch in den Arbeitskollektiven.<br />

Um 1982 wurde es ernst: Die<br />

Frustration der Werkstätigen lähmte<br />

Leistungsbereitschaft und Arbeitsmoral<br />

–warum sollte man sich anstrengen,<br />

wenn man nichts dafür bekam?<br />

Die Funktionäre registrierten<br />

mehr „gegnerische Argumente“.<br />

1985 führte die Partei „persönliche<br />

Gespräche“ mit jedem Mitglied –die<br />

Resultate lösten neuen Alarm aus.<br />

Autorin Sabine Pannen konstatiert:<br />

„1986 hatte eine Krisenwahrnehmung<br />

eingesetzt, die im folgenden<br />

Jahr einen massiven Schub erleben<br />

sollte.“ Erster Grund: Fast eine Million<br />

DDR-Bürger hatten den Westen<br />

besuchen dürfen und kamen voller<br />

Zweifel an der Leistungsfähigkeit der<br />

DDR zurück. DieStasi registrierte die<br />

„feindliche Auffassung“ als Mainstream.<br />

Zweiter Grund: Der„Parteikanal“,<br />

der die Krise „zu erklären“ hatte,verweigerte<br />

sich. DasBuch spricht vom<br />

Rückzug der SED-Basis alsVermittler<br />

und Repräsentant. Die Autorität der<br />

Partei schwand dahin: Den Kaffeeoder<br />

Schlüpferkrisen folgte der<br />

Wartburgskandal. Der verordnete<br />

Jubel über einen Viertakter, viel teurer<br />

als der Vorgänger und technisch<br />

lausig im Vergleich mit Westautos,<br />

stieß auf Empörung.<br />

Stützefür biografische Erinnerung<br />

DieDDR brodelte.Und dann kamen<br />

die gefälschten Wahlen vom Mai<br />

1989. Da war nichts mehr zu retten.<br />

DerLaden war in jeder Hinsicht marode<br />

und ausgehöhlt. Sein Ende vollzog<br />

sich dann unter tätiger Mithilfe<br />

weiter Teile der SED-Mitgliedschaft.<br />

Zwischen Januar und Oktober verlor<br />

die SED 60 000 Mitglieder,bis Januar<br />

1990 noch einmal 600 000. Viele liefen<br />

im Herbst zum Neuen Forum<br />

über. Die Bürgerrechtler verhalfen<br />

den Genossen zur Freiheit. Viele begannen,<br />

die Partei umzubauen.<br />

Auch dadurch wurde die gewaltarme<br />

Selbstbefreiung möglich.<br />

Am Tagnach dem Mauerfall jedenfalls<br />

blieb die Redaktion der <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Zeitung</strong> bis weit nach Mittag<br />

