Das Erbe
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Das</strong> <strong>Erbe</strong> – Aktionsforschung im lokalen Aushandlungsfeld von Wertschätzung, Sinn und Bedeutung<br />
Bei unserer Erhebung der Sichtweisen unterschiedlicher Bezugspersonen(gruppen) von Peter<br />
Kramer wurden unterschiedliche Nutzenvorstellungen erkennbar. Diese sind offensichtlich<br />
(auch) milieuabhängig. Die unterschiedlichen Bewertungen lassen sich als Folge jeweils unterschiedlicher<br />
milieuspezifischer Nutzenvorstellungen verstehen, die Teil des typischen Habitus<br />
bzw. der kulturellen Identität des jeweiligen Milieus sind (vgl. Heiser: 21). Nähe bzw.<br />
Abstand zum Herkunftsmilieu Peter Kramers wirken offenbar auf die Art und Weise zurück,<br />
wie relevante Personen(gruppen) aus dessen Umfeld sein „Schaffwerk“ wertschätzen.<br />
5.2.4 Relation − wie der Abstand die Wertschätzung verändert<br />
Milieus als Verbindungen und Abstandhalter für Wertgemeinschaften<br />
Milieus sind Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses, mit Menschen verbunden zu sein.<br />
Doch entstehen Milieus zugleich auch in der bewussten Abgrenzung von Anderen (vgl. Joas<br />
2001). <strong>Das</strong> bodenständige Milieu im Umfeld des „Schaffwerks“ distanziert sich, so berichteten<br />
es der Geschichtslehrer und seine Frau, traditionell von Fremden, von Menschen fremder<br />
geografischer Herkunft. Reserviert steht man in diesem Milieu aber offenbar auch fremd anmutenden<br />
Lebensstilen gegenüber. Wer z. B. intellektuell erscheint oder sich besonders der<br />
Selbstverwirklichung widmet, wirkt in den Augen der Bodenständigen schnell arrogant und<br />
kommt in diesem Schaffermilieu nicht gut an – so schätzt die Tochter Peter Kramers, das Milieu<br />
ein, in dem sie aufwuchs. 62<br />
Sabine Kramer erzählte, dass sie vor allem Männer in diesem Umfeld als dominant erlebt habe<br />
und noch erlebe, die „laut“ seien, „derb“ und „breitbeinig dastehen“. Es ist eine bestimmte<br />
Mentalität des Umfeldes, die sie wie offenbar auch andere Befragte aus dem Kreis<br />
der „Schaffwerk“- Wertschätzenden als dominierend und beengend empfindet. 63 Diese Mentalität<br />
macht sie auch an der Körpersprache fest, die für sie offenbar die Männer dieses Milieus<br />
zu verbinden scheint und sie von anderen abgrenzt.<br />
Wie Menschen in Milieus zusammenfinden und sich von anderen Menschen abgrenzen, hat<br />
Pierre Bourdieu plausibel beschrieben: Ein praktischer sozialer Orientierungssinn leitet Menschen<br />
bei ihren Positionierungen im sozialen Raum, sie haben ein Gefühl für die „standesgemäßen<br />
Plätze“ für sich selbst und für andere, auch ohne dies zu reflektieren ‒ „begriffsloses<br />
Erkennen“ nennt das Bourdieu (Bourdieu 1987: 734). Bedingt durch ihre jeweiligen spezifischen<br />
Lebensbedingungen haben die Individuen und gesellschaftlichen Teilgruppierungen<br />
einen jeweils spezifischen Habitus entwickelt, der ihre Wahrnehmungen und Handlungen<br />
prägt. Der Habitus ist, „was man erworben hat, was aber in Form dauerhafter Dispositionen<br />
dauerhaft körperliche Gestalt angenommen hat“ (Bourdieu 1993: 127). Der Habitus ist also<br />
sozusagen Körper gewordene Sozialisationsgeschichte, diese in jeder Haltung, in jeder Bewegung<br />
reflektierend ‒ und auch im Lebensstil. Menschen mit ähnlichen Mentalitäten, Formen<br />
der Lebensführung bzw. Lebensstilen finden sich in gemeinsamen Milieus ‒ Bourdieu spricht<br />
vom homologen Habitus (vgl.: Bourdieu 1987: 286 ff.) ‒ sie finden in einem oft selbstläufig<br />
erscheinenden Prozess zueinander.<br />
In Anlehnung an Emile Durkheim bezeichnet die Milieuforschungsgruppe um Michael Vester<br />
mit Milieus zunächst „soziale Gruppen, die aufgrund gemeinsamer Beziehungen (der Verwandtschaft,<br />
der Nachbarschaft oder der Arbeit) einen „Korpus moralischer Regeln“ entwickeln“<br />
(Vester et al. 2001: 16). Diese verfestigen sich zu Mentalitäten, zu spezifischen Formen<br />
der Lebensführung und Lebensstile, die jeweils typisch sind für spezifische Lebensbedingungen.<br />
62 Vgl. u. a.: Feldnotiz 21.8.11 – Gespräch mit Peter Kramers Tochter<br />
63 Vgl. u. a.: Feldnotiz 20.6.11 – Gespräch mit Peter Kramers Tochter<br />
41