Das Erbe
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<strong>Das</strong> <strong>Erbe</strong> – Aktionsforschung im lokalen Aushandlungsfeld von Wertschätzung, Sinn und Bedeutung<br />
„Wer bin ich, wer war ich und wer werde ich sein?“ (Straus 2008: 4) – stimmige Antworten<br />
auf diese und ähnliche Fragen zu geben, ist nach meinem hier zu Grunde gelegten Verständnis<br />
ein wesentlicher Sinn des Arbeitens an der eigenen Identität.<br />
Die so entstehenden Identitätskonstruktionen verändern sich fortwährend und mit ihnen auch<br />
die Antworten auf oben genannte Fragen. Vor allem auch durch Erzählungen von sich selbst<br />
„versucht das Individuum für sich und bestimmte Lebenswelten eine verstehbare, sinnvolle<br />
und auch selbstbestimmte Form zu finden“ (ebd.). Für sich selbst und für seine soziale Umgebung<br />
hat Peter Kramer in besonders greifbaren, weil vergegenständlichten Erzählformen<br />
Antworten auf seine Identitätsfragen gegeben.<br />
Wie alle Identitätsarbeit, waren diese Antworten − war auch sein Schaffwerk − immer im<br />
Fluss. Auch arbeitete er dabei, wie alle Identitätsarbeiter und Identitätsarbeiterinnen, nicht<br />
bloß für sich alleine. Jede Identitätsbildung geschieht bezogen auf das jeweils individuell bedeutsame<br />
Umfeld. Die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster des Umgebungsmilieus wirken<br />
zurück auf die Erzählungen, die ein jeder und eine jede von sich selbst haben kann bzw.<br />
die er oder sie zu erzählen oder auch nur zu denken wagen kann, wenn er nicht in seiner Zugehörigkeit<br />
zur Gemeinschaft bedroht werden will (vgl. Straus 2008).<br />
Peter Kramer hat sich bei seinem Schaffen des „Schaffwerks“ am Wertmaßstab seines Herkunftsmilieus<br />
orientiert, die Grenzen dieses Maßstabes ausgelotet und wohl auch zu seiner<br />
Veränderung beigetragen.<br />
Menschen arbeiten ein Leben lang an ihren Identitäten – in einem Prozess, der diskontinuierlich<br />
verläuft und von Identitätskrisen vorangetrieben wird (vgl. Straus 2008: 3).<br />
Solche Krisen spitzen sich in bestimmten Lebenssituationen zu − wenn die Balancen von subjektiven<br />
und gesellschaftlichen Anforderungen durch die Betroffenen und ihre Umwelt neu<br />
austariert werden müssen.<br />
Identitätskrisen spitzen sich zu, wenn Menschen Bilder von sich selbst und Bilder, die Andere<br />
von ihnen haben, sich teilweise grundlegend verändern (müssen), weil auch die Verhältnisse<br />
des Lebens sich grundlegend ändern.<br />
In diesem Sinne stellt sich mir das „Schaffwerk“ als Ausdruck und Mittel der Bewältigung<br />
einer persönlichen und einer kollektiven Identitätskrise dar.<br />
Für Peter Kramer persönlich trug das „Schaffwerk“ offenbar nicht zuletzt auch zur Bewältigung<br />
des schwierigen Übergangs in eine neue Lebensphase bei, in welcher der bis dahin geschätzten<br />
Handwerker „als altes Eisen“ entwertet zu werden drohte. Mit dem Ende der Erwerbsarbeitsphase<br />
verloren auch die für ihn bis dahin noch maßgeblichen Orientierungen auf<br />
Pflichterfüllung und auf den praktischen Nutzen ihre bisherige Vorrangstellung. Aus Sicht des<br />
Geschichtslehrers − seines von mir befragten langjährigen Freundes − war Peter Kramer in<br />
seinen Rentnerjahren viel weniger auf die Wertschätzung durch sein Pfullinger Heimatmilieu<br />
angewiesen, als noch als junger Mann: „Zerscht hot er scho Anerkennong wolla, aber irgendwann<br />
hot er gsagt: Ihr kennad mi mol, ond jetzt mach ihs erscht reacht, was i will. Also,<br />
ihm hot des nix meh ausmacht, was d Pfullinger über ihn redad“. 94<br />
Nach dem Ende seiner Erwerbsarbeitszeit lösten sich die Loyalitätsbande zum pflichtorientierten<br />
kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu und der Schaffer löste sich mehr und mehr von<br />
der Identität des pflichtbewussten Auftragsschweißers, der er als Hochdruckrohrschlosser<br />
gewesen war. Er nutzte nun vielmehr seine handwerklichen Fähigkeiten vor allem zur kreativen<br />
Bearbeitung der persönlichen und kulturellen Identität.<br />
94 Interview 27.1.11<br />
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