leer – bis die ersten glückseligen,<br />

übernächtigten Gestalten, allesamt<br />

Genossen, eintrudelten.<br />

Die Arbeit von Sabine Pannen ist<br />

selbstredend weitaus reicher als hier<br />

angedeutet werden kann. Sie ist<br />

nicht nur vielsagende Dokumentation<br />

des Niedergangs der DDR, sondern<br />

auch biografische Erinnerungsstütze<br />

und Korrekturhilfe für<br />

die reichlich vorhandenen Zeitzeugen.<br />

Anders als in vielen bisher vorgelegten<br />

akademischen DDR-Erklärversuchen,<br />

erkennt man diese hier<br />

wieder. Im30. Jahr des Mauerfalls<br />

kann man das Buch gar nicht energisch<br />

genug zur Lektüreempfehlen.<br />

Am Ende blickt man kritisch auf<br />

die vergangene Illusion, die „neue<br />

Zeit“ irgendwie mitgestalten zu können.<br />

Kohls Vereinigungslokomotive<br />

rollte unter Volldampf. DieDDR-Elite<br />

war schwach und delegitimiert. Der<br />

Elitenwechsel nach 1990 ließ kaum<br />

einen Stein auf dem anderen. Enttäuschungen<br />

und Demütigungen blieben<br />

als Ruinenberge zurück. In diesen<br />

findet nun die AfD ihr Terrain.<br />

DAS IST<br />

DAS WAR<br />

DAS KOMMT<br />

Kalkscheune<br />

Schwof<br />

Palast der Stars<br />

Ein moderner Veranstaltungsort inBerlin pflegt mit seinem<br />

Namen Stadtgeschichte –ebenso löblich wie ungewöhnlich.<br />

Im frühen 18. Jahrhundertetablierten sich am<br />

Unterlauf der Spree Gewerke; in der Johannisstraße 2<br />

wurde im 19. JahrhundertBaukalk gelagert. Später arbeitete<br />

in der Fabrikhalle die erste preußische Fahrradmanufaktur.<br />

Zu DDR-Zeiten wurden dort Feuerlöscher<br />

montiert. Das zweigeschossige Eckhaus bewahrte seine<br />

ursprüngliche Größe wie wie auch die Dachformaus der<br />

Bauzeit von1831 und steht heute unter Denkmalschutz.<br />

Die Kalkscheune bietet Platz für bis zu 1500 Gäste. Auch der ehemalige,<br />

denkmalgeschützte Maschinenraum wird für Veranstaltungen genutzt.<br />

„Ausm Hinterhaus /kieken Kinder raus,/blass und unjekämmt,<br />

/mit und ohne Hemd /unten uffm Hof/isnriesen<br />

Schwof ...“, so beschreibt das „Lied von Vater Zille“<br />

eine Hinterhofszene, großartig gesungen von der <strong>Berliner</strong><br />

Sängerin ClaireWaldoff. Um 1900 lebten zwei Millionen<br />

Menschen in den <strong>Berliner</strong> Mietskasernen: in feuchten<br />

Kellerwohnungen, kalten Mansarden oder dunklen<br />

Stuben. Aber „n riesen Schwof“ gehört eben auch zum<br />

Leben. Schwofen ist gesellig. Natürlich geht es zuerst<br />

ums Tanzen, ums Schäkern, um Klatsch und Tratsch. Das<br />

vor allem in Berlin präsente Wort Schwof (gelegentlich<br />

auch mit Doppel-O) leitet sich von„Sweif“ ab.„Sweif“ ist<br />

mittelhochdeutsch und bedeutet: schwingende Bewe-<br />

gung, Gang, schweifen, sich hin und her bewegen. Studenten<br />

formten um 1825 aus „Schweif“ „Schwof“ und<br />

verbreiteten den Ausdruck. Seither versteht man darunter<br />

ein Tanzvergnügen der kleinen Leute. Inden 1960-<br />

Jahren gingen die Mädchen mit frisch gestärktem Petticoat<br />

zum Schwof –umdie Hüften zu schwingen. Sie<br />

wollten tanzen, sich vergnügen und natürlich junge<br />

Männer treffen, die ebenfalls den richtigen Hüftschwung<br />

drauf hatten. Auch heute kann man in Berlin noch<br />

schwofen gehen –inKlärchens Ballhaus zum Beispiel.<br />

Sehr beliebt, vor allem, weil sich dabei generationenübergreifend<br />

die Freude an Musik und Bewegung entfaltet.<br />

(mtk.)<br />

Der Friedrichstadt-Palast,1867/68 als Markthalle eröffnet,<br />

dann zum Zirkus umgebaut, zum Heeresdepot umfunktioniert,<br />

aufgestiegen zum Revue- und Lustspieltheater<br />

bis zum letztendlich größten Revuetheater Europas,<br />

in dem sich vonLouis Armstrong bis ClaireWaldoff eine<br />

Vielzahl namhafter Gruppen und Künstler die Ehre gab.<br />

Wassich in vielen Stationen über Jahrzehnte ereignete,<br />

ergibt eine höchst ungewöhnliche Geschichte. Eckhard<br />

Grothe stellt dieWandlungen des Friedrichstadt-Palastes<br />

in einem reich bebilderten Vortragvor.<br />

Der Friedrichstadt-Palast Vortrag,20. März, 19 Uhr.Berlin-Saal der<br />

Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite Straße 36

